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Die Geister die wir riefen...

von

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„Name?“

„Ray Kon.“

„Staatsangehörigkeit.“

„Volksrepublik China.“

„Und sie befinden sich in Japan, weil…“, der Beamte sah Ray gelangweilt an und wartete darauf, dass er den Satz beendete.

„Ich habe meine Freunde besucht. Wie ich bereits mehrfach erklärt habe.“, betonte er genervt, denn es ging auf diesem Revier einfach nicht voran. In China musste man den Behörden gegenüber immer respektvoll bleiben. Ray hatte sich bemüht, diese Angewohnheit auch im Ausland beizubehalten, doch so langsam fiel es ihm zusehends schwerer. Der Beamte an der Rezeption notierte seine Angaben langsam. Gähnend langsam…

Mit jedem Mal wo sein Kugelschreiber über das Papier kratzte, wurde Ray zorniger.

„Können sie Kon buchstabieren?“

Er blinzelte fassungslos.

„Kon? Ich soll Kon buchstabieren? Die drei Buchstaben?!“

„Dann halt nicht…“

Er notierte weiter, während sich Ray über den Mund fuhr. Wenn er nicht aufpasste, rutschte ihm gleich etwas Pampiges heraus. Hinter dem Beamten war eine verglaste Wand, die ein Großraumbüro vom Eingangsbereich abtrennte. Dahinter lief uniformiertes Personal geschäftig von einer auf die andere Seite. Ray schluckte seinen Groll hinunter und begann erneut einen Vorstoß.

„Es geht mir eigentlich in erster Linie darum, dass sie vor mehr als einer Stunde, einen Freund von uns festgenommen haben. Wir haben von den Vorwürfen gegen ihn gehört und wollen das ein für alle Mal klarstellen.“

Der Beamte schaute desinteressiert auf. Seine andere Hand stützte seinen offenbar schwer gewordenen Kopf. Wieder so eine seelenlose Leiche, die ihren Job hasste und nur darauf wartete, endlich in Rente gehen zu dürfen.

Er deutete auf Max und fragte: „Ihr Name?“

Ein fassungsloses Stöhnen ging durch die Gruppe, da hielt ein Beamter hinter der Glasfront inne und stierte gebannt in ihre Richtung. Er runzelte nachdenklich die Stirn, schaute auf ein Blatt in seiner Hand. Ray erkannte, dass er sie erkannte und da entschwand der Beamte auch schon hinter einer Tür, die wohl in einen Nebenflur führte. Als Max bereits anfangen wollte, seine Daten aufzugeben, eilte derselbe Beamte aus einem anderen Flur, rechts von ihnen hervor. Er kam auf seinen Kollegen zu und sprach äußerst herrisch: „Du weißt doch hoffentlich wer die sind?“

„Wenn ich die Daten aufgenommen habe, ja.“, kam es monoton zurück. Ein Blatt wurde ihm vor die Nase gehalten und Ray beschlich die Vermutung, dass darauf wahrscheinlich ihre Fahndungsfotos abgebildet waren. Der Rezeptionist stierte auf das Blatt und sprach: „Ey Dicker, sowas sollte mir gesagt werden. Ihr könnt nicht von mir erwarten, dass ich in eine Glaskugel schaue.“

Sein Kollege packte fauchend dessen Kopf und drehte ihn in Richtung der Pinnwände zu ihrer Linken, auf deren Oberfläche dutzende Fahndungsmeldungen befestigt hingen. Der zuvor schon recht gelangweilte Beamte, blinzelte aus trüben Blick darauf. Als die Gruppe in dieselbe Richtung schaute, wussten sie, was dessen Kollegen so in Rage versetzte. Es gab eine Suchmeldung für Tyson, eine weitere für Max und Ray. Sogar eine für Großvater Kinomiya und Jana, weil sie nach ihrem Krankenhausaufenthalt als vermisst galten. Kai schien schon wieder überklebt worden zu sein, zumindest schaute sein Gesicht, unter einer anderen Suchmeldung nur zur Hälfte hervor.

„Ooh…“, machte der Rezeptionist.

„Es gehört auch zu deinen Aufgaben, die Plakate dort drüben ordentlich an die Wand zu heften, nicht kreuz und quer, wie einen deutschen Krautsalat!“

„Sorry, Bro…“

„Klappe! Und lass diese Gossensprache!“, er gab seinen Bro einen Schlag gegen den Hinterkopf, dass sein Kinn aus der Handfläche rutschte und gegen die Tischplatte knallte. Der rieb sich seinen Kiefer und jaulte mit scherzverzerrtem Gesicht, da kam sein Kollege bereits um den Tisch herum und streckte zuerst Kai die Hand entgegen. Es war ganz klar, dass er wusste, wen er vor sich hatte und dass er ihm die höhere Rangordnung zumaß.

„Mr. Hiwatari! Es ist eine Ehre sie kennenzulernen. Meine Tante arbeitet in ihrem Sekretariat und lobt sie in hohen Tönen. Als sie davon hörte, dass nach ihnen gesucht wird, hat sie mich sofort hyperventilierend angerufen.“

Kai sah unsicher auf die Geste herab. Seine Schwester schaute genauso argwöhnisch darauf, klammerte sich dabei an seinem Hals fest. Sie bettete ihr Köpfchen auf seine Schulter und streckte die Zunge aus dem offenen Mund heraus. Seit die Geschwister sich wiedergefunden hatten, weigerte sie sich vehement, auch nur einen Millimeter von Kais Seite zu weichen. Dennoch löste Kai einen Griff um sie und erwiderte den Handschlag, jedoch ziemlich zaudernd. Wahrscheinlich weil ihm nicht einfiel, wer diese Tante sein könnte.

Ein höfliches „Danke“ kam aus seinem Mund. Kurz darauf schüttelte der Beamte auch die Hände der anderen Anwesenden, allerdings nicht so überschwänglich, wie bei dem bekannten Firmenmagnat. Ray bemerkte dass Kai nicht besonders souverän wirkte. Es machte nicht den Eindruck, als könne er sich daran erinnern, überhaupt eine Firma zu besitzen. Allerdings war er schlau genug, um zu wissen, dass jetzt keine unnötige Nachfrage angebracht war.

Auf einmal fiel Ray auf, dass auf das Eintreffen dieses Beamten, zwei weitere folgten. Nun schien es ernst zu werden. Einer von ihnen besaß ein kantiges Gesicht und schaute unter buschigen Brauen zu ihnen herüber. Seine Augen huschten von einer Person zur Nächsten und es war ganz klar, dass er für die groben Dinge zuständig war. Offenbar hielt er sich für einen ziemlich abgebrühten Kerl, denn er lief breitbeinig herum, wie ein Cowboy der durch die Steppe stakte. Ray hob herausfordernd das Kinn in seine Richtung, um ihm insgeheim zu verdeutlichen, dass er sich von seiner Statur nicht einschüchtern ließ. Dennoch war nun auch dem Letzten von ihnen klar, dass man sie erkannt hatte und sie nicht mehr gehen lassen würde, bis sie alle von ihrer Unschuld überzeugten. Er schielte zu Max und Kai. Ersterer kaute nervös auf seiner Unterlippe. Ray konnte es ihm nicht verdenken. Das gesamte Lügenkonstrukt, das sie mit Kenny im Wagen aufgebaut hatten, war schwierig im Kopf zu behalten. Außerdem log Ray aus Prinzip nicht gerne. Es widersprach sämtlichen Werten auf die er sein Leben aufbaute – aber für Tyson würde er es tun.

Er schaute zu Kai und erstarrte. Seine Pupillen waren schon wieder geweitet!

Ausgerechnet jetzt erinnerte er sich an etwas…

Der hilfsbereitere Beamte tat eine einladende Geste, zu jener Tür, aus der er zuvor gekommen war. Es kam gleich Bewegung in die Masse. Als Ray bemerkte, dass Kai keine Anstalten machte, dem Menschenstrom zu folgen, drängte er sich an seine Seite und packte ihn am Arm. Mit einem Keuchen riss es ihn aus seinen Tagträumen. Er blinzelte und sah sich orientierungslos um.

„Alles klar?“, flüsterte ihm Ray aus den Mundwinkeln heraus zu.

„Ich… Ich weiß nicht ob ich das schaffe.“

„Überlass uns einfach das reden. Halt dich verdeckt.“

„Und wenn sie uns trennen?“

Ray schluckte geschockt, denn daran hatte er überhaupt keinen Gedanken verschwendet. Kais Überlegung war gar nicht so abwegig. Es war gut möglich, dass man sie alle einzeln vernehmen wollte, um zu verhindern, dass sie sich gegenseitig Hilfestellung leisteten.

„Mir ist etwas anderes eingefallen. Vielleicht hilft es uns weiter…“

„Mach jetzt bloß keine Experimente!“, flüsterte Ray. „Bitte vertrau uns einfach.“

„Das tue ich - glaub mir.“

Es ließ ihn verdutzt blinzeln. So etwas hatte Kai ihm noch nie gesagt und es war ihm auch noch so leicht über die Lippen gekommen, ohne viel Wenn und Aber. In einem anderen Moment, wäre er wirklich mehr darauf eingegangen, doch da sprach Kai auch schon weiter: „Das Problem seid nicht ihr – ich bin es. Diese Aussetzer kann ich nicht kontrollieren. Sie kommen einfach so über mich. Ich vertraue mir nicht…“

Sie hielten einen Moment inne, als es vor der Tür eng wurde. Reihe um Reihe, drängte sich hindurch. Es hatte sich ein Menschenpuffer gebildet, der sie von den Beamten vor ihnen und hinter ihnen abschottete. Er sah Max, der sich zu ihnen umdrehte, offenbar weil er ihr Getuschel mit halben Ohr mitanhörte. Kenny und Mr. Kinomiya bildeten ihre Rückendeckung. Tysons Großvater schien ihnen auch zu lauschen, hielt die Arme verschränkt und begann irgendwann die Beamten hinter ihnen, in ein Gespräch zu verwickeln. Der Chef kaute dagegen nur nervös auf seinen Fingernägeln herum die wirklich unansehnlich ausschauten. Bald hätte er nichts mehr zu knabbern, weil alles heruntergenagt war. Er war kein Mensch, der mit solchem Druck sonderlich gut umgehen konnte. Außerdem ließ sich Kenny gerne von Autoritätspersonen einschüchtern.

