...nichts!
Die Autofahrt bis zum Zielpunkt war grauenvoll. Nein, sie war sogar extrem grauenvoll! Cody hatte entschieden –dieser verdammte Dickkopf- dass wir mit seinem Wagen fahren, weil meiner „ein absolutes Wrack“ sei, wie er meinte. Da ich keine Lust auf eine Diskussion mit ihm hatte gab ich nach und wir stiegen in seinen neuen, schwarzen Mitsubishi Carisma. Er war derjenige der diese schicke Karre fuhr. Und wie er fuhr. Allem Anschein nach kannte er nur das Gaspedal, die Kupplung, die Gangschaltung und die ätzende Hupe, die er auf dieser Fahrt unauffällig benutzte, indem er dauerhaft darauf drückte. Von einem Blinker oder gar der Bremse hatte er noch nie etwas gehört. Im Nachhinein hätte ich mich dafür erschlagen können, dass ich nicht selbst gefahren war. Denn sein Fahrstil war weitaus schlimmer als mein eigener. Und das sollte etwas heißen! Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit des Grauens, -in Wirklichkeit war es bloß eine halbe Stunde- erreichten wir unser Ziel. Ruckartig schwenkte Codys Fahrstil von „völlig wahnsinnig“ in „ganz normal“ um. Er hielt ein paar Straßen vor der Ecke 19th Street NW und E Street NW und wir stiegen aus. Ein Schwall kühler Abendluft begrüßte mich sogleich, als ich aus dem verqualmten Auto kam. Cody schulterte seinen Rucksack und sagte in das winzige Mikrofon an seinem Muskelshirt: »Checkpoint erreicht! Ich nehme jetzt meinen Platz ein und dann kann Clay sich bereit machen. « Dann wiederholte er das Ganze, diesmal an mich gewandt. Als hätte ich ihn eben nicht gehört. Somit machte sich Cody auf und verschwand.
Ich war allein. Es war noch hell draußen und die Straße reflektierte das Licht der untergehenden Sonne. Ich schlenderte den Bürgersteig entlang, der mit Kaugummiklumpen und Papiertüten übersät war. Etwas Besseres hatte ich ohnehin nicht zu tun. Jetzt hieß es für mich: Warten. Darauf warten, dass ich grünes Licht bekam und mir diesen verdammten O´Neil vorknöpfen konnte. Schneller als erwartet ertönte Taylors Stimme in meinem Ohr.
»Clay?«, fragte er mit etwas rauem Unterton.
»Ja?«, antwortete ich und kickte eine Papiertüte über den Gehsteig. Unauffällig sah ich mich um. Schließlich sollte mich niemand dabei beobachten, wie ich „mit mir selbst“ sprach. Doch die Straßen waren frei von Fußgängern.
»Sobald die Sonne untergegangen ist geht´s los!«
Ich folgte dem Befehl und ging auf direktem Wege zum Zielpunkt, vorbei an rasenden Autos, vorbei an zahlreichen Reihenhäusern, bis hin zu dem riesigen Anwesen des Jeffrey O´Neil. In Wahrheit war es noch viel größer und protziger, als ich es mir hätte ausmalen können. Als Blickfang und kleinen Vorgeschmack diente eine Palmenallee, die sich bis zum Eingang hinzog, den man über einen breiten Weg erreichen konnte. Die Wände der Villa waren mit Natursteinen gespickt und mir wurde schon jetzt schlecht, wenn ich mir vorstellte, was für ein Vermögen in diesem Gebäude streckte. Angewidert von diesem Protz verzog ich das Gesicht. Mich erinnerte diese Villa eher an ein fünf-Sterne-Hotel als an einen Wohnsitz, in dem gerademal eine Person lebte. Dieser Typ hatte eindeutig zu viel Geld! Etwas neidisch schritt ich zur Eingangstür, die mehr wie ein großes Tor aussah, ebenfalls mit Natursteinen gespickt. Dort angekommen lehnte ich mich an die Hauswand und flüsterte: »Ich bin soweit. Kann´s losgehen?«
»Auf geht´s!«, ertönte Taylors Stimme, »Ich werde die die Tür öffnen. Dann gehst du rein und biegst direkt nach links in den Essbereich ab.«
Ich sagte, dass ich verstanden hatte und sogleich öffnete sich die Tür wie von Geisterhand. Ich tat wie mir geheißen, ging hinein, lehnte die Tür hinter mir an und bog nach links ab. Somit landete ich in einer Art Festsaal in dessen Mitte sich ein langer Edelholztisch befand. In der Dunkelheit des Raumes konnte ich nur seine Konturen ausmachen, doch ich war mir beinah sicher, dass er von unzähligen und überaus teuren Stühlen umgeben war. Auch konnte ich mir gut vorstellen, dass originale Werke von Dalí, Van Gogh und Da Vinci an den Wänden hingen. Diese Vorstellung passte einfach ungemein gut zu einem solchen Bonzenhaus.
