Zum Inhalt der Seite

Die Geister die wir riefen...

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die Luft war dünn und stickig. Jeder Atemzug fühlte sich an, als ob anstatt Sauerstoff nur Staub den Weg in die Lunge fand. Mehr als einmal verursachte es bei Ray einen schmerzhaften Hustenanfall, den er nur mit viel Mühe überwinden konnte. Es gab kaum ein Körperteil das ihm nicht schmerzte. Außerdem fühlte es sich an, als habe er sich eine Rippe gebrochen.

Dennoch könnte es schlimmer sein…

Er lebte immerhin noch. Auch wenn der Moment, indem der Zug auf die Tunnelwände traf, sie allesamt herumgeschleudert hatte, wie Würfel in einem Pappbecher. Ray wusste, dass sie eigentlich tot sein müssten. Doch es war Galux zu verdanken, dass sie den schweren Aufprall überlebten. Sie hatten keinen Sitzplatz in einem der Wagons mehr gefunden, also waren Mariah und er im Gang, neben den Toiletten stehen geblieben. Galux hatte eine Art Schutzschild um sie errichtet. Die Überbleibsel ihres Kraftaktes waren noch genau zu sehen. Der kleine Abschnitt indem sie sich befanden war nun wie eine Kugel ausgehöhlt. Das Material des Zuges hatte sich im Angesicht von Galuxs Energie verformt. Es erinnerte Ray an einen Ballon, dessen Oberfläche man mit Papier zugekleistert hatte. Sobald alles getrocknet war, ließ man den Ballon platzen und das Papier blieb weiterhin in dieser Form zurück. Das allein dieser Schutzschild so viel Macht hatte, ließ ihn ein weiteres Mal erkennen, wie außergewöhnlich ein Bit Beast sein konnte – auch wenn es Galux das letzte bisschen Kraft raubte. Bei dem Gedanken schloss Ray bedauernd die Augen. Hätte er doch nur nicht auf seine Frau gehört. Es war Mao gewesen, die nicht auf den nächsten Zug warten wollte. Ray hatte ihr gesagt, dass es für eine schwangere Frau schwer werden würde, die ganze Fahrt über stehend zu verbringen. Doch sie hatte sich durchgesetzt. Nun gut, es hatte keinen Sinn zu jammern.

Das würde ihre Situation nicht verbessern…

Ray ermahnte sich ruhig zu bleiben. Als er die Lider wieder öffnete, machte er im flackernden Licht der Lampe die Umrisse seiner Umgebung aus. Es tröstete ihn, dass wenigstens eine Glühbirne noch funktionierte. Die anderen waren beim Aufprall zerborsten. Was davon übrig baumelte kläglich herum. Rays Augen huschten im Gang entlang. Alles stand seitlich…

Durch die zerbrochene Scheibe der Abteiltür, die vorher wie eine Luke fungiert hatte, konnte er die herabhängenden Sitze, im nächsten Wagon ausmachen. Es war eigenartig wie viel seine Sinne momentan wahrnahmen. Jeder bröckelnde Stein von draußen schallte um ein Vielfaches lauter, jedes Wimmern in seiner Umgebung kam ihm so nah vor, obwohl die anderen Passagiere des Zuges hinter der deformierten Tür von ihnen abgetrennt waren. Es machte den Eindruck, als sei der Wagon nichts anderes als eine Blechdose, die man einfach zwischen ihnen zusammengedrückt hatte. Ray vernahm Klopfgeräusche. Jemand wollte auf sich aufmerksam machen. Ein anderer Überlebender…

Manchmal erwiderte er das Signal, einfach um dem verzweifelten Menschen hinter der Tür zu zeigen, dass er nicht alleine in diesem Elend ausharrte. Doch die meiste Zeit galt seine Aufmerksamkeit seiner bewusstlosen Frau, deren Kopf schlaff auf seinem Schoß lag. Es war der erste Gedanke gewesen, als er in den Trümmern des Zuges wach wurde. Der Zweite war ob es dem Baby gut ging. Immer mal wieder tasteten seine Finger zum Gesicht seiner Frau. Er prüfte ob ihre Atmung noch da war. Danach fuhr seine Hand weiter zu ihrem Bauch. Dort harrten seine Finger so lange aus, bis er einen Tritt von dem Baby spürte. Beim ersten Mal hätte er beinahe angefangen zu weinen. Er konnte nicht fassen dass sein kleines Mädchen noch lebte. Eine einzelne Träne konnte er sich nicht verkneifen, die er gleich darauf von seinem Gesicht wischte. Weinen brachte ihn jetzt auch nicht weiter. Er schaute zu Galux. Jeder Atemzug des Bit Beasts kam schwer, wie bei einer Sterbenden, die sich noch verzweifelt an das Leben klammerte.

„Und schon wieder schulden wir dir etwas…“, murmelte Ray aus trockener Kehle an sie gewandt. Das Bit Beast lag zu Mariahs Füßen, gab ein leises Seufzen von sich. Sichtlich geschwächt, genau wie ihr Menschenkind. Sie klang fast schon fiebrig. Ray konnte sich noch genau an den Moment erinnern, als er sah, wie die langen Lauscher der Katze sich kurz vor dem Unglück aufrichteten, ihre Augen alarmiert aufschlugen und sie dem Paar zurief, sich irgendwo festzuhalten.

„Für Danksagungen ist es verfrüht.“, sprach Galux leise.

„Ich weiß. Aber immerhin leben wir noch. Wir alle…“

„Mag sein.“

Ihm fiel auf, dass er sich bisher kein einziges Mal nach ihrem Wohlergehen erkundigt hatte.

„Du wirkst so schwach. Liegt es am Unfall oder weil du keine Energie mehr hast?“

„Ein bisschen von beidem.“, gestand das Bit Beast nach einer langen Pause. „Ich kann Maos Energie nicht anzapfen, wenn sie so geschwächt ist. Das täte weder ihr, noch dem Kind gut.“

Galux schmiegte ihren Kopf liebevoll an die Wade ihres Menschenkindes.

„Ich muss sie doch beschützen…“

„Das hast du. Mehr als einmal.“

„Und doch ist es nicht genug. Ich komme mir so hilflos vor. Wäre Driger noch am Leben… Dann hätte ich mehr Energie. Aber so? Ich bin ein Schatten meiner selbst geworden.“

Eine Weile wurde es still zwischen ihnen, denn auch Ray teilte dieses Gefühl der Verzweiflung. Sie saßen fest, inmitten von Geröll, Kabeln und Metall, ohne eine Orientierung, wie weit es bis zum rettenden Tageslicht war. Die Außentür hatte es ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen, doch dahinter war nichts anderes außer Erde. Wie viele Meter mochten sie wohl bis in die Freiheit trennen?

Das konnte wohl niemand so genau sagen. Beim nächsten Atemzug atmete Ray wieder Staub ein. Es ließ ihn schwer husten. Als er zu Luft kam, entrang er sich eines freudlosen Lachens.

„Was ist so komisch?“

„Ach nichts. Ich dachte nur daran, was für ein makabrer Zufall es wäre, wenn ich unter der Erde drauf gehe.“

„Weshalb?“

Ray fuhr sich über die verdreckte Stirn. Bevor er antwortete, schaute er nochmal auf seine Finger. Offenbar hatte er sich am Kopf verletzt, denn verkrustetes Blut blieb daran hängen. Er lehnte sich wieder seufzend zurück und sprach: „Meine Eltern sind bei einem Erdrutsch umgekommen. Ich war damals nur nicht bei ihnen, weil ich hohes Fieber hatte und mein Onkel mich zur Heilerin brachte. Meine Mutter war ebenfalls erkrankt, deshalb…“

„Blieb dein Vater bei ihr daheim und schickte seinen Bruder mit dir los.“, beendete Galux zu seiner Überraschung die Erzählung. „Ich erinnere mich wieder daran.“

„Woher weißt du davon?“

„Weil Driger mir davon berichtete.“

Ray stockte der Atem. Für einen Moment kam ihm ein böser Gedanke.

„War es er der diesen Erdrutsch verursacht hat?“

„Das kann man nicht so genau sagen.“

„Wie meinst du das?“

„Erdrutschte passieren häufig nach heftigen Niederschlägen.“

„Das heißt Draciel war daran schuld?“

„Auch das ist nur die halbe Wahrheit. Fakt ist, dass es der Pflicht eines Uralten nachkam und euer Gebiet mit Regen versorgte. Das so etwas dabei passieren kann, war sicherlich beiden klar, doch manchmal muss ein Bit Beast, trotz eines Risikos seinen Verpflichtungen nachkommen. Hätte man wegen dieser Gefahr, die nächsten Jahre auf Regen verzichten sollen? Ich denke auch das wäre nicht im menschlichen Ermäßen gewesen. Deshalb darf man nicht von Absicht sprechen…“

Galux schaute Ray lange an. Er hätte schwören können, dass er aufrichtiges Mitleid in dem glühenden Augenpaar sah.

„Harte Worte. Sie spenden dir wohl kaum Trost, das ist mir bewusst. Immerhin hast du allein diesen schmerzlichen Verlust ertragen müssen.“

„Ich war noch ein Kleinkind. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht an meine Eltern erinnern. Das ist das Einzige was mir daran am meisten zu schaffen macht.“

Ray schloss die Augen. Seine Hand fuhr wieder zu Mariahs Babybauch. Als ob seine Tochter ihm zeigen wolle, dass er sich nicht zu sorgen brauchte, trat sie zart gegen seine Handfläche. Es ließ seine Frau inmitten ihrer Ohnmacht murmeln.

„Weißt du eigentlich, dass du Driger damals zum ersten Mal auffielst?“, fragte Galux müde.

„Durch den Erdrutsch?“

„Nicht ganz. Du fielst ihm zwei Jahre danach auf.“, erklärte das Bit Beast mit einem sanften Lächeln. „Ich habe ihn damals zu der Stelle begleitet. Wir standen gemeinsam am Abhang und begutachteten die Zerstörung, berieten uns, was wir am besten darauf pflanzen sollten. Wir waren uns einig, dass dieser Ort lange genug in tiefer Andacht geruht hatte und nun endlich wieder das erste grüne Kleid tragen sollte. Die Wochen davor begann ich bereits, die ersten Pollen auf die lehmige Erde fallen zu lassen. Ihre Wurzeln sollten die Stelle wieder stabiler machen. Driger kam an jenem Tag mit mir mit, um sich ein Bild von meiner Arbeit zu machen. Er war immer sehr korrekt was seine Wälder anging. Doch er spürte auch die leblosen Körper unter der Erde. Es ließ ihn bedauernd den Kopf schütteln.“

Ray schluckte hart. Er wusste dass die Leichname seiner Eltern niemals geborgen worden waren. Wann immer man versuchte sie frei zu graben, war der Abhang weiter abgerutscht, also beließ man es dabei und platzierte an jener Stelle, eine kleine Gedenktafel. Galux schloss die Augen.

„Es war ein sonniger Tag und wir bemerkten irgendwann, wie sich eine Gruppe Menschen dem Schauplatz näherte. Zunächst waren wir äußerst unglücklich darüber. Es störte unsere Zweisamkeit – bis du irgendwann aus der Menge hervorkamst. Ein Junge von vielleicht neun Jahren. Du hattest eine Kerze in der Hand.“

Ray tat einen hörbaren Atemzug.