Oder von Frauen…

Oder von Rüpeln…

Oder von lauten Kindern…

Oder von bellenden Hunden.

Streng genommen ließ er sich von allem einschüchtern.

Während sie sich in den Flur zwängten und Ray einen verstohlen Blick, zu dem Beamten vor ihnen warf, flüsterte er Kai zu: „Was schwebt dir durch den Sinn?“

„So nah wie möglich an der Wahrheit bleiben.“

„Aber du erinnerst dich nicht. Oder etwa doch?“

„Nicht wirklich…“

Seine aufwallende Hoffnung ebbte so schnell ab, wie sie gekommen war.

„Dann musst du uns das Reden überlassen. Kai, bitte, das ist wichtig!“

Dessen Augen wandten sich ihm nachdenklich zu. Der Kopf seiner kleinen Schwester reckte sich dagegen aufgedreht in alle Richtungen. Im Flur waren alle Wände verglast, weshalb man in die Büros zu beiden Seiten hineinspähen konnte. Sie begann einer Gruppe Politessen wie wild zuzuwinken und sprach begeistert davon, wie hübsch die netten Frauen doch ausschauten, während die Beamtinnen ein entzücktes „Oow!“ von sich gaben.

„Ich bin ein Risikofaktor.“, flüsterte Kai indessen leise.

„Sag sowas nicht. Das kriegen wir hin.“

„Aber nicht wenn wir getrennt werden.“

„Hoffen wir dass es nicht soweit kommt.“

„Aber falls es passiert, brauchen wir einen Plan B.“

„Kai, was hast du vor? Ich muss es wissen!“

Er blieb aber stumm, schaute gedankenverloren vor sich her.

„Wenn es hart auf hart kommt, redet euch nicht um Kopf und Kragen.“, riet er ihm.

Ray schaute ihn verständnislos an.

„Was meinst du damit?“

„Vertraust du mir auch?“

Die Frage kam so plötzlich, dass er einen Moment stutzte.

„Natürlich tue ich das.“, beteuerte er.

„Gut. Dann bitte ich dich – hör auf mich. Wenn wir zusammenbleiben sollten, überlasse ich euch ohne Widerworte die Führung. Aber sollten wir getrennt werden, müsst ihr mir vertrauen.“

„Warum?“, fragte er noch einmal mit Nachdruck.

„Desto weniger ihr wisst, desto besser.“

Ray schnaubte genervt. Offenbar ging nun wieder die Geheimniskrämerei los. Da erhaschte er jedoch einen entschlossen Ausdruck in Kais Augen. So hatte er ihn das letzte Mal während ihrer Bladerzeit erlebt, als sie bei der Vorrunden der dritten Weltmeisterschaft, gegeneinander antreten mussten. Er tat einen tiefen Atemzug und nickte letztendlich. Dann gab er Max vor sich einen leichten Stups und fragte leise: „Hast du mitgehört?“

Er sah ein stummes Nicken von seinem Vordermann. Um nicht weiter aufzufallen, drehte Max sich nicht zu ihnen um. Ray tat einen verstohlenen Blick über seine Schulter, zu ihren anderen Leidensgenossen. Er war sich nicht sicher ob die beiden verstanden hatten was sie beredeten, doch im Prinzip, mussten sie ja nur an ihrem Plan festhalten. Der Beamte vor ihnen hielt am Ende des Flures inne. Dort taten sich mehrere Türen auf, an deren Frontseite jeweils eine Liste hing. Ray vermutete, dass darin eingetragen wurde, von wem der Raum belegt wurde. Über den Rahmen waren kleine rote Lämpchen befestigt, doch nur über einer Tür brannte sie auch. Genau in jene entschwand der Beamte. Ray schenkte ihm keine weitere Beachtung, bis Kenny hinter ihnen laut ausrief: „Da ist Tyson drinnen!“

Sofort wandten sich alle Köpfe zur besagten Tür. Ray tat einige hastige Schritte zurück und schielte durch den Spalt. Dahinter war ein weiterer kleiner Raum, mit einer Glasfront, hinter der man wiederum Tyson ausmachen konnte. Er debattierte wie wild mit einem grimmigen Mann, der etwas in die Jahre gekommen zu sein schien, zumindest wenn man auf die ergrauten Haare und die Falten um seine Mundwinkel schloss. Der Beamte war zu ihm in den Raum geeilt und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin dieser von seinem Stuhl aufstand und den verdutzten Tyson zurücklassen wollte. Auf einmal rauschte Mr. Kinomiya polternd an ihnen vorbei in den Raum.

„Flossen weg von meinem Enkel, ihr blöden Esel!“

Zunächst blieben die anderen beiden Beamten wie verdattert stehen, dann rannten sie dem Großväterchen auch schon mit wehenden Armen hinterher. Plötzlich entstand das pure Chaos im Flur. Mr. Kinomiya war in den Verhörraum gestürmt und brüllte den Inspektor darin aus voller Kehle entgegen, dass er sich ein Päckchen mit Hirn kaufen solle – ganz offensichtlich zweifelte er dessen Intelligenz an.

Sein Kopf wurde hochrot, während Tyson aufsprang und beruhigend auf ihn einsprach, ihn darum bittend, doch sein schwaches Herz nicht zu überanstrengen und gefälligst nicht so vorlaut zu sein. Der Inspektor schaute dagegen wie eine Kuh auf der Weide. Ziemlich sprachlos…

Ray konnte es ihm nicht verdenken. Wenn es richtig war, was Kenny und Hana ihnen erzählt hatten, dann galt Mr. Kinomiya eigentlich als vermisst. Nun stand er leibhaftig im Verhörraum und hielt dem Inspektor die Standpauke seines Lebens. Als die anderen Beamten versuchten, Tysons Großvater hinauszudrängen, wandte sich Kenny stöhnend an den Rest der Gruppe.

„Na toll… Jetzt haben wir einen bleibenden Eindruck hinterlassen! Wir sind sowas von geliefert!“

„Ach komm. Sei nicht so ein Schwarzseher!“, sprach Max im verzweifelten Versuch heiter zu klingen. Allerdings zuckte dessen linke Braue verräterisch. „Vielleicht lockert sein Auftritt die Stimmung auf? Ein alter Mann, der wie ein Taxifahrer auf einem Polizeirevier flucht, ist doch immer witzig anzusehen.“

Dann durchbrach Mr. Kinomiyas Gezeter ihre Unterhaltung nochmal.

„Wenn ich meinen Kendostab hier hätte, würde ich euch allesamt etwas Hirn in eure Melonen bläuen! Sind die Köpfe auf eurem Hals nur zur Dekoration da?!“

Ein geschlagenes Seufzen ging durch die Runde. Dann fragte Max, wie sie die Bettenaufteilung in ihren Zellen handhaben wollten.
 


 

*
 

Hitoshi schaute auf, als die vergitterte Tür geräuschvoll zur Seite geschoben und sein Name aufgerufen wurde. Irritiert fragte er, was los sei, bis man ihm mitteilte, dass er im Zuge der laufenden Ermittlungen, in die Untersuchungshaft verlegt wurde. Sein Anwalt hatte ihm bereits vorgewarnt, dass das passieren könnte, allerdings nicht so früh. Noch vor wenigen Stunden erklärte Benjiro ihm, dass dafür eine richterliche Anordnung nötig sei und diese könnte sich – zumindest nach seiner fachmännischen Meinung – stark verzögern, da es seine Zeit brauchen würde, bei diesem Wetter, die Unterschrift mit einem Boten einzuholen.

„Eher kommst du frei, weil ein Tag verstrichen ist, ohne dass es zu einer Anklage kam.“, tat er wichtigtuerisch. Hiro schnaubte verächtlich.

Toller Fachmann. Da hatte Hanas Ex sich wohl getäuscht…

Einen gehässigen Moment, fühlte er sich richtig überlegen, auch wenn Hiro in seiner jetzigen Lage kaum einen Grund dafür besaß. Seine Verlobte würde sicherlich ausflippen, wenn sie erfuhr, dass Benjiro sich verspekuliert hatte. Allerdings musste er zugeben, dass er tatsächlich sein Handwerk verstand. Hanas Ex hatte so lange auf ihn eingeredet, bis er sich bereit erklärte, zumindest für seine Freilassung zu kämpfen.

„Was passiert ist, ist passiert. Es ist schrecklich, aber du musst bedenken, dass sie dich provoziert hat. Das Mädchen hat dich zuerst angegriffen. Du hast dich lediglich gewehrt.“, erklärte Benjiro ihm überraschend verständnisvoll. „Das hätte jedem passieren können. Mir ebenso. Im Ernstfall ist man sich immer selbst der Nächste und wer konnte schon damit rechnen, dass sie vor ein Auto gerät. Das ist einfach dumm gelaufen.“

Hiro hatte eingewandt, dass man sich gegenüber Frauen nicht vergriff. Es war glatt gewesen, der Neuschnee lag auf dem Gehweg und er hätte doch seinen Grips einschalten müssen.

