Zum Inhalt der Seite

Die Geister die wir riefen...

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Ray war total außer sich, als er an die Stelle kam, wo er seine Freunde zurückgelassen hatte. Es stank ihm gewaltig, dass, wann immer er sich für eine Minute von den anderen entfernte, einer von ihnen – oder wie in diesem Fall alle – verschwanden.

„Wie in einem verdammten Kindergarten!“, fauchte er genervt und stampfte erbost mit dem Fuß auf. „Diese Idioten haben doch keinen anständigen Orientierungssinn!“

Diese ganze Situation war für ihn mehr als frustrierend.

Er verfluchte Allegro, da die Strommaus doch angeblich alles und jeden wittern konnte, aber nicht so schlau war, die Gruppe zu ermahnen still sitzen zu bleiben, bis er wieder kam. Es wurmte ihn das Tyson sich als Anführer aufspielte, man seinen kleinen Kai mit Samtpfoten anfassen musste, während sich ständig einer von ihnen verlief. Ganz gehörig ging ihm aber gegen den Strich, dass Max auf diese Weise schon einmal abhandengekommen war, als er den Frauenmantel für ihn gesucht hatte.

War die Gruppe etwa schon wieder in ein Bit Beast gerannt?

Unweigerlich musste Ray daran denken, wie sein Leben ablaufen sollte, wenn sie nicht rechtzeitig aus dieser Welt fanden. Musste er als ständige Leibgarde fungieren, nur weil die anderen in der Wildnis nicht klar kamen? Er wollte nicht ständig mit der Befürchtung leben müssen, dass seine Freunde von einem Bit Beast zerfleischt wurden, nur weil er mal kurz einen Strahl in die Ecke stellte.
 

„Wenn sie tot sind muss ich mich wenigstens nicht mehr um sie kümmern.“
 

Abrupt umfasste Ray seinen Kopf und raufte sich die Haare. Er atmete stoßweise aus und merkte, dass sein Schädel sich anfühlte, als wolle er zerbersten. Um die pochende Ader an seiner Schläfe zu beruhigen, fuhr er mit seinen Fingerkuppen in kreisenden Bewegungen über den Punkt. Es war ein verzweifelter Versuch seine innere Mitte wiederzufinden.

Sein Zen-Meister hätte wohl über ihn gestaunt.

Er dachte an seine Lehre und wie einfach es ihm immer gefallen war sein Zentrum zu finden. Nun fand er sich aber im Zwiespalt mit seinem inneren Dämon… das machte ihm Angst.

Es raschelte hinter ihm und Ray wandte sich alarmiert um. Mit tief zusammengezogenen Brauen stierte er in die Richtung, aus der sich etwas näherte. Doch bald hopste nur ein kleiner Blitz aus dem hohen Graß, direkt auf die Lichtung zu und manifestierte sich zu seiner nagetierähnlichen Gestalt.

„Na hallo, Monsieur! Schön euch noch lebend wieder zu sehen!“, das Bit Beast verschränkte die Arme vor der Brust und tippte mit dem länglichen Fuß auf dem Boden. „Du hast ganz schön etwas verpasst!“

Ray atmete beruhigt aus. Allegro war noch zu Scherzen aufgelegt, also konnte es nicht so schlimm gewesen sein. Die böse Stimme in seinem Kopf schimpfte:

„Und darüber bist du auch noch erleichtert?!“

Erneutes Rascheln kündigte die Ankunft der restlichen Gruppe an. Kurz darauf folgte ein dunkler Haarschopf und eine Hand schob ein großes Farnblatt zur Seite. Ein nachdenkliches Gesicht kam zum Vorschein und erst als Tysons tiefbraune Pupillen sich ihm zuwandten, wurde er aus seinen Überlegungen gerissen.

„Ray!“, scheinbar ebenso erleichtert wie er hellte sich seine Mimik auf.

„Wo wart ihr denn?!“, überrascht musste er feststellen, dass die Frage herrischer kam als beabsichtigt. Um den vorangegangenen Satz abzuschwächen, fügte er hinzu:

„Ich war krank vor Sorge.“

Tyson schaute ihn zunächst schweigend an. Ihm war der schroffe Tonfall nicht entgangen, dennoch ließ er sich mit der Ausrede abspeisen.

„Wir wurden von Zeus angegriffen.“

„Du meinst… Brooklyns Zeus?“

„Genau den.“, er lotste Max an sich vorbei der einen kränklichen Eindruck machte. Ihm schien die Begegnung nicht gerade gut getan zu haben. Wahrscheinlich musste er nun schon wieder die Krankenschwester spielen. Kai kam erst nach den anderen in sein Sichtfeld. Im hohen Gras war er kaum auszumachen. Genau wie der Rest der Gruppe war er triefend nass und nieste einmal leise. Ray entging nicht die merkwürdige Stimmung, als läge etwas Unausgesprochenes in der Luft.

„Ist noch etwas?“

„Wir haben Draciel gesehen.“, antwortete Max. Seine Stimme war kratzig. Er fasste sich an den Hals und räusperte sich. „Dragoon war auch da.“

Wahrheitsgetreu hätte Ray beinahe eingeworfen, dass auch er seinem Bit Beast in die Hände gelaufen war, entschied sich dann aber doch Stillschweigen zu bewahren. Zum einen wollte er sich nicht anhören müssen, dass Max ihn davor gewarnt hatte, einem Bit Beast begegnen zu können. Er würde nicht von seinem Standpunkt abweichen, dass er auch alleine klar kam. Zum anderen wollte die Gruppe dann sicher wissen, was Driger und er zu besprechen hatten. Obwohl er nichts Falsches getan hatte, empfand Ray ein schlechtes Gewissen. Womöglich weil die böse Stimme in seinem Hinterkopf ihm sagte, dass Driger im Prinzip Recht behielt. Um seine Gedanken von diesen dunklen Pfaden zu lenken, fragte er:

„Was genau ist passiert?“

„Das lass dir mal von Tyson erzählen…“, Maxs Stimme klang seltsam matt.

Erwartungsvoll blickte Ray zur besagten Person, doch der schien nicht gerade Lust auf das Thema zu haben. Er wirkte geradezu bedrückt.

„Muss ich dir alles aus der Nase ziehen oder rückst du endlich mit der Sprache raus?!“

Tysons Brauen zogen sich wütend zusammen und er fauchte geradeheraus:

„Ich habe keine Ahnung was dir für eine Laus über die Leber gelaufen ist, aber pass auf deinen scheiß Tonfall auf!“

„Oh Verzeihung, dass ich hier auftauche und mich frage wo ihr abgeblieben seid!“

„Niemand hat zu dir gesagt dass du dich vom Acker machen sollst.“

„Komm mir nicht mit blöden Vorwürfen! Von uns allen seid ihr immerhin wieder einmal von einem Bit Beast aufgegriffen worden!“

„Das lag nicht in unserer Hand, Ray!“, zischte Tyson ihn bedrohlich an. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden die geradezu Gift sprühten.

„Du wirst wirklich unfair!“, mischte sich auch Max ein.

„Ach halt doch die Klappe! Wenn ich deine Meinung hören will frage ich Tyson!“

Allegro spürte wohl, dass noch ein falsches Wort fehlte und jemand würde mit der Faust ausholen. Die Strommaus hopste zwischen die Jungen.

„Nun ist aber mal gut, meine Herren!“

Er sprang erneut in ihr Sichtfeld.

„Das ist doch kein Grund sich zu streiten!“, wieder federte er vom Boden ab und streckte noch in der Luft die Glieder aus, um ihnen Einhalt zu gebieten. „Lasst mich nicht bereuen, dass ich vor kurzem eure Freundschaft angepriesen habe!“

Stille kehrte ein…

Tyson schien sich zu sammeln.

Er schloss die Lider für einen Moment und atmete hörbar aus.

Ray spürte dass er ernsthafte Schwierigkeiten besaß es seinem Freund nachzumachen. So sehr er sich auch bemühte seinen aufwallenden Zorn im Zaun zu halten, es schien eine kleine Ewigkeit zu dauern, bis der brodelnde Kessel in seinem Bauch wieder auf Sparflamme köchelte. Ihm lag auf der Zunge, der Gruppe von diesem seltsamen Phänomen zu erzählen, doch sonst war immer er der Fels in der Brandung. Er befürchtete auf Besorgnis oder vielleicht sogar Missverständnis zu stoßen. Es ärgerte ihn, dass ausgerechnet dem aufbrausenden Hitzkopf Tyson etwas gelang, was für ihn doch sonst kein Problem war.

„Tut mir Leid. Ich habe seit einigen Stunden tierische Kopfschmerzen.“

Es war nur die halbe Wahrheit, doch genügte wohl als Ausrede.

„Warum hast du uns das nicht früher gesagt?“, stöhnte Tyson genervt. „Stattdessen fragen wir uns die ganze Zeit, was mit dir los ist. Wir reißen dir doch deshalb nicht den Kopf ab.“

„Ich… Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich weil wir andere Probleme haben.“

„Ist es so schlimm?“, wollte Max wissen.