„Daran erinnere ich mich. Das muss der Todestag meiner Eltern gewesen sein.“

„Ich denke ja.“

„Es war das erste Mal, dass mich die Dorfältesten dorthin mitnahmen. Mao und Lee waren auch bei mir. Ihr Großvater hat mir damals erklärt, was es mit diesem Ort auf sich hat. Das dort einmal das Haus meiner Eltern stand. Ich wusste zwar schon vorher, was mit ihnen passiert war, aber tatsächlich einmal am Unfallort zu sein, war wieder etwas ganz anderes.“

„Warum?“

„Weil ich es mir ganz anders vorgestellt hatte. Wie einen chaotischen Trümmerhaufen. Stattdessen begann alles allmählich grün zu werden und ich konnte die ersten Kleeblätter auf dem Hang sehen. Und wenn man den Blick zur anderen Richtung wandte, sah man das Tal und die Berge dahinter. Es hat mich irgendwie beruhigt, dass dieser Ort so friedlich und schön war. Die Jahre danach kam ich öfters dorthin, wenn ich die Aussicht genießen wollte. Ich stellte mir dann vor, dass meine Eltern vielleicht auch immer an derselben Stelle standen und den Ausblick genossen. Ich fühlte mich ihnen dann nah. Obwohl ich ihre Gesichter kaum kenne. Nur von einem sehr alten Foto, als sie geheiratet haben.“

„Du warst so unglaublich jung. Und doch war Driger beeindruckt darüber, mit welcher Fassung du dein Schicksal akzeptiert hattest. Du hast dem alten Mann damals Fragen gestellt, du klangst auch einige Male bekümmert - doch du wirktest nie gebrochen. Selbst Mao fragte dich, warum du nicht um dein Zuhause weinst. Und alles was du gesagt hast war…“

„Das ich wieder ein gutes Zuhause gefunden habe.“, Ray lächelte in sich hinein. Das alles war so viele Jahre her, er hätte es beinahe vergessen. Sie alle waren damals noch Kinder gewesen. Mao hatte ihn aus großen Augen angestrahlt und irgendwann seine Hand ergriffen. Sie war so glücklich darüber, dass er sich bei ihnen wohl fühlte und Lee grinste stolz. Er hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und Bruder genannt. Im Laufe seines Lebens fand Ray viele Menschen, die für ihn etwas Derartiges waren. Er hatte eine große Familie, mit viele Brüder und einer Frau für die er sterben würde.

Der Gedanke ließ ihn Maos Hand drücken.

„Standhaft wie ein Fels. So nannte Driger dich. Er sah in dir einen unerschütterlichen Geist. Und da er diesen Wesenszug an dir schätzte, erschien er deinem damaligen Lehrmeister in einer Vision, damit du sein Menschenkind wirst und nicht Maos Bruder.“

„So war das also…“, Ray schloss die Augen. Eigenartig wie viel sich um die Menschen herum abspielte, ohne dass man es mitbekam. Für eine Weile kehrte Stille ein, dass nur vom gelegentlichen Knarzen des Wagons getrübt wurde. Ray fiel auf, dass das Klopfen aufgehört hatte. Er hoffte inständig es läge nicht daran, dass die Person auf der anderen Seite der Tür, ihren Verletzungen erlegen war.

„Grollst du Driger noch?“

„Warum fragst du mich das?“

„Der Gedanke dass du schlecht von ihm denkst – es macht mich so unsagbar traurig.“

„Ihr standet euch sehr nahe, nicht wahr?“

„Er war ein so stattlicher Uralter. Ich wünschte all jene, die immer schlecht von ihm gesprochen haben, hätten ihn so gut gekannt, wie ich.“

Ray schaute unentschlossen durch den winzigen Raum.

„Ich glaube nicht dass ich ihm noch böse bin.“, gestand er sich langsam ein. „Was ich ihm aber vorwerfe, ist, dass er mir nie die Gelegenheit gegeben hat, ihn wirklich zu begreifen. Ich konnte mir nie ein Bild davon machen wer der echte Driger ist. Ich glaube wir hätten sehr viel voneinander lernen können. Hätte ich so mit ihm reden können, wie mit dir jetzt – es hätte mir die Augen geöffnet. Aber vielleicht war das auch meine Schuld. Ich habe nie begriffen, wie viel hinter einem Bit Beast steckt.“

Ray wurde müde. Er hätte gerne geschlafen. Doch er zwang sich wach zu bleiben, fuhr sich mit gequältem Ausdruck über die verletzte Rippe. Um sich wach zu halten, sprach er weiter.

„Ich glaube so fühlt es sich an, wenn man mit seinem Vater zerstritten ist und er stirbt, bevor man wieder ins Reine kommen kann. Ich kenne fast nur Drigers finsteren Seiten, aber wenn ich dich so reden höre – dann kann doch nicht alles an ihm schlecht gewesen sein.“

„Das war es keinesfalls.“, Galux senkte traurig die Lider. „Er wollte dass du überlebst. Er wollte das wir alle überleben.“

Ray fuhr mit den Fingern über Mariahs Stirn. Sie murmelte im Schlaf. Ihm fiel auf das ihre Stirn sehr heiß war.

„Wir müssen überleben. Wir werden es.“, sprach er.

„Ich wünschte ich könnte dir glauben. Die Luft wird dünner. Ich spüre es. Und nun da Driger tot ist, bleibt mir keine Kraft. Mein Stamm ist tot… Ich welke dahin. Mao kann mir ebenfalls nichts mehr spenden. Sie ist zu angeschlagen.“, Galux schmiegte ihre pelzige Wange an ihr Menschenkind. „Ich habe ihr ein paar ungewisse Stunden mehr herausgeholt. Doch was jetzt passiert, liegt nicht mehr in meiner Macht. So langsam glaube ich, ich hätte besser daran getan, sie sterben zu lassen. Es wäre so viel gnädiger gewesen, als sie hier versticken zu lassen.“

Ray riss die Augen auf. Die tränenerstickte Stimme machte ihm genauso viel Angst, wie die Worte von Galux.

„Sie werden uns finden!“

„Es trennen uns zu viele Meter.“

Das selbst ein Bit Beast unruhig wurde, besorgte auch ihn. Irgendwann zog Ray seine Jacke aus. Er rollte sie zusammen, dann hob er langsam den Kopf seiner Frau an, um den Stoff unter ihren Nacken als Stütze zu schieben. Erst dann richtete er sich mit wackligen Knien auf. Es war der erste Schritt den er seid dem Aufprall machte. Er kam sich wie ein Fohlen vor. Der erste Versuch ließ ihn mit gefletschten Zähnen wieder auf dem Hosenboden landen. Die Scherben unter ihm klirrten dabei und piekten ihn durch den Stoff, außerdem musste er sich bücken, da der Wagon ja nun umgekippt war und nach oben hin weniger Platz bot. Es war unsagbar eng hier drinnen. Dennoch versuchte es Ray. Soweit wie es der Raum zuließ erhob er sich. Die Ausgangstür lag über ihm. Durch die Luke konnte Ray den Erdboden ausmachen. Wie durch ein Wunder war die Scheibe darin heil geblieben. Er rüttelte vorsichtig am Griff. Sofort bröckelte die Erde über ihnen geräuschvoll. Kleine Steinchen lösten sich, tänzelten auf den Seiten des Wagons herab. Es klang wie bei einem kurzen Hagelsturm und ließ ihn einen Moment zurückfahren. Doch immerhin brach nichts weiter ein.

„Okay, mal überlegen.“, sprach er mehr zu sich selbst. Ihm fiel auf wie warm es hier drinnen wurde. „Kurz vor dem Unfall, wo waren wir da? Woran können wir uns erinnern?“

„An den Tunnel.“

„Ja… Der Tunnel.“, Ray strich nachdenklich über den lädierten Rahmen der Tür. An einer Seite war sie eingedrückt, offenbarte einen Spalt. Das erklärte wohl auch endlich den Staub, welcher in den Innenraum eingedrungen war. „Der Unfall hat sich kurz vor dem Tunnel zugetragen. Wenn wir bereits darin waren, würde ich dir vielleicht sogar zustimmen, dass wir noch kaum eine Chance haben. Aber sieh doch mal… Hier auf dieser Seite ist nur normale Erde. Womöglich befinden wir uns in einem der Wagons die noch nicht in den Tunnel gefahren sind? Neben der Bahnlinie ging ein Abhang hoch. Vielleicht ist von dort einfach nur etwas Erde auf uns gerutscht.“

„Oder die Decke des Tunnels ist über uns zusammengebrochen.“

„Dann müssten dort Ziegel liegen. Irgendetwas was zum Baumaterial der Decke gehört.“

„Das können wir kaum beurteilen von hier drinnen. Erst recht nicht durch diese winzige Luke.“

„Sei doch nicht so negativ…“

Ray musste sich stützen weil ihm kurz schwindelte. Der Aufprall hatte ihm wohl mehr zugesetzt als geglaubt. Es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren.

„Der Wagon ist umgekippt. Das können wir auch mit Sicherheit sagen. Was wir leider nicht sagen können, ist, wie viele Meter Geröll uns nach draußen hin trennen.“

Er fuhr mit den Fingern über die Risse in der Scheibe. Sie könnte irgendwann einbrechen. Dann würde noch mehr Erde in den Innenraum eindringen und sie hier lebendig begraben.

„Könntest du mir auf helfen?“

Überrascht blickte Ray zu dem Bit Beast herab. Es versuchte auf die Beine zu kommen, aber klappte immer wieder in sich zusammen.

„Was hast du vor?“

„Ich will etwas überprüfen. Halt mich hoch. So nah an die Öffnung wie möglich.“

Ray beugte sich hinunter und kam ihrer Bitte nach. Er hob das Bit Beast auf die Arme und hielt es an den Spalt. Galux legte die Schnauze an den Spalt. Sie begann zu wittern. Er konnte sehen wie ihre Nasenspitze bei jedem Atemzug leicht zuckte.

„Ich rieche Grashalme. Wurzeln. Keinen Beton... Du könntest Recht haben. Wir sind vielleicht nicht allzu tief verschüttet, wie wir geglaubt haben. Die Frage ist, reicht die Luft so lange aus, bis wir gefunden werden?“, Galux schaute voller Sorge zu Mao. „Und wie lange kann sie durchhalten?“

Ray folgte ihrem Blick, starrte schwer atmend auf seine Frau. In seinem Nacken fühlte er feuchten Stoff, getränkt von seinem eigenen Schweiß. Es war so warm. Er fragte sich, ob ihm deshalb so schwindlig war - weil ihm ebenfalls die Luft dünner vorkam.

„Galux? Wäre Mao nicht schwanger und auch nicht verletzt… Könntest du etwas an unserer Situation ändern?“

„Ich hätte zumindest eine Energiequelle, die ich ohne Furcht verwenden könnte. Selbstverständlich wäre das eine große Erleichterung. Weshalb fragst du?“

„Wäre es nicht möglich, nur für dieses eine Mal, meine Energie zu nehmen?“

Er konnte sie Keuchen hören. Dann schnellte der Blick des Bit Beasts zu ihm hoch.

„Unmöglich!“, flüsterte Galux geradezu warnend.

„Warum? Hast du es schon einmal versucht?“

„Unsere Seelen sind nicht gleich.“

„Und wenn schon! Was wäre das Schlimmste was passieren könnte?“

„Das du krank wirst, schwach oder gar der Tod über dich kommt, du einfältiger Junge!“

Sie zappelte auf seinen Armen um frei zu kommen. Ungeschickt landete sie auf den Pfoten. Dann hinkte sie zu ihrem Menschenkind hinüber. Ihm kam es vor, als wolle sie das Gespräch damit beenden, doch Ray bedrängte sie weiter.