Taylor gab mir Anweisung mich rechts zu halten, da hinter einem der breiten Fenster im linken Bereich ein Wachmann postiert war. Also verschmolz ich mit der Dunkelheit, presste mich an die Wand und schlich langsam und bedacht vorwärts. Hin und wieder stieß ich mit dem Kopf an einen Lampenschirm oder was auch immer, der von an der Decke baumelte. Doch ich erregte kein Aufsehen. Ich muss ehrlich zugeben, dass mich allmählich ein mulmiges Gefühl bei der Sache beschlich. Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, dass man sich an dunklen Orten unwohl fühlt. Vielleicht hatte ich auch einfach nur zu viele Horrorfilme gesehen. Rational gedacht ist es vollkommen absurd und überaus unwahrscheinlich, dass ein Monster an der Ecke des Raumes lauert und einen umlegen und auffressen will, aber irgendwie hatte ich genau davor etwas Angst. Ich schüttelte den Gedanken an Zombies, Einäugige und halb zerfleischte Körper ab und ging weiter.
»Gleich gelangst du ins Wohnzimmer. Mach einen kleinen Bogen über die linke Seite und geh durch die Terrassentür auf Zwölf Uhr raus. Diese müsste offen sein.«
Vorsichtig ging ich durch das Wohnzimmer hindurch, das ebenfalls einem Festsaal glich. Alles was ich hörte waren meine leisen Schritte auf dem feinpolierten Boden und mein Herzschlag. Dieser hallte laut in meinem Schädel wider und ich fürchtete, dass ihn jemand hören könnte. Mein Atem ging schnell und in kleinen Zügen, wie bei einem gehetzten und verängstigten Tier. Genauso kam ich mir in dieser Situation auch vor. Allerdings eher wie eine Katze auf der Jagd, die sich davor fürchtet, dass jemand ihre Beute verscheucht. Ich erreichte die Terrassentür, wie Taylor sie nannte, und duckte mich instinktiv, als sich ein Schatten davor bewegte. Es war nur ein Busch, den ich gesehen hatte, welcher sich im leichten Wind bog.
»Von deiner Position aus müsstest du den werten O´Neil schon sehen. Laut Kamera spielt er gerade Golf auf seinem Rasen«, meinte mein Freund und lachte, »Golf ist so ein dämlicher Sport!«
Ich richtete mich auf und starrte durch die Glastür. Tatsächlich konnte ich auf dem beleuchteten Rasen eine Person ausmachen, die einen Schläger schwang. Doch bevor ich die Tür öffnete fiel mir etwas auf. Eine Sache, über die ich bislang nicht wirklich nachgedacht hatte. »Taylor?«, fragte ich, »Wenn ich ihn mir packe, werden dann nicht diese Wachleute hier antanzen?«
»Darum hat Cody sich bereits gekümmert. Die Meisten schlafen jetzt und der Rest wird es bald tun. Aber beeil dich!«
Etwas an seinem Tonfall gefiel mir nicht, aber ich wusste, dass ich mich auf ihn verlassen konnte. Deshalb öffnete ich die Schiebetür und trat hinaus in den Garten, der die Größe eines Golfplatzes oder mehr hatte. Mit schnellen Schritten ging ich auf den Mann zu, der allmählich Gestalt annahm. Er war groß und athletisch gebaut. Seine lockigen, braunen Haare wucherten auf seinem Haupt. Eigentlich hätte er sich einen grandiosen Frisör leisten können, was seine Frisur allerdings nicht erkennen ließ. Seine Haare wirkten mehr, als würden sie einfach nur wild drauf los wachsen. Auch seine Kleidung ähnelte eher der eines Obdachlosen, als der eines Reichen. Er trug ein weißes Shirt, eine graue Strickjacke und eine verwaschene, blaue Jeans. Nur seine Lackschuhe schienen einiges gekostet zu haben. O´Neil stand mit dem Rücken zu mir und bemerkte nicht, dass ich mich ihm näherte. Doch ich wollte, dass er mich sieht.