„Es ist zumindest nicht angenehm. Jedes Geräusch klingt wie ein Paukenschlag gegen die Schläfe.“, er unterdrückte die boshafte Bemerkung, dass ihr Gequake es noch verschlimmerte. Weshalb verspürte er das Bedürfnis seine Mitmenschen zu kränken?

„Hört sich nach einer Migräne an.“, Max legte nachdenklich den Kopf zur Seite. „ Meine Mutter hatte das früher auch. Manchmal war es so schlimm, dass sie kaum aus dem Bett kam. Jeder Sonnenstrahl im Raum war dann zu viel.“

„Ja… Lässt sich aber momentan wohl nicht ändern.“, Ray massierte sich wieder die Schläfe und biss sich auf die Zähne. „Es ist ein unpassender Zeitpunkt, aber da muss ich eben durch. Ich fürchte ich gehe damit aber nicht gerade vorbildlich um, deshalb entschuldigt wenn ich euch mal über den Mund fahre.“

Tyson tat eine wegwerfende Bewegung.

„Hör auf dich zu entschuldigen. Das hast du nicht mit Absicht gemacht.“

Er musste gerührt Lächeln. Es war erstaunlich wie leicht Tyson über solche Dinge hinwegsehen konnte. Eben war er noch sauer, danach konnte er schon wieder scherzen.

„Das muss er ja auch. Er braucht dich noch.“

Ein schmerzhafter Laut drang aus seinem Mund und er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Ihm war als nehme er seine Umgebung nur noch durch einen Tunnelblick wahr.

Diese Geste entging auch seinen Freunden nicht, die sich vielsagende Blicke zu warfen.

„Wir sollten uns zum Quellstrom aufmachen. Uns läuft sonst die Zeit davon.“, sprach er gequält.

„Ich denke du solltest dich erst ausruhen.“, mahnte Max.

„Nein!“, schmetterte er den Vorschlag entschieden ab.

„Aber Ray, du…“

„Wir haben keine Zeit für so etwas!“

„Ray wir sind am Ende unserer Kräfte.“, sprach Tyson eindringlich auf ihn ein. „Heute Morgen musste ich Wolborg davon abhalten Kai und mir die Organe zu entnehmen. Ihr hattet währenddessen Galman am Hals. Danach sind wir durch diesen Dschungel geirrt und während du weg warst, hat uns Zeus angegriffen.“

„Vergiss nicht Dragoons Art uns mundtot zu machen.“, warf Max säuerlich ein. Tyson überging aber den Einwand. Er hatte wirklich keine Lust noch über sein Bit Beast zu sprechen. Für ihn war Dragoon gestorben. Doch die ganzen Strapazen hatten sie alle an die Grenzen gebracht.

Er las es in Maxs blassem Gesicht.

Er las es in Rays dunkeln Augenringen.

Er las es in Kais schmutziger Aufmachung.

Himmel, der Kleine sah aus wie ein zerlumpter Bettelknabe. Hätte er für Oliver Twist vorgesprochen, wäre er die Hauptbesetzung.

„Wir brauchen eine Pause. Sowohl du, als auch ich. Denkst du deine Migräne kommt von ungefähr?“

„Denk du doch mal nach wie viele Stunden wir noch haben!“, Rays Lautstärke stieg erneut an und er begann ihnen vorzurechnen. „Wir sind am Samstag hier gestrandet. Am Sonntag ist schon Halloween. Das macht zwei Tage in der Menschenwelt. Das entspricht in der Irrlichterwelt vier Tage. Einen Tag haben wir verplempert als wir hier angekommen sind und wie aufgescheuchte Hühner den Ausgang gesucht haben, später haben wir Kai vor Dranzer gerettet. Ein weiterer Tag ging drauf als wir in den Fluss gestürzt sind. Erst heute Morgen sind wir von Wolborg und Galman losgekommen. Heute ist der dritte Tag und es geht schon auf den Abend zu! Uns rennt die Zeit davon und wir müssen endlich zusehen, dass wir aus diesem beschissenen Talkessel finden!“

„Pah pah pah!“, gab Allegro plötzlich von sich und klopfte mit seiner länglichen Hinterpfote auf den Boden. „Na, mein lieber Junge. Da hast du dich aber gewaltig vertan. Wir sind noch immer im zweiten Tag.“

„Was?!“

Die überraschten Blicke aller richteten sich auf die kleine Strommaus.

„Wir haben zwei Nächte hier verbracht.“, sagte Max. „Wie kommst du denn darauf?“

„Als Galman uns in seiner Höhle gefangen gehalten hat, haben wir eine ganze Nacht dort verbracht, bevor wir es schafften auszubrechen.“

„Und Kai und ich haben in Wolborgs Dorf übernachtet.“, erinnerte sich Tyson.

„Oh ihr dummen Unwissenden. Das war doch dieselbe Nacht wie am Tag zuvor.“

„So ein Blödsinn.“, fauchte Ray.

„Überhaupt kein Blödsinn!“, äffte Allgro ihn brüskiert nach, stemmte eine Hand in die Seite und hob die andere mahnend mit dem Zeigefinger voraus an ihn gewandt. „Wir sind durch den Sturz in den Fluss einfach nur in einem anderen Gebiet der Irrlichterwelt gelandet. Gerade ihr Menschen müsstet diesen Phänomen doch am besten kennen. Immerhin hat es uns Bit Beast noch nie interessiert einen Tag in Stunden aufzuteilen. Wir brauchen so etwas wie Zeit nicht um uns zu orientieren.“

Allegro schaute nachdenklich zum Himmel und tippte sich ans Kinn.

„Ich glaube ihr nennt das… Zeitzonen?“

„Moment, halt!“, Max hob irritiert die Hände um den Redeschwall einzudämmen. „Habe ich das richtig verstanden? Wir sind also durch den Sturz in den Fluss in einer Zeitzone gelandet, in welcher der dritte Tag noch gar nicht begonnen hat?“

„Ja natürlich. Was dachtet ihr denn?“

Ihnen war unbegreiflich das Allegro nicht ihr Problem sah, aber es erklärte zumindest, weshalb sie auf dem Zahnfleisch gingen. Sie hatten alle nicht viel Schlaf abbekommen und litten scheinbar unter einer Art Irrlichterwelt Jetlag. Dazu kam die obskure Verschiebung der Zeit, die für sie, als Außenstehende, kaum nachzuvollziehen war.

Dennoch lachte Tyson plötzlich erleichtert auf.

„Verdammt, dann war das ganze ja sogar eine glückliche Fügung! Wir haben durch den Sturz in den Fluss einen Tag dazu gewonnen!“

„Wer sagt dass wir im anderen Teil nicht schon längst den Ausgang gefunden hätten?“

„Ray, ehrlich… Wenn ich nicht wüsste das es dir schlecht ginge, würde ich dir mal einen Satz heiße Ohren verpassen! Kannst du dich überhaupt noch an etwas erfreuen?“, Tyson sah ihn mehr als entnervt an, während sich sein Freund so fest auf die Unterlippe biss, dass es schon vom Zuschauen weh tat. Er schien richtig an sich zu halten, um nicht eine weitere aggressive Bemerkung von Stapel zu lassen. Diese Migräne machte ihn zu einem komplett anderen Menschen – Pessimistisch, launisch und streitsüchtig.

So kannte Tyson ihn nicht und er mochte diesem Ray auch keine Sympathie abgewinnen.

„Wir haben Glück im Unglück. Wir können die Zeit endlich nutzen um zu Kräften zu kommen.“

„Ich kann noch durchalten!“

„Die anderen aber vielleicht nicht, du Arsch!“, knirschte Tyson mit den Zähnen.

Erneut wallte die unangenehme Stimmung auf. Ray sah sich in einen Haufen müder Gesichter um. Mit einen „Na fein“ gab er sich widerwillig geschlagen.

„Aber wir verplempern keine Zeit mehr mit der Suche nach einem Schlafplatz. Es wird hier gepennt, nach alt bewehrter Art! Egal wie unbequem es für euch Prinzessinnen ist!“, forderte er. „Ich will irgendwann noch einmal hier herauskommen.“

„Schön! Dann bleibt aber jemand wach um Schmiere zu stehen und es wird abgewechselt!“

„Jawohl werter Lord!“, konterte Ray sarkastisch.

„Du darfst mich ruhig Tyson nennen.“, gab er sich gespielt geschmeichelt.
 

Die Dämmerung kam als sich die Gruppe ihren Schlafplatz richtete. Sie hatten Blätter gesammelt und trockenes Geäst für ein Lagerfeuer. Zunächst erfüllte es nicht die Absicht sie zu wärmen, sondern um gegen die plötzliche Finsternis anzukämpfen, die über sie hereinfiel. Es war eine weitere Absonderlichkeit dieses Teil der Welt.