„Genau wie sie! Wer mit hohen Pfennigabsätzen durch den Schnee stöckelt, braucht sich nicht wundern, wenn er deshalb auf der Nase landet! Nach deiner Logik, müsste ich mich für jede hohle Blondine in hohen Hacken schuldig fühlen, die ich bei diesem Wetter auf dem Gehweg versehentlich anremple.“

Er klang nicht gerade so, als empfinde er viel Mitleid für Ming-Ming. Wahrscheinlich stumpfte man ab, wenn man seinen Beruf eine Zeitlang ausübte und nach jedem Haar in der Suppe suchte, um seine Mandanten freizubekommen. Allerdings gaben Hiro seine Argumente tatsächlich zu denken. Doch wirklich überzeugt hatte Benjiro ihn erst, als er meinte: „Es ist doch nicht so, als täte dir die ganze Sache nicht aufrichtig leid. Ist es nicht schon schlimm genug, dass du mit dieser Bürde zurechtkommen musst? Willst du etwa jetzt dein Leben ruinieren, weil du ihres kaputt gemacht hast? Wem wäre damit geholfen? Ihren Eltern bringt es die Tochter nicht zurück. Deine Ehre? Die hast du auch dann verloren, wenn du im Gefängnis hockst. Versuch lieber dein Leben in die Hand zu nehmen und auf anderem Wege, deine Tat wieder gutzumachen. Von mir aus gründe eine Stiftung auf ihren Namen, oder biete ihrer Familie deine lebenslange Unterstützung an, aber sitz nicht hier herum und spiel den schuldbewussten Mönch!“

Dann sprach er etwas bissig: „Wir wissen beide, dass gerade du kein Heiliger bist.“

In Anbetracht ihrer gemeinsamen Vergangenheit, musste sich Hitoshi diese Stichelei wohl zähneknirschend gefallen lassen. Dennoch willigte er ein, zumindest nun seine Rechte einzufordern, erst recht als Benjiro vorher noch genüsslich meinte, dass Hana mit ihm, wohl aufs falsche Pferd gesetzt hatte.

„Jetzt wünscht sie sich bestimmt, ich wäre noch zu haben. Zu dumm das ich glücklich verheiratet bin – und sie es wahrscheinlich nie sein wird.“

Hiro wusste, er spielte absichtlich auf seine Eifersucht an und leider funktionierte es auch. Das war eines der Dinge, die er leider zu seinen Makeln zählen musste. Eine weitere Stunde später war Hanas Ex gegangen – nicht bevor sie sich gegenseitig die Hand zum Abschied gaben, mit der giftigen Entgegnung, dass der jeweils andere ein mieses Arschloch sei - und nun musste Hiro doch in Untersuchungshaft.

Das würde er dieser neunmalklugen Bazille mit äußerster Genugtuung aufs Brot schmieren. Der Beamte der ihn aus seiner Zelle holte, ließ einen Satz Handschellen aufblitzen. Er nickte zu seinem Leidensgenossen, der nach dem Erdbeben seinen Rausch, auf dem kalten Betonboden ausschlief und fragte ob Hiro sich verabschieden wolle.

„Ich glaube kaum dass der mich bemerkt hat.“, kam es trocken.

Der Beamte wiegte bekümmert den Kopf.

„Schon möglich. Der sitzt wegen Trunkenheit am Steuer öfters hier drinnen. Wir nennen ihn Charly Harper.“, während er Hiro die Handschellen anlegte, meinte er glucksend. „Manchmal, wenn man ihn aufweckt, denkt er das Sandmännchen steht neben ihm. Ist eigentlich recht witzig.“

Polizisten hatten scheinbar ihren eigenen Humor…

Hitoshi ließ sich ohne große Widerworte hinausführen. Sein Begleiter hob hilfsbereit jede Tür auf, die ihm im Weg stand, wahrscheinlich weil er sich bisher so pflegeleicht zeigte. Sie passierten mehrere Zellen und traten irgendwann in einen Flur, der zu beiden Seiten komplett verglast war. Es empfing ihn grelles Licht, was ihn mehrmals blinzeln ließ, da es in der Zelle zuvor doch recht dämmrig gewesen war. Da hörte er einen Aufschrei.

„Aber… Das ist doch Hiro!“

Entsetzt blinzelte er, denn diese Stimme kam ihm bekannt vor, auch wenn er sie schon lange nicht mehr gehört hatte. Sie klang nach Tysons Freund Max. Die Lichtflecken trübten ihm zunächst die Sicht, bis nach und nach mehr Konturen vor ihm auftauchten. Er sah eine Gruppe vor sich und mit jedem Wimpernschlag erkannte er mehr Gesichter. Zunächst begriff er nicht, was sich hier vor ihm abspielte, bis er seinen Großvater vor sich erblickte, der bei Inspektor Kato stand und offenbar mit ihm debattiert hatte - bis Hiro eintrat.

Der blieb wie angewurzelt stehen. Seine Augen weiteten sich.

Genau wie jene seines Großvaters.

Er starrte Hiro an. Der starrte zurück…

Und sah sämtliche Farbe aus dem Gesicht des alten Mannes weichen.

„Hitoshi?“, kam es fassungslos. Die Augen seines Großvaters huschten an seinen Armen hinunter, zu den Handschellen die ihn in Ketten hielten. „Was zum…“

Inspektor Kato hob irritiert die Braue. Sein Blick schnellte zu Kenny, der bei seiner Verhaftung doch anwesend gewesen war und er fragte: „Du hast es ihm nicht erzählt, Bursche?!“

„T-Tyson wollte es nicht! Und Hiros Verlobte hat auch gesagt, wir sollen…“

„Ihr wusstet es?!“, brauste Mr. Kinomiya auf. Kurz darauf fuhr er sich zischend an die Brust.

„Großvater, bitte reg dich nicht auf!“, rief Hiro aus.

„Ich soll mich nicht aufregen?! Mein ältester Enkel sitzt hier fest und niemand hält es für nötig, mich darüber zu informieren?!“

„Tyson wollte es regeln!“, wehrte sich Kenny, allerdings recht kleinlaut. Er zog den Kopf furchtsam zwischen die Schultern. „Wir waren gerade auf dem Weg zu seinem Wagen und da habe ich ihm erzählt, was mit Hiro passiert ist. Er wollte sofort zu seinem Auto und zum Revier fahren, um ihn zu sehen, aber da hat ihn die Polizei auch schon aufgegriffen! Es ist alles so schnell passiert, wir haben gar nicht die Gelegenheit gehabt, es ihnen richtig zu schildern und Hana meinte, wir sollten es ihnen in einem ruhigen Moment erklären!“

Hitoshi stöhnte gequält, als er das hörte. Ein unendlich schlechtes Gewissen befiel ihn, denn ausgerechnet, weil sein Bruder sich auf den Weg zu ihm machen wollte, war er geschnappt worden.

„Wo ist Hana?“, fragte er geradeheraus. Hiros Blick huschte von einem Gesicht zum nächsten. Ihm fiel auf wie geschockt er von allen Seiten bedacht wurde – und wie abgekämpft die Gruppe vor ihm wirkte. Es war außerdem einige Zeit her, seitdem ihm die Clique seines kleinen Bruders, das letzte Mal unter die Augen gekommen war. Ray war geradezu in die Höhe geschossen. Hitoshi meinte sich zu erinnern, dass ihm Tyson einmal am Telefon erzählt hatte, dass er zu dessen Hochzeit nach China reißen würde. Das musste schon Jahre her sein. Seine Augen huschten zu Max, welcher der Inbegriff des typischen Amerikaner geworden war. Blond, tiefblaue Augen, aber anders als sonst, lag da ein trauriger Zug um dessen Mundwinkel.

Bei Kai blieb sein Blick besonders lange hängen. Zunächst einmal war es dessen zerstreutes Antlitz. Er wirkte fast schon verwahrlost, seine Kleidung wild zusammengewürfelt. Auf seinen Armen hielt er ein kleines Mädchen und so selbstverständlich wie sie ihn hielt, konnte es sich dabei nur um dessen Schwester handeln – obwohl Hiro kaum Ähnlichkeit sah. Sie klammerte sich an seinem Hals fest und schaute fragend durch die Gegend ob des Tumults. Prompt fiel Hitoshi auf, dass sie Trisomie hatte. Ihm waren bereits solche Kinder unter die Augen gekommen und er fragte sich, ob ihm Tyson jemals etwas davon erzählt hatte. Er meinte nicht…

Als sein Blick zu Kais Gesicht huschte, musste Hiro stutzen. Sie beide brachten sich kaum Sympathie entgegen, dennoch schaute er ihn mitleidig an. Das kannte er so nicht von ihm, denn sonst ignorierten Kai ihn wie verbissen. Das lag nicht daran, dass sie für kurze Zeit zusammen in der BEGA gewesen waren. Damals, bei den Vorrunden gegen Brooklyn, hatte Kai kläglich verloren und Hiro dem ganzen seinen gehässigen Stempel aufgedrückt. Er musste zugeben, dass er absichtlich Öl in die Wunde gegossen hatte. Doch nach der Weltmeisterschaft, warf ihm Kai diese Sache niemals vor, auch wenn er etwas unterkühlt ihm gegenüber wurde.

Nein. Der wahre Grund, weshalb sie sich nicht im selben Raum aufhalten konnten, ohne sich gegenseitig den Tod zu wünschen, war, das Kai ihm schwere Vorwürfe gemacht hatte, als Hiro einige Wochen nach dem Schlaganfall seines Großvaters, aus Osaka anreiste.

Er wusste noch, wie er nach der langen Autofahrt, endlich erschöpft aus seinem Wagen stieg, seinen Reisebeutel hinter sich herschleppte und als erstes Kai auf der Veranda ihres Hauses antraf. Der lehnte damals an einem der Eckpfeiler, studierte einige Dokumente vor sich, die er ordentlich auf dem Holzboden verteilte, offenbar weil sie durcheinander geraten waren. Es hatte Hiro verdrießlich mit den Augen rollen lassen. Sowohl sein Großvater, als auch Tyson, konnten einfach keine Ordnung halten, was wichtige Dokumente betraf und es war für ihn ein Armutszeugnis, dass sein kleiner Bruder, seinen alten Kontrahenten ins Haus bat, damit der ihm mit diesem Papierkram half. Ihm kam es damals vor, als habe Tyson einfach kein Rückgrat. Kai war zuvor sein schlimmster Gegner gewesen und diese Schwäche, würde er ihm bestimmt irgendwann unter die Nase reiben.

Doch als er an dem Kontrahenten seines Bruders vorbeirauschte, hob der den Kopf und sein Blick verdüsterte sich. Zunächst wollte ihm Hiro keine weitere Beachtung schenken. Er hatte geglaubt, dass Kai ihm die Sache mit der BEGA wohl doch noch übel nahm. Da warf der ihm aus heiterem Himmel vor, dass er ein mieser Feigling sei. Hitoshi war wie angewurzelt stehen geblieben. Er hatte sich abrupt umgedreht und Kai fassungslos angeschaut.