„Wir müssen es wagen!“

„Nein.“

„Wir müssen!“

„Ausgeschlossen!“, fauchte Galux auf einmal erbost. Ihr Blick sprühte vor Ärger. „Du dummer Junge! Du einfältiger, kleiner, dummer Junge! Ihr Menschen stellt euch so etwas wieder viel zu einfach vor!“

„Uns läuft die Zeit davon!“

„Ein Kind mit der passenden Seele zu finden, ist kein Unterfangen, was in wenigen Sekunden erledigt ist. Manche Bit Beast finden nach dem Ableben ihres letzten Kindes, viele Jahrzehnte keinen geeigneten Ersatz mehr! Wir können nicht auf jemanden zurückgreifen, der in neun von zehn Punkten identisch zu uns ist. Hundert prozentige Übereinstimmung… Nicht mehr oder weniger darf es sein!“

„Und die Folge davon wäre der Tod?“

„Das…“, sie kam ins straucheln. Offenbar hatte Galux es selbst nie ausprobiert. Ray schätzte sie auch nicht so experimentierfreudig ein. „Das könnte eine von vielen möglichen Folgen sein. Du musst dir das vorstellen, wie wenn du zwei unbekannte chemische Stoffe miteinander vermischt, ohne dir im Klaren zu sein, was das Ergebnis hervorbringt.“

„Komm mir nicht mit Chemie!

Ein genervter Laut kam von Ray.

„Ich verstehe deine Einwände, aber siehst du nicht, dass es Mao schlecht geht?!“

„Selbstverständlich sehe ich das! Ich spüre es mit jeder Faser meiner Seele.“

„Dann müsste dir doch genauso viel daran liegen, sie hier heraus zu bekommen, wie mir!“, wurde Ray lauter, haute sich dabei noch demonstrativ auf die Brust. „Es ist doch nicht so, dass wir auf ewig diese… Verbindung eingehen, oder wie immer du das nennen willst. Es geht mir nur darum hier heraus zu kommen. Mehr nicht!“

„Selbst das könnte zu viel sein.“

„Als der Aufprall passierte, habe ich deinen Schutzschild gesehen. Wenn allein der so stark war, was meinst du wie viel wir erreichen könnten, wenn wir unsere Kräfte verbinden?“

„Du bist zu leichtsinnig…“

„Ich muss meine Familie beschützen!“, rief Ray aus. Er deutete auf die bewusstlose Frau zu seinen Füßen, an dessen Seite Galux saß. „In Mariah wächst mein kleines Mädchen heran! Von dem Moment an, als du mir gesagt hast, dass ich eine Tochter bekomme… Von dem Moment an, als du mir gesagt hast, dass Mao mich nie betrogen hat… Da hat mich der Gedanke, zu ihnen nachhause zu kommen, in der Irrlichterwelt nicht wahnsinnig werden lassen! All die Torturen die wir durchlebt haben, hätte ich niemals gepackt, wenn ich nicht im Hinterkopf behalten hätte, dass da meine Familie ist, die auf mich wartet!“

Ray kniete sich zu Galux herab, bedachte sie eindringlich.

„Ich habe die letzten Monate so schlecht von meiner Frau gedacht. Mao war die einzige, die um unsere Ehe gekämpft hat. Jetzt bin ich an der Reihe! Ein Mann sollte seine Familie schützen können. Also bitte Galux… Bitte! Hör auf so ängstlich zu sein und lass uns endlich handeln!“

Das Bit Beast schaute ihn lange an. Ihre glühenden Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

„Mao würde mir niemals verzeihen, wenn ihrem Gatten etwas passiert.“

„Ich könnte mir niemals verzeihen, wenn ihr etwas passiert.“, dann fragte Ray leise. „Und du auch nicht, oder?“

Stille kehrte zwischen ihnen ein. Beide starrten sich lange Zeit nur an, bis Mariahs fiebriges Wimmern, Galux Blick auf sich zog. Ray konnte sehen, wie sie das Gesicht ihres Menschenkindes genau bedachte. Das Bit Beast sah die ausgetrockneten Lippen, die blasse Haut. Schweißtropfen glänzten auf ihrer Stirn dicht am Haaransatz. Sobald sie abperlten, hinterließen sie Spuren, auf dem staubbefleckten Gesicht. Ihr Atemzug kam röchelnd. Irgendwann schloss Galux die Augen.

„Du bist der wahrhaftige Spiegel deines Bit Beasts.“, sprach sie. Ein schwermütiges Seufzen entrang sich ihrer Kehle. „Als Driger sich Dragoon in den Weg stellte… Als er mir befahl euch aus der Irrlichterwelt hinauszuschaffen… Da spürte ich tief in meinem Innern den dunklen Verdacht. Diese schreckliche Vorahnung das es der letzte Augenblick sein würde, der uns vergönnt war.“

Als sich ihre Augen wieder öffneten, schien Galux mit den Gedanken weit weg.

„Ich hatte Angst um ihn. Ich bat ihn nicht gegen Dragoon zu kämpfen. Doch er belächelte mich nur, sprach davon, wie kränkend es doch sei, dass ich ihn für so schwach halte.“

Ihr Blick huschte zu Ray.

„Und nun bin ich hier mit seinem Menschenkind. Es spricht fast dieselben närrischen Worte wie mein Driger damals. Es handelt genauso töricht wie er. Und wieder überkommt mich diese furchtbare Vorahnung. Dir blüht schlimmes, Junge. Ich spüre es genau.“

Es wurde still zwischen ihnen. Etwas in ihm zweifelte nicht an ihren Worten. Dennoch genügte ein Blick zu seiner Frau, um seinen Entschluss zu festigen. Als Mariah murmelte, ergriff er ihre Hand und küsste sie. Dann sprach er: „Lass es uns versuchen. Bitte, Galux.“

Ein schweres Seufzen kam.

„Beim ersten Tageslicht, das durch das Gestein bricht, werde ich die Verbindung kappen.“

Ray nickte. Er ahnte dass es schwer werden würde und doch verspürte er keine Furcht. Seine Finger legten sich noch einmal auf Mariahs Babybauch.

„Ich hole euch hier raus…“, flüsterte er das Versprechen an seine Tochter. „Papa wird euch beschützen.“
 

*
 

Kai lehnte den Kopf zurück, während das kindliche Gebrabbel seiner Schwester an sein Ohr klang. Irgendwann im Laufe des Morgens, war Mr. Kinomiya eingefallen, dass er unten im Keller noch einen Karton, mit den alten Spielsachen seiner Enkel besaß. Darunter waren Malbücher, ziemlich ausrangierte Rennautos, einige in Mitleidenschaft geratene Stofftiere und natürlich noch Tysons alte Blades. Letzterem schenkte Jana überhaupt keine Beachtung, als sie in dem Karton herumwühlte, weitaus interessanter fand sie die Malbücher. Es ließ Kai lächeln, denn prompt kam die Erinnerung in ihm hoch, dass seine Schwester ständig davon sprach, eine große Künstlerin werden zu wollen. Einmal erklärte sie ihm voller Inbrunst, dass sie das größte Einhorn malen würde, dass die Welt je gesehen habe. Ihrer Ansicht nach sollte es mindestens die Größe eines Wolkenkratzers besitzen. Auch damals musste Kai schmunzeln, allerdings mehr wegen dem Gedanken, dass sich Janas Berufswahl ständig änderte wie ein Fähnchen im Wind. Mal wollte sie Prinzessin werden, am nächsten Tag ein pinker Ninja und immer Mal wieder, kam das Thema Musikerin auf den Tisch. Inzwischen konnte Kai hören, wie die Buntstifte der Künstlerin in spe über das Papier kratzten, während Jana leise vor sich her murmelte. Es gab ihrem Bruder Zeit, endlich mal die Augen zu schließen und vor sich hinzudösen. Die letzte Nacht war etwas anstrengend gewesen, auch wenn er ebenfalls auf seine Kosten kam.

Kai war ganz froh, als es an der Tür klingelte und Mr. Kinomiya für ein paar Minuten den Raum verließ. Er war morgens äußerst geschwätzig und nach seinen gestrigen Aussetzern, kam es Kai vor, als würde er ihn streng im Auge behalten. Nun hörte er Mr. Kinomya aber draußen im Flur an der Haustür. Seine Stimme klang erfreut. Jemand den er kannte musste geklingelt haben. Kai gähnte schläfrig. Er stützte den Ellbogen an die Rückenlehne der Couch ab und lehnte seinen schwerer werdenden Kopf ab der Handfläche ab. Dabei beobachtete er aus kleinen Augen seine Schwester. Der Fernseher war noch an. Es flimmerte der Kindersender über den Bildschirm, allerdings hatte Kai den Ton abgestellt. Jana schaute ohnehin nur sporadisch auf. Sie kniete vor dem niedrigen Holztisch, hielt ihre Zunge zwischen den Lippen geklemmt und malte einen vorgedruckten Schmetterling aus, den sie im Malbuch entdeckt hatte. Ab und an, wippte sie auch fröhlich auf und ab, summte dabei ein Lied vor sich her, dabei flatterte sie mit den Ärmchen. Sie sang dem Schmetterling ein Schmetterlings Lied vor. Kleine Mädchen waren furchtbar kitschig, aber Kai hatte sich daran gewöhnt, auch wenn er zu Anfang seine Probleme damit hatte. In den ersten Jahren musste er ziemlich an seiner Ausdrucksweise arbeiten, weil er mit Jana genauso ruppig sprach, wie er es mit seinen Freunden tat. Das Resultat war, dass sie anfing aus voller Kehle zu heulen und Kai überrumpelt daneben stand, weil er es oftmals nicht so böse gemeint hatte, wie es in ihren Ohren wohl klang.

Mädchen waren sehr sensibel. Etwas was ihm Jana ziemlich oft in Erinnerung rief…

Kai schloss die Augen für einen Moment, dachte dabei, wie zufrieden seine Schwester doch wirkte. Tyson hatte angedeutet, mehr Zeit mit ihr verbringen zu wollen, damit die beiden einen besseren Draht zueinander fanden. Es schien ihm wirklich ernst zu sein und das obwohl Kai noch nicht so genau wusste, wie es in Zukunft zwischen ihnen weitergehen sollte. Er musste erst beobachten, wie sich alles entwickeln würde. Beinahe hätte Jana sich auch vor Mr. Kinomiya verplappert. Sie wollte ihm erzählen, was sie heute Morgen gesehen hatte, bis Kai sie unterbrach, um seine Schwester zu fragen, ob sie doch kein neues Spielzeug haben wolle. Da war ihr die Abmachung zwischen ihnen wieder eingefallen. Kai seufzte schläfrig, beinahe wäre er sogar eingenickt, der Abstand seiner Augenlider zueinander wurde immer winziger, hätte er da nicht einen minimalen Lufthauch gespürt, als ob jemand hinter der Couch entlanghuschte. Als er die Augen aufschlug, drehte er sich prompt um und schaute durch die offene Tür in den Flur. Womöglich irrte er sich, doch ein dumpfes Poltern war kurz zuvor von dort gekommen.

„Mr. Kinomiya?“, rief er hinaus. Doch es antwortete niemand. Dabei hätte Kai schwören können, dass da jemand hinter ihm gewesen war. Er zog fragend die Braue auf. Gerade kam ihm in den Sinn, wie lange der alte Hausherr schon weg war, als eine Stimme zu seiner Linken seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Du lässt deine Deckung fallen.“

Sein Kopf schnellte zur anderen Seite. Er blinzelte auf den Neuankömmling, der auf der Sessellehne neben der Couch Platz genommen hatte. Einen Moment war Kai von sich selbst überrascht. Eigentlich besaß er einen sechsten Sinn dafür, wenn jemand ihn beobachtete und doch hatte es diese Person geschafft, wie ein Schatten hinter seinem Rücken, an ihm vorbei zu huschen. Doch sobald dieser Gedanke verflog, erkannte er auch schon die Frau vor ihm, ebenso wie seine Schwester, die gleich darauf rief: „Allo Hana!“

Sie winkte ihr zu. Doch es kam keine Begrüßung zurück. Stattdessen bedachte Hiros Verlobte seine Schwester mit einem unergründlichen Ausdruck. Ihr Gesicht neigte sich ihm langsam zu. Ein Lächeln erschien. Irgendwann wandte sie das Wort an ihn.