Die Nacht kam schlagartig als würde jemand eine Decke über das Tal stülpen.

Tyson musste dabei unweigerlich an Wolborg denken, die in ihrem Eisparadies einsam auf ihrem Webstuhl den Frost vor sich her gewebt hatte. Das Bild von damals hinterließ einen traurigen Nachgeschmack. Womöglich existierte aber irgendwo ein Bit Beast, das die Nacht über sie brachte. Mit der Dunkelheit war aber auch die Wärme dahin. Tyson war froh das er noch seine Jacke besaß. Sein provisorisches Bett war nicht besonders bequem, erfüllte aber seinen Zweck. Ihn erinnerte das Ganze an sein Überlebenstraining mit Daichi. Auf dem Boden kauernd lehnte er an den umgestürzten Stamm, hatte den Kragen seiner Jacke bis zum Gesicht gezogen und dachte nach. Zu seiner Beunruhigung herrschte eine wirklich angesäuerte Stimmung in der Gruppe.

Sie hatten sich schon öfters Mal gezankt, dass gehörte bei einer soliden Freundschaft auch dazu, doch in ihrer jetzigen Situation, konnten sie es sich nicht leisten, Haarspalterei zu betreiben. Es lag einfach zu viel auf dem Spiel…

In der Menschenwelt wären sie sich in solchen Fällen für einige Stunden aus dem Weg gegangen, um ihre Gemüter abzukühlen. Das war hier aber keine Option. Was diesen Punkt anbetraf hatte Ray nämlich Recht - Sie konnten keine unnötige Zeit mehr verschwenden. Selbige Person versprühte aber auch Gift und Galle ohne Rücksicht auf Verluste. Im Verlauf des Abends hatten ihn Max und Tyson mehrmals ermahnt, sich endlich am Riemen zu reißen. Er war heilfroh als ihr Freund sich endlich schlafen legte. Tyson selbst meldete sich freiwillig als erste Wache. Zum einen, da Max Dragoons Angriff wirklich mitgenommen hatte, zum anderen, damit Ray endlich von seiner Migräne und den daraus resultierenden Launen erlöst wurde. Der Gedanke daran ließ ihn verbissen in die Flammen blicken. Ihm war als hätten Ray und Kai die Rollen getauscht. Dann schüttelte er aber den Kopf und fand, dass er Kai damit böses Unrecht tat.

So schlimm war er nie gewesen. Hier lagen Welten dazwischen…

Er war perfekt darin die kalte Schulter zu zeigen, doch solche Allüren hätte er sich nie geleistet. Kai hätte in einer so ernsten Situation gewusst, dass man auf die anderen Rücksicht nehmen musste. Ihm kam in den Sinn, wie sich ihr Teamleader freiwillig gemeldet hatte, Kenny und Hillary zum Leuchtturm zu begleiten, als sie während der zweiten Weltmeisterschaft von einer dieser obskuren Organisationen, auf einer Insel festgehalten worden waren. Kai hatte eingewandt, dass man die beiden nicht alleine lassen dürfe und es war einer dieser Momente, der Tyson vor Augen führte, dass sein Freund im Grunde genau wusste, wann gesunder Egoismus angebracht war und wann nicht. Eine klare Linie war vorhanden.

Ray dagegen schien aber vollkommen verwandelt. Er wollte auf Biegen und Brechen aus der Irrlichterwelt, auch wenn er sich und anderen schadete. Das war seltsam, denn er kümmerte sich sonst vorbildlich um seine Mitmenschen. Als ihr Freund endlich schlief, hatte er jeder erdenklichen höheren Gewalt gedankt. Nach der heftigen Auseinandersetzung mit Dragoon verspürte er den Wunsch, in sich zu gehen und über den Vorfall nachzudenken. Auch wenn er sich vor den anderen nichts anmerken ließ – der Bruch mit seinem Bit Beast ging ihm Nahe. Eigentlich war ihm zum Weinen zu Mute, denn ein kleiner Teil hatte doch immer noch gehofft, dass Dragoon einen triftigen Grund besaß, um sich so verkehrt zu verhalten. Da war diese leise Zuversicht gewesen, dieser naive Optimismus, der wie die Flamme einer Kerze ausgepustet worden war. Tränen der Enttäuschung prickelten unter seinen Augenlidern. Er blinzelte sie weg und schielte verstohlen zu den Schlafenden.

Allegro hatte sich auf dem Baumstamm zusammengerollt und ein Blatt über seinen Körper geworfen. Auch die Strommaus musste sich endlich eine Pause gönnen. Als er zu Kai blickte fröstelte der Junge auf seiner provisorischen Bettstatt. Jetzt wurde es doch verdammt kühl. In was für einer wankelmütigen Welt waren sie gestrandet?

Tyson zog sich die Jacke aus und fletschte die Zähne, als er seine verletzte Hand aus dem Ärmel zerrte. Es wäre eine große Hilfe wenigstens nicht mehr gehandicapt zu sein. Er schob den Gedanken beiseite, da sich an diesem Zustand ohnehin nichts ändern ließ und beugte sich über das Kind, um ihm die Jacke über die Schultern zu legen. Etwas überrascht stellte er dabei fest, dass Kai noch gar nicht schlief. Als ihn Tyson zudecken wollte, drehte er den Kopf und blinzelte zu ihm hinauf.

„Ist dir nicht selber kalt?“

„Es geht schon, Kleiner.“, Tyson setzte sich neben ihn. „Warum schläfst du noch nicht?“

Kai zuckte mit den Schultern, behielt seine Gedanken aber für sich.

„Bedrückt dich etwas?“

Zuerst schwieg der Junge, als wisse er nicht, ob er sich ihm anvertrauen sollte. Dann setzte er sich langsam auf und vergrub seinen Körper tief in den Stoff der roten Jacke. Er ging beinahe komplett darin unter.

„Als wir am Fluss waren, da hast du zu diesem komischen Mann etwas gesagt.“

„Ich habe einiges gesagt.“, seufzte Tyson. Er mochte nicht über Dragoon sprechen.

„Du hast ihn gefragt ob er etwas für mich tun kann… Weil ich mich noch immer nicht an euch erinnern kann.“

„Ach das.“

„Was hast du damit gemeint?“

„Das ist schwierig… Sehr schwierig.“

„Kannst du es nicht versuchen zu erklären?“, bat das Kind.

Tyson schaute ihn lange an. Er wusste nicht wie er sich an das heikle Thema herantasten konnte, zumal Kai bei seinem letzten Versuch Hals über Kopf geflüchtet war. Es war aber auch prekär. Da saß sein Freund, der doch eigentlich nichts mehr über ihre gemeinsame Zeit wusste und dem die echte Welt komplett fremd geworden war. Gleichzeitig spürte er, dass etwas nicht stimmte, konnte sich aber keinen Reim daraus machen, was die Älteren vor ihm verheimlichten. Kai blinzelte ihn aus diesen unwissenden Kinderaugen an und nun sollte Tyson ihm erzählen, dass er doch dreiundzwanzig war, ein stattliches Familienimperium führte und eine schwerkranke Schwester daheim auf ihn wartete. Der Rest der Gruppe wusste zumindest noch, wie es sich anfühlte Erwachsen zu sein und was sie alles verband. Tyson mochte gar nicht daran denken, wie schrecklich es für ihn wäre, sollte Kai all ihre wundervollen Momente, die sie als Team einten, verloren haben.
 

„Er ist verflucht.“
 

Dragoons Worte machten ihm kaum Hoffnung...

Nachdenklich kratzte er sich am Kinn. Was hätte er in Kais Situation gedacht?

Er stellte sich vor, wie es für ihn gewesen wäre, hätte ihn jemand nach dem Kindergarten aufgegabelt und ihm sein ganzes Erwachsenenleben, mit all seinen Höhen und Tiefen, geschildert. Ganz klar - er hätte nur Bahnhof verstanden! Wahrscheinlich wäre er verwirrt zu seinem Bruder gerannt, um ihm von dem komischen Fremden zu berichten. Er wusste doch selbst kaum mit dieser Situation umzugehen, wie sollte es dann Kai können?

„Lass mich dir stattdessen eine Geschichte erzählen…“

Das Kind blinzelte ihn neugierig an.

„Eine über deinen Großvater? Wie die als er deinen armen Hamster in der Mikrowelle trocknen wollte?“

Die Geschichte musste dem Jungen besonders in Erinnerung geblieben sein.

„Nein, heute Mal nicht.“, Tyson lächelte. Die Art wie offenkundig Kai den Hamster bemitleidete ließ eine Idee in ihm aufkeimen, wie er die Geschichte kindgerecht umschmücken könnte. Vielleicht kam es einfach nur auf die Verpackung an?

„Heute erzähle ich dir mal von einem… Katzenrudel.“

Kai bekam große Augen. Sie leuchteten ihn förmlich an.

„Ich mag Katzen.“, gestand er geradezu ehrfürchtig ein.

