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Fragmente

Potpourri & Kurzgeschichten-Fundus
von

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Weltende

Weltende
 

„lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.“
 

>>> Die Eselskomödie von Plautus; in Anlehnung an Hobbes „De Cive“
 

*
 

„Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde."
 

>>> Dürrenmatt, „Die Physiker“
 

***
 

„Nox.“

Der Junge rührt sich nicht, und er weiß, weiß nur zu gut, dass es längst zu spät ist.

Seit Stunden ist er sich der Kälte des schmalen Leibes gewahr, der noch immer an seiner Schulter lehnt, hilflos, ohnmächtig, nicht gewillt, das Geschehene zu akzeptieren.

Er hätte es besser wissen müssen.
 

Aus. Vorbei.

Alles.
 

Müde, allein, verlassen, sitzt er im Staub der Einöde, der Asche dieser Welt und wartet, den reglosen Körper des Jungen betrachtend, wartet, ob ihn dieses Mal ein langsames Ende ereilen wird, auf die letzte Endgültigkeit, oder aber wieder seine innere Unruhe obsiegt und ihn voran, bis in die nächste Stadt, auf die nächste Etappe treibt.

Vergeblich, aussichtslos, ein Teufelkreis.
 

***
 

Eisige Böen fegen über den staubigen Wüstenboden, wirbeln toxische Aschewolken auf, darunter blanker Fels.

Trist, lebensfeindlich.

Der Himmel darüber ist grau und verhangen, wie immer, die Welt im Dämmerlicht ihres Untergangs, nicht ein Schimmer von Sonnenlicht zu erahnen.
 

Die Asche brennt ihm in den Augen, in der Nase, im Hals.

Mühselig schleppt er sich voran, Schritt um Schritt durch die monotone Einöde, getrieben von einer merkwürdigen Rastlosigkeit in seinem Innersten, die ihn vorwärts treibt, immerfort, weiter, schier ziellos.

Wahrscheinlich machen ihn der nagende Hunger und der Durst halb wahnsinnig, und der letzte Funke Überlebenswillen, den sein Körper beherbergt, zwingt ihn dazu, sich noch einmal aufzuraffen.

Sein Verstand hat unlängst kapituliert.

Es gibt kein Entrinnen aus dieser schwarzen Hölle, wo die Tage ebenso dunkel wie die Nächte sind.
 

Der Weg bis zur nächsten Stadt – dem, was in dieser Zeit davon übrig geblieben ist, Ruinen voller Geister, dürre, zerschlagene Gestalten ohne Hoffnung, die ein elendiges Dasein fristen, eines, das dem Begriff des Lebens spottet und bloß ein Kampf um die nächsten paar Stunden ist, um die nächste Mahlzeit, den nächsten Atemzug – ist weit.

Selbst, wenn er es bis dorthin schaffen sollte, sauberes Trinkwasser und Lebensmittel sind Mangelware, die Leute egoistisch, verblendet von ihren niederen Bedürfnissen, und teilen nichts.

Sie horten was sie können.

Nicht selten muss man sich der Gewalt bedienen, oder Schlimmerem.
 

Er folgt den verwitterten Eisenbahngleisen, der einzige Pfad, der in dieser Ödnis eine Orientierung erlaubt – irgendwo in seinem Hinterkopf flackert vage der Gedanke an Dorothy und den Zauberer von Oz auf, erlischt dann aber wieder.

Es ist zu lange her, die Erinnerung zu verschwommen.
 

Manchmal träumt er von der Vergangenheit, von einer hellen Welt, von Bäumen und dem Wind, der in ihren grünen Wipfeln wispert, von lächelnden Menschen.

Ist es wirklich einmal so gewesen?

Oder bloß ein Hirngespinst...?

Im Endeffekt macht es keinen Unterschied.
 

Diese Welt ist ein Alptraum, aus dem niemand mehr erwachen wird.
 

***
 

Ein missgebildeter Hund kreuzt die Straße vor ihm, ein unförmiges Vieh mit fünf Beinen, dem der Geifer aus dem Maul, zwischen den unpassenden Kiefern hindurch läuft.

Ansonsten trifft man vor allem auf Kakerlaken, denen die widrigen Umstände scheinbar gar nichts anhaben können; im Gegensatz zu den meisten anderen Lebewesen hat die Strahlenbelastung ihnen zu mehr Größe und einer erheblichen Anzahl verholfen.

„Zieh Leine!“ empfängt ihn die raue Stimme eines Mannes unfreundlich aus einem verfallenen Hauseingang, „elender Schmarotzer.“

Verächtlich spuckt die schattenhafte Gestalt in den Staub, verbirgt sich hinter den maroden Wänden.

„Als ob wir hier nicht genug hungrige Mäuler zu stopfen hätten.“

Der Fremde lässt sich davon nicht beirren.

Man hat ihn durchaus schon anders willkommen geheißen.
 

Wortlos setzt er seinen Weg fort, zum Zentrum der einstigen Stadt.

Im verwinkelten Labyrinth der Gassen und Straßen hallen seine Schritte von den brüchigen Gemäuerresten wider, ein leeres Echo seiner Existenz, das nichts beweist, das nichts bedeutet, ein unangebrachtes, invasives Geräusch in der Totenstille dieser unheiligen Stätte.