„Guten Morgen Kai. Ich hoffe du hattest eine angenehme Nacht?“

Er nickte nur kurz. Fremden gegenüber war Kai noch nie sonderlich gesprächig gewesen und das war Hana für ihn, trotz der zugestandenen Hilfe. Doch etwas kam ihm auch seltsam vor. Er brauchte nicht lange um es zu bemerken. Es war Hanas Haltung. Sie saß kerzengerade, ein Bein leicht unter das andere geschoben - wie eine edle Dame.

Ihre Aura besaß dadurch etwas Aristokratisches. Kai kannte Hiros Verlobte noch nicht lange, doch die wenigen Minuten die er mit ihr an einem Fleck verbracht hatte, reichten ihm aus, um sie ungefähr einzuschätzen. Sie war zweifelsohne eine zickige Diva, doch schien auch ziemlich locker zu sein. Ansonsten hätte sie ja wohl kaum mit einem ehemaligen Kommilitonen Kontakt, der auf einer Feuertreppe, seine persönliche Hanfplantage großzog. Kai spähte verstohlen über seine Schulter hinweg, noch einmal in den Flur, hielt Ausschau nach Mr. Kinomiya. Um ehrlich zu sein, hatte er überhaupt keine Lust, mit Hana zu reden. Nicht das er ihr gegenüber undankbar sein wollte, doch eine gepflegte Konversation überließ er schon immer anderen. Er war mehr der Zuhörer. Da aber nichts von dem Großvater zu sehen war, verkniff Kai sich einen mürrischen Laut und kam seiner Pflicht als Gesprächspartner gezwungenermaßen nach.

„Wir haben dich auf dem Polizeipräsidium vermisst.“

„Tatsächlich?“

„Ja. Du hattest gemeint du kommst nach. Anrufen konnten wir dich aber nicht, weil keiner deine Handynummer hatte.“

„Oh, glaub mir. Ich war dort.“

„Wann?“

„Spät. Zu spät… Ganz knapp um Haaresbreite verpasst.“, sie strich über die hölzerne Sessellehne unter ihr. „Ich war doch etwas traurig, dass ich euch nicht erwischt habe.“

„Dann war das wohl leider Pech.“

„Ja. So kann man es nennen.“

Er konnte sehen, wie ihr Blick zu Jana huschte. Nur für eine winzige Millisekunde. Ihre Pupillen schnellten zu ihr und dann auch schon wieder zu Kai. Wann immer sie ein Lächeln aufsetzte, zog sich eine Gänsehaut über seinen Nacken. Dennoch ließ sich Kai nichts anmerken. Er wusste selbst nicht weshalb er so heftig auf ihre Anwesenheit reagierte.

„Wärst du vor einer Stunde da gewesen, hättest du mit Tyson noch einmal zum Präsidium fahren können, um Hiro zu sehen. Da hattest du wohl leider auch wieder Pech.“

„Das lässt sich verkraften. Ich werde ihn noch erwischen.“

„Warst du schon bei ihm?“

„Bei Takao?“

„Nein, Hiro.“

„Hiro…“, sie wiederholte den Namen äußerst nachdenklich. „Ach ja. Der ältere Bruder.“

„Ja?“, kam es verständnislos von Kai. „Aber für dich in erster Linie dein Verlobter.“

Etwas daran schien sie zu amüsieren, denn sie lachte kurz auf.

„Nicht wirklich mein Geschmack, aber nun ja… Wo die Liebe bei Menschen hinfällt.“

Seine Braue fuhr hoch. Allmählich setzte sich Kai aus seiner bequemen Haltung auf. Es kam selten vor das ihn jemand so irritierte. Er war ein abgebrühter Firmenchef, der mit fiesen Finanzhaien zu tun hatte, die Unbehagen schon von weitem witterten. Dennoch besaß ausgerechnet die aufbrausende Hana die Fähigkeit, ihm dieses Gefühl aufzudrücken. Womöglich war er doch noch nicht ganz er selbst, dabei hatte er heute Morgen den Eindruck, etwas mehr von seiner alten Souveränität zurückgewonnen zu haben.

„Wo ist Tysons Großvater?“, wollte Kai wissen.

„Ich war der Ansicht, dass er sich etwas ausruhen sollte. So haben wir beide Zeit uns zu unterhalten.“

„Wir?“

„Ja, wir.“

„Worüber willst du denn mit mir reden?“

„Willst du etwa nicht mir reden?“

Geradezu erwartungsvoll schaute sie ihn an. Kai blinzelte ihr entgegen. Diese Frau entpuppte sich so langsam als Rätsel. Zumindest ließ sie ihre Absichten nicht erkennen. Irgendwann schüttelte er verärgert den Kopf. Es wurde wirklich Zeit die Fronten zu klären.

„Okay, hör zu. Ich bin dir wirklich dankbar, was du gestern alles für uns getan hast, aber um eines klar zu stellen – ich mag keine Ratespiele.“, seine Brauen zogen sich grollend zusammen. „Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann sag es. Aber rede nicht um den heißen Brei herum. Und vor allem Dingen, hör auf meine Fragen mit Gegenfragen zu beantworten!“

Es entlockte ihr ein weiteres Schmunzeln.

„Das ist der Kai den ich kenne. Wenige Worte. Doch wenn er sich an einer Unterhaltung beteiligt, darf kein überflüssiger Satz dabei sein.“

„Soviel ich weiß, haben wir uns nur einmal getroffen, aber Hut ab das du mich so gut einschätzt.“, sprach Kai murrend. Das er so durchschaubar für sie war störte ihn. Es gab nur einem Menschen dem er dieses Privileg gestattete und der hieß von nun an Takao Kinomiya. „Na gut. Was immer du zu sagen hast… Komm zur Sache. Wie du siehst verbringe ich gerade etwas Zeit mit meiner Schwester.“

„Das sehe ich.“, ihr Kopf neigte sich leicht zu Jana. Die sah von ihrem Bild auf und grinste Hiros Verlobten zu, entblößte dabei ihre kleine Zahnlücke. Doch das Lächeln wurde nicht erwidert. Hanas Ausdruck blieb starr. „Wie schade dass ich eure Zweisamkeit gestört habe. Fast tut es mir Leid. Du wirkst wie ein Vogel der sein Küken mit Adleraugen bewacht.“

Sie schlug mit einem schweren Seufzen die Beine übereinander. Dabei schüttelte Hana den Kopf, bedachte ihn geradezu mitleidig. Warum Mitleid? Das verstand Kai nicht. Doch gerade ihr letzter Satz hing ihm hinterher. Er schallte förmlich in seinem Kopf nach.

„Ich mag dir dieses Gefühl nicht einmal verdenken.“, erklärte Hana inzwischen. Sie klang dabei geistesabwesend. Als würde sie sich an etwas aus längst vergangener Zeit erinnern. Ihre Pupillen schweiften hinaus in den Flur und doch schien sie ihn nicht zu sehen. „Ich kenne das sogar. Ich weiß wie es sich anfühlt, etwas mit aller Kraft beschützen zu wollen. Wenn man sieht, wie das Küken dem man sich angenommen hat, langsam heranwächst. Es erstarkt und zu einem kräftigen Menschen wird. Und doch macht es so viele Fehler…“

Kais Blick huschte für eine Sekunde zu dem Beistelltisch vor seinen Füßen. Jana malte ganz unbedacht darauf weiter. Ihr roter Malstift kratzte über die Seite des Buches. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass Hana keine Schuhe trug. Erst als er gerade saß, waren ihre entblößten Zehen in sein Blickfeld geraten.

„Du hast mich aufgefordert mein Anliegen auf den Punkt zu bringen. Nun… Lass mich deiner Bitte nachkommen. Ich möchte dich über etwas aufklären, Kai. Darum bin ich hier.“, ihre Augen ruhten wieder auf ihm. Die Art wie sie sprach kam ihm bekannt vor, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Eine bedrohliche Ruhe lag in ihrer Stimme. „Über etwas was ein junger Mann wie du, wahrscheinlich noch nicht weiß. Weil du zum ersten Mal fühlst, wie es ist, etwas aufwachsen zu sehen, dass unter deinem Schutz steht.“

Jetzt bemerkte er es zum ersten Mal. In ihren Pupillen…

Zwei ringförmige, glühende Bahnen. Sie waren ganz schmal, hauchdünn wie ein Faden. Er hatte Hana zu wenig Beachtung bei ihrer Ankunft geschenkt. Wie immer wenn er jemanden Fremdes traf. Dieses Mal war sein Desinteresse aber ein fataler Fehler gewesen. Kai versuchte sich seinen Verdacht nicht anmerken zu lassen. Stattdessen sprach er: „Ich ziehe meine Schwester groß. Das ist vielleicht nicht dasselbe, wie ein eigenes Kind, aber immerhin kommt es dem sehr nah.“

Er achtete sorgfältig auf seine Betonung.

„Oh Kai… Das magst du glauben.“, sie belächelte ihn milde. „Aber die Wahrheit ist, dass manche Kinder nicht das sind, was wir zu glauben scheinen. Ihre Anwesenheit könnte uns, sagen wir mal, wie ein Klotz vorkommen. Ein schrecklicher, nervenzerreißender, zentnerschwerer Klotz.“

Beinahe hätte Kai schwer geschluckt. Er verkniff es sich, genauso wie einen weiteren prüfenden Blick zu Jana.

„Deine Sorgen sind unbegründet. Meine Schwester ist alles andere als ein Klotz. Sie ist eine kleine Bereicherung.“

Ein kaltes Auflachen kam von Hana.

„Ja, natürlich! Menschen in deiner Position reden sich das gerne ein. Ihr unvollkommenes Mündel ist etwas so Besonderes, egal ob es ihnen das Leben zur Hölle macht.“, ihre Stimme triefte vor Hohn. „Aber soll ich dir etwas sagen? Das was hier gerade stattfindet, kommt auch in der Natur vor. Kennst du den Kuckuck?“

„Du meinst den Vogel?“

„Richtig. Ein tückischer kleiner Gauner ist das. Er fliegt in unbewachte Nester, um sein Ei dort zwischen die anderen zu legen. Die ahnungslose Vogelwirtin kommt zurück und brütet das fremde Ei aus, das zu allem Übel, in den meisten Fällen auch noch früher schlüpft, als ihre eigenen Jungen. Beim ersten Tageslicht, was das Kuckuckskind erblickt, fängt das widerliche Balg an, die anderen Eier aus dem Nest zu werfen, damit die ahnungslose Vogelmutter, sich nur noch um seine Belange kümmert. Grausam nicht wahr? Aber so ist die Natur eben. Ich muss gestehen, der Kuckuck ist der einzige Vogel, dem ich wenig Sympathie abringen kann, obwohl ich seinen Einfallsreichtum interessant finde.“

Kai schloss die Augen. Seine Mutter war also der Kuckuck, Jana das Kuckuckskind. Demnach stellte er in ihrem Vergleich, jenen bemitleidenswerten Vogel dar, der das falsche Küken aufzog.

„Jana und ich sind zur Hälfte blutsverwandt. Eigene Kinder habe ich auch keine. Dein Vergleich trifft also nicht gerade zu. Es gibt keinen Grund sie als Bedrohung zu betrachten.“

Hana beugte sich vor, ihre Augen wurden zu Schlitzen.

„Klotz bleibt Klotz.“, sie hob den Oberkörper wieder an. „Und hätte die Vogelmutter mehr Verstand in ihrem hohlen Schädel, würde sie das falsche Kind aus ihrem Nest werfen, anstatt es auch noch durchzufüttern. Aber von einem Vogel kann man so viel Weitsicht nicht erwarten. Sie können schrecklich leichtgläubig sein. Vor allem wenn sie selbst noch Küken sind. Bedauerlich…“

Für einen Moment war ihre Stimme leiser geworden, klang fast schon melancholisch, bis sie den Blick wieder hob, ihn genau ins Visier nahm. Schon gewann ihre Tonlage wieder an Härte.