„Tatsächlich?“, das war Tyson neu, aber ein eifriges Nicken zementierte die Aussage.

„Die haben ein flauschiges Fell und hübsche Augen… und die Pfoten sind so klein.“, kam es geradezu verträumt. Er musste perplex blinzeln. Dann strahlte Tyson bis über beide Ohren.

„So so, der harte Kerl mag Katzen! Na dann wird dir diese Geschichte gefallen.“, er freute sich diebisch über diesen Volltreffer. Am liebsten hätte er Max geweckt und ihm von diesem leisen Einblick in Kais Seele erzählt. „Also es gab da mal eine Katze. Genaugenommen einen Kater…“

„Was für ein Fell hatte der Kater?“, kam die Zwischenfrage.

„Ist das wichtig?“

Kai zuckte mit den Schultern und meinte mit kindlicher Ehrlichkeit: „Ich finde schon.“

„Na gut. Es war dunkel.“, er zupfte an einer Strähne die ihm in die Stirn fiel und begutachtete sie eingehend. „Sagen wir sie hat im rechten Licht einen leicht bläulichen Ton.“

„So wie bei dir?“

„Ja! Was für ein Zufall, oder?“, lachte er auf. Das ganze könnte interessant werden. „Jedenfalls hatte dieser Kater vier Freunde und sie kannten sich bereits als sie noch ganz klein waren. Einer von ihnen hatte ein braunes Fell und konnte manchmal ein furchtbarer Angsthase sein. Aber er war sehr schlau und hatte das Herz am rechten Fleck. Allerdings war er ziemlich kurzsichtig und trug eine dicke Brille.“

„Katzen tragen gar keine Brillen.“

„Ja da hast du Recht.“, Tyson überlegte. „Es war eher… seine Fellzeichnung. Sie hatte um die Augen die Form einer Brille. Dieser Kater war furchtbar faul und ließ sich nie das Fell schneiden. Er hatte ganz langes Haar, dass fiel ihm wild ins Gesicht. Man konnte kaum seine Augen ausmachen.“

Kai legte seinen Kopf auf die Knie und hörte Tyson aufmerksam zu. Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als könne er sich das Bild vorstellen.

„Dann gab es da noch einen Kater mit sehr blassem Fell und Augen so tiefblau wie das Meer. Der besaß richtig komische Essgewohnheiten. Zum Beispiel aß er für sein Leben gerne Mayonnaise und das wirklich auf allem. Egal ob Nudeln, Fleisch, Gemüse oder Fisch… Es musste immer eine Tube Mayonnaise neben seinem Napf stehen. Außerdem war er immer gut gelaunt und eine richtige Frohnatur. Aber wenn er doch einmal traurig war, dann hat man es diesem Katzenjungen sofort angesehen. Er bekam dann immer richtige Schmolllippen, große Kulleraugen und sah dann eher aus wie ein bedrückter Teddybär.“

Tyson ahmte Max nach und setzte einen übertrieben bekümmerten Blick auf, dabei schob er seine Unterlippe beleidigt vor. Ein Kichern kam von dem Kind.

„Diesem Katzenjungen konnte man selten lange böse sein. Er war sehr loyal und für jeden Spaß zu haben. Genau wie der Nächste in der Gruppe. Das war ein schwarzweiß gestreifter Kater, der fast schon einem weißen Königstiger ähnelte. Seine Augen waren hell und besaßen eine gelbliche Note. Er hatte etwas von einer Raubkatze aber war keineswegs gefährlich, sondern sehr hilfsbereit und mutig. Ihn konnte so schnell nichts aus der Ruhe bringen und er hatte schon früh gelernt, auf sich selbst aufzupassen.“

Rays heutiges Verhalten kam ihm in den Sinn.

„Manchmal… da konnte er auch Zähne zeigen. Das war aber eigentlich eine Seltenheit, weil es lange brauchte bis man ihn wirklich zur Weißglut trieb. Seine Freunde wussten aber trotzdem dass man sich auf ihn verlassen konnte, wenn man ihn braucht. Der blaue Kater mochte ihn, gerade weil er sich so verantwortungsbewusst verhielt und sich um seine Mitmenschen sorgte. Da er in einem fernen Dorf tief in den Bergen, weit weg von der Großstadt aufwuchs, kam der getigerte Katzenjunge sehr gut in den Wäldern zurecht.“

Tyson hielt inne als gerade die angedeutete Person sich rührte. Das Laub knisterte unter seinem Gewicht, doch er drehte sich nur auf die Seite. Sowohl er als auch Kai blickten in Rays Richtung, denn er murmelte im Schlaf. Auch das war neu. Er besaß einen wirklich ruhigen Schlaf, aber vielleicht war das Tyson entgangen, weil er sonst immer vor ihm eingedöst war, wenn sie in einem Gemeinschaftsraum übernachtet hatten. Um ihn nicht zu wecken rutschte er näher an Kai heran und verfiel in ein leises Flüstern.

„Dann gab es da noch einen Kater der war sehr speziell.“

„Wegen seinem Fell?“

„Darauf wollte ich eigentlich nicht hinaus, aber ja, warum eigentlich nicht? Er sah auch etwas speziell aus. Nicht das er hässlich war.“ Tyson schielte zu seinen schlafenden Freunden und beugte sich näher an Kais Ohr. Verschwörerisch flüsterte er: „Das war sogar ein sehr ansehnlicher Kater. Er besaß ein silbergraues Fell, mit dunklen Pfoten und um die Wangen herum hatte er zwei kleine Streifen. Und dann noch seine Augen… Die waren tiefbraun. Doch in manchen Momenten da machte es den Eindruck als würden sie feuerrot schimmern, als ob er eine Flamme in seinem Inneren verborgen hielt, die er nicht jedem preisgab. Die Katzendamen waren alle ganz verrückt nach ihm.“

„So eine Katze würde ich gerne sehen…“

Tyson schmunzelte. Offenbar hatte Kai die Parallelen nicht begriffen. Aber was erwartete er? Mit knapp sechs Jahren, hätte er ihm auch weiß machen können, dass der Storch die Babys brachte.

„Das wirklich Besondere an ihm war aber sein Charakter. Als kleines Kitten hatte er die Angewohnheit manchmal tagelang zu verschwinden und herumzustreunen. Er ließ sich nur ungerne etwas sagen oder anfassen, aber gleichzeitig hatten die anderen Respekt vor ihm.“

„War er etwa ein böser Kater?“

„Wie meinst du das?“

„Hat er gekratzt?“

„Oh… Nun, er konnte schon manchmal eine fiese Kratzbürste sein.“, grinste Tyson verschmitzt. Es war doch recht amüsant wie Kai entging, dass er über ihn sprach. „Im Grunde war er aber eine gute Seele. Aber leider war dieser Kater sehr scheu. Es fiel ihm unglaublich schwer Vertrauen zu anderen zu fassen und er sagte nie, was ihm durch den Kopf ging. Darüber ärgerte sich der blaue Kater mehr als einmal und manchmal stritten sie deshalb sogar.“

„Das ist schade.“

„Ja, sehr schade.“, stimmte Tyson zu. „Aber die beiden haben sich auch schnell wieder versöhnt. Es war also halb so schlimm. Jedenfalls, die Mitglieder dieses Rudels kannten sich bereits, als sie noch ganz kleine Jungkatzen waren und sie hatten eine große Spielwiese. Dort verbrachten sie viel Zeit zusammen, denn es war eine ganz besondere Wiese.“

Er sah den fragenden Ausdruck und fügte theatralisch hinzu:

„Es gab nämlich magische Schafe auf dieser Wiese.“

Kai zog skeptisch eine Braue in die Höhe. „Schafe?“

„Ja. Das waren die Beschützer von den kleinen Kitten. Jeder von ihnen hatte ein eigenes und auf der Wiese erlebten sie dadurch sehr viele Abenteuer. Es kamen andere Katzenrudel mit ihren Schafen und forderten sie zu einem Kampf heraus. Dann kamen Bären und wollten ihre Schafe klauen. Einmal wurde der braune Kater verschleppt, dann ein anderes Mal sogar alle zusammen auf einer Insel ausgesetzt und sie mussten wieder zurückfinden. Manchmal stritten sie sich auch untereinander. Einmal kam das alte Rudel des getigerten Katers und wollte sie zum Kampf herausfordern. Es kam vor das jemand verloren ging, dann mussten sie ihn suchen. Das silbergraue Katzenjunge hatte es sogar einmal geschafft, auf einem zugefrorenen See festzufrieren und wäre beinahe ertrunken!“

Kais Augen weiteten sich erwartungsvoll.

