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Krok

Diese Geschichte ist zu der existierenden Todesdroge namens Krokodil geschrieben, die vor einigen Jahren erstmals in Russland auftauchte. Ich habe versucht mich an der Wirkungsweise der Droge entlangzuhangeln und einen kleinen Einblick in ihre Grausamkeit zu geben.

Insgesamt versuche ich hiermit, auf diese Droge aufmerksam zu machen und davor zu warnen, denn es gibt sie noch, und sie wird noch immer in Mengen hergestellt.
 

Deshalb nun hier meine kleine Geschichte:
 


 

Jeder vernünftige Mensch, der eine einigermaßen gute Bildung genossen hat, kann erschließen, dass eine Mischung von codeinhaltigen Schmerztabletten, Benzin, Farbverdünner, Salzsäure und Phosphorsäure nicht dazu gedacht ist, um sie sich zu injizieren. Jeder dieser Menschen wüsste, dass das Produkt absolut giftig und tödlich ist. Nehmen wir allein die Salzsäure. Wer damals in Biologie aufgepasst hat, der weiß, dass das Zeug absolut ätzend ist und eigentlich nur in der Chemie benutzt oder eben als Ätzmittel verwendet wird. Wer sich das freiwillig spritzt, der muss doch einen Schaden haben!

Aber nein, bei Salzsäure allein bleibt es ja nicht. Kommen wir zum Benzin. Jeder kennt es, die meisten tanken es. Aber es sich ins Blut schießen? Der reine Menschenverstand sagt schon von allein, dass das total irrsinnig wäre. Es ist ein Fall bekannt, bei dem einem Patienten eines Krankenhauses versehentlich Benzin injiziert wurde. Dieser litt kurze Zeit später an Schmerzen in der Brust und einem Druck im Kopf. Es kam zu einer Sauerstoffunterversorgung und der arme Typ verlor das Bewusstsein. Weiterhin traten Muskelstarre und tonisch-klonische Anfälle auf. Auch war wohl blutiger Speichel zu beobachten. Nun ja, der Kerl hat´s überlebt, aber auch nur geradeso.

Gut, so haben wir also schon eine Mischung aus Benzin und Salzsäure, die einen direkt ins Jenseits befördern sollte. Und auch der Farbverdünner macht es nicht besser. Dazu brauche ich wahrscheinlich nichts sagen!

Dann widme ich mich nun also der wunderbaren Phosphorsäure, die die schönste Aufgabe übernimmt. Spritz dir das Zeug und du erleidest eine Nekrose, bei der deine Knochen porös werden und deine Haut beginnt zu zerfallen. Fabrikarbeiter, die in früheren Zeiten in Streichholzfabriken arbeiteten, erlitten oft solche Nekrosen, weil sie eben mit dem Phosphor arbeiten mussten, schließlich bestehen die Zündköpfchen aus nichts anderem. Denen sind dann förmlich die Kiefer zerbröckelt.

Nun überlege man selbst, was passiert, wenn man sich das Zeug in die Venen leitet.

So, nachdem nun also der leckere Cocktail aus Benzin, Farbverdünner, Salzsäure und Phosphorsäure gemixt ist, fehlen noch die codeinhaltigen Schmerztabletten. Diese sorgen zum einen dafür, dass du in eine vollkommen andere Welt abdriftest und all dein Leid vergisst, du die schönste Reise deines Lebens machst und dich mit Glück überschüttet siehst. Und zum anderen überdecken sie die Schmerzen, die dir der Rest der Mischung zufügt.

Letztendlich nennen wir das, was am Ende, nachdem wirklich jede Zutat beigemischt ist, dabei herauskommt, Krok. Krok ist die Kurzform von Krokodil - und diese Droge hat ihren nahmen wahrlich verdient.

Als ich mir diesen billigen Heroinersatz damals das erste Mal durch die Adern jagte, fand ich schnell heraus, was diesem Zeug seinen Namen eingebracht hatte. Denn es dauerte nicht lange, da verfärbte sich meine Haut rund um die Einstichstelle schwarz und grün und wurde schuppig, wie die Haut des gleichnamigen Reptils. Da meine Venen am Arm bereits vom Heroin zu saßen, musste ich auf das Bein ausweichen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie das leichte Kribbeln, das durch meine Adern schoss, anfangs noch kitzelte, sich aber schnell zu einem brennen ausdehnte, von dem ich glaubte, mir würde etwas die Haut versengen. Und so falsch lag ich ja auch gar nicht.
 

»Mr. Evans?«, ertönt die Stimme des Arztes, der mich seit einigen Jahren schon begleitet und reißt mich somit aus meinen Erinnerungen. Doktor Jacobs kommt gut gelaunt den gepflasterten Weg entlang und in seiner Gangart liegt, wie es mir schon oft aufgefallen ist, eine Leichtigkeit, die ihn erscheinen lässt, als würde er hüpfen. Das leichte Wippen seines weißen Kittels sieht witzig aus und gibt ihm die Erscheinung eines kindlichen Erwachsenen.