»Jeffrey O´Neil?«, fragte ich deshalb laut, als ich schon fast bei ihm angekommen war. Verwirrt drehte er sich um und als er mich erblickte fiel ihm vor Schreck die Kippe aus dem Mund, die er bisweilen geraucht hatte. Doch er hatte keine Zeit um verdutzt und irritiert zu sein, denn ich hatte meine Elektroschockpistole bereits zur Hand genommen und auf ihn gefeuert. Die beiden Projektile schossen heraus und landeten etwas voneinander entfernt auf Jeffreys Brustkorb. Die Nadeln durchbohrten seine leichte Kleidung und steckten nun mit kleinen Widerhaken in seiner Haut. Der erste Stromstoß, den ich ihm verpasste ließ ihn zucken. Mir gefiel dieser Anblick. Er taumelte zu Boden und wand sich wie ein Käfer auf dem Rücken hin und her.
»Du erinnerst dich also an mich?«, fragte ich ihn und hob begeistert die Augenbrauen. Er keuchte und hielt sich die verkrampften Hände an die Brust.
»Natürlich!«, fauchte er.
»Gut! Ich mich nämlich nicht an dich«, meinte ich belustigt und versetzte ihm erneut einen Stromschlag, »Aber dann weißt du ja sicherlich auch was ich hier will, oder?«
Jeffrey versuchte sich aufzusetzen, doch seine Muskeln spielten nicht mit, sondern gingen in Krämpfen unter. Er ließ seinen Kopf auf den Rasen sinken und atmete tief ein. »Du willst wissen, was passiert ist«, stellte er fest. Ich verdrehte die Augen. Dieser Typ war mir irgendwie zu dämlich. »Ach Jeffrey! Ich weiß, was passiert ist! Ich will nur wissen, wer es getan hat. Also gib mir diesen verdammten Stick!«
Entgeistert sah er mich an. »W-Wie, du weißt es?«, stotterte er und setzte sich nun doch auf, »U-Und was ü-überhaupt für ein Stick?«
Ja klar! Jetzt spielt er den Unschuldigen und Unwissenden. Ist es nicht immer so? Er strapazierte meine Geduld. Schließlich hatte ich keine Lust, mich die ganze Nacht mit ihm rumzuschlagen, bis er denn irgendwann einmal seinen Mund auftat. Also seufzte ich und setzte ihn erneut unter Strom. Allerdings hatte ich allmählich Angst, er könne an einem Herzinfarkt sterben. Und so wie er zuckte und keuchte schien es nicht mehr lange zu dauern, bis er tatsächlich daran verreckte.
»Gottverdammt, Clay! Was machst du denn da?«, schrie Cody mich plötzlich durch den Ohrstöpsel an, »Du wolltest diesen Stick holen, man, aber du kannst den Typen doch nicht umlegen!«
»Halt´ die Schnauze!«, fuhr ich ihn an und nahm den Ohrstöpsel raus. Das hier war meine Angelegenheit und ich hatte definitiv keine Lust darauf, dass sich irgendjemand in meine Vorgehensweise einmischte. In der winzigen Sekunde, in der ich gerade nicht aufgepasst hatte, hatte Jeffrey sich die Projektile aus der Haut gerissen. An zwei Stellen seines T-Shirts bildeten sich nun blutrote Flecken. »Wollt ihr mir jetzt alle auf die Nerven gehen?«, schrie ich O´Neil an, der gerade kriechend versuchte zu fliehen. Ich packte ihn am Kragen und verpasste ihm einen harten Schlag mit der Faust. Dank der Quarzsandhandschuhe schürfte sich direkt seine Gesichtshaut auf und begann zu bluten. »Wo also ist dieser verdammte Stick mit den Namen der Beteiligten?«
Doch Jeffrey schüttelte nur den Kopf und krächzte: »Ich weiß nicht, wer dir diesen Bullshit erzählt hat, aber es gibt keinen gottverdammten Stick! Es hat nie einen gegeben und es wird nie einen geben, kapiert? Und was für Beteiligte überhaupt?«
Der Typ wollte mich wohl verarschen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als ihn auf den Boden zu drücken und sein Gesicht zu demolieren, welches nach kurzer Zeit nur so in Blut schwamm. Hach, ich liebte diese Handschuhe!