„Wie haben sie ihn da herausbekommen?“

„Indem sie alle zusammen an ihm zerrten bis sich seine Pfoten vom Eis lösten.“

„Hat er so etwas öfters gemacht?“

„Nein… Aber wenn er mal was Blödes machte dann im großen Stil.“, spottete Tyson. Er hatte Kai schon manches Mal diesen Vorfall unter die Nase gerieben. „Es vergingen viele Jahre und das Katzenrudel verbrachte auch weiterhin die Zeit miteinander. Selbst als sie die Spielwiese verlassen mussten, weil sie zu groß für sie wurden und ihre Schafe dort zurückließen. Als sie älter wurden verliebte sich der getigerte Kater in ein Katzenmädchen, dass er schon sehr lange kannte. In der Zwischenzeit eröffnete der blaue Kater eine Werkstatt…“

„Was ist eine Werkstatt?“

„Ein Laden.“

„Hat er da etwas verkauft?“

Tyson dachte nach und entschied, dass es für die Geschichte nicht relevant war, wenn er die Wahrheit der Handlung zuliebe abwandelte. Damit es zur kindlichen Erzählung passte, antwortete er: „Ja klar… Er hat dort Thunfisch verkauft. Der silbergraue Katzenjunge hatte in der Zwischenzeit eine kleine Schwester bekommen, in die er total vernarrt war. Sie mochte ihn natürlich auch sehr. Dieses Katzenmädchen hatte kleine schwarze Knopfaugen und ein nussbraunes Fell. Leider war sie krank, doch das störte ihren Bruder nicht. Er kümmerte sich wirklich aufopferungsvoll um sie und tat alles damit es ihr an nichts fehlte.“

Einen Moment wartete Tyson ab, ob diese Beschreibung etwas in Kai wachrüttelte. Leider verriet dessen Neugierde, dass der Wunsch nicht erhört wurde. Er seufzte enttäuscht und fuhr dann aber unbeirrt fort:

„Später feierten der getigerte Kater und seine Katzendame eine tolle Hochzeit in seinem Heimatdorf. Leider blieb er in dem Dorf und auch der Kater mit dem Teddybär Gesicht musste das Rudel verlassen, weil er seiner Katzenmutter in ein Land, weit hinter einem großen Meer folgte. Jetzt sah sich die Gruppe seltener aber verlor sich trotzdem nie wirklich aus den Augen. Sie schrieben sich Briefe oder fanden andere Wege um in Kontakt zu bleiben. Es gibt so viele Geschichten über dieses Rudel zu erzählen, ich vermute, ich könnte darüber ein ganzes Buch schreiben…“, wehmütig lächelte Tyson und schwelgte in Erinnerungen. Rückblickend hatten sie wirklich eine aufregende Zeit gehabt. Er dachte gerne daran und hätte sich gewünscht, dass es auch in Zukunft so blieb.

„Sie hatten schon früh gelernt, dass man eine Freundschaft auch über weite Distanzen pflegen kann. In ihrer Jugend trennten sich ihre Wege auch mehr als einmal. Einmal stand der blaue Kater sogar fast alleine da. Nur der braune Kater blieb damals bei ihm, zusammen mit einem roten Wildkater, der etwas später zu der Gruppe dazu stieß und einer Katzendame, namens Hillary.“

„Hatte er sich mit seinen Freunden gestritten?“

„Nein. Nicht direkt.“, wiegte Tyson seine Worte ab. „Sie hatten zu diesem Zeitpunkt einfach nur verschiedene Ziele und wollten auch mal bei anderen Rudeln mitspielen.“

„War der blaue Kater da nicht traurig?“

„Sehr traurig.“, gestand Tyson. Als sich alle während der dritten Weltmeisterschaft von ihm abwanden, hatte er gedacht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er wusste noch zu gut wie er Ray, in einem Anflug von blinden Zorn, am Kragen gepackt und ihm vorgeworfen hatte eifersüchtig zu sein, während er Max mit Schimpf und Schande verfluchte. Als dann Kai noch abgesprungen war, dachte er die Welt hätte sich gegen ihn verschworen.

„Allerdings begriff der blaue Kater schnell, dass eine starke Freundschaft auch so etwas aushält. Man darf sich nicht an Kleinigkeiten aufhängen, wenn man genau weiß, dass deine Freunde im Ernstfall hinter dir stehen. Denn obwohl sie so viele Höhen und Tiefen hatten, kam die Gruppe letztendlich wieder zusammen. Und im Laufe der Jahre wuchsen sie immer mehr zu einer Familie heran, trotz der Kilometer die sie trennten.“

„Dann war der blaue Kater damals nicht böse auf seine Freunde?“

„Anfangs schon. Er war ein ziemlicher Hitzkopf, “ räumte Tyson etwas schmunzelnd ein. „Aber später verstand er es und vergaß diesen Vorfall sehr schnell.“

„Obwohl sie ihn allein gelassen hatten?“

„Er war nie wirklich allein.“, lachte Tyson heiter auf.

„Ich mag den blauen Kater.“, gestand Kai und rieb sich müde über die Lider.

„Tatsächlich?“, er musste strahlen wie ein Honigkuchenpferd. Das Kind nickte neben ihm schläfrig. Scheinbar rief das Traumland, doch Tyson wurde neugierig. Warum den jetzigen Zustand nicht nutzen um etwas mehr aus Kai heraus zu kitzeln? Mit einem spitzbübischen Grinsen hakte er nach: „Was magst du denn an ihm?“

„Alles. Er ist ehrlich… und er erinnert mich an dich.“, zuckte Kai unbedarft mit den Achseln.
 

Stille kehrte einen Augenblick ein. Dann…
 

„Wirklich? Du magst mich?“, es klang fast schon hoffnungsvoll und Tyson konnte sich kaum erklären, weshalb alles in seinem Inneren kurz davor stand zu jubilieren. Er musste richtig an sich halten. Kai nickte.

„Wenn ich groß bin will ich wie du werden…“

Verdattert über diese Ehrlichkeit starrte er auf das Kind hinab. Es bemerkte nicht einmal seine Reaktion sondern rieb sich weiterhin unbefangen über die Augenlider. Er hoffte inständig diese offene Sympathiebekundung rührte nicht davon her, dass Kai bloß müde war. Das Kribbeln kam mit voller Wucht zurück…

Dieselbe intensive Zuneigung als Kai ihn im Krankenhaus bat zum Friedhof zu fahren.

Er hatte angenommen damals einem von Dranzers Zaubern erlegen zu sein. Dennoch empfand Tyson einen taumeligen Glückrausch, der umso stärker wurde, als sich das Kind gähnend an ihn schmiegte und die Lider vertrauensselig schloss.

Vertrauen…

Das war es was er sich so sehr von Kai wünschte. Er hielt den Atem an, denn eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf wollte verärgert wissen, weshalb er so sensibel darauf reagierte und das er sich doch wie ein verdammter Mann verhalten sollte.

Sicherlich ahnte Kai gar nicht was er gerade in ihm auslöste.

„Erzählst du weiter?“, kam die leise Frage zu seiner Seite.

„J-Ja gleich…“, jetzt war er komplett aus dem Konzept geraten.

Tyson biss sich einen Moment auf die Zunge, weil ein anderer Part in ihm beinahe laut geantwortet hätte, dass er alles für Kai tun würde, so lange er nur so lieb darum bat. Es klang aber viel zu intim und er schob dem Satz im Geiste einen zentnerschweren Riegel vor. Dabei verstörte ihn sein impulsives Verlangen, dass Kai doch auch mal so zutraulich sein könnte, wenn er endlich wieder Erwachsen war. Ein Bild entstand in seinem Kopf, dass dort definitiv nicht hineingehörte. Er verdrängte es in die hinterste Ecke seines Unterbewusstseins. Dennoch schwoll ihm ein Kloß im Hals an, denn ihm wurde bewusst, dass er keinesfalls so fühlen sollte. Das hier war weit entfernt von Sitte und Norm.

Bei seiner ersten Freundin war dieses Verlangen angebracht gewesen. Auch in den Diskotheken, wenn er eine Frau als sehr attraktiv empfand und herausfordernd wissen wollte, wie nah er ihr im Laufe des Abends noch kommen würde. Aber er konnte doch nicht hier sitzen und darauf hoffen, Kais erwachsenes Alter Ego, irgendwann genauso im Arm halten zu dürfen, wie das kleine Kind jetzt. Ausgeschlossen!

Tyson räusperte sich um sich von der Beklemmung zu lösen. Diese Seite an ihm beunruhigte ihn seit seinem Gespräch mit Dranzer an der Brücke. Sie wollte damals von ihm wissen, weshalb ihm Kai immer so sehr am Herzen lag. Er hätte zu gerne gewusst wie viel von diesen konfusen Gefühlen auf ihren Mist gewachsen war.

„Magst du nicht mehr erzählen?“

„Doch, doch… Gib mir nur eine Sekunde.“, seine Stimme klang kratzig.

Tyson tat einen schweren Atemzug, legte sich zwei Finger auf die Stirn und schloss konzentriert die Augen um sich zu sammeln. Er zählte im Gedanken rückwärts von zehn zurück und tippte sich im Takt gegen die Stirn. Seine linke Braue zuckte dabei angespannt.