»G-Guten Tag, Doktor«, stottere ich, weil mir die Drogen wahrscheinlich einen Teil des Sprachzentrums im Gehirn zerstört haben oder so ähnlich. So genau kann ich mir das nicht merken, weil auch mein Gedächtnis ziemlich unter dem Konsum gelitten hat.

»Wie geht es unserem Bein?«, fragt er und ich muss unweigerlich lachen. Seit meinem Konsum kommt allerdings eher ein Glucksen heraus, das schnell in ein Gurgeln übergeht.

»W-Welches m-meinen Sie?«, frage ich und deute auf meine beiden Beine, von denen weder das rechte, noch das linke existiert. Ein bitterer Scherz, den der Doktor und ich uns jeden Tag erlauben, damit ich lerne, das Ganze mit Humor zu nehmen. Und ich muss ehrlich zugeben, es funktioniert! Es ist besser, darüber zu lachen, als daran zu ersticken, dass sie mir beide Beine amputieren mussten, weil das gute Krok sie voll und ganz zerfressen hatte.

Jacobs löst die Bremse des Rollstuhls und fährt mich ein wenig im Park der Klinik spazieren. Das ist immer das Beste des Tages. Ich liebe die Natur und habe das grausame Gefühl, vorher nie wirklich auf sie geachtet zu haben. Dafür tue ich es nun umso mehr. Heftig atme ich die frische Frühlingsluft ein und nehme den Duft von Flieder wahr, der in der Parkanlage zu Hauf vertreten ist.

»K-K-K… K-Kann ich e-eine B-B-Blume pflü-ücken?«, frage ich den Arzt und deute mit meiner bandagierten Hand auf eine Rose, die rot und schön aus einem Beet schießt. Sie gefällt mir, deshalb möchte ich sie haben. Sie soll ein bisschen Farbe in mein Zimmer bringen, soll das Weiß durchbrechen, in dem ich die meiste Zeit der letzten drei Jahre bereits verbracht habe. Und sie soll das Weiß des Zimmers durchbrechen, in dem ich auch die nächsten drei Jahre verbringen werde.

Doktor Jacobs navigiert den Rollstuhl ganz nah an das Beet, sodass ich mich leicht vorbeugen und die Rose mit ungeschickter Handbewegung pflücken kann.

Ich drücke die piekende Blume fest an mich, weil sie mir ein kleiner Hoffnungsschimmer ist und mir zeigt, dass das Leben schöne Seiten an sich hat. Und ich will lachen und mich bei Jacobs bedanken, aber anstatt zu lachen, gluckse ich und anstatt mich zu bedanken, stottere ich das D vor mich hin, weil ein Danke zu schwierig für mich ist. Ich kann es zwar denken, aber nicht sagen.

Aber Jacobs ist ein guter Arzt und ein noch besserer Betreuer und ich wüsste nicht, wo ich heute ohne ihn wäre, weil er weiß, dass ich mich bedanken wollte und weil er ohnehin immer weiß, was ich sagen möchte und weil er mir, wie die Rose, ein kleiner Hoffnungsschimmer ist. Weil er mich nicht als hoffnungslosen Fall aufgibt, sondern mich Tag für Tag in seiner Pause besuchen kommt und mit mir durch den Park fährt. Weil mich das verdammte Krok nicht getötet, aber verkrüppelt hat und weil Jacobs das weiß und weil er auch weiß, wie sehr ich mir manchmal wünsche, es hätte mich nicht verkrüppelt, sondern getötet. Und weil ich erst einundzwanzig bin und eigentlich viel zu jung zum sterben, aber auch zu jung, um verkrüppelt zu sein. Und weil es mich wahnsinnig macht, dass ich so stottere und nicht immer das sagen kann, was ich sagen will und weil ich einfach nicht so normal bin, wie die anderen jungen Männer in meinem Alter, die noch laufen und sprechen können und noch zwei Beine haben. Und weil ich niemals mehr aus dieser sterilen, weißen Klinik entlassen werde und mein einziger Trost die Spaziergänge mit Jacobs durch den Park sind. Weil er mich als einziger, wie einen Menschen behandelt und nicht wie ein hässliches Tier.

»Ist schon in Ordnung, Mr. Evans. Wir haben alle unsere Fehler«, sagt er, als ihm die Tränen auffallen, die meine Wangen hinab laufen. Sanft legt er mir die Hand auf die Schulter und das beruhigt mich. Es beruhigt mich immer.

Der Arzt schiebt den Rollstuhl neben eine grüne Bank, auf der er Platz nimmt. Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf und lehnt sich zurück. Sein Blick ist auf den kleinen Teich gerichtet, vor dem andere Patienten stehen und die Fische füttern.