Ich sah ihn durchdringend an und stellte erneut meine Frage, doch er lächelte nur matt und gurgelte kaum hörbar: »Du hast gar keine Ahnung, wer du überhaupt bist.«
Was soll denn das wieder bedeuten, fragte ich mich selbst und spürte, wie die Wut in mir aufkochte. Können sich Menschen nicht einfach mal klar ausdrücken, sondern müssen ständig drum herum reden? Ich fragte Jeffrey, ob er wisse, dass meine Geduld am Ende sei, doch er machte keine Anstalten endlich auszupacken. Stattdessen wisperte er nur wieder diesen dämlichen Satz vor sich hin. Als ob ich Zeit für diesen Schwachsinn gehabt hätte. Schließlich seufzte ich, warf die Elektroschockpistole zur Seite und nahm die schöne M9 zur Hand. Damit sollte ich etwas aus ihm rausbekommen. Also entriegelte ich sie und drückte sie O´Neil auf die Stirn. »So, Kumpel«, sagte ich ruhig und betonte dabei das „Kumpel“ besonders, »Noch einmal von Vorne: Sag mir, wo ich den Stick finde oder ich puste dir das Hirn raus!« Es klang, als würde ich es ernst meinen. Wahrscheinlich meinte ich es auch ernst. Dennoch hätte mir Jeffrey absolut nichts genützt, wenn ich ihn ungelegt hätte. Aus irgendeinem Grund begann O´Neil plötzlich laut zu lachen, als sei meine durchaus ernstzunehmende Drohung ein schlechter Witz.
»Hör auf zu lachen!«, schrie ich ihn an und presste die M9 stärker gegen seine Stirn.
»Weißt du, Jason, es ist einfach nur so ungemein lustig. Ich meine hey, damals bist du zu mir gekommen und hast dich freiwillig gemeldet. Und jetzt willst du mich umlegen? Erzählst irgendetwas von einem Stick mit irgendwelchen Namen. Was soll denn da drauf sein?«
Jason? Hatte er mich gerade Jason genannt? Plötzlich bekam ich wieder diese Kopfschmerzen. Mir wurde schwindelig und ich taumelte einen Schritt zurück. Dann sah ich an mir herab. Etwas steckte in meinem Oberschenkel. Ich hatte es gar nicht bemerkt. Erst wusste ich nicht, was es war, doch als ich genauer hinsah entdeckte ich den nach hinten geschobenen Kunststoffschlauch, der an der Kanüle befestigt war. Betäubungspfeile, schoss es mir durch den Kopf und alles begann sich zu drehen.
»Was zum?«, brachte ich noch heraus, bevor ich wie ein nasser Sack in mich zusammenfiel. Alles um mich herum drehte sich, wackelte und schien lebendig zu sein.
»Danke, Cody«, hörte ich Jeffrey sagen, der sich nun über mich gebeugt hatte und auf mich herabsah. Es erinnerte mich an den Tag, an dem ich starb. Doch es dauerte nicht lange, da wurde mir schwarz vor Augen. Und ich fiel in einen traumlosen Schlaf.
***
Ich öffnete die Augen. Sie fühlten sich verklebt an, so wie sie sich anfühlen, wenn man eine Bindehautentzündung hat. Und sie gingen nur mit Mühe auf. Erst war noch alles verschwommen, doch mein Blick wurde schnell klar und ich konnte eine Person sehen, die mir gegenüber auf einem Stuhl saß.
»Taylor?«, fragte ich noch etwas benommen und versuchte mich zu bewegen. Es ging nicht. Und als ich an mir herabblickte sah ich, dass ich an einen Holzstuhl gefesselt war. »Was soll das?« Mein Freund richtete sich langsam auf und kam zu mir herüber. Im Hintergrund tauchten Jeffrey und Cody auf. Jeffrey hatte sich sein Gesicht verarzten lassen und sah nun etwas aus wie eine Mumie. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich diesen Raum kannte, in dem wir uns befanden. Es war der Kellerraum aus meinen Flashbacks. Der Raum in dem alles angefangen hatte. Ich biss mir auf die Unterlippe, denn ich konnte nicht verstehen, was hier vor sich ging. Doch ich wusste, dass Taylor da mit drinsteckte, was immer es war. Vielleicht hatte er sogar an meinem Ableben mitgewirkt. Meine Gedanken überschlugen sich und ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. In was war ich hier nur hineingeraten?