„Was hast du da gesagt?“

„Du hast mich schon verstanden!“

Ich? Aha. Das wirst du mir erklären müssen...“

Kai war langsam aufgestanden und hatte ihm die Dokumente vor die Nase gehalten. Sein Blick sprühte geradezu vor Gift und Hiro konnte sich nicht erklären, woher diese heftige Abneigung auf einmal herkam. Für einen Moment glaubte er, Kai wolle die alte Debatte aus ihrer BEGA Zeit wieder aufleben lassen, da blinzelte er jedoch perplex, als ihm der wahre Grund an den Kopf geworfen wurde.

„Willst du mir wirklich weiß machen, dass es vollkommen in Ordnung für dich ist, dass dein Bruder sich hier alleine durchschlägt, während dein Großvater knapp dem Tod entkommen ist? Du hättest schon viel früher hier sein müssen!“

„Das… Das regt dich auf?“, Hiro begann zu Stammeln, denn damit hatte er einfach nicht gerechnet.

„Na was denn sonst?“

„Jetzt bleib mal ganz locker. Opa lebt ja noch…“

Hitoshi hätte beinahe aufgelacht, denn er konnte kaum glauben, was er da hörte. Der abgebrühte Hiwatari sorgte sich tatsächlich um einen alten Mann.

„Es ging ihm wirklich schlecht! Das ist kein Witz! Und Tyson konnte damit kaum umgehen! Du weißt doch wie nahe sich die beiden stehen!“

„Opa ist alt. Irgendwann musste es soweit kommen.“

„Das heißt, wenn dein Großvater gestorben wäre, hättest du deinen Hintern trotzdem nicht hier her verfrachtet? Dieser Mann hat euch großgezogen - und so dankst du es ihm? Ein feiner Enkel bist du! Von deinem Großvater kannst du diese Gleichgültigkeit zumindest nicht haben!“

Hitoshi hatte wütend die Lippen aufeinander gepresst, denn diese Unterstellung, empfand er als eine bodenlose Frechheit.

„Gerade du redest von Gleichgültigkeit…“, es war ein wütendes Zischen gewesen.

„Ich dränge mich nur nicht gerne auf.“, Kai hatte seine gehässige Anspielung prompt verstanden. „Aber das was du getan hast, das war gleichgültiges Wegschauen. Du wusstest genau das du zuhause gebraucht wurdest, aber hast dich geweigert zu kommen!“

„Ich musste meine Prüfungen ablegen!“, Hitoshi hatte ihn finster angeschaut. Er konnte nicht fassen, dass er sich ausgerechnet vor Kai rechtfertigen musste. Vor seinem Bruder, ja. Aber doch nicht vor ihm!

„Von denen kann man befreit werden, wenn familiäre Notstände ausbrechen. Du hättest sie problemlos nachholen können. Komm mir nicht mit faulen Ausreden!“

„Pass auf was du sagst! Du gehst zu weit…“

„Ich denke gar nicht daran. Tyson hätte dich gebraucht! Er hat keine Ahnung von Versicherungen und amtlichen Dokumenten. Wie konntest du ihn nur so auflaufen lassen, wo diese ganzen Unterlagen, für deinen Großvater doch lebenswichtig sind? Würde ich mich nicht damit auskennen, hätte Tyson keinen Yen gesehen! Er wäre komplett auf den Behandlungskosten sitzen geblieben, weil er die Frist verpasst hätte, um das Geld einzufordern. Das kann doch unmöglich auch in deinem Sinne gewesen sein?“

Etwas ertappt hatte Hiro geblinzelt, denn auch er hatte nicht daran gedacht. Doch anstelle seinen Fehler einzuräumen, sprach er: „Du mischt dich in familiäre Angelegenheiten ein!“

„Nun… Einer musste es tun. Du warst ja nicht da. Dein Großvater kann sich aber glücklich schätzen, wenigstens einen Enkel zu haben, der so viel Rückgrat besitzt um ihn zu pflegen. Tyson hat sich dieser Herausforderung wenigstens noch gestellt, auch wenn seine Versuche holprig waren – du dagegen bist gar nicht erst angetreten! Und genau das macht dich zum Feigling!“

Seine Worte trieften damals geradezu vor Verachtung und da Hiro sich nicht mehr anders zu helfen wusste, hatte er Kai nur zu gezischt, sofort sein Haus zu verlassen. Der warf ihm daraufhin mit einem bockigen „Fein!“ die Dokumente ins Gesicht und sprach dann davon, dass ja nun das Familienoberhaupt hier sei, um sich um die Ablage zu kümmern – allerdings mit einer gehörigen Portion Spott. Kai hatte ihn an jenem Abend regelrecht vorgeführt und ihn in arge Verlegenheit gebracht. Hiro wusste noch, wie sehr ihn dessen Worte, in seiner Ehre verletzten.

Bis zu diesem Zeitpunkt besaß er eigentlich eine hohe Meinung von Tysons Rivalen. Er hatte sogar gehofft, dass das Konkurrenzdenken der beiden, soweit auf seinen kleinen Bruder abfärbte, dass der irgendwann nachzog, um mit seiner Karriere, nicht hinter Kai stecken zu bleiben. Doch dummerweise hatte Tyson einfach kein Ambitionen was das betraf…

Nach dieser Unterhaltung, war Hitoshi wutschnaubend in die Küche gegangen, wo sein Bruder gerade am Telefon mit einem der Ärzte sprach. Er riss ihm den Hörer aus der Hand und legte auf. Dann erklärte er dem verdatterten Tyson, dass Kai ab jetzt Hausverbot hatte. Er konnte sich noch gut an den Gesichtsausdruck seines Bruders erinnern. Dann zogen sich dessen Brauen tief zusammen. Er bedachte ihn mit einer Wut, die er noch nie erlebt hatte und kurz darauf, fand sich Hiro auch mit ihm in einer hitzigen Debatte.

„Keiner meiner Freunde wird diesem Haus fern bleiben! Schon gar nicht Kai! Eher schmeiße ich dich raus als ihn!“

Diese Worte hatten Hitoshi tief getroffen, denn ihm war damit schlagartig klar geworden, dass sein kleiner Bruder ihn nicht mehr respektierte. Tyson sah in Hiro keine ältere Bezugsperson mehr, von deren Lehren er sich noch etwas abschauen wollte, sondern war auf dem besten Weg, mit ihm um die Vormachtstellung im Dojo zu kämpfen. Er durchlebte eine Pubertät wie sie im Buche stand – voller Trotz, Zorn und ständig dabei, seine Grenzen auszuloten.

In den wenigen Tagen, in denen Hiro zuhause blieb, bemerkte er, dass ihre Beziehung schwer ins Negative gekippt war. Sein Bruder vertraute ihm nichts mehr aus seinem Leben an. Wenn sie zu Abend aßen, ohne den heiteren Großvater am Tisch, herrschte eisiges Schweigen zwischen ihnen. Er versuchte noch mehrmals einen Vorstoß, um mit ihm über den Vorfall mit Kai zu sprechen, denn er wollte seinem Bruder klar machen, dass es sich einfach nicht für einen Jungen in dessen Alter gehörte, so mit ihm zu sprechen.

„Kai lebt schon sehr lange in Japan. Trotzdem weiß er nicht was sich gehört. Er ist nicht in der Position um so mit mir zu sprechen. Ich habe das Recht des Älteren auf meiner Seite.“

„Er war da als ich jemanden gebraucht habe. Du nicht…“

Es war alles was Tyson zu dem Thema sagte, denn wann immer er noch einmal mit ihm darüber sprechen wollte, blockte der ab und meinte, dass sie niemals einer Meinung sein würden. Dieser Vorwurf lag Hiro noch heute schwer im Magen. Doch auch als seine Wut auf Kai verflogen war, er noch einmal über diesen Zwischenfall nachdachte und sich eingestand, dass der Junge in gewissen Punkten leider doch Recht gehabt hatte – seiner Familie sogar einen großen Dienst erwies - war er zu Stolz gewesen, um diesen Fehler einzugestehen. Ihn nun hier, nach so langer Zeit zu sehen, war für ihn deshalb recht sonderbar. Vor allem in dieser merkwürdigen Aufmachung.

Auf seine vorherige Frage, antwortete Kenny: „Ich weiß nicht wo Hana sich herumtreibt. Sie hat uns einen Wagen besorgt und wollte später nachkommen.“

„Wenn sie auftaucht, sagt ihr, sie soll Benjiro anrufen. Und Großvater…“, er bedachte den alten Mann, der sich noch immer schnaufend über die Brust fuhr. Offenbar war er am Ende seiner Kraft. „Bitte sorg dich nicht. Kümmere dich um Tyson. Ich werde klar kommen.“

„Oh Hiro… Was ist denn bloß passiert?“

„Nicht jetzt Opa. Mach es nicht schlimmer als es schon ist.“

Der Beamte begann ihn weiter zu drängen. Er wehrte sich nicht gegen den Griff. Die Gruppe sah ihn mit bangen Blick hinterher, bis er hinter der nächsten Tür verschwand.

„Wo bringt ihr ihn hin?!“, hörte er seinen Großvater krächzen. Hiro kniff die Augen fest zusammen. In der altersschwachen Stimme schwang so viel Verzweiflung mit. Er musste daran denken, wie gleichgültig er reagiert hatte, als Kai ihm davon berichtete, wie schlecht es seinem Großvater nach dem Schlaganfall ging. Nun schämte er sich dafür.