„Ein Vogel sieht lediglich dass das Ei, was es ausgebrütet hat, von der Farbe her zu den anderen passt und denkt sich nichts weiter dabei. Einem einfältigen Spatz könnte ich diese Beschränktheit nachsehen. Doch manche Wesen sollten mit mehr Verstand gesegnet sein. Menschen brüsten sich schon seit jeher mit ihrem überragenden Intellekt. Sag mir Kai, wir beide… Sollten wir nicht intelligenter sein? Hat uns die Vergangenheit nicht gelehrt, niemals unsere Deckung fallen zu lassen?“

„Ich weiß nicht wovon du sprichst…“

„Ich bin schockiert. Der stets so unverblümte Kai lügt.“

Ebenso erschreckend war das Gefühl dieser Transparenz. Sie las ihn wie ein Buch. Kai hob das Kinn, starrte ihr geradewegs in die Augen.

„Wenn man nur hinter seiner Deckung bleibt, hindert das die Sicht auf das, was vor einem liegt.“

„Zum Beispiel?“

„Menschen die dein Leben bereichern.“

„Oder zerstören!“, es klang zornig. „Bist du wirklich so weich geworden?“

„Du scheinst dich aufzuregen.“

„Wenn ein so verlorener Junge, auf so gemeine Art, ständig von der Welt ausgenutzt wird, kann das mein Blut durchaus zum Kochen bringen. Hast du deine Kindheit vergessen? Die Gleichgültigkeit deiner Familie? All die Schikanen der Abtei? Das Jammertal das du überleben musstest, um zu dem Raubtier zu werden, das du einmal warst? Wie oft musst du noch fallen, um endlich das Resümee zu ziehen, dass alle Wesen dort draußen von Grund auf verdorben sind? Jeder hat das Potenzial ein Verräter zu sein. Sie werden dir einen Dolch ins Herz rammen, wann immer du es am wenigstens erwartest!“

„Dafür dass wir uns erst einmal getroffen haben, scheinst du gut im Bilde über meine Vergangenheit zu sein, Hana.“, tat Kai weiterhin ahnungslos.

„Man schnappt so einiges auf…“, sie senkte mit einem wissenden Lächeln die Lider. Er konnte ihr nichts vormachen. Beide wussten dass sie sich gegenseitig durchschaut hatten. „Und wie gesagt, ich weiß wie ich mein Küken im Auge behalte. Sollte es eine Dummheit begehen, wäre ich sofort zur Stelle, um es vor einem fatalen Fehler zu bewahren.“

„Vielleicht will dein Küken das gar nicht.“, zischte Kai leise. „Wie die Vogelmutter die das falsche Kuckuckskind weiterfüttert. Offensichtlich macht es ihr nichts aus.“

„Siehst du! Genau das meine ich…“, hob Hana hilflos die Hände. Die Bewegung ließ ein Stückchen Stoff von ihrem Ärmel hinabrutschen, offenbarte die Haut darunter. Kai erkannte die Pulsadern am Handgelenk, wie sie glühendes Magma pumpten. „Du klingst ungehalten. Als wäre ich ein Monster. Dann erklär mir doch bitte, wie du an meiner Stelle handeln würdest, hättest du einen so starrsinnigen Schützling. Wer wäre dann von uns beiden der Böse? Diejenige die schützend die Hand über das Küken hält, oder derjenige der die schützende Hand beißt?“

Kai schaute ihr in die Augen. In die brennenden Ringe darin. Seine Atemzüge waren tief, die Lippen fest zusammengepresst. Eine ganze Weile starrten sich beide nur abwartend an, bis Hana sich langsam nach vorne beugte. Sie tätschelte Kais Hand, die neben ihm auf der Couch lag. Ihre Haut war heiß. Fast schon zu heiß. Dennoch fröstelte es ihn. Ein kalter Schauer jagte über seinen Nacken. Erst recht als sie mit dieser sanften Stimme fortfuhr: „Schon okay. Du weißt es einfach nicht besser. Ich dagegen schon. Vertrau auf meine Weisheit und lass dir eines gesagt sein – diese Welt ist ein Fluch. Du könntest hundert Jahre alt werden und selbst dann würde sie dich immer wieder mit neuen Schrecken überraschen. Eine davon ist, das Undank der Welten Lohn ist. Ein entsetzlich präzises Sprichwort...“

Sie zog ihre Hand weg. Kai hörte noch immer das Kratzen von Janas Malstift.

„Es beschreibt hervorragend die Tatsache, dass man sich noch so sehr anstrengen kann, aber hinterher dennoch enttäuscht wird. Gute Taten, Zuneigung, Gehorsam und nette Worte, sind keine Garantie dafür, dass man glücklich wird. Aber wem sage ich das… Das weißt du doch schon, nicht wahr, mein kleiner Kai?“

Sein Blick huschte zu Jana. Noch immer nahm sie die Arme nicht vom Tisch.

„Wie gesagt, ich bin ziemlich überrascht wie viel du über mich weißt.“

„Ach Kai… Wir wissen doch beide was du hier spielst. Du wolltest unbedingt das ich auf den Punkt komme und nun bist du es, der den Ahnungslosen mimt.“

Er schloss einen Moment die Augen.

„Dann spielen wir wohl jetzt mit offenen Karten?“

„Ich habe es vor.“

„Schön… Dann erklär mir doch erst einmal, wie du hier überlebst?“

„Ein Geheimnis um das du dich nicht zu kümmern brauchst.“

„Warum dieser Körper?“

„Ich bin eben deiner Fährte gefolgt. Wenn sie dabei meinen Weg kreuzt, ist das ihr Pech.“

Kai rutschte weiter vor, änderte seine Sitzposition, als wäre er nervös. Doch eigentlich tat er es nur, um seine Füße unauffällig unter den Tisch zu schieben. Schon länger schwebte ihm eine Idee durch den Kopf, denn einem Bit Beast würde er nicht einfach so davonrennen können.

„Wo ist Tysons Großvater?“, wollte er wissen.

„Das kannst du leicht herausfinden. Lass das Kind hier und wirf einen Blick in den Flur.“

Er schluckte hart. Eine böse Vorahnung kam in ihm auf.

„Willst du nicht nachschauen?“, flüsterte sie süffisant. Kai starrte ihr in die Augen, fühlte sich wie eine Maus in der Falle. Er konnte Jana unmöglich mit ihr alleine im Raum zurücklassen. Doch was immer im Flur passiert war, musste Mr. Kinomiya außer Gefecht gesetzt haben. Oder Schlimmeres…

Seine Pupillen huschten weiter zu seiner Schwester. Sobald Jana endlich einmal von ihrer Zeichnung abließ, endlich die Ärmchen von der Platte herunternahm, könnte Kai mit einem gezielten Tritt den kleinen Beistelltisch anheben, der Bedrohung direkt ins Gesicht werfen. Er versprach sich zumindest einen Überraschungsmoment, durch den er Jana packen und hinausrennen könnte, bevor wieder alles in Flammen aufging. Noch summte sie aber arglos vor sich her, während der Schmetterling mehr Farben auf dem Papier bekam. So würde sie die Tischplatte nur selbst gegen das Kinn bekommen.

„Ich denke ich bleibe lieber hier.“, griff Kai die vorherige Frage auf.

„Weshalb? Ich passe schon auf dein Herzchen auf.“, Hana wandte den Kopf zur Seite. Sie klatschte in die Hände, da sah seine Schwester auch schon von ihrer Zeichnung auf. „Komm mal her kleines Kuckuckskind.“

Kai stockte der Atem. Er spürte wie ihm augenblicklich sämtliche Farbe aus den Wangen wich. Seine Schwester hörte die Beleidung hinter diesem Satz nicht einmal heraus, erkannte nicht die Falschheit hinter den süßlichen Worten. Noch ehe er etwas ausrufen konnte, ließ Jana ihren Stift fallen und hopste schnell auf die offenen Arme zu. Er sah wie sie sich auf Hanas Schoß hockte. Zumindest auf ihrer Hülle. Ob noch etwas von Hiros Verlobten darin steckte?

Kai hatte keinerlei Erinnerung an seine eigene Besessenheit. Er musste komplett seines Willen beraubt worden sein. Ob es Hana ebenso erging?

Die legte inzwischen die Finger um den kleinen Hals seiner Schwester, kitzelte sie spielerisch dort, bis Jana gluckste. Kai sah ein kühles Lächeln was sich auf die rot geschminkten Lippen legte.

„Was für ein schmaler Hals. Nur ein kleiner Griff und ich könnte ihn zerdrücken.“

Seine Finger verkrallten sich im Stoff der Couch. Es kam selten vor, dass ihm das Herz raste, doch das war einer dieser Momente. Beinahe spürte er wie ihm das Blut in den Ohren pochte. Kai hatte Angst. Angst das Dranzer ihre Drohung wahr machte. Seine geweiteten Augen starrten voller Entsetzen auf die Szene vor ihm. Er kam sich hilflos vor.

„Ich kann deinen Herzschlag bis hier her hören.“, kam es neckend. Dranzer legte die Arme um seine Schwester, schaukelte das Kind sanft. „Ich weiß nicht was mich mehr enttäuscht. Deine armselige Furcht oder deine mangelnde Einsicht darüber, wie schwach sie dich gemacht hat. Schau dich an Kai. Fühl in dich hinein. Das was du jetzt spürst war dir früher fremd. So etwas passiert, wenn man andere in sein Herz lässt. Ich dachte immer das hättest du früh begriffen. Und doch schwächst du dich freiwillig…“

Sie bettete ihr Kinn auf Janas Schulter, blinzelte ihn von dort aus arglos an.

„Ich könnte das beenden. Soll ich?“

Ein starres Kopfschütteln war Kais Antwort.

„Warum so wortkarg?“

„Dranzer… Mach das nicht.“

Er sah wie sich die Augen vor ihm amüsiert schmälerten. Da quiekte seine Schwester geradezu naiv: „Nich so heiße. Heiße Hana. Wie Jana nur anders Buchstabe.“

Kai war sich unsicher, wie Dranzer reagieren würde, sollte seine Schwester Angst bekommen. So wie er Jana auch kannte, würde sie anfangen zu weinen, sobald sie seine Angespanntheit bemerkte. Womöglich würde das Geschrei Dranzer nur weiter reizen, sodass sie seiner Schwester sofort den Hals umdrehte. Allein der Gedanke lähmte ihn. Er schloss die Augen, zwang sich zu einem Lächeln und sprach: „Ja, da hast du Recht, Kleines. Sie heißt Hana.“

„Ja. Hana hübsch. Sieht wie Topmodel aus…“

Daher also ihre Zutraulichkeit. Seine Schwester bewunderte schöne Frauen, weil sie selbst mal zu einer werden wollte. Ständig hatte sie Kai gefragt, ob sie irgendwann auch einmal hübsch aussehen würde. Kleine Mädchen waren eben eitel. Egal ob sie Down-Syndrom besaßen oder nicht. Indes suchte Kai nach einer Möglichkeit die Situation zu entspannen.

„Wir müssen es nicht soweit kommen lassen.“, sprach er ruhig. „Du willst dein Menschenkind zurück? Was wäre wenn es freiwillig mitkommt – unter der Bedingung das du sie in Ruhe lässt?“

Er vermied es seine Schwester namentlich zu nennen. Sie wüsste sonst dass von ihr die Rede war. Das sie der Grund für seine angekratzte Stimmung war…

„Wie aufopferungsvoll. Ich weiß nicht ob ich dich für deinen Edelmut bewundern oder verachten soll. Immerhin zeugt es nur davon wie weich du geworden bist.“

„Kannst du meinen Standpunkt wirklich nicht verstehen? Gerade du?“

„Warum fragst du das?“

„Weil ich deine Schwester getroffen habe.“

Und da war es aus mit dem Hohn. Stille kehrte ein. Wenn auch nur für kurze Zeit…

Zum ersten Mal erhaschte Kai etwas wie Verletzbarkeit. Er konnte sehen wie Dranzers Augen sich weiteten. Zwar nur um ein paar winzige Millimeter aber dennoch schien sie ihm für eine Sekunde, um so viel weicher. Empfindsamer…

Nein. Sie konnte nicht gänzlich grausam sein. Wenn dieses Wesen wirklich sein Spiegelbild war, musste ein wenig Mitgefühl in ihrer Seele stecken. Ihre Lippen taten sich etwas auf. Sie schaute ihn eine ganze Weile an. Stumm, die Gedanken weit fern.