„Nun. Diese Jungen standen sich also ziemlich nah-…“

„Es waren doch Katzen.“, murmelte Kai dösig.

„Ja… Das meinte ich auch. Junge Katzen.“, Tyson räusperte sich erneut und fand mit viel Mühe endlich den Faden. „Was der blaue Kater aber nicht ahnte – was sie alle nicht ahnten - war, dass tatsächlich einige falsche Freunde die ganze Zeit unter ihnen weilten. Sie lauerten unter ihrer Verkleidung, oder besser gesagt, einem weißen Pelz. Die Schafe die auf sie aufpassen wollten, entpuppten sich irgendwann nämlich als hinterhältige Wölfe, die anfingen ihnen Böse mitzuspielen, weil das Rudel die Wiese verlassen hatte.“

Kai blinzelte irritiert zu ihm hinauf. Er hatte wohl nicht mit dieser dramatischen Wendung gerechnet. Die farbenfrohe Erzählung nahm neue Formen an, was Tyson aber endlich zum Kern der Geschichte führte.

„Die Wölfe in Schafspelzen griffen die Familien der Katzenjungen an. Einer verletzte den Großvater des blauen Katers, obwohl dieser ihm niemals etwas getan hatte. Es war seine Art sich zu rächen, weil man ihn auf der Wiese vergaß. Der blaue Kater musste erkennen, dass sein Schaf ihm all die Jahre etwas vorgegaukelt hatte. Es war gar nicht sein Freund und hielt ihn nur für einen mickrigen Wurm. Ein hinterhältiger Wolf eben…“

Etwas verbittert schaute Tyson in die klackernden Flammen.

„Ein anderer Wolf nahm dem blassen Kater mit dem Teddybär Gesicht, eine wirklich wichtige Person weg - Seine Katzenmutter. Darüber waren sie alle furchtbar bestürzt, doch dabei beließen es die Wölfe nicht. Sie drohten dem Rudel mit noch mehr Unheil, wenn sie nicht zurück auf die magische Wiese fanden. Dann tricksten die Wölfe sie sogar aus und entführten sie in eine Welt, wo die Wölfe als Könige herrschten. Am schlimmsten erwischte es dabei den silbergrauen Kater mit den hübschen roten Augen.“, ertappt biss sich Tyson einen Moment auf die Unterlippe und ermahnte sich die Sentimentalitäten wegzulassen. „Sein Wolf im Schafspelz nahm ihm all die schönen Erinnerungen, welche die Gruppe so viele Jahre gesammelt hatte. Plötzlich erkannte der silbergraue Katzenjunge weder den blassen, den getigerten, noch den blauen Kater. Sie wurden ihm alle fremd, als hätte es sie niemals in seinem Leben gegeben. Nicht einmal an seine Schwester mochte er sich noch erinnern. Als wollte sein Wolf ihn jeden vergessen lassen, der ihm einmal etwas bedeutete…“

Tyson blickte auf Kai hinab. Er schaute nachdenklich und die Müdigkeit schwand.

Womöglich erkannte das Kind die ersten Parallelen.

„Als wäre das nicht genug schrumpfte sein Wolf den silbergrauen Kater. Er war nun wieder ein kleines Katzenkind und vollkommen unwissend. Sein Wolf hatte ihn zudem mit Lügen verwirrt. Er dachte nun alle anderen Katzen auf der Welt seien abscheulich und bösartig. Dabei hüllte sich der Wolf in die Gestalt einer wunderhübschen Fee, die dem Katerchen den Kopf verdrehte und versprach, dass er nur ihr vertrauen könne. Als seine Freunde ihn endlich aus ihrer Gewalt befreiten, war er bereits komplett von ihr eingenommen. Er wünschte sich sehnlichst wieder zu ihr zurückzukehren, doch das konnten seine Freunde natürlich nicht zulassen. Sie hatten Angst um ihn… Man sieht nicht dabei zu wie ein Freund ins Verderben rennt, findest du nicht?“

Er sprach ihn bewusst offen an, um Kai zum Nachdenken zu animieren. Doch der Junge gab keine Antwort, als wäre er erstarrt. Tyson wusste das er an dem Punkt angelangt war, wo jedes Wort mit äußerster Sorgfalt gewählt sein musste. Er fuhr langsam fort.

„Und während die anderen versuchten ihn vor dem Bösen, dass in der Welt der Wölfe lauerte, zu beschützen, fragte sich der kleine Kater ständig, ob sie ihm auch wirklich die Wahrheit erzählten.“

Kai hob seinen Kopf an und schaute mit offenem Mund zu ihm auf. Seine Augen weiteten sich ungläubig. Er schien endlich den tieferen Sinn hinter dieser Geschichte begriffen zu haben. Tyson ließ ihm Zeit eine Frage zu stellen, doch der erschütterte Blick verriet, dass das Kind noch damit beschäftigt war, die Zusammenhänge richtig zu verknüpfen. Sicherlich ging ihm seine Dame Solowéj durch den Sinn und die Frage ob sie sein böser Wolf war.

„Der kleine Kater meinte sogar einmal, dass man ihn wie ein frisch geworfenes Katzenbaby behandelt und seine Meinung nicht zähle.“, wandelte Tyson Kais damaligen Vorwurf ab. Er lächelte entschuldigend auf ihn herab. „Aber er weiß vieles nicht mehr und seine Freunde haben große Sorge, dass er sich an ihre gemeinsame Zeit nie mehr erinnern wird. Sie würden alles für ihn tun, aber manchmal… manchmal muss man die Wahrheit einfach für sich behalten, wenn man jemanden schützen will.“

Kai setzte sich nun vollends auf. Er schien bestürzt und auch unfähig zu sprechen.

Es wurde still zwischen ihnen. Nur noch das Knistern des Feuers lag über ihrem Schlafplatz. In dieser stummen Zweisamkeit schien jeder seinen Gedanken nachzuhängen. Ein kleiner Windhauch umspielte sie und wiegte die Flammen vor ihnen sachte mit sich. Tyson lehnte den Hinterkopf gegen den Baumstamm und sah hinauf in den Himmel, wo die Sterne um die Wette strahlten. Hier war kein Nebel wie in der Kopie von Tokyo. Wahrscheinlich weil dieser Teil der Irrlichterwelt nicht den Erinnerungen aus ihrem Kopf entsprang.

Seit geraumer Zeit hatten klare Nächte einen eigenartigen Effekt auf Tyson.

Während einem Match mit Kai, hatte er nämlich eine ähnliche Situation wie jetzt erlebt, nur waren die Sterne einem schimmernden Regen gleich zur Erde gefallen. Es war einer ihrer aufregendsten Kämpfe gewesen und Tyson wusste nicht mehr, ob er sich das Meiste davon nicht eingebildet hatte. Wahrscheinlich war es sogar so…

Ihm schienen seine Kämpfe damals einem atemberaubenden Trip gleich. Es war eine einzige Droge gewesen und je stärker sein Gegenpart, desto intensiver erlebte er die Empfindungen. Desto älter er geworden war, desto mehr waren diese Erinnerungen verblasst. Doch eines wusste er noch…

Mit Kai war jedes Match fesselnd gewesen.

Reagierte er deshalb immer so empfindlich auf ihn?

Seine Haut hatte stets gekribbelt wenn er auf der anderen Seite des Beystadiums Kais Gestalt erhaschte. Eine seltsame Spannung lag dann auf seinem Körper. Es war die reinste Vorfreude gewesen, weil er ahnte dass sie sich nichts schenken würden – und dass er damit nicht alleine stand. Ein einzelner Blick auf seinen Kontrahenten und Tyson erhaschte die Anzeichen einer Verwandlung, die auch sein Freund durchlebte. Plötzlich war da keine distanzierte Gleichgültigkeit mehr.

Das kalte Augenpaar schmolz unter der Hitze seiner inneren Glut. Der faszinierende Schimmer war wieder da. Er sah seinen Rivalen einen ruhigen Atemzug nehmen und dann warf er ihm sogar eines seiner seltenen Lächeln zu. Es kam ihm damals wie ein Geschenk vor - das nur ihm alleine gehörte.

Allein diese stumme Geste war es ihm wert gewesen sich bis ins Finale zu kämpfen.

„An diese Details erinnerst du dich noch? Nach all den Jahren?“, schoss es durch seinen Kopf. Tyson seufzte. Seit sie hier waren hatte er keinen freien Moment gehabt um über die letzten Tage nachzudenken. Jetzt da er es tat, bereute er es fast.

Es ließ sich wohl nicht mehr abstreiten. Er war nicht normal…

„Dieses eine verdammte Match!“, fluchte er innerlich.

Es musste schon damals angefangen haben.

Tyson hatte die letzten sieben Jahre mehrmals darauf zurückgeschaut, hatte aber davon abgelassen die Gedanken zu vertiefen. Stattdessen speiste er seinen Verstand mit der Ausrede ab, dass er immer so impulsiv während einem Kampf war. Nun konnten sie sich aber nicht aus dem Weg gehen… und Kai hing auch noch so lammfromm an ihm.