„Mein Junge! Ich will wissen wohin ihr meinen Jungen bringt?!“

Hiro wünschte sich inständig die Hände frei zu haben. Er wollte die Finger auf die Ohren pressen, um diese Verzweiflung nicht mehr heraus zu hören. Sein Großvater fragte nicht einmal, was er getan hatte. Er wollte einfach nur wissen, was mit seinem Enkelkind passierte…
 


 

*
 

Es war recht mühselig sich zwischen all den Seelen wieder zurück in die Irrlichterwelt zu kämpfen. Nicht das die Toten die kleine Strommaus zu ihren Fersen interessiert hätte, es war vielmehr die Tatsache, dass der schnellste Weg in die Heimat, über eine vielbenutzte Wurzel führte. Allegro hatte viel Geschick aufbringen müssen, um nicht unter den schleichenden Füßen einer Seele zu geraten, doch er fand unverhofft Hilfe in der Mutter seinen Kameraden Max. Gerade als er zwischen all den Knöcheln umherhuschte, traf er noch einmal auf jene Frau, welche seine Freunde in dieser lebensfeindlichen Umgebung geschützt hatte – oder besser gesagt, sie trat versehentlich auf ihn.

Mit einem erschrockenen „Verzeihung“ hatte Judy den Fuß gehoben und schnell erkannt, wen sie da beinahe zertrampelt hätte. Ein gütiges Lächeln huschte über ihre Lippen, wie es eben nur Mütter haben konnten und mit einem mitleidigen „Ach, du armer kleiner Kerl“, hob sie Allegro auf ihre Handfläche und verhalf ihm so, unversehrt durch die Seelenmasse zu gelangen, bis sich ihre Wege wieder trennten. Er tat eine tiefe Verbeugung vor ihr, als sie ihn auf einem Nebenzweig absetzte. Obwohl in ihren Augen eine gewisse Melancholie lag, schenkte ihm die Mutter seines Kameraden, ein trauriges Lächeln.

„Ich bin so froh zu hören, dass es Maxi mit seinen Freunden heil nachhause geschafft hat.“

„Und ich bin froh, ihnen mit meinen Neuigkeiten, wenigstens ein kleines Schmunzeln, auf das betrübte Gesicht zaubern zu dürfen, Madam.“

Auf einmal war da keine Trauer mehr. Judy hatte gelacht. Es klang geradezu heiter, als habe sie für einen Moment ihren eigenen Tod vergessen. Sie schaute dankbar auf Allegro herab und meinte: „Hätten wir beide uns nur zu meinen Lebzeiten getroffen. Dann hätte ich in meine Forschungsstudien erwähnt, wie charmant manche Bit Beast sein können.“

„Sie schmeicheln mir, meine Teuerste!“, er war tatsächlich rot geworden und es hatte Funken aus seinen Ohren gesprüht, denn auch wenn er eine Maus war, so machte es auf ihn den Anschein, dass Maxs Mutter eine hübsche Frau sein musste – zumindest für menschliche Verhältnisse. Er empfand ihr Lächeln einfach als sehr einnehmend.

Dennoch musste sich Allegro spurten, ließ es sich jedoch nicht nehmen, ihr gegenüber den aufrichtigen Wunsch zu äußern, sie möge in ferner Zukunft wieder mit ihrer Familie vereint sein.

„Irgendwann einmal. Das spüre ich.“, hatte Judy gesagt und traurig die Lider gesenkt. „Ich werde einfach warten – doch auch wenn ich die beiden jetzt schon schrecklich vermisse, hoffe ich, dass mein Mann und Maxi noch ein sehr langes Leben vor sich haben. Ich hoffe es von ganzen Herzen…“

Ein wahrlich selbstloser Wunsch und als er sich von ihr verabschiedete, merkte der Mäuserich, dass er tiefen Respekt für ihre Art von Liebe empfand. Es ließ ihn schneller auf den Verästelungen rennen, denn er dachte daran, wie viele Familien wohl durch die Umweltkatastrophen in der Menschwelt gespalten wurden - wie viele traurige Mütter, Väter und Kinder hier unten landen könnten. Zunächst nahm Allegro an, dass es einfach für ihn werden würde, einen Ausgang zu finden, aber tatsächlich gestaltete sich das als schwieriger wie erwartet. Bei dem ersten Schlupfloch aus dem er hervorkraxelte, stieß seine Schädeldecke auf etwas Federndes, was sich auch anzuheben lassen schien. Als er sich mit der Schnauze voraus hinauswitterte, hörte er einen lauten Schrei und stellte zu seinem Entsetzen fest, dass er direkt in dem Nest von Griffolyon gelandet war. Das Bit Beast war natürlich überhaupt nicht erfreut, dass er ihm wortwörtlich in den Hintern kroch und versuchte mit dem Schnabel nach ihm zu schnappen, allerdings legte Allegro geschickt den Rückwärtsgang ein. Zu seinem Glück war sein Gegner viel zu stämmig, um ihm durch die Öffnung folgen zu können. Als die Springmaus endlich einen Ausgang fand, der für ihn die optimale Größe besaß, zudem sicher schien und nach der gewitterten Fährte die in seiner Nase lag, auch in die Nähe seiner Sippschaft führte, eilte Allegro zu ihnen, so schnell ihn seine winzigen Füße trugen.

Er war wieder in jenem Teil der Irrlichterwelt, den die Uralten in das Abbild der Stadt Tokio verwandelt hatten. Zu seinem Erstaunen musste er bei seiner Ankunft aber feststellen, dass der Ort nun wirklich schauderhaft wirkte. Früher war die Nebeldecke durch die Anwesenheit der Hyänenmeute entstanden, doch nun trübte auch ohne deren Einfluss, eine graue Dunstwolke das Gebiet. Bald konnte sich Allegro nur noch auf seinen Geruchssinn verlassen, denn seine dunklen Knopfaugen, erkannten nur noch schemenhafte Silhouetten. Jedoch war es töricht von ihm, sie geschlossen zu halten, denn dadurch rannte er irgendwann mit dem Kopf voraus, gegen einen Gegenstand, der doppelt so groß war wie er. Irritiert blieb Allegro stehen und bei genauer Begutachtung bemerkte er, dass es sich dabei um dieses seltsame Kleidungsstück handelte, was die Menschen zu ihren Füßen trugen. Der Schuh zuckte leicht, offenbar lehnte sein Träger sitzend an der Häuserwand, die Beine weit von sich gestreckt. Es war einer der Gesichtslosen, offenbar ein männliches Exemplar. Doch sah der kaum noch menschlich aus…

Seine Haut, die eher die Konsistenz von Wachs besaß, tropfte von ihm herab. Ein Loch hatte sich zwischen den Kiefern aufgetan, darunter erhaschte Allegro nichts weiter, als gähnende Leere. Keine Knochen, kein Gewebe…

Offenbar hatten sich die Uralten, bei der Erschaffung der Gesichtslosen, noch nicht einmal die Mühe gemacht, ihnen innere Organe zu geben. Sie waren hohle Hüllen, als würde man eine Kinderpuppe auseinandernehmen. Allegro schnalzte als er das bedauernswerte Geschöpf vor sich erblickte. Mit dem Tod von zwei Uralten, schien es auch mit den Gesichtslosen vorbei zu sein. Sicherlich war es besser so. Die verbliebene Energie von Dragoon, sollte nicht für derlei Spielereien verschwendet werden, dennoch war es traurig, dass dahinscheiden dieser merkwürdigen Rasse zu erleben.

Ihr kurzes Dasein glich denen einer Eintagsfliege.

Allegro wandte sich von dem Anblick ab und huschte in eine finstere Gasse hinein. Der feuchte Dunst hinterließ einen nassen Film auf seinem Pelz. Irgendwann, gegen Ende des Weges, tat sich eine grüne Rasenfläche zwischen den Hochhäuserwänden auf, vollkommen deplatziert an diesem Ort aus Asphalt und Backstein. Im Zentrum der kreisförmigen Fläche, erhob sich ein geborstener Baumstumpf, umgeben von Farn und gelben Löwenzahn. Vor einigen Jahrzehnten, hatte einer von Drigers Blitzen, versehentlich den Baum getroffen. Man warf ihn nicht einmal vor, dass es aus Böswilligkeit geschah, der Uralte musste Nießen und dabei stoben ihm eben dummerweise Blitze aus den Nüstern. Der umgekippte Stamm, der ihm dabei in die Quere kam, hing seit damals quer neben seinem Stumpf. Nur wenige Sehnen hielten ihn noch zusammen. Es war zwar ein Missgeschick gewesen, doch für seine Sippe, war es das perfekte Zuhause geworden, denn nachdem man die Rinde abnagte und die glatte Oberfläche darunter zutage förderte, konnte man den schrägliegenden Stamm als Rutschbahn verwenden. Die jungen Mäuse hatten ihre Freude daran. Auch wenn seine Sippe am Ende der Nahrungskette lag, so wollte man doch nicht auf den Spaß verzichten. Als die Uralten einfach so die Abbildung von Tokio in diesen Teil der Irrlichterwelt platzierten, hatten sie deshalb große Angst gehabt ihr schönes Heim zu verlieren. Mit Schrecken musste seine Sippe beobachten, wie ein Gebäude nach dem anderen, zu beiden Seiten ihres Heimes aus dem Boden schoss und mit wachem Blick starrten sie auf den Zement, der sämtliches Grün Millimeter für Millimeter verdeckte. Eine höhere Macht musste es gut mit seiner Sippe gemeint haben, denn ihr Unterschlupf blieb verschont. Allegro wusste aber, dass dies nur Glück gewesen war, denn anderer Orts, waren die Eingänge in den Bauten der Strommäuse, unter dem Asphalt zerdrückt worden.

Am unteren Teil des Baumstumpfes, dort wo sich die Wurzel in die Erde fraß, lag ein kleiner Spalt, der hinunter in die unterirdischen Tunnelsysteme der Strommäuse führte. Allegro erhaschte die Gestalt einer seiner Cousinen, die vor dem Eingang mit einem Eichenblatt den Dreck fortkehrte. Als er angerast kam und in einer waghalsigen Vollbremsung vor ihr zum Stehen kam, gab sie ein erschrockenes Quieken von sich, nicht ohne dabei einen großen Satz aus Funken zu machen. Fast wäre seine Cousine wieder in den Bau entschwunden, als sie witterte, wen sie vor sich hatte.

„Allegro? Du liebe Güte… Bist du das?“, sie besaß ein sehr helles Stimmchen, wie jede Strommausdame.