»Hör zu, Jason«, meinte Taylor und baute sich vor mir auf, »Ich werde dir jetzt etwas wichtiges erzählen. Es wird dir vielleicht seltsam und absurd vorkommen, aber bitte lass mich ausreden.«
Ich riss an meinen Fesseln. Doch sie gaben nicht nach, sondern bohrten sich nur tief in mein Fleisch, sodass meine Handknöchel zu bluten begannen.
»Warum Jason? Warum nennst du mich Jason?«
»Hör´mir einfach zu! Du bist niemals gestorben, Jason. Niemand hat versucht dich umzubringen und niemand hat dich in einem Krankenwagen verschleppt und dich in irgendeinem Keller gefoltert. Und Susanna und Amy haben dich auch niemals sterben sehen. Du bist auch niemals bei ihnen gewesen oder hast mit ihnen in diesem Haus gelebt, was du nie gekauft hast. Denn Susanna und Amy existieren nicht und haben nie existiert«, sagte Taylor in ruhigem Ton. Ich starrte ihn an. Inzwischen zweifelte ich daran, dass es heute auch noch jemanden gab, der mir nicht mit irgendeinem Blödsinn den Tag ruinierte. Dennoch ließ ich Taylor weiter reden. Auch wenn mich sein Geschwätz nicht im Geringsten interessierte. »Und es gibt auch keinen USB-Stick mit den Namen der Menschen, die an deinem Mord beteiligt waren, der niemals stattgefunden hat. Und weder du noch ich waren jemals beim FBI. In Wirklichkeit bin ich Laborant und ausgebildeter Psychologe. Das andere ist nur ein Teil deiner Fantasie. Es ist ausgedacht und nicht real!«
»Du erzählst Scheiße!«, meinte ich gelangweilt und lehnte mich im Stuhl zurück, soweit es mir möglich war, »Warum sollte ich mir so einen Quatsch ausdenken?«
Doch Taylor schüttelte den Kopf und sah mich ernst an. Dann sagte er: »Weil du es wolltest. Vor sechs Jahren kamst du zu uns, zu Jeffrey, Bryan und mir. Erinnerst du dich an Bryan? Du hast ihn gefoltert und umgebracht!«
Ich musste lachen, als ich mich an sein speckiges Gesicht erinnerte. Wie verzerrt und aufgedunsen es war. Und wie laut er geschrien hatte, als ich ihm das Auge aus der Höhle herausschnitt. Ein wahrlich göttlicher Anblick.
»Es ist was schief gelaufen. Entschieden schief!«
Mir wurde langweilig. »Was ist wobei schief gelaufen?«, fragte ich, nur um meine Langweile loszuwerden.
»Du weißt es nicht mehr…«, stellte Taylor fest und sah mich plötzlich mitleidig an. »Du kamst damals, vor sechs Jahren, zu uns. Jeffrey und ich arbeiteten zu der Zeit gerade an einem Experiment zur Löschung von Erinnerungen. Unsere Methode war neu und noch voller Fehler, doch du wolltest, dass wir dein Gedächtnis Löschen und dir neue Erinnerungen geben, die du niemals wirklich erlebtest. Es waren eben nur eingepflanzte, falsche Erinnerungen. Doch du hast dich noch immer teilweise an dein altes Leben erinnert und hattest Flashbacks. Um genau zu sein hast du angefangen die Dinge miteinander zu vermischen: Deine wahren Erinnerungen und deine Falschen. Also haben wir dein Gedächtnis noch einmal gelöscht. Wir versuchten es erneut, doch wieder schlug das Experiment fehl. Beim dritten Versuch nahmen wir eine andere Methode, mit der du voll und ganz einverstanden warst. Und es funktionierte.« Er stockte. In mir begann es plötzlich zu schmerzen. Es war, als wären seine Worte Messer, die auf meine Lungenflügel einstachen. Die Luft blieb mir weg. »Ihr habt mich einer Gehirnwäsche unterzogen?«, brachte ich hervor und schluckte. Unter normalen Umständen hätte ich diesen Spinnern kein Wort geglaubt. Doch dies waren keine normalen Umstände. Außerdem hatte ich das seltsame Gefühl, dass es stimmte.