„Du weißt doch eigentlich ganz genau wie es ist eine Schwester zu verlieren.“

Sie senkte die Lider einen Moment. Er hörte einen tiefen Atemzug.

„Das ist nicht dasselbe.“

„Warum?“

„Sie ist meine Blutsverwandte. Das hier nur ein Mischling.“

„Ist doch egal ob halbes oder ganzes Blut – wir sind verwandt. Ich weiß was deiner Schwester zugestoßen ist. Wenn du die Möglichkeit hättest, würdest du nicht alles tun, um ihre Lage zu verbessern?“

Er vermied es ihren Tod anzusprechen. Es wäre der Sache jetzt nicht dienlich.

„Natürlich würde ich das.“, flüsterte Dranzer.

„Dann sind wir uns in dieser Sache doch ähnlich.“, es war das erste Mal das Kai das Gefühl bekam, die Oberhand zu gewinnen. Er schaute seine Schwester an. „Wir beide würden alles für unsere Familie tun. Mein Großvater hatte ein gutes Sprichwort dafür. Er sagte immer - Blut verpflichtet.“

„Ich erinnere mich. Es hatte etwas höhnisches das gerade dieses Ekel von Familienbanden predigte.“

„Er war ein Ekel. Das gebe ich zu. Ihm selbst war das auch klar.“

„Und doch hat er sich nicht geändert.“

„Und doch hat er mich aufgezogen.“, sprach Kai eisern. „So macht man das in einer Familie.“

„In einer Familie die dich stets wie Dreck behandelt hat?“

„Womöglich. Abe sie hat das nie.“, er nickte zu Jana hinüber. „Was hat sie getan, dass du sie so verachtest? Nur weil sie in deinen Augen unvollkommen wirkt? Das kann doch unmöglich der einzige Grund sein?“

„Nein! Damit könnte ich leben…“, schnitt Dranzer ihm ins Wort. Kai kam es vor, als könne er ein minimales Beben in ihrer Stimme hören. „Aber nicht mit dem was ich beobachtet habe. Nicht mit dem was dieses Ding aus dir gemacht hatte. Du warst am Ende Kai… ein nervliches Wrack! Nächtelang bist du wach geblieben und hast dicke Wälzer über Kinder wie sie durchgestöbert, ungeachtet dessen, dass du in ein paar Stunden wieder in deiner Firma gebraucht wurdest.“

„Das war ein Fehler. Mein Fehler.“

„Nein ihrer…“

„Ich habe mir nicht helfen lassen.“

„Du hättest nie Hilfe gebraucht wäre sie nicht gewesen. Als du dich nur um dich selbst gekümmert hast, ging es dir bestens. Aber nur wegen ihr hast du dir keine Ruhe mehr gegönnt! Jede freie Minute hast du diesem Geschöpf gewidmet, bist mit ihr in stickigen Krankenzimmern gesessen, hast um ihr Leben gebangt, wenn sie erneut operiert werden musste - mit einer Furcht in deinem Herzen, die ich bei dir noch nie erlebt habe!“

Jana schaute zu ihr auf, zog die Braue fragend hoch, denn auch ihr entging nicht, wie aufgebracht Dranzer nun wirkte.

„Du hattest doch ständig nur noch Angst um sie! Angst davor wie ihre Umwelt auf sie reagiert. Angst davor dass man sie verstoßen würde. Angst davor dass dieses kranke Herz in ihrer Brust einfach zu schlagen aufhört… So warst du früher nicht! Der Kai Hiwatari den ich kannte hätten solche Dinge nicht den Schlaf geraubt. Er wusste genau worauf er hinarbeitete.“

„Meine Ziele haben sich geändert…“

„Ihre Genesung ist doch kein anständiges Ziel! Sie wird niemals normal sein… Allein ihr Herz ist viel zu schwach. Du kämpfst um ihr ein oder zwei mickrige Jahre mehr zu verschaffen.“

„Ich bin für jede einzelne Minute dankbar.“

„Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, Kai. Lass der Natur endlich ihren Lauf nehmen!“

„Das kann ich nicht…“

„Willst du wirklich so dein Leben vergeuden? Es dreht sich doch alles nur noch um das Kind. Sie ist dein erster Gedanke am Morgen und dein letzter vor dem Schlaf!“

Eine Sekunde hielt sie inne, um ihre Rage zu zügeln. Kai hörte ihre tiefen Atemzüge und konnte nicht leugnen, wie überrascht er war. Das sein Bit Beast einen so tiefen Einblick in sein Leben hatte, war ihm bis dahin nie bewusst gewesen.

„Vor wenigen Jahrzehnten hätte ich noch nicht einschreiten müssen.“, fuhr sie fort. „Aber ihr Menschen mit eurer verfluchten Medizin, wollt ja unbedingt solche Wesen so lange wie möglich am Leben erhalten. Blick ein Jahrhundert zurück und du wirst feststellen, dass dieses Kind schon längst tot gewesen wäre! Ihr Herzfehler hätte sie schnell dahingerafft…“

„Erwartest du von mir dass ich das einfach so akzeptiere?“, fragte er fassungslos.

„Die Natur sortiert solche Wesen aus! Ein krankes Tier wird von seiner Gruppe ausgestoßen.“

„Und genau das ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier!“

„Menschen sind auch nur Tiere. Das müsstest gerade du wissen.“

Er ahnte worauf sie anspielte. Vor seinem inneren Auge sah er für einen Moment die fast verblassten Kindergesichter aus der Abtei. Kai senkte die Lider, blinzelte mehrmals, um den Anblick zu verscheuchen.

„Dort hast du gelernt gnadenlos zu sein.“, erriet Dranzer seine Gedanken. „Doch mit den Jahren bist du zu einem stumpfen Dolch verkommen. Daran sind deine Freunde schuld… Der Kai den ich gekannt habe, hätte sich nicht um andere geschert.“

„Der Kai den du gekannt hast war ein egoistischer, dummer Junge.“

„Du warst reifer als all die anderen aus deiner Gruppe zusammen.“

Einen Moment dachte er über ihre Worte nach, bis ein Kopfschütteln von ihm kam.

„Nein. Das war ich nicht. Auf meine Art war ich der unreifste von allen. Ich dachte ich könnte alles und jeden durchschauen. Wie ein bockiges Kind, das glaubt, es wisse alles besser, obwohl seine Eltern ihm gut zureden. So viele Menschen haben mir versucht gute Ratschläge zu geben, mir zu helfen - und doch wollte ich nicht hören, weil ich zu stolz war.“

„Sowas wäre früher nie aus deinem Mund gekommen.“

„Ich bin erwachsen geworden.“, sie blinzelte ihn verstört an. „Erwachsen wird man ab dem Moment, indem man bereit ist, sich seine Mängel einzugestehen. Aber vor allem durch Verantwortung. Meine Verantwortung hältst du in den Armen.“

„Ich kann sie dir nehmen. Diese Bürde…“

„Ich will sie nicht abgenommen bekommen!“

„Wie kannst du das nur sagen? Die ständigen Sorgen um sie haben dich regelrecht aufgezehrt! Und womit dankt sie es dir? Mit egoistischen Wünschen, quengelnden Lauten und ständigem Geplärre!“

„So sind Kinder nun einmal!“

Sie legte wieder die Finger an Janas Hals, strich darüber hinweg. In einer stummen Drohgebärde.

„Die Natur sortiert so etwas aus, damit sie den Gesunden keine Last sind!“

„Also das wirfst du ihr vor… Das sie geboren wurde?“

Er konnte nicht anders. Dieses Mal war er nicht in der Lage sein Entsetzen zu verbergen. Seine tiefe Enttäuschung - und auch Dranzer sah es. Ein trauriges Seufzen kam von ihr.

„Mach das nicht Kai. Bitte sieh mich nicht an als wäre ich ein Monster.“

„Warum verhältst du dich dann so?“

„Das hat nichts mit Boshaftigkeit zu tun!“, begehrte sie auf. „Eine Tiermutter die in ihrem Wurf ein kränkliches Junges findet, stößt es ab, damit die anderen genug Nahrung bekommen. In erster Linie zählt für mich dein Wohlergehen! Ich habe geschworen dich zu schützen!“

„Du bist nicht meine Mutter!“

Das war ein Fehler. Denn Augenblicklich sah er wie die Äderchen unter ihrer Haut hellrot aufglommen. Ihr Blut schien vor Zorn zu köcheln, vor allem an den Pulsadern. Sein Blick huschte zu ihrer Schläfe. Er konnte förmlich dabei zusehen, wie dort pures Magma gepumpt wurde.

„Ich will dir doch nur helfen!“, schrie Dranzer zornig auf. Sie packte Janas Hals fester, dass das Mädchen erschrocken keuchte. Nun begann auch seine leichtgläubige Schwester zu verstehen, dass etwas nicht stimmte. Sie schlug gegen die Hand, fing an zu strampeln und zu zappeln. „Ich bin vielleicht nicht deine Mutter – aber dein Bit Beast! Das wiegt mehr als jede Blutsbande! Im Gegensatz zu deiner leiblichen Familie wollte ich immer nur das Beste für dich! Das ist mehr als deine echte Mutter jemals für dich getan hat!“

„Lass sie los!“, Kai fuhr auf. Ebenso wie Dranzer. Sie hielt seine Schwester mühelos mit einer Hand von sich fern. Janas kleine Beinchen zappelten in der Luft, während sie mit den winzigen Fingern am Arm der sie hielt entlangkratzte, wie eine Katze die man am Hals gepackt hielt.

„Lass sie runter!“

„Nein! Heute bringe ich es zu Ende!“

„Wenn du ihr etwas antust, werde ich dir das niemals verzeihen!“

„Du wirst, wenn du endlich merkst, wie leicht dein Leben dadurch wird!“

„Ich werde dich hassen!“, brüllte er nun voller Zorn aus. „Das schwöre ich bei allem was mir heilig ist! Und wenn mich dieser Hass frühzeitig ins Grab bringen sollte, es wird kein Tag vergehen, an dem du nicht spüren wirst, wie sehr ich dich verabscheue!“

Er vernahm an ein unheimliches Kreischen. Dann konnte er sogar hören, wie die Lava in Dranzer hochbrodelte. Rauch entstieg zwischen den rot geschminkten Lippen.

Dranzers Augen brannten lichterloh…

Inzwischen wurde Janas Kopf hochrot. Ihre dunklen Knopfaugen schwammen in Tränen. Er sah wie sie vorwurfsvoll zu ihm schielte. Hilf mir doch – das las Kai aus ihrem Blick. Sie ahnte nicht, wie leicht es für Dranzer war, ihren dünnen Hals mit nur einer Bewegung zu zerquetschen. Vor seinen Augen das zarte Genick zu brechen. Er kam sich so machtlos vor und alles was Kai konnte, war Dranzer zu verfluchen. Da bemerkte er etwas…

Jemand huschte am Fenster entlang. Kai sah einen dunklen Haarschopf. Inzwischen packte Dranzer den Hals seiner Schwester energischer, schüttelte das krächzende Kind und schrie ihm entgegen: „Du hältst dich für Erwachsenen?! Du bist das undankbarste Balg das mir je untergekommen ist! Ich werde dich Lehren was es heißt, den Schutz einer Göttin zu verschmäh-…“

Weiter kam sie nicht. Kai keuchte entsetzt auf als es geschah. Alles ging so schnell…

Scherben stoben durch den Raum. Er hielt schützend die Hand vors Gesicht. Was immer Tyson da getan hatte, es überraschte selbst ihn. Als Kai noch einmal aufschaute, war das Fenster zerschlagen und Tyson hielt schon Dranzers Hals gepackt. Mit einem grausigen Geräusch brach er ihr das Genick. Einen Moment hielt er den reglosen Körper noch vor sich. Kai konnte den Ausdruck in Dranzers Gesicht sehen - oder vielmehr von Hiros Verlobten.