»Heute ist ein guter Tag, Mr. Evans. Sehen Sie? Die Sonne scheint und der Himmel ist vollkommen wolkenlos. Das ist doch schon mal was, oder?«

Ich nicke heftig und schiele zum Himmel hinauf. »J-Ja, Sie haben R-Recht. Aber auf sch-schönes Wetter f-fo-olgt auch wieder R-R-Regen. Den mag i-ich nicht.«

»Ja, natürlich folgt auf Sonne Regen. Aber auf Regen folgt auch wieder Sonne. Das ist ein ewiger Kreislauf. Und ich glaube, dass es in dem Leben eines Menschen ähnlich aussieht. Manchmal regnet es lange Zeit, aber dann nur, damit der darauffolgende Sonnenschein noch schöner ist. Ja, genau das glaube ich. Finden Sie nicht?«

Ich lache. Und dieses Mal lache ich wirklich und gluckse nicht nur. Und es fühlt sich unheimlich gut an. Jacobs sieht mich an und auf seinem mit leichten Falten durchzogenem Gesicht breitet sich ein Grinsen aus und er zuckt mit den Schultern und sagt: »Also bei mir scheint gerade die Sonne!«

Und für einen Moment fühle ich mich wie ein richtiger Mensch, wie völlig normal und nicht wie ein Krüppel und entgegne, fast ohne zu stottern: »Bei mir auch.« Nur bei dem a hake ich leicht, aber das fällt weder mir noch Jacobs wirklich auf.
 

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Glossar

tonisch-klonische Anfälle - Die häufigsten generalisierten Anfälle sind die generalisierten tonisch-klonischen Anfälle, oft noch als Grand-Mal-Anfälle bezeichnet, sie laufen häufig folgendermaßen ab:

Manche Patienten erleben ein vages, schlecht beschreibbares Vorgefühl, aber die Mehrzahl verliert das Bewusstsein ohne Vorboten. Beginn mit einem plötzlichen Bewusstseinsverlust, verbunden mit einem gepressten Schrei. Bei aufrechter Körperhaltung kommt es zu einem Sturz, wobei sich der Patient verletzen kann.

Im tonischen Stadium zeigt sich eine Versteifung sämtlicher Gliedmaßen, der Gesichts-, Hals- und Rumpfmuskulatur, die etwa 10 bis 30 Sekunden lang anhält.

Im darauffolgenden klonischen Stadium treten generalisierte symmetrische Zuckungen auf, die besonders an Kopf, Armen und Beinen sichtbar sind und etwa 40-60 Sekunden andauern.

Zu Beginn des Anfalls zeigt sich ein Atemstillstand, später eine verlangsamte und erschwerte Atmung. Es wird schaumiger Speichel abgesondert, der im Falle eines Zungenbisses blutig verfärbt ist. Die Gesichtsfarbe ist anfangs blass, später leicht bis stark bläulich verfärbt.

Die tiefe Bewusstlosigkeit während des Anfalls geht gleitend in einen tiefen Nachschlaf über, der bei einigen Patienten nur sehr kurz anhält, bei anderen aber einige Stunden andauern kann. Patienten, bei denen der Nachschlaf nur sehr kurz ist oder ganz fehlt, zeigen stattdessen häufig einen Verwirrtheitszustand mit einer Bewegungsunruhe, Verkennen von Ort und Personen sowie dem Drang, ziellos davon zu laufen. (http://www.epilepsie-informationen.de/Anfallsformen.htm#Tonisch-klonische Anfälle)



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Susilein
2012-08-22T15:39:59+00:00 22.08.2012 17:39
Erstmal- ich finde es gut das du etwas über diese Droge geschrieben hast und auch so viele Informationen genutzt und auch genauer erklärt hast, da wird man sich auch mal richtig bewusst was man den Körper damit antut.

Du hast einen schönn schreibstyl, er gefählt mir wirklich gut und durch ihn kommt diese Story noch viel besser rüber, wie schrecklich das alles eigentlich ist.
am anfang hab ich mich gewundert als die Aufzählung der Inhalsstoffe kamen und wo die Droge herkommt, ich dachte im ersten moment du hast nun einen bericht über die Stoffe darin geschrieben, aber dann war ich überrascht als ich merkte das das anscheinend der junge Mann erzählte.

Die droge ist wirklich grausam... zerstört ja anscheinend noch grausamer und agressiver den Körper und den geist, das ist einfach nur schrecklich.
Der Junge mann tut mir leid, er leide nur noch, der Tot währe zwar sicher einfacher ud schmerzloser gewesen aber man weiß ja nie ob es noch hoffnung gibt das er überlebt und wieder halbwegs okay wird, auch wenn ihm die Beine fehlen.

ich fand den Arzt klasse, das er sich die zeit für den patienten nimt und ihn immer wieder in den Garten führt, der schöne anblick der Blumen, der Sonne und des Teiches bauen auf und geben kraft dies alles zu überstehen, es jedenfalls zu versuchen auch wenn es wohl keine rettung gibt.

Ein wirklich wundervoll geschriebener OS, so tiefgründig und grausam und doch gab es etwas schönes- die stelle mit der Rose fand ich toll.

lg Susilein

(re-Kommi aktions treat)


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