»Ja, so kann man das sagen«, meinte nun Jeffrey, »Als damals deine einzige Frau an Krebs starb warst du ein Wrack. Du hast dich in Drogen ertränkt und warst kurz davor deinem Leben ein Ende zu bereiten. Du warst ein gebrochener Mann, der nichts lieber wollte, als damit auszuhören an sie zu denken.«
Meine Frau? Susanna? Ich schloss die Augen und versuchte mich zu erinnern. Doch in meinem Kopf gab es nur Susanna, niemanden sonst.
»Also kamst du zu uns. Du wolltest vergessen. Wolltest vergessen, dass es sie je gegeben hat. Damals war dein Name noch Jason Sceet.«
Mein Schädel dröhnte und ich hatte das Gefühl das Bewusstsein zu verlieren. Jason. Das hatte ich schon einmal gehört. Jason Sceet.
Vergiss mich nicht, Jason.
Bitte vergiss mich nicht.
»Wie hieß sie?«, wollte ich wissen und ich spürte, wie sich Tränen in meinen Augen anbahnten.
»Ihr Name war Cathrin.«
Ich liebe dich, Cathrin.
Niemals lasse ich dich allein.
Niemals!
»Und sie ist tot?«
Jeffrey nickte betrübt. »Und weil du es vergessen wolltest haben wir versucht dein Gedächtnis zu löschen. Doch dann erschufst du Susanna. Du hast sie nach dem Ebenbild von Cathrin erschaffen, nur mit einem anderen Namen.«
Plötzlich tauchte ich in eine Erinnerung. In eine Erinnerung, die ich schon einmal hatte.
»Wer bist du?«, höre ich die raue Stimme eines Mannes sagen, der irgendwo am Ende des Raumes sitzt. Ich schüttle den Kopf und krächze: »Ich weiß nicht.« Der Mann faltet seine Hände zusammen, als will er beten und sieht mich aus seinem funkelnden Augenpaar an.
»Dein Name ist Clay Nolan Connery! Merk dir das! Clay Nolan Connery!«
Ich schüttele wieder den Kopf. Das ist nicht mein Name! Ich weiß nicht, wie ich heiße, aber das ist definitiv nicht mein Name. Da bin ich mir absolut sicher. »Nein«, sage ich mit trockener Kehle, »Nein, so heiße ich nicht!«
»Doch so heißt du, Clay!«, faucht er und schlägt mit der Faust auf den alten Holztisch, vor dem wir beide sitzen, sodass seine Kaffetasse umkippt und sich der braune Kaffee über die gesamte Tischplatte verteilt. Ich bleibe stumm und erwidere nichts. Wenn ich etwas Falsches sage, dann wird er mich wieder schlagen, das weiß ich. Es wäre nicht das erste Mal.
»Also«, fragt er wieder, »Wer bist du?«
Ich schlucke schwer und antworte: »Ich bin Clay Nolan Connery, Ex-FBI-Undercoveragent, Dreiundreißig Jahre alt, habe eine Frau Susanna und ein Kind namens Amy.«
Der Mann nickt und schreibt etwas auf den weißen Zettel, den er immer dabei hat, wenn wir uns unterhalten. Dann lächelt er und lobt mich für meine Lernfähigkeit. Dabei versuche ich nur den Höllenqualen zu entgehen, die mich ansonsten ereilen würden, wenn er wieder auf mich einprügelt. Ich erinnere mich noch an das letzte Mal, als mein Gesicht so sehr geschwollen war, dass ich weder essen noch trinken konnte ohne aufzuschreien.
»Und was bist du noch?«
Ich überlege nicht lange. »Ich bin tot. Jemand hat mich erschossen. Doch ich weiß nicht, wer mein Mörder ist. Ich bin auf der Suche nach ihm und wenn ich ihn gefunden habe, schlitze ich ihn auf wie ein Schwein beim Schlachter!«
Das Grinsen im Gesicht meines Gegenübers verbreitert sich. »Gut so«, flüstert er mehr zu sich selbst, als zu mir und kritzelt wieder auf seinem Zettel rum, »Du bist der geborene Killer!«
Dann steht er auf und kommt auf mich zu. Und ich erkenne mein eigenes Spiegelbild in ihm.