Nichts als ein Grabstein in der Wüste...
 

Alsbald steigt ihm der süßliche Geruch der Verwesung in die Nase, und nach einer Weile wird ihm bewusst, dass er sich der Quelle des Gestanks immer weiter genähert hat: es ist der bereits faulende Leib eines Menschen, der bereits seit geraumer Zeit unbeachtet, vergessen, hier auf dem Pflaster liegt.

Ein erbärmlicher Anblick.

Neben dem Leichnam hockt eine kümmerliche Gestalt mit rabenschwarzem, halblangem Haar und hält dessen verrottende Hand; eine Gestik, so makaber wie sie bitter und rührend ist.

Die Szenerie empfindet er als unglaublich absurd, das Kind scheint ihn nicht einmal zu bemerken.

„Hey.“

Er räuspert sich verhalten.

Einige Minuten verstreichen, ehe sein Gegenüber eine sichtliche Reaktion zeigt und ihm den Kopf zuwendet, die Iriden ebenso schwarz und stumpf wie das Haar.

Es ist ein Junge mit eingefallenen Wangen und Augen, unterernährt, verwahrlost, und vor allem müde.

Sein Alter wagt er nicht zu schätzen.

„...“

Kein Wort löst sich von den spröden Lippen, er starrt, sonst nichts.

Wenn er jetzt geht, wird der Knabe in den nächsten Tagen elendig krepieren, neben der Person, die er selbst im Tod nicht aufgeben möchte. Niemanden wird es kümmern.

Im Grunde kann es auch ihm gleichgültig sein.

Für einen Augenblick ist er versucht einfach zu gehen - und dennoch...

„Komm.“

Er kann nicht.

Stumm betrachtet das Kind seine ausgestreckte Hand, sein Blick verändert sich.

Zunächst geschieht nichts.

Zögerlich, langsam löst er sich von dem Toten, aus seiner Starre und berührt die Handfläche des Fremden, sein Blick noch lange hinter sich, auf die leblose Hand des Leichnams gerichtet.
 

***
 

Der Junge kaut und schluckt bedächtig, als hätte er keinen Hunger.

Im diffusen Licht der eingestürzten Lagerhalle wirkt er noch blasser und schmächtiger, und in diesem Moment dämmert ihm, dass der Knabe, im Gegensatz zu ihm, es nicht anders kennt.

Er ist in dieser dunklen Hölle geboren und aufgewachsen, geprägt von Hunger und Leid, gewohnt an Tod und Elend.

Er bemitleidet ihn.

„Wie heißt du?“ fragt er ihn kurzerhand.

Träge hebt das Kind den Kopf, sein unleserlicher Blick beinahe unheimlich.

„Buris“, erwidert er dann, nach einer eigenartig anmutenden Bedenkzeit, leise, kaum hörbar.

„Bu-ris...“ wiederholt er gedehnt, skeptisch und befindet den Namen für seltsam.

Etwas wie Schuldbewusstsein flackert über die bleichen Züge, dann: „Mama... sagt Nox.“

Nox.

Nacht.
 

Nach ein paar ruhelosen Stunden gibt er den Versuch auf, zu schlafen, es ist zwecklos.

Die verzerrten Bilder, die seinen Verstand plagen und ihn nicht zur Ruhe kommen lassen, sind zu real.

Wahrscheinlich verdrängte Erinnerungen, mutmaßt er, wahrscheinlich zeigen sie wirklich die Wahrheit; die unschöne Realität eines Atomkrieges, gefolgt von einer verheerenden Epidemie, die Schuld des Menschen an seinem eigenen Schicksal.

Die Kapitulation vor der Wirklichkeit, die ihm nicht mehr gewachsen ist, die an ihm zugrunde ging.

Er ist froh darüber, nicht alleine zu sein.
 

Nox schläft seelenruhig, zusammengerollt wie ein Hund.
 

***
 

Der Junge folgt ihm, nicht aus Vertrauen oder Dankbarkeit für seine Anteilnahme, sondern lediglich, weil es der einzige Weg ist, den er gehen kann.

Was hat ihn dazu gebracht, das Kind mit sich zu nehmen?

Vermutlich hat er ihm damit nicht einmal einen Gefallen getan.

Was bringt es ihm?

Ein paar Stunden, ein paar Atemzüge mehr...?

Er ist ein Narr, genau wie der Rest.
 

„Nox.“

Matt hebt der Junge den Kopf, in den schwarzen Augen spiegelt sich nichts als Leere.

„Wie alt bist du...?“

Überfordert blickt der Junge ihn an, er weiß es nicht.

Was findet er bloß an diesem Kind, das nicht anders ist, dem es nicht schlechter geht als so vielen anderen?

„Ich heiße Ignis“, fügt er dann ohne wirklichen Kontext hinzu, aus einem spontanen Impuls heraus ohne darüber nachzudenken.
 

Trübsinnig mustert er die hagere Gestalt zu seiner Rechten; ihre Seelen sind bereits verloren, ihr Sein verdammt, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Geister der Aschewüste über sie herfallen...

Aussichtslos.
 

***
 

[Ende August/Anfang September 2010]



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