Die Kinnlade heruntergeklappt.

Die Augen weit aufgesperrt. Ihr Hals merkwürdig verdreht…

Der Arm der seine Schwester hielt erschlaffte prompt. Kai erwachte erst aus seinem Entsetzen, als Jana lautstark auf dem Wohnzimmertisch aufprallte. Gleich darauf hörte er ihr schweres Röcheln. Sofort ergriff er seine Schwester, hielt sie schützend in seinen Armen und wich zurück. Dabei presste er Janas Kopf in seine Halsbeuge, damit sie nicht die Gelegenheit bekam, auch nur einen winzigen Blick auf dieses gespenstische Bild zu werfen. Sobald sie wieder genug Luft in der Lunge hatte, fing seine Schwester auch schon an zu schreien. Ihr schrilles Weinen dicht neben seinem Ohr übertünchte das Poltern, was entstand, als Tyson Dranzers gebrochenen Hals entließ. Der Leichnam fiel kopfüber nach vorne, direkt auf die Couch, wo Kai noch vor wenigen Minuten friedlich gesessen hatte. Er starrte aus geweitetem Blick zu dem schlaffen Oberkörper, dessen verrenkter Kopf in einem unnatürlichen Winkel wippte, bis er irgendwann zum Stillstand kam.

„Das wird sie nicht lange aufhalten, Junge.“

Mit trockener Kehle schaute Kai auf. Er wusste nicht was ihn mehr verwirrte. Der Leichnam von Hiros Verlobten auf der Couch oder Tysons stahlblauen Augen, mit den echsenartigen Pupillen darin.
 


 

*
 

Galux hatte ihm geraten, ihre Verbindung erst zu beginnen, wenn sämtliche Vorkehrungen, für ein schnelles Vorankommen getroffen waren. Eine davon war, Mariah so weit wie irgendwie möglich, schützend in Stoff zu wickeln, damit sie sich nicht noch mehr an den herumliegenden Glas- und Metallsplittern verletzte. Ray hatte sein Oberteil ausgezogen, es in Bahnen zerrissen und damit jede Schnittwunde verbunden, die er am Leib seiner Frau finden konnte. Selbst bei den wenigen Bewegungen lief ihm der Schweiß über den Rücken. Es kam ihm vor, als würde es zunehmend heißer werden und die Luft schien so furchtbar dünn. Er merkte dass er müde wurde. Ein Alarmsignal für den mangelnden Sauerstoff hier unten. Einmal nickte er sogar kopfüber weg. Nur Galuxs Ruf konnte ihn wieder auffahren lassen.

„Ich weiß nicht ob es ratsam ist, dich als Energieträger zu verwenden.“

„Wenn wir es nicht versuchen krepieren wir hier!“, hatte Ray geknurrt. Er war angespannt. Doch Galux sah es ihm nach, drängte ihn aber dennoch zur Eile. Sie selbst schien auch nervös. Immer wieder tippelte sie von einer auf die andere Seite. Irgendwann war es dann endlich soweit. Nach einem prüfenden Blick auf Rays Arbeit, erklärte Galux, dass es nun genug sei.

„Das wird ausreichen. Wir müssen uns spurten. Wenn du durch den Sauerstoffmangel hier unten einnickst, wirst du mir keine Hilfe mehr sein.“

Das leuchtete Ray ein. Bei einem Match war es nicht anders gewesen. War der Blader ohnmächtig, drehte sich sein Blade auch nicht mehr.

„Und wie geht es jetzt weiter?“, wollte er wissen.

„Nun, zunächst einmal werde ich die Tür zertrümmern müssen, sobald die Verbindung zwischen uns steht.“, Galux schaute auf, zu der Luke über ihnen. Durch den kleinen Schlitz in der deformierten Schiebetür, rieselte Sand in den Innenraum. Ihnen beiden war aufgefallen, dass die Risse in der Scheibe mehr wurden. Manchmal erschallte auch ein leises Knacksen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Glas zerbrach und sie noch mehr verschütten würde. Ihm kam es vor, als steckten sie in einer Sanduhr fest. „Ich werde Wurzeln erzeugen müssen, um die eindringende Erde davon abzuhalten, in den Raum zu stürzen. Anschließend muss ich schnellstens einen Tunnel graben. Er sollte in einer schrägen Bahn verlaufen. Das wird den Weg länger machen, aber dadurch…“

„Könnte ich Mao leichter hinaustragen.“, beendete er den Satz mit einem Nicken. Auch das war verständlich. Ray hatte sich bereits gefragt, wie er seine schwangere Frau hinausbekommen sollte, wenn der Tunnel steil hinaufführte, wie bei einem Brunnenschacht.

„Das könnte Zeit kosten.“, gab Galux zu bedenken. „Du wirst den Kraftverlust mit jeder Minute deutlicher spüren.“

„Ich halte es aus. Lass uns anfangen.“

„Und du bist sicher?“

Ray tat einen tiefen Atemzug. Das sie so zaudernd reagierte, machte auch ihm Sorgen, doch er begrub diesen Gedanken in die hinterste Ecke seines Kopfes.

„Was muss ich tun?“, fragte er stattdessen.

„Das ist unterschiedlich. Das Bündnis wird von Bit Beast zu Bit Beast anders eingegangen. Bei Mao wusste ich sofort, was zu tun ist. Das spürte ich aus einem tiefen Instinkt heraus.“

„Und bei mir weißt du es nicht?“

Sie schaute ihn lange an, schüttelte dann aber bedauernd den Kopf.

„Du bist mir fremd - auch wenn du ihr Gatte bist. Ich erkenne vieles von Driger in dir, das macht dich aber nicht so durchschaubar, wie es Mao für mich wäre.“

„Verstehe.“

Seine Frau und Galux teilten sich quasi eine ähnliche Seele. Für ihr Bit Beast musste es deshalb einfacher sein, von sich selbst auf Mao zu schließen, um sie zu verstehen.

„Um deiner selbst Willen, wäre es vielleicht ratsam, es auf dieselbe Art zu versuchen, wie du es mit Driger damals getan hast. Womöglich gleicht uns das etwas an. Erinnerst du dich an eure erste Begegnung?“

Tat er das?

Ray dachte angestrengt zurück…
 

Er wusste noch, wie ihm der Dorfälteste in einer feierlichen Zeremonie, die kleine Holzschatulle überreichte, indem Drigers Emblem darauf wartete, an ihn überzugehen. Sie war mit Ornamenten verziert gewesen. Mit viel Liebe zum Detail hatte man die Schnitzereien in die Wände der Schatulle geritzt. Ray erinnerte sich an die vielfältigen Muster. Es kamen Bäume darauf vor. Manchmal schlug ein Blitz in das Geäst ein. Und darunter sprintete ein angreifender Tiger…

Er hielt die Klauen ausgefahren, den Kiefer weit geöffnet, bereit ein sich zusammenkauerndes Wildschwein zu reißen. Ray hatte die Verzierungen sehr bewundert. Sie waren so fein ausgearbeitet, dass man im Maul des Tigers, sogar die kleinen Fangzähne erhaschen konnte. Dafür war er umso verdutzter, als er die Schatulle aufklappte und nur das mickrige Steinemblem darin vorfand. Zunächst war Ray ziemlich enttäuscht gewesen. Er hatte etwas Spektakuläreres erwartet. Doch damals war er noch ein halber Junge, der schnell erkennen sollte, wie viel Macht das Emblem mit dem Tigermotiv in sich bergen sollte. Die ersten Wochen, wusste er aber nichts damit anzufangen. Meistens ruhte das Emblem in seiner Hütte, auf dem altmodischen Nachtschränkchen. Jeden Abend vor dem Schlafengehen, hatte Ray es aufgeklappt und einen fragenden Blick hinein geworfen. Auch wenn es unscheinbar wirkte, kam er kaum darum herum, etwas Faszinierendes daran zu finden. Lange Zeit konnte Ray sich gar nicht erklären, warum er so reagierte, bis ihm eines Nachts auffiel, das der Tiger auf dem Emblem, jeden Tag eine neue Pose einzunehmen schien. Zunächst dachte er, einem Irrglauben zu erliegen, doch an jedem neuen Morgen, bewahrheitete sich sein Verdacht. Von da an war Ray so erpicht darauf, mehr von diesem magischen Objekt zu erfahren, begann sogar die alten Schriften dazu zu studieren, die im Schrein dazu aufgebahrt lagen - bis das Emblem irgendwann sein Geheimnis offenbarte.

Genau an dem Tag als Ray seinen ersten Blade erhielt…

Es war ein Geschenk von Tao gewesen. Damals begannen alle Kinder mit den Kreiseln zu spielen. Sie alle baten ihre Eltern ihnen auch eines vom Händler, aus der nächsten Stadt mitzubringen und bald hörte man die klackernden Geräusche, von gegeneinander rasenden Blades im ganzen Dorf. Da Ray aber keine Eltern hatte, blieb er lange Zeit nur als stummer Zuschauer am Rand der Arena sitzen, bis ihm Tao eines schenkte, damit er sich auch an den Wettkämpfen der Kinder beteiligen konnte.

Nun fiel es Ray auch wieder ein…

Der Abend indem er nichtsahnend auf seinem Bett hockte und wie jedes Mal vor dem Schlafengehen, einen prüfenden Blick in die Schatulle warf, während sein neuer Blade auf dem Kissen neben ihm ruhte. Ray wohnte damals bereits alleine in seiner Hütte, wie es der übliche Brauch bei Vollwaisen seines Alters, in ihrem Dorf war. Das lag nicht daran, dass man ihm das Gefühl übermitteln wollte, ein Außenseiter zu sein, sondern viel mehr, weil man bei ihnen zu sagen pflegte, dass die Erziehung eines Kindes, die Fürsorge der gesamten Gemeinschaft bedurfte. Tao meinte einmal zu ihm, ihn einer Familie gänzlich zuzuordnen, würde nur bedeuten, dass sich die anderen Menschen im Dorf, sich aus der Verantwortung stahlen. Der Erfolg gab ihm Recht. Rays Hütte war so gut wie nie leer. Ständig kündigte sich Besuch an. Viele Dorfbewohner sahen nach seinem Befinden.

Manchmal war ihm das sogar zu viel…

An jenem Abend hatte er kurz zuvor die letzten Besucher verabschiedet. Seine Nachbarin brachte ihm etwas zu Essen vorbei. Die Suppe köchelte über der altmodischen Feuerstelle, während Ray den Deckel der Holzschatulle, gutgelaunt hochgeklappt. Es war ein sehr aufregender Tag gewesen. Zum ersten Mal konnte er sich an den Wettkämpfen der anderen Kinder beteiligen und zu seiner Überraschung, entpuppte er sich als wahres Naturtalent. Lee hatte ihn brüskiert gefragt, ob er ihnen nur den Ahnungslosen vor mimte, damit alle ihn unterschätzen. Doch der Blade schien seine Gedanken förmlich zu erraten und dieses Talent machte ihn sehr Stolz.

Als Ray die Schatulle in dieser Nacht öffnete, um die neue Pose des Tigers zu bewundern, begrüßte ihn zu seinem Entsetzen, zuerst ein lautes Fauchen aus dem Inneren der Box. Es kam ihm vor als ob das Gebrüll, die Wände in seiner kleinen Hütte erzittern ließ. Vor Schreck hatte er die Box wieder zuklappen wollen, als auch schon ein giftgrüner Blitz herausschoss, dessen Licht die ganze Kammer erfüllte. Was dann passierte, hielt Ray lange Zeit für eine Vision, die sich nur in seinem Kopf abspielte.