Ich öffnete die Augen wieder und fand mich zurück bei Taylor, Jeffrey und Cody. »Ich habe mir selbst den Namen Clay gegeben? Und ich habe Susanna erschaffen?«
»Genau«, sagte Taylor und beugte sich zu mir, »Und genau deshalb konnten wir deine Erinnerungen auch nicht vollständig löschen. Dein Unterbewusstsein hatte die Macht über dich und hat die Dinge behalten und verdreht und aus allem, was wir dir an neuen Erinnerung gaben etwas anderes gemacht. Du wurdest zu einem Monster. Wir merkten, dass wir einen Fehler gemacht hatten, dich zu behandeln, aber als wir ihn korrigieren wollten, da bist du abgehauen. Ein Jahr haben wir nach dir gesucht, weil du zu einem wahren Psychopathen geworden warst. Du hast ständig versucht deinen Mörder zu finden, den du dir nur selbst ausgedacht hast. Du dachtest Bryan wäre daran beteiligt und hast ihn kurzerhand umgebracht. Und dabei hast du dich bloß noch an ihn erinnert. Er war es nämlich, der das Experiment leitete. Daraufhin erfand er den USB-Stick. Er brauchte eine Möglichkeit, um dich wieder zu uns zu schicken, also sagte er dir genau das, was du wissen wolltest. Damit wir den Fehler korrigieren können. Und außerdem, wenn es jemanden gab, der dich tötete, dann warst es du selbst.«
Mit jedem weiteren Atemzug verlangsamt sich mein Herzschlag, dröhnt dafür aber umso lauter in meinem Kopf. Deshalb ist es mir beinah unmöglich, die Worte zu verstehen, die er sagt. Er spricht sie mit bedacht und einer Sicherheit, als habe er sie auswendig gelernt. Der Schütze wiederholt sie, wieder und wieder. Er beugt sich über mich und flüstert: »Ich habe dich getötet!« Und ich erkenne, dass ich selbst der Schütze bin.
»Das heißt, das hier bin nicht wirklich ich? « Etwas zerbrach in mir.
»So leid es mir tut, Jason, aber genau so ist es. Dein Unterbewusstsein hat während des Experiments die Kontrolle gehabt und hat dein wahres Ich allem Anschein nach verschlossen. Eigentlich bist du weder sadistisch, noch mordlustig.«
Jetzt endlich verstand ich. Ich selbst war schuld daran, dass ich jetzt an Flashbacks litt und das ich Erinnerungen durcheinander warf. Ich hatte mir dieses Leben ausgesucht. Ich wollte es. Aber ich hatte damals nicht damit gerechnet, dass etwas schief laufen könnte. Dass ich es sein könnte, der diesen Traum zu einem Albtraum machen könnte. Ich hatte mich in meiner eigenen Fantasie, gemischt mit der Realität verirrt. Taylor versuchte mich zu warnen, doch ich hatte alle Warnungen falsch gedeutet. Sie hatten gar keine andere Wahl, als mich zu Jeffrey gehen zu lassen und mich dann mit Betäubungspfeilen lahmzulegen. Und jetzt waren sie gekommen, um ihren Fehler rückgängig zu machen.
»Ich will das nicht«, flüsterte ich. Die Tränen konnte ich nun nicht mehr zurückhalten und sie strömten mein Gesicht hinab.
»Was willst du nicht?«, fragte Taylor und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Ich will dieses Leben nicht mehr! Ich…« Meine Stimme versagte und ich musste mich räuspern, damit ich weitersprechen konnte. »Ich will mein altes Leben zurück. Ich will wieder Jason sein! Nicht länger Clay.«
Nein, ich will nicht mehr Clay Nolan Connery sein! Ich will nicht mehr morden, mich nicht mehr an dem Leid anderer erfreuen und ich will auch keine falschen Erinnerungen mehr. Ich will ich sein!
»Deine Persönlichkeit hat sich gespalten. Ähnlich wie bei einer multiplen Persönlichkeitsstörung, sofern dir das etwas sagt. Aber vielleicht können wir deine richtige Persönlichkeit wieder zurückholen«, sagte Jeffrey, der nun näher gekommen war, »Aber dann wirst du dich an nichts mehr von dem Hier und Jetzt erinnern können. Für dich hat es dann niemals stattgefunden.«
Ich nickte. Das war Ok für mich. Mehr wollte ich gar nicht. Ich wusste nun wieder wer Cathrin war. Ich hatte ihr Gesicht vor Augen. So ähnlich waren sich Cathrin und Susanna. Doch ich wollte nicht Susanna hinterherjagen und sie suchen, obwohl es sie niemals gab. Nein, ich wollte endlich anfangen zu trauern. Um Cathrin zu trauern. Und ich wollte damit abschließen.