„Wie er leibt und lebt, liebe Mimi.“

„Du liebe Güte! Ich hätte nicht erwartet dich noch einmal lebend zu Gesicht zu bekommen! Unser Prediger hat erzählt, du hättest dich mit diesem Menschenpack eingelassen.“

„Das habe ich auch und wie du siehst, habe ich es überlebt.“, er reckte Stolz die Brust und seine Cousine machte große Augen. Sie umklammerte ehrfürchtig den Stil ihres Eichenblattes.

„Und du schwindelst nicht?“

„Selbstverständlich nicht!“

„Und die Uralten haben dich nicht bemerkt?“

„Doch.“

Cousine Mimi tat einen hörbaren Atemzug.

„Und sie haben nichts unternommen?“

„Sie haben versucht mich aufzuhalten! Vor allem Dragoon dieser Schuft.“

„Du liebe Güte!“

Dieser Ausruf kam mehrmals am Tag aus ihrem Mund. Sie war die Sorte Maus, die wirklich schnell beunruhigt war und auch gerne eine sichere Hand brauchte, die sie führte. Seine Ankunft hatte inzwischen Aufsehen erregt. Bald sah sich Allegro umzingelt von einer kleinen Meute Jungmäusen, die erpicht darauf waren, noch mehr von seinen Erlebnissen zu hören.

„Ich erzähle euch ein andermal von meinen Abenteuern.“, beschwichtigte er die aufgeregten Gemüter ungeduldig. „Jetzt gibt es anderes zu bereden! Großes Unheil steht uns bevor, meine lieben Freunde!“

„Hast du etwa die Uralten zu uns geführt?“, kam der erschrockene Ausruf gleichzeitig von zwei Mäusezwillinge. Die beiden Kinder drängten sich furchtsam aneinander.

„Nein, das habe ich nicht. Und selbst das wäre das kleinere Übel!“, Allegro sprang an einem kleinen Stein hoch, denn mit jeder weiteren Minute, gesellte sich eine weitere Maus zum Rest der Meute. Sie waren von Natur aus Gaffer und aufregende Geschichten sprachen sich schnell herum. Er sah unzählige Arten vor sich, von denen jede ihn neugieriger musterte als die Nebenmaus. Bald hatte er wirklich Mühe sich Gehör zu verschaffen. „Meine lieben Brüder und Schwestern! Einigen mag es womöglich schon an die Lauscher getragen worden sein, doch vor kurzem sind zwei Uralte von uns gegangen.“

„Zwei?“

Diese Zahl irritierte die Strommäuse. Allegro erhaschte dutzende fragende Gesichter und konnte sich auch denken weshalb. Der Kampf zwischen Driger und Dragon wurde in der Irrlichterwelt ausgetragen. Hier war seine Sippe weit verbreitet.

Sei es unter der Erde, in einem hohlen Baum, zwischen viel Geäst und Steinen…

In der Regel tummelten sich die Mäuse hier in jeder Ecke herum, es sei denn sie witterten Gefahr. So hatte sich Drigers Ableben sicherlich schnell verbreitet. Doch Draciel war in der Grauzone verstorben – ein Ort an den sich noch keine Strommaus zuvor hin getraut hatte.

„Wer ist der zweite Uralte? Ist es Dragoon – oder gar diese scheußliche Dranzer?“

„Nun, mir ist es gleich. Von denen ist doch jeder Schlimmer als der andere.“, tat eine Wühlmaus ihre Meinung trotzig kund.

„Das sollte euch keineswegs gleich sein!“, ermahnte Allegro. „Denn wir haben nun alle ein ernsthaftes Problem!“

„Warum? Wenn zwei Uralte weg sind, lebt es sich doch für uns sicherer?“

Einstimmiges Murmeln war die Antwort und Allegro konnte es den Mäusen hier nicht einmal verdenken. Die wenigsten scherten sich um die Mächte die ihre Welt lenkten. Für den Großteil zählte lediglich ihr Überleben. Vor allem die jungen Mäuse wurden angehalten, sich nicht allzu weit von ihrem Bau zu entfernen. Da war es ausgeschlossen von diesen einfältigen Kindern zu erwarten, etwas über den Tellerrand zu wittern.

„Ihr denkt nicht vorausschauend!“, erklärte Allegro kopfschüttelnd. „Die Uralten mögen uns das Leben schwer gemacht haben, doch ihre Daseinsberechtigung hatten sie dennoch!“

„Das sagst ausgerechnet du?!“, empörte sich die Wühlmaus erneut. „Du bist es doch immer, der gegen die Uralten gewettert hat!“

„Weil ich nicht dulden konnte, dass sie uns wie ihr Fußvolk behandelt haben! Das ändert aber nichts daran, dass wir sie ebenfalls brauchen. Denn durch den Tod von zwei Uralten, wird die Welt, wie wir sie kennen, bald in arges Ungleichgewicht geraten.“

Nun wurde das Murmeln beunruhigt. Offenbar hatten die meisten hier noch nicht so weit gedacht und Allegro erspähte viele Augenpaare, die nachdenklich aufschauten. Eine Hand erhob sich aus der Mäusemasse. Sie gehörte Cousine Mimi.

„Wird das Auswirkungen auf uns haben?“

„Natürlich wird es das! Und nicht nur auf uns, sondern auf alle andere Sippen ebenfalls! Selbst die Elite wird davon nicht verschont bleiben!“

„Du liebe Güte...“

„Moment! Woher willst du das wissen, Allegro!“, der Protest kam aus einer ganz anderen Ecke. Dort war eine kleine Zwergmaus, an einer kräftigen Löwenzahnblüte hochgeklettert, da sie in der Masse unterzugehen drohte. „Also bisher ist noch alles gut hier. Ich merke nicht viel von diesen Auswirkungen, die du uns so düster prophezeist! Ehrlich gesagt glauben die meisten von uns so langsam, dass die Uralten nicht halb so wichtig sind, wie sie immer getan haben! Womöglich brauchen wir sie gar nicht!“

Zustimmendes Nicken war die Antwort.

„Seid doch nicht so einfältig! Das ist ein schleichender Prozess – doch es wird passieren! Momentan versucht Yggdrasil das Ungleichgewicht auszubalancieren, doch die Weltenbaumzwillinge werden das nicht allzu lange aushalten. Ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört - die Bäume leiden! Sie sind geschwächt von den dauernden Fehden zwischen den Uralten.“

„Umso besser wenn sie weg sind, oder nicht?“

„Nein! Ihr müsst euch unsere Welt nämlich wie ein Dach vorstellen, dass von vier Säulen getragen wird. Zwei Säulen sind weggebrochen und drohen nun auf das Fundament zu stürzen. Wir alle Leben auf dem Rücken der Weltbaumzwillinge, aber sie drohen von der Masse ihrer Last zerstört zu werden!“, Allegro deutete hinauf zum Himmel. „Der Totenbaum hat es Dragoon und mir erklärt. Dort oben ist der leblose Beweis dafür, was uns demnächst blüht, wenn die Welt nicht wieder in Balance gebracht wird.“

„Du meinst wir werden Wolken?“

„Herrje! Doch nicht die Wolken! Was habe ich nur für eine begriffsstutzige Verwandtschaft!“

Er hopste geladen auf der Stelle. Wenn das so weiter ging, würde er wieder zum Blitz werden.

„Ich meine die Sterne! Ich denke dem Einfältigsten ist schon einmal zu Ohren gekommen, das unser Planet einer der wenigen ist, auf dem Leben existiert – und der Grund dafür sind die Uralten. Wenn ihre fehlenden Plätze nicht schnellstens besetzt werden, wird unsere Welt bald genauso aussehen, wie all diese kahlen Orte da draußen, von denen ihr in der Mäuseschule gehört habt!“

„Hast du einen Beweis dafür?“

„Also dafür muss man doch kein Gelehrter sein, oder? Die ersten Zeichen sind schon da! Schaut euch doch nur die Gesichtslosen an! Warum glaubt ihr gehen sie ein? Sie haben keine Energie mehr. Unsere Welt geht bald auf Sparflamme – und die ersten Dinge, die unterversorgt werden, sind jene, die nicht von Nutzen sind. Die Gesichtslosen waren nur eine Spielerei. Nun da wir aber auf die Energiekrise zusteuern, werden sie zuerst abgestoßen!“

„Du liebe Güte!“, fiepte Mimi aus ihrer Ecke. „Ja stimmt, das ist mir auch schon aufgefallen! Die welken dahin wie Maiglöckchen im Winter.“

„Das hat noch gar nichts zu heißen!“, sprach die misstrauische Wühlmaus.

„Woher willst du das wissen?“, fragte die Cousine. „Was ist wenn er Recht hat und das wirklich nur der Anfang ist?“

„Er war schon immer ein Unruhestifter! Und sieh ihn dir nun jetzt an. Gestern zetert er über die Uralten. Nun sind zwei tot und er braucht offensichtlich eine neue Beschäftigung!“

„Pah pah pah!“, Allegro stampfte erbost mit dem langen Fuß auf. „Na das will ich mal schwer überhört haben, Monsieur! Glaubst du wirklich es hört mit den Gesichtslosen auf? Was glaubst du verschwindet als nächstes? Wahrscheinlich diese Stadt! Wenn wir Pech haben bricht bald ein Stein nach dem anderen in sich zusammen, wie bei einem Kartenhaus.“

Er deutete mahnend mit dem Finger auf ihn.

„Die Gesichtslosen und die Stadt können wir entbehren. Sie waren ohnehin nie Bestandteil dieser Welt. Aber was wird erst geschehen, wenn uns der Boden unter den Füßen wegbricht?“

„Ach sei doch nicht immer so ein Schwarzseher…“

Allegro wollte schon aufgebracht zu einem weiteren Kontra ansetzen, als alle Mäuse zu Schreien begannen. Ein Beben erfüllte ihre Umgebung. Sämtliche Nagetiere hüpften ohne ihr Zutun auf der Stelle. Die beiden Zwillingsmäuse klammerten sich verzweifelt aneinander, als wären sie festgewachsen. Doch so schnell wie das Beben kam, verschwand es auch schon wieder. Der Schrecken blieb aber…

Viele Mäuse waren gestürzt. Ein bunter Fellhaufen hatte sich manchen Orts gebildet. Allegro war von seinem Stein gerutscht und auf dem Rücken zum Liegen gekommen. Er richtete sich auf, klopfte sich den Staub vom langen Schweif und als er aufschaute, waren da viele beunruhigte Gesichter, doch so ganz überzeugt schienen die Hartnäckigsten unter ihnen noch nicht.