Vielleicht war es eine glückliche Fügung das er nun ein Kind war.

Er gab es ungerne zu, doch Tyson traute sich selbst nicht mehr.

Wäre sein Freund nun erwachsen, wer weiß was er für Dummheiten gemacht hätte?

Dranzer hatte schon bemerkt, wie sehr er um Kais Anerkennung förmlich bettelte und kämpfte. So langsam begriff Tyson, dass es ein Ausmaß annahm, was nicht mehr normal war. Etwas lief hier gehörig falsch…

Er biss sich auf die Unterlippe und untersagte sich weitere Gedanken in diese Richtung.

„Bitte lass das an Dranzers Zauber liegen.“, bat er insgeheim und schaute zu dem Jungen an seiner Seite. Der war schon recht lange stumm. Es interessierte ihn was dem Kind gerade durch den Kopf ging.

„Was hältst du von dieser Geschichte?“

„Ich weiß nicht genau…“

„Gefällt sie dir nicht?“

„Doch schon. Ich mag die Katzen.“, murmelte Kai leise. Das Flackern vor ihnen ließ den tiefroten Schimmer in seinen Augen tänzeln. „Wie geht sie denn aus?“

Tyson wog seine Antwort vorsichtig ab. Es war nicht seine Absicht ihn zu verängstigen.

„Das steht noch offen. Aber ich kann dir so viel sagen, dass die Gruppe alles tun wird, um wieder nachhause zu kommen. Dann werden sie wieder bei ihren Familien sein.“

Und als das Kind nichts erwiderte, fragte er geradeheraus:

„Kai? Verstehst du warum ich dir diese Geschichte erzähle?“

„Ich glaube schon.“, kam es unsicher. Er knetete seine Finger wieder. Tyson fiel auf wie oft er das tat. Es war wohl ein nervöser Tick gewesen, den sich Kai mit den Jahren abgewöhnte. Etwas lag ihm auf der Zunge, doch er rückte nicht damit heraus.

„Hat sie dir Angst gemacht?“

Er schüttelte vehement den Kopf.

„Und woran denkst du gerade?“

Kai blieb stumm. Tyson seufzte, wandte sich im Schneidersitz zu ihm und schaute ihn eindringlich an. „Sag es einfach... Ich will wissen was in dir vorgeht.“

„Warum haben sich der blaue Kater und der Silbergraue immer gestritten?“

Es klang wie ein eingeschüchtertes Nuscheln. Überrascht blinzelte Tyson ihn an, denn er hätte nicht erwartet, dass ihn ausgerechnet das beschäftigte. Er blickte zurück auf die vergangen Tage in dieser Welt. Bis auf ihren holprigen Start gingen sie sehr umgänglich miteinander um. Es erstaunte seine Freunde, als auch ihn selbst, wie sehr das Kind ihm vertraute. Also warum hatten sie es nie geschafft, sich früher auch auf dieser Ebene zu bewegen? Er dachte an das erwachsene Alter Ego seines Freundes.

Das ernste Gesicht wenn er sich abwandte.

Die Lippen die nie aussprachen was in ihm vorging.

Sie hatten Kai so oft die Hand gereicht, dennoch war er nie wirklich aus sich herausgekommen. Die einzige Person die diese Frage beantworten konnte saß vor ihm.

„Weißt du, ich denke die beiden sind sehr verschieden.“, sprach er seine Vermutung aus. „Der blaue Kater sagt gerne frei heraus, was ihm durch den Kopf geht. Damit fällt er ziemlich oft auf die Nase, aber es ist nun mal seine Art mit Dingen umzugehen. Er hält nichts davon mit seiner Meinung hinterm Berg zu bleiben.“

„Was bedeutet hinterm Berg bleiben?“

„Das der silbergraue Kater sehr viel verschweigt.“

„Was denn zum Beispiel?“

„Das er eine kranke Schwester hat.“, antwortete Tyson ernst. „Er hat niemandem davon erzählt und sich von den anderen Katzenjungen zurückgezogen. Sie haben sich gefragt was mit ihm los ist. Als der blaue Kater dann den Grund erfahren hat, war er wirklich traurig.“

„Warum?“

„Weil es ihm vorkam als wolle der silbergraue Kater ihn ausschließen.“

„Oh… Aber ich bin nicht so, oder?“, wollte Kai wissen.

„Doch. Manchmal machst du das leider auch.“, sprach Tyson unverblümt. „Wenn man nicht bei dir nachbohrt, erfährt man selten was du denkst.“

Kai blinzelte betroffen und grub sein Gesicht tiefer in den Stoff. Es wirkte etwas geknickt. Ihm kam es vor, als wäre dem Kind gar nicht bewusst, dass auch er bereits dieses merkwürdige Verhaltensmuster an den Tag legte. Tyson spürte das jetzt der Zeitpunkt war, Kai endlich zu beichten, was ihn schon so lange an ihm störte.

„Du darfst das nicht falsch verstehen, Kleiner. Der blaue Kater mag das graue Katzenkind trotzdem… Er mag ihn sogar sehr.“

Vielleicht sogar zu sehr, befürchtete eine Stimme in seinem Hinterkopf. Er ignorierte sie.

„Man kann seinen Freunden aber nicht hinter die Stirn schauen. Wenn man dann noch aufhört ehrlich zueinander zu sein, ist das schlimmer als jeder Streit. Dann hat man nämlich kein Vertrauen mehr zueinander. Zumindest denkt der blaue Kater so.“

Kai wandte den Kopf von ihm ab und schaute vertieft in die züngelnden Flammen.

Schließlich fragte er zögerlich:

„Wäre der blaue Kater traurig wenn sich sein Freund nicht mehr an ihn erinnert?“

„Ziemlich.“, bekannte Tyson offen.

Das Kind schluckte, als hätte es selbst vor der nächsten Frage Angst.

„Und was passiert wenn sich der graue Kater niemals mehr erinnert?“

„Wie meinst du das?“, fragte er perplex.

„Werden sie dann trotzdem noch Freunde bleiben?“
 

Stille…
 

Die Frage kam so hoffnungsvoll dass Tyson ihn erschüttert anstarrte. Kai hatte es vollbracht mit dieser simplen Bitte, sämtliche Widerstände in ihm zu einem Trümmerhaufen zu verwerfen. Der zentnerschwere Riegel schob sich von seiner Zunge und ließ ihn sämtliche Zuneigung die er empfand in einer einzelnen Geste ausdrücken. „Komm her kleiner Kater…“

Tyson öffnete die Arme und lächelte aufmunternd.

Etwas unschlüssig blickte Kai auf die einladende Geste.

„Hör auf dich zu zieren und komm her Casanova!“, er zog ihn lachend an sich, schmiegte seinen Kopf gegen seine Stirn und versprach: „Wenn der graue Kater sich nicht mehr erinnern sollte und ein Kitten bleibt, wird der blaue Kater eben auf ihn aufpassen… Bis aus ihm wieder ein großer Kater wird.“

Beruhigt atmete das Kind aus und lächelte scheu, bis Tyson ihm spielerisch mit beiden Händen durch den Haarschopf fuhr und es ordentlich durcheinander brachte.

„Du hast ein richtig weiches Fell. Hat dir das schon einmal jemand gesagt?“

Eine heftige Röte war die Folge und beschämt vergrub das Kind sein Gesicht im Shirt des älteren Jungen. Der grinste nur, positionierte die Jacke auf Kais Schultern neu, damit sie es warm darunter hatten und legte seine Arme um ihn. Sein Verstand schwieg dazu, obwohl es ihn zuvor für sein absonderliches Verhalten gerügt hatte. Stattdessen gab sein Herz dem befremdlichen Gefühl nach. Er hatte keine Ahnung wohin das hier führen würde, doch es fühlte sich wundervoll an. Tyson kam zu dem Schluss, dass er am besten verfuhr, wenn er alles auf sich zukommen ließ. Das war doch eigentlich schon immer seine Devise gewesen und war das nicht immer die beste Lösung gewesen?

Selbst wenn sich sein Verdacht bestätigen sollte… Das Kind lag offenbar schon im Brunnen.

Ändern ließ es sich trotz seiner inneren Proteste nicht mehr. Ohnehin gab es jetzt erst einmal andere Probleme zu bewältigen

„So oder so… Es wird schon alles gut werden. Ich verspreche es dir.“, er tätschelte Kai zuversichtlich über den Rücken. In jenem Moment wurde aus der stummen Zweisamkeit einer friedvollen Einigkeit. Sie erfreuten sich an der Gegenwart des anderen, schauten gemeinsam ins flackernde Feuer und irgendwann döste Kai auf seiner Brust ein.

Nur ein Wunsch kam ihm zuvor noch müde über die Lippen.

„Ich will mich wieder an dich erinnern können, Tyson.“

Dann war er auch schon eingenickt.
 