»Willst du das wirklich, Jason?« Taylor hatte sich vor mich gehockt und sah mich traurig an.
»Ich danke dir für alles, Taylor. Und auch, wenn ich es später nicht mehr weiß, so sollst du wissen, dass ich dir dafür dankbar bin, dass du mir mein Leben zurückgibst«, sagte ich, »Denn was du gibst ist was du bekommst. Nur was ich bekam war so gut wie nichts. Und dennoch möchte ich dieses Nichts zurück.«
Taylor nickte verständnisvoll und löste meine Fesseln.
»Dennoch können wir nicht dafür garantieren, dass es funktioniert. Schlimmstenfalls wiederholt sich die Geschichte und dein Leid beginnt von Vorn.«
Ich winkte ab. Denn es war mir ganz egal, ob es wieder schief laufen würde.
Jeffrey führte mich zu einer Liege. Es war die Liege, die ich aus meinen Flashbacks kannte. Doch jetzt wusste ich, dass auch meine Erinnerungen nicht immer wirklich waren. Und vielleicht werden sie es nie sein.
Ich legte mich hin.
Wer kann schon sagen, ob er manche Dinge wirklich erlebt hat, oder ob sie nur erdacht sind? Vielleicht sind wir alle ein Opfer von Gehirnwäsche? Vielleicht ist niemand von uns er selbst.
Ich schloss die Augen.
Und wer kann schon sagen ob Taylor und Jeffrey mir die Wahrheit gesagt hatten? Oder ob sie mir bloß ein weiteres Mal das Gedächtnis löschten. Ich jedenfalls wusste nicht wer ich war, oder was ich vielleicht einst war. Ich wusste nur, dass ich jetzt hier lag und darauf wartete, dass ich mein altes Leben zurückbekam. Dass ich etwas vergessen würde, um anderes wiederzuerlangen.
Letztendlich sind Erinnerungen nichts weiter als gespeicherte Daten in unseren Köpfen. Niemand weiß, ob sie von einem Virus befallen sind, oder ob sie vielleicht gar nicht wirklich da sind. Doch wenn jemand auf die Delete-Taste drückt, dann ist alles weg.
»Ich wünsche dir viel Glück, Jason«, hörte ich Taylor noch sagen bevor ich in der Tiefe meines eigenen Verstandes verschwand und auf eine Reise ging, deren Ende es vielleicht nicht einmal gab.
Verzeih mir, Cathrin, dass ich vergessen wollte.
Verzeih mir, dass ich vergessen habe.
Es wird nicht noch einmal geschehen...
Wird es doch nicht, oder?
[...]
***
[...]
Es war ein schöner, sommerlicher Tag. Schmetterlinge flogen umher und breiteten ihre Flügel im Sonnenschein aus. Die Sonne schien hell auf mein bleiches Gesicht. Ich starrte direkt in den blauen, wolkenlosen Himmel, der endlos weit zu sein schien. Mein Herz schlug langsam und ohne einen erkennbaren Rhythmus. Eine leichte Brise streifte über meinen am Boden ruhenden Körper hinweg. Meine Augen tränten vom grellen Licht, in das ich blickte, doch ich konnte sie nicht schließen. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich die rote, warme Lache, die sich langsam über die Straße ausbreitete. Trotz der Wärme der Sonne und des Asphalts spürte ich eine Eiseskälte in meinen Gliedmaßen. Ein weißer Falter kam zu mir geflogen. Es wirkte, als setze er sich liebevoll und besorgt auf die riesige Schusswunde in meiner Brust, aus welcher stetig Blut sickerte. Ja, es war wahrlich ein schöner, sommerlicher Nachmittag. Unter anderen Umständen hätte ich es sogar genossen, mitten auf dem Straßenpflaster zu liegen und mich zu sonnen.
Doch heute…
Heute war der Tag an dem ich starb.
Denn das Ende ist erst der Anfang!
[...]
[ThE EnD]