„Das beweist noch gar…“, wollte die Wühlmaus offensichtlich seine Gedanken erraten, als ein lautes Poltern zu vernehmen war. Sämtliche Köpfchen wandten sich in Richtung der Hauptstraße. Alle Ohren zuckten bei dem Versuch, das Geräusch genauer zu definieren. Durch den Nebel konnte man nicht genau erkennen, was dort in sich zusammenbrach, doch es war laut, unheilvoll – und ziemlich groß. Und es wirbelte viel Staub auf, der sich langsam in ihre Gasse zwängte.

„Tja, mein lieber Cousin.“, wandte sich Allegro an den Skeptiker. „Hört sich nicht nur nach einem Kartenhaus an, was da in sich zusammenfällt. Oder was denkst du?“

Auf einmal war selbst der standhafteste Kritiker mundtot. Mit einem grimmigen Nicken quittierte Allegro das aufgekommene Schweigen und kraxelte wieder an seinem Stein hoch.

„Meine Brüder und Schwestern, hört mir bitte jetzt genau zu. Denn uns bleibt nicht viel Zeit um dieses Unheil abzuwenden.“

„Uns?“, fragte Mimi verdutzt und das Wort breitete sich wie ein Lauffeuer durch sämtliche Reihen aus. „Warum denn nur wir?!“

„Weil es jetzt auf uns ankommt.“

„Aber Allegro, was können wir schon tun?“, klagte seine Cousine furchtsam. „Wir sind doch nur Strommäuse! Wenn das alles stimmt, was du sagst… Du liebe Güte! Dann sind wir ja alle verloren!“

Nun wurde seine Sippe richtig unruhig. Alle Köpfe wandten sich panisch umher und die ersten von ihnen stoben schon davon, um die unheilvolle Botschaft weiter zu erzählen. Allegro versuchte mit ganzer Kraft, gegen die Stimmen anzukämpfen, doch es war zwecklos. Sobald sich Strommäuse in ihre Angst hineinsteigerten, konnte man das Geschwätz kaum aufhalten. Also griff er nach Mimis Eichenblatt, rollte es flink zu einem Trichter zusammen und brüllte hinein: „ZUHÖREN!“

Es schallte über die Mäusemasse wie mit einem Megaphon. Die Stimmen verebbten und alle Augen richteten sich wieder auf ihn.

„Das alles kann noch aufgehalten werden! Und es liegt in unseren Händen! Die Lösung liegt darin, die Weltenbäume so lange zu entlasten, bis die neuen Uralten geboren werden. Wir können das natürlich nicht, aber da Driger und Draciel tot sind, haben jene Bit Beast, die dem Element Erde und Wasser unterliegen, keine führende Hand mehr. Sie beschränken sich lediglich auf jene Aufgaben, die sie seit ihrer Geburt erledigen. Wir müssen aber alle diese Bit Beasts aufsuchen und ihnen klar machen, dass Dragoon von ihnen möchte, dass sie zusammen arbeiten.“

„Soll das etwa heißen, dass dieser Auftrag vom König der Bit Beasts persönlich kommt?“, kam es voller Ehrfurcht von der Zwergmaus.

„Ganz Recht! Dragoon selbst hat mir diese Botschaft mitgegeben. Er sagt, dass wir Strommäuse, zahlenmäßig so weit verbreitet sind, dass es keine Probleme für uns darstellen dürfte, diese Nachricht in der ganzen Irrlichterwelt zu verbreiten.“

Auf einmal ging ein ungläubiges Raunen durch die Massen. Das der König der Bit Beasts ihnen eine so große Bedeutung zumaß, schien wie ein wahrgewordener Traum, für die sonst so gebeutelte Unterklasse. Natürlich hatte Dragoon aus Eigennutz gehandelt, doch es sprach nichts dagegen, diesen Umstand als Werbung zu nutzen.

„Mesdames et Messieurs, es ist so wie ich es euch stets gesagt habe! Eines Tages wird der Tag kommen müssen, an dem die Oberklasse erkennt, dass wir Mäuse mehr sind, als einfaches Futter! Dragoon hat seinen Fehler bereits begriffen und er wird versuchen, Dranzer ebenfalls ins Gewissen zu reden, damit sie ihre Aufgaben wieder aufnimmt. Doch so lange müssen alle zusammenhalten und wir sind das perfekte Sprachrohr, um das Ganze zu koordinieren. Deshalb meine lieben Freunde, geht zu allen unseren Brüdern und Schwestern! Geht zu den Bauten der anderen Sippen! Sprecht mit den Oberklassen und richtet ihnen Dragoons Befehl aus! Eilt so schnell euch eure Füße tragen zur Elite! Sagt ihnen, dass alle Wasser Bit Beasts, ihre Kräfte bündeln müssen. Dasselbe sagt ihr allen Erd Bit Beasts. Dragoons Befehl lautet, dass alles, was Mutter Natur nur zur Zierde bedarf warten muss. Die Elite muss Prioritäten setzen! Die wichtigsten Aufgaben immer zuerst! Sie müssen sparsam mit ihrer Energie umgehen!“

„Und wenn sie nicht auf uns hören?“

„Dann sagt ihnen dass ihr im Auftrag von Dragoon selbst kommt! Die Oberklasse wird momentan genauso verwirrt sein, wie wir alle. Keiner außer den Uralten, weiß was zu tun ist. Deshalb müssen wir alles so lange am Laufen halten, bis die neuen geboren sind! Wenn Dank uns die Weltenbaumzwillinge nicht zusammenbrechen, haben wir nicht nur unser Leben gerettet, nicht nur das der Elite – sondern auch unsere Ehre gewonnen! Kein Bit Beast wird danach vergessen, wer in dieser Krise einen kühlen Kopf behalten hat! Zeigt der Elite, dass selbst ein kleines Mäuschen, einen Stein ins Rollen bringen kann!
 


 

*
 

Der alte Großvater war doch recht bemitleidenswert. Da kam er hier her ins Präsidium, um seinen jüngsten Enkel zu entlasten und musste feststellen, dass der Älteste ebenfalls in Handschellen abgeführt wurde. Das dürfte kein schöner Anblick für ihn gewesen sein. Da sah Inspektor Kato gnädig über seinen impulsiven Vortrag hinweg.

Er fuhr sich über die Nasenwurzel und schloss einen Moment die Augen. Dieser Tag wurde von Stunde zu Stunde konfuser. Er wollte die Aussage von Takao Kinomiya, was den Verbleib des alten Mannes betraf, erst nachprüfen lassen, da stand der auch schon leibhaftig vor seiner Nase – putzmunter und mit genug Energie, um ihm eine Standpauke zu halten.

So wie er das nun auch beurteilen konnte, war der alte Herr tatsächlich sehr laut, so wie der Junge es geschildert hatte. Es musste unglaublich anstrengend sein mit ihn in einem Haus zu leben. Inspektor Kato blickte auf seine Notizen. Mit den Jahren war seine Menschenkenntnis geschult worden und er musste zugeben, nachdem er Takao Kinomiya von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß, war er unschlüssig, in wie weit der Junge noch in die Vorfälle involviert war. Allerdings wusste er etwas…

Kato kam es vor, als würde Takao Kinomiya jemanden schützen. Er fuhr sich über das unrasierte Kinn, grübelte darüber nach, wie er nun am besten vorgehen sollte, denn auch seine unter ihm stehenden Kollegen, erwarteten eine Antwort von ihm, während er hier im Verhörraum saß und die Zeugen sich draußen die Beine stramm standen. Am Aufwendigsten wäre es, wenn er alle einzeln befragen würde. Das machte ihn dann auch sicherlich unbeliebt in der Belegschaft, denn die meisten von ihnen waren schon weit über ihre vorgeschriebenen Stunden hier. Selbst als das Erdbeben das Revier erschütterte, hatte er ihnen nicht gestattet, ihren Posten zu verlassen, es sei denn es betraf ihre dienstlichen Pflichten oder einen ernsten familiären Notfall.

Kato dachte nach wen er zuerst befragen sollte…

Der Großvater wäre schon Mal eine gute Wahl. Einfach um sicherzustellen, dass sein Enkel nichts mit seinem Krankenhausaufenthalt zu tun hatte. Es wäre zumindest ein Punkt, in diesem Wirrwarr aus fraglichen Unfällen, den man endlich klären könnte.

Doch wer sollte danach folgen?

Kato breitete die Fotos noch einmal vor sich auf der Tischplatte aus. Eines zeigte den Großvater im Krankenbett, wie er aschfahl unter der Decke lag. Der war aber nun wieder quicklebendig. Auf dessen Aussage war er wirklich gespannt. Oder womöglich doch jemand anderes?