ENDE Kapitel 25
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Wahrscheinlich denken jetzt die meisten - was'n das für ein blödes Kappi?
Ist ja nichts relevantes passiert. Im Prinzip ist es ja eigentlich nur eine grobe Zusammenfassung der Bladebreakerszeit und wer mag schon Nacherzählungen? Ich zumindest bin die erste welche bei Fillerfolgen, mit Zusammenschnitten aus anderen Folgen, gewechselt hat. Daher habe ich nach einer alternativen Lösung gesucht, weil Kai in seinem kindlichen Kopf drinnen steckt und ja mal aufgeklärt werden sollte, was sich um ihn herum wirklich abspielt. Er macht ja eigentlich momentan das, was unsere Eltern uns abgeraten haben - mit Fremden mitgehen. :-D
Ich habe die ganze Zeit überlegt, wie ich diese "Aufklärung" gestalten sollte, weil Nacherzählungen immer so ekelhaft trocken sind und das ist dann halt dabei herausgesprungen. Ich hoffe es war nicht zu kitschig.

Es werden ja auch Stimmen lauter, die Kai gerne wieder Erwachsen sehen wollen, nur leider passt das momentan nicht in den Erzählfluss, weil noch andere Handlungen laufen. Außerdem weiß ich schon, wie er wieder normal werden soll und will davon nicht ab. Da ich momentan aber sehr viel schreibe - wahrscheinlich meine Art mich von den aktuellen Geschehnissen da draußen abzulenken - habe ich sogar das letzte Kapitel fertiggestellt, obwohl die Kapitel zwischendrin noch gar nicht geschrieben sind. Es wollte einfach endlich raus aus meinem Kopf. :-D

Naja, ich hoffe jedenfalls diese Nacherzählung hat euch dennoch Spaß gemacht, euch vielleicht auch einwenig abgelenkt und ein Lächeln auf den Mund gezaubert. ^^
Wünsche euch noch einen schönen Abend!

LG Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (4)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  FreeWolf
2019-08-15T22:45:54+00:00 16.08.2019 00:45
So ein schönes Kapitel 25. ;3; ich möchte weinen und hab bis jetzt alles in einem Zug durchgesuchtet. Ich fahre emotionale Achterbahn, schon die ganze Zeit aber insbesondere seit dem letzten Kapitel (24)
Von:  Minerva_Noctua
2015-11-21T18:32:56+00:00 21.11.2015 19:32
Hallo!

Das Kapitel war Balsam für meine Seele.
Zwar ist die Kuh noch lange nicht vom Eis und Rays Zustand ist besorgniserregend und ich komme immer noch nicht darüber hinweg, dass sie einfach so von Dragoon wegmarschiert sind, aber ich fand diese Ruhe der Nacht sehr angenehm, fast gemütlich.
Sicherlich trügerisch und yay, sie haben noch zwei Tage vor sich, also kann noch viel passieren:D
Danke für diese zeitliche Aufklärung übrigens. Das war sehr erhellend.
Ich finde diese Geschichte so fesselnd und die Charaktere - Menschen und Bit Beasts - so spannend, dass ich hoffe, dass es nochmal 25 Kapitel werden:D Wahnsinn, dass es schon so viele sind. Das ist eine beachtliche Leistung!

Ich freue mich sehr über diesen Kai-Tyson-Moment (da sollte ich mir selbst mal in den Arsch treten und meine eigene TyKa weiterschreiben, Menschenskinder, die Zeit fliegt...) und finde, dass du die Katzengeschichte herzallerliebst erzählt hast.
Es war wirklich sehr schön und putzig und schmerzlich. Tyson hat das wirklich gut gemacht:)

Kais Reaktionen waren gescheit und realistisch genug. Es gefällt mir, wie du ihn als Kind beschreibst, sei es wie er seine Hände knetet oder feuerrote Wangen bekommt. Er ist ein süßes Kind, ein lieber Junge und am liebsten würde ich ihn umarmen wollen und vor allem Übel beschützen. Den Beschützerinstinkt hast du also ganz klar geweckt;-)
Ich habe richtig Lust die Geschichte nochmal von vorne zu lesen, allein schon um mir Kai als Erwachsenen in die Erinnerung zurückzurufen. Ich weiß noch viele Szenen, aber trotzdem.
Ich hoffe, dass die Geschichte nicht gleich zuende geht, wenn Kai wieder erwachsen ist. So gern ich ihn als Kind habe, ich bin wahnsinnig neugierig auf ihn als erwachsenen Mann.
Außerdem wäre ich neugierig, was geschehen würde, wenn Kai sich zudem an alle Ereignisse, die er als Kind erlebt hat, erinnert.
Ich bin sehr gespannt und genieße jeden Moment, den du diesen Charakter beschreibst.

Es tut mir für Tyson so wahnsinnig leid, dass ihn im Krankenhaus nicht Kai, sondern Dranzer gebeten hat mitzukommen.
Insgesamt und allgemein wird das nicht besonders wichtig sein, aber es ist bedauerlich, dass so ein Schlüsselmoment für Tysons emotionale Selbsterkenntnis von Dranzer ausgelöst wurde.
Tysons emotionale Verwirrungen nachzufolgen war ziemlich spannend und interessant. Du hast das sehr gut beschrieben.
Einerseits fühlt Tyson sich verloren und überfordert mit dieser intensiven Zuneigung und - so hab ich das verstanden - kann seine Gefühle anders als sonst nicht ausblenden und sich mit dem Alltag ablenken.
Dass das Objekt seiner diffusen Zuneigung auch noch momentan als Kind rumrennt, macht es nur schwerer für Tyson sein Innenleben zu ordnen.
Ich kann mir gut vorstellen, dass man sich da ziemlich zerrissen fühlen muss. Einerseits der Beschützerinstinkt und die Zuneigung gegenüber dem Kind und andererseits die Sehnsucht und vage Leidenschaft für den Erwachsenen.
Ich war etwas verwirrt an der Stelle, an der Tyson an seine erste Freundin und die Frauen in der Disco denkt. Das Bild in seinem Kopf war tatsächlich nur eine etwas innigere Umarmung? Das klang eher als würde sein Kopfkino etwas mit ihm durchgehen.
Und was für Dummheiten hätte er mit dem Erwachsenen Kai schon angestellt? Die hätten sich vermutlich die ganze Zeit angemault.
Ach ja, ich habe wohl dieses eine bestimmte Match vergessen bzw. was da passiert ist. Außer du meintest „nur“ die Geschehnisse bei der 3. WM.
Alles in allem fand ich es also sehr gut, wie du Tysons Gedanken und Empfindungen beschrieben und begründet hast. Es war sehr mitreißend und ich bin sehr gespannt, wie er sich weiterhin verhalten wird und wie er sich weiter entwickeln wird.

Rays Gedanken sind herrlich. Ganz ehrlich, es ist unheimlich und wunderbar, weil es so untypisch für ihn ist und sich viel Spannungspotenzial dahinter verbirgt.
Max tut mir einfach nur leid. Er ist wirklich sehr tapfer.
Allegro ist genial, ich liebe diese Strommaus:D
Okay, man merkt, ich muss jetzt anfangen zu kochen, sonst bleib ich bis Mitternacht hungrig...:'D
Das Kapitel war wirklich fantastisch! Es war nicht kitschig, da hast du rechtzeitig die Kurve gekratzt;) Ich liebe es, wenn für die Psyche Zeit genommen wird, also gehört das Kapitel nun zu meinen Favoriten:-)

Ich wünsche dir eine schöne Vorweihnachtszeit, trotz des Terrors. Davon lassen wir uns nicht fertig machen!
Alles Gute!

Liebe Grüße,

Minerva

Von:  bloodydream
2015-11-21T16:46:18+00:00 21.11.2015 17:46
Aww :3
Ich glaub das hier ist aktuell mein Lieblingskapitel! Es ist herzallerliebst wie Tyson dem kleinen Kai die Geschichte erzählt. Und es ist einfach sooo niedlich wie Kai sich wünscht, sich wieder erinnern zu können ^^
Obwohl ich mir gut vorstellen kann das Kai, wenn er wieder Erwachsen ist, sich in Grund und Boden schämt oder einen kleinen Ausraster bekommt.
Nur erscheinen mir Tysons Gefühle etwas plötzlich auf zu tauchen. Oder hab ich es einfach vergessen und du hast es in einem älteren Kapitel schon einmal angedeutet?

Bis bald
bloody^^
Von:  Hinata-Uzumaki
2015-11-21T16:08:17+00:00 21.11.2015 17:08
Also ich fans nett im so die vergangenheit zu erzaehlen so damit es auch ein kind versteht.
Aber lieg ich damit richtig das sich Tyson in Kai verliebt hat? Wenn man 2 + 2 zusammen zaehlt find ich das eigentlich logisch so wie er über ihn denkt und spricht ich kann mich aber auch irren.


Zurück