Seine Finger fuhren weiter, über das nächste Bild. Die verkohlte Leiche im Hiwatari Anwesen war darauf abgebildet. Sie war im Schlafzimmer des Oberhauptes aufgefunden worden, lag dort auf dem Rücken. Auf dem Hochglanzfoto konnte man die stark verkrampfte Haltung erkennen, weshalb die Leiche ein Hohlkreuz aufwies. Ihr Kiefer war weit aufgesperrt. Es sah wahrhaftig schauderhaft aus. Der Mensch auf diesem Bild war eindeutig tot…

Und doch behauptete die Pathologin felsenfest, dass diese Leiche heute Morgen vom Obduktionstisch aufgesprungen sei. Dabei konnte niemand solche Verbrennungen überleben. Inspektor Kato verschränkte die Arme vor der Brust und musterte dieses Foto besonders eingehend. Er kannte die zuständige Pathologin. Sie war eine angesehene Spezialistin in ihrem Bereich, besaß einen kühlen Kopf. Das ausgerechnet sie mit solchen Schauermärchen aufkam, konnte er kaum fassen und erst recht nicht, dass davon eine Videoaufnahme existieren sollte. Obwohl er seinen Untergebenen kaum Glauben schenkte, hatte er sich dazu bereit erklärt, sich zumindest die Aufnahme später anzuschauen, auch wenn ihm das nicht sonderlich vielversprechend vorkam. Er weigerte sich an einen solchen Humbug zu glauben und war unglaublich wütend, dass die Leiche nun abhandengekommen war. Sollte sie nicht mehr auftauchen, wäre das eine Blamage für das gesamte Revier und diese verfluchte Reporterin, hatte auch noch davon berichtet. Er war viel zu beschäftigt gewesen, um die Nachrichten zu verfolgen, sonst hätte er dem ganzen einen Riegel vorgeschoben. Die ganze Angelegenheit war nun wirklich heikel…

Kato kratzte sich nachdenklich am Kinn.

Er könnte behaupten, dass es nie eine Leiche gegeben habe und die Reporterin ein falsches Gerücht in die Welt gesetzt hatte. Immerhin wurde die Aussage nicht von ihrer Abteilung bestätigt. Aber wollte er wirklich einer Toten die Schuld in die Schuhe schieben?

Der Staatsanwalt würde ihm verächtlich ins Gesicht lachen, wenn Kato ihm von dem Verdacht erzählte, aber die Leiche auf die der Fall aufbaute, vom Erdboden verschwunden war. Sie hatten noch nicht herausgefunden, um wen es sich bei dem Opfer handelte, dazu war die Leiche zu kurz in der Obhut der Pathologin gewesen. Noch nicht einmal das Alter hatte sie bestimmen können, dafür wären zumindest Fingerabdrücke, oder gerade bei Brandopfern, Aufnahmen vom Gebiss nötig.

Kato seufzte. Auf was sollte da noch geklagt werden?

Besonders lange verweilte sein Blick auf dem Foto der Krankenschwester, dass er zuvor Takao Kinomiya vorgelegt hatte. Der Junge gab offen zu, dass ein Streit zwischen ihnen aufkam - doch ob er wirklich mehr damit zu tun hatte?

Katos Finger tippte auf dem Foto herum. Er fragte sich, was für einen Grund es geben mochte, das der Junge behauptete, alle hätten zusammen das Krankenhaus verlassen. Kai Hiwatari war doch eindeutig zurückgeblieben. Er erinnerte sich daran, dass er auf den Aufnahmen mit einem Mann gesichtet worden war, der kurz nach der Abreise der Gruppe, am Eingang des Krankenhauses auftauchte. Einfach so aus dem Nichts war der Fremde erschienen. Er sprach mit dem Hiwatari Oberhaupt, machte seltsame Annährungsversuche und so schnell wie er kam, entschwand er auch wieder. Kato hatte ihren Techniker die Aufnahme mehrmals überprüfen lassen, zumal sie von seltsamen Blitzen gestört wurden, doch offenbar fehlten durch einen Wackelkontakt einige Sekunden. Sie konnten nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob Kai Hiwatari tatsächlich wieder ins Gebäude gegangen war, denn ständig flimmerte eine Störung über den Bildschirm. Kato brummte verstimmt. Er hasste die heutige Technik. Sie kam ihm zu fehlerhaft vor und schien das Leben nur komplizierter zu machen. Durch diese störungsanfällige Kamera, war das Bildmaterial sehr vage. Wenn das Hiwatari Oberhaupt für den Angriff auf die Schwester verantwortlich war, würde sein Verteidiger sofort behaupten, dass nicht eindeutig geklärt werden könne, ob er wieder zurück ins Gebäude gegangen war, da die Aufnahme in der entscheidenden Minute, wieder von einem Flimmern gestört wurde.

Und doch konnte das alles hier kein bloßer Zufall sein! Oder etwa doch?

Überall wo die Gruppe auftauchte hatte es Verletzte oder Tote gegeben. Ihre einzelnen Opfer, lagen wie ein Etappenbild vor ihm. Das alles ließ Kato nicht zur Ruhe kommen…

Die Tür zum Verhörraum glitt hinter ihm auf und die junge Aoi steckte den Kopf zaghaft durch den Spalt. Wegen ihrer piepsigen Stimme wurde sie nie ernst genommen und man schickte sie auch ständig vor, wenn die Herren der Schöpfung sich nicht getrauten, ihren Vorgesetzten anzusprechen. Kato wusste das er als Miesepeter verschrien war, doch Aoi konnte man nie recht böse sein, weil man Angst bekam, dass sie in Tränen ausbrach, sobald man forscher wurde. Sobald die männliche Belegschaft das bemerkte, hatten sie das junge Ding dazu verdammt, ständig als Sturmkrähe bei ihm anzuklopfen.

„Inspektor? Verzeihen sie das ich störe, doch meine Kollegen möchten gerne wissen, ob sie zu einer Entscheidung gekommen sind?“

Draußen wurde man also unruhig. Seine Mannschaft wollte für heute endlich zum Abschluss kommen. Kato kratzte sich am Kinn und nickte.

„Wir werden alle einzeln verhören.“

Hinter Aoi schallte ein entnervtes Stöhnen durch den Flur. Offenbar hatten ihre männlichen Kollegen nicht nur zu wenig Rückgrat, um ihn selbst nach seinem weiteren Vorgehen zu fragen, sondern lauschten auch noch ganz unverfroren. Einer von ihnen maulte gut vernehmbar, dass er in Zukunft seinen Schlafsack mitbringen musste, wenn das mit den Überstunden so weiterging. Kato ignorierte die Kommentare im Flur und beugte sich über die Mappe.

„Takao Kinomiya bringt ihr erst einmal in der Ausnüchterungszelle unter. Außerdem soll Kabayashi mich bei den Befragungen unterstützen, damit es schneller geht. Er soll sich im nächsten Raum, noch einmal diesen Jungen, mit der wirren Frisur und der dicken Brille vorknöpfen. Mir ist der Name entfallen…“

„Seine Freunde rufen ihn Chef.“

„Ich glaube kaum, dass er wirklich so heißt. Bei meiner ersten Befragung sprach er davon, dass das nur einer seiner Spitznamen sei.“, Kato wurde so langsam alt. Die einfachsten Dinge entfielen ihm. Es wurde Zeit das er sich über seinen Ruhestand Gedanken machte. „Er hat schwache Nerven. Falls er uns irgendwo belogen haben sollte, wird ihn Kabayashi wie eine Walnuss knacken. Der Junge schien sich bei einem schiefen Blick von mir, bereits ins Hemd zu machen.“

Aoi schaute über ihre Schulter hinweg.

„Ja. Den Eindruck macht er auch hier…“, stimmte sie ihm verblüfft zu.

„Danach soll sich Kabayashi den Großvater vornehmen. Der Alte soll sich aber erst beruhigen. Bringt ihm einen Tee und die Sache mit dem ältesten Enkel überlasst ihr mir. Heute sprechen wir das Thema nicht mehr an. Vorerst nur Fragen zum vermeintlichen Unfall und der schrulligen Nachbarin die gegenüber wohnt.“

„Was sollen wir mit dem kleinen Mädchen machen?“

„Mmm… Ich kann kein plapperndes Kind im Verhörraum gebrauchen. Diesen Hiwatari möchte ich sowieso am dringendsten sprechen.“, er sammelte die Bilder vom Tisch ein, stopfte sie in die Mappe zurück und überlegte. „Wärst du so lieb und kümmerst dich um das Mädchen? Du könntest ihr eines der Polizeiautos zeigen. Da stehen die Kinder doch immer drauf, vor allem wenn wir die Sirene anschmeißen. Gib ihr eine Polizeimütze, eine Dienstmarke und führ sie herum.“

Aoi strahlte bis über beide Ohren. Kato schickte sie nämlich immer dann vor, wenn es darum ging, Kinder zu hüten. In gewisser Weiße war das ähnlich sexistisch, wie das Verhalten von ihren Kollegen, nur wusste er, dass ihr solche Aufgaben keineswegs etwas ausmachten.

„Aber natürlich Inspektor! Das mache ich sehr gerne!“

„Danke. Wenn das Mädchen Hunger bekommt, geht auf meine Kosten essen. Meine Geldbörse liegt in meiner obersten Schublade.“

„Uhh! Das ist so großzügig von ihnen!“

„Findest du? Na, dann vergiss bitte nicht, den anderen da draußen davon zu erzählen. Und bitte betone auch den Teil mit dem kostenlosen Essen. Ach, und schick mir zuerst diesen Hiwatari herein. Den knöpfe ich mir sofort vor.“

„Natürlich, Inspektor. Vielen Dank, Inspektor! Das ist einfach so nett von ihnen, Inspektor!“

„Ja ja… Nun geh schon!“, scheuchte er sie hinaus. Aoi frohlockte geradezu kindlich, als sie die Tür hinter sich schloss und kurz darauf hörte er die empörten Ausrufe, der männlichen Belegschaft, als sie ihnen die Aufgabenverteilung erklärte. Offenbar war man der Meinung, dass die weiblichen Kolleginnen bevorzugt behandelt wurden. Kato grinste gehässig und erwartete den ersten Verdächtigen.
 


 

ENDE Kapitel 42
 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  jasuminu
2017-02-26T23:07:36+00:00 27.02.2017 00:07
Wiedereinmal ein sehr gelungenes Kapitel! Es freut immer wieder ungemein einen neuen Teil dieser Geschichte zu lesen ^.^
Es tut mir leid , ich würde so gerne zu jedem Kappi ein Kommentar da lassen und meine Gedanken/Gefühle zu jedem Abschnitt beschreiben. Ich hab ein kleinen Säugling und ein Kleinkind da Heim, da ist es schwer Ruhe zu finden ^,^"
Du sollst einfach nur wissen, dass ich deine FF großartig find und sie immer verfolge. Um so mehr würde ich mich auf ein weiteres Kapitel freuen♡


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