Er saß auf dem Bett, auf seinem Schoß die offene Schatulle und nur wenige Schritte von ihm entfernt, die majestätische Gestalt Drigers. Sein Mund klappte auf. Ray hatte schon einmal einen Tiger gesehen. Er war in den Wäldern unterwegs gewesen, gemeinsam mit Lee und den anderen Männern des Dorfes, die den Jungen an diesem Tag Überlebenstricks in der Wildnis beibrachten. Da tauchte auf der anderen Seite eines Flussufers, das imposante Geschöpf vor ihnen auf.

Ray empfand schon dieses Exemplar als riesig.

Doch Driger gehörte definitiv einer anderen Liga an. Er war gigantisch gewesen. Sein massiger Körper erfüllte beinahe den ganzen Raum und der Panzer um seine Schultern, strahlte in satten Goldtönen. Ray war in jenem Moment froh, dass er nicht über so viele Besitztümer verfügte, wie andere Kinder in seinem Alter. Dadurch dass seine spartanische Hütte nicht so zugestellt war, warf der peitschende Schweif des Tigers nichts um. Die Krallen seiner schweren Tatzen hinterließen Kerben auf seinem hölzernen Fußboden. Ray hatte aus geweitetem Blick auf das Haupt des Tigers gestarrt. Es war merkwürdig gewesen…

Er hätte Angst verspüren müssen. Doch stattdessen empfand er tiefe Ehrfurcht vor diesem Geschöpf. Es war der Moment indem Ray begriff, was für ein mächtiges Geschenk ihm mit dem Emblem gemacht wurde. Die blattgrünen Augen vor ihm starrten ihm entgegen, zwischen ihnen nur die köchelnde Feuerstelle. Sie beide hatten sich nicht gerührt, als würden sie sich voller Neugierde auskundschaften. Da Driger keine Anstalten machte ihn anzugreifen, tat Ray die erste Regung.

Er legte den Kopf langsam zur Seite. Das Bit Beast tat es ihm gleich. Irgendwann setzte Ray die Schatulle in einer vorsichtigen Bewegung ab. Er glitt behutsam von seinem Bett und richtete sich stramm auf. Der Tiger vor ihm rührte sich noch immer nicht. Driger schien nur weiterhin seine Bewegungen zu studieren. Ab und an erhaschte Ray ein langsames Blinzeln. Er tat mit dem rechten Fuß einen Schritt auf Driger zu. Das Bit Beast setzte ebenfalls die rechte Pfote auf. Ray zog den Fuß zurück. Driger tat es auch…

Da bemerkte er, was sich hier abspielte. Das Bit Beast imitierte seine Bewegungen. Mutiger geworden, trat Ray entschiedener auf Driger zu. Und schon begann es…

Jeden Schritt den er machte, tat auch das Bit Beast. Sie umkreisten sich wie zwei Raubtiere, ließen sich dabei nicht aus den Augen. Der Abstand zwischen ihnen wurde geringer und irgendwann, als Ray sämtliche Bedenken verließen, blieb er stehen, streckte die Hand nach dem Tiger aus. Er erwartete ein Knurren. Ein Brüllen. Ein Fauchen…

Nichts dergleichen kam. Driger schnappte nicht nach ihm.

Ray schien als würde er sogar eine stumme Aufforderung hören.

„Kein Zögern. Kein Zaudern. Bleib immer standhaft.“

Und das tat Ray. Ohne weiter zu Überlegen, bettete er seine Hand auf die Schnauze des Tigers. Er hatte das warme Fell zwischen seinen Fingern gespürt, jedes einzelne Härchen – und eine innige Verbundenheit zwischen ihnen. Die Energie die von diesem Wesen ausging…

Sie richtete seine Nackenhärchen auf, als wäre er elektrisch geladen. Es ließ Ray die Augen für eine Sekunde schließen. Und als er sie wieder öffnete, war der Spuk auch schon vorbei.

Da stand er nur noch mit ausgestrecktem Arm in seiner Hütte.

Von Driger keine Spur mehr. Ray hatte verdutzt geblinzelt, kam sich auch ziemlich dämlich vor, denn hätte ihn jemand so gesehen, wäre sicherlich die Frage aufgekommen, was er da für ein komisches Ballett veranstaltete. Etwas beschämt über sein albernes Verhalten, war Ray wieder zu seinem Bett gelaufen - wo er Drigers Abbildung nun auf dem Blade sah.
 

Dieser Abend sollte der Startschuss für viele weitere Abenteuer werden…

Denn zwei Monate später, verließ Ray sein Dorf, um seine Neugierde darüber zu stillen, was er mit seinem neuen Bit Beast noch alles erreichen könnte. Dieser Tag hatte ihn verändert. Es offenbarte ihm einen Einblick darauf, wie viele Geheimnisse diese Welt doch barg und das er sie nicht entdecken konnte, wenn er weiterhin in seinem kleinen Bergdorf zurückgezogen lebte. Wäre Driger nicht zu ihm gekommen, hätte Ray niemals seine Freunde kennengelernt. Er hätte sein einfaches Leben fortgeführt, ohne zu ahnen, dass es diese Menschen gab. Diese Überlegung ließ ihn lächeln. Er hatte seinem Bit Beast einiges zu verdanken, auch wenn er die letzten Tage so manches Mal anders dachte.

„Weshalb lächelst du?“

Erst Galuxs Stimme holte ihn zurück. Ray hatte gar nicht bemerkt, dass er die Augen geschlossen hielt. Er blinzelte. Nicht aus Verwirrung, sondern weil diese kindliche Erinnerung aus alten Tagen, ihn sentimental werden ließ.

„Nichts. Ich dachte nur an den Tag zurück als ich Driger bekam.“

„Wehmütige Erinnerungen?“

„Ja, so kann man es wohl nennen.“, Ray schaute gedankenverloren zu Boden. In ihm keimte die grausige Gewissheit auf, dass es mit Galux niemals so sein würde, wie damals bei Driger. Wenn das richtig war, könnte ihr Vorhaben ein übles Nachspiel für ihn haben. Er versuchte sich diese Furcht nicht anmerken zu lassen.
 

„Kein Zögern. Kein Zaudern. Bleib immer standhaft.“
 

Drigers Worte von damals gingen ihm durch den Sinn. Es war eigenartig, dass gerade die Sätze jenes Wesens ihm Kraft spendeten, das vor wenigen Tagen noch sein schlimmster Feind war.

„Lass uns anfangen. Es wird Zeit.“

„Hast du dir das gut überlegt?“

„Ich bin auf alles gefasst.“

„Gut. Dann konzentrier dich auf mich. Versuch dasselbe zu empfinden wie an jenem Tag, als du Driger zum ersten Mal begegnet bist. Ich werde mich bemühen mich dir anzupassen.“

Ray öffnete die Lider. Er streckte seine Hand aus, wie damals bei seinem eigenen Bit Beast. Doch schon diese winzige Bewegung, fühlte sich falsch an. Es genügte ein Blick in Galuxs Augen. Sie war zu unsicher. Driger wusste was er tat. In seinem Blick lag damals nicht diese Ungewissheit. Doch Galuxs hasenhaften Lauscher zuckten ständig. Ray schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Wie bei seiner Mao, wenn sie etwas Neues ausprobierte und sich nicht wohl dabei fühlte.

„Hab keine Angst.“, sprach Ray auf sie ein.

„Wie sonderbar. Eigentlich sollte ich dich beruhigen.“

„Wir denken einfach beide daran, dass wir Mao beschützen wollen.“

Das schien Galux zu helfen. Endlich hörten ihre Ohren auf zu zucken. Sie ließ seine Berührung zu, senkte die Lider, während Ray versuchte seine Gefühle in dieselbe Bahn zu lenken. Er konzentrierte sich einzig und allein auf den Wunsch, seine Familie zu beschützen. Bald darauf spürte er auch schon, wie sich etwas in ihm veränderte. Es war jedoch schwer zu beschreiben. Es fühlte sich nicht sehr angenehm an.

Irgendwie erinnerte es ihn an eine Blutspende, wenn man dabei zuschaute, wie der Beutel sich langsam mit der eigenen Flüssigkeit füllte und man langsam schläfrig wurde. Ray unterdrückte einen gequälten Ausdruck. Er untersage sich jeden Mucks. Nein. Das hier fühlte sich definitiv anders an. Da war kein aufgeregtes Flirren, dass seine Nackenhaare aufrichtete. Nachdem er Driger das erste Mal berührte, kam Ray sich vor, als wolle er voller Tatendrang die Welt entdecken. Er stand wahrhaftig unter Strom, fühlte sich unbesiegbar und unaufhaltsam, wie ein Fels der durch einen kräftigen Schubs polternd ins Tal rollte.

Doch Galux Kraft zog ihn eher hinunter. Es fühlte sich an, als wäre er an einem einzelnen Punkt festgewachsen. Unfähig sich zu bewegen. Wie eine Blume, die dazu verdammt war, am selben Fleck auszuharren, bis sie dort elendig verwelkte. Er spürte wie Galux seinen Fingern entglitt.

„Halte durch! Ich beeile mich…“

Sie ahnte wohl dass ihm die Verbindung nicht so gut tat, wie Ray ihr vormachte. Er beobachtete aus trägem Blick, wie der Körper des Bit Beasts endlich wieder heller zu Leuchten begann. Sie fixierte mit ihren Augen angestrengt die Tür über sich. Gleich darauf hörte er von Außerhalb ein Knistern. Es klang als würde sich etwas durch die Erdschicht wühlen und schon kurz darauf sah er feine weiße Wurzeln. Sie fädelten sich umeinander wie die Maschen eines Netzes. Dann begannen sie sich zuzuziehen, pressten die Erde über der Tür zurück. Es verursachte eine leichte Erschütterung. Noch einmal rieselte durch den Spalt eine feine Staubschicht, bis der Sandfluss endlich versiegte. Vor der Scheibe tat sich eine Öffnung auf. Die Wurzeln drängten die Erde mit aller Gewalt zurück. Ray konnte sehen, wie Galux zu zittern begann. Obwohl sie sich körperlich nicht betätigte, schien dieses Unterfangen ihr auf andere Art zuzusetzen. Ihre Gestalt wuchs wieder.

Mit jedem Zentimeter den sie zulegte, fühlte Ray wie ihm mehr Energie ausgesaugt wurde.

Schließlich war die Erde vor der Tür so weit zurückgewichen, dass Galux in die Knie ging und sich mit voller Kraft gegen das Material warf. Der erste Hieb verursachte eine Beule im Metall. Der zweite Schlag ließ sie tiefer werden. Mit einem finalen Fauchen, stieß das Bit Beast die Tür aus der Halterung. Noch bevor die schwere Platte zu Boden krachte, brachte sich Galux in Sicherheit, während Ray mit seiner Frau in einer anderen Ecke kauerte. Es staubte gewaltig als die Überbleibsel der Tür bei ihnen unten aufkamen. Ray hustete, schützte seine Frau vor dieser Giftwolke, indem er seinen Oberkörper über sie legte, ihren Kopf an seine Brust drückte. In kürzester Zeit war er von einer Dreckschicht bedeckt. Es vermischte sich mit dem Schweiß auf seiner Haut.

Als Ray die Augen wieder aufschlug, sah er Mariahs Lider fiebrig unter sich flattern. Der Lärm holte sie aus ihrer Ohnmacht. Er sah einen kleinen Spalt, wie ihre hell gesprenkelten Augen träge dazwischen hervorschauten. Ihre Lippen waren spröde geworden. Sie hatte Ewig nichts mehr getrunken. Ray warf einen Blick über seine Schulter, wo Galux bereits in das Erdloch huschte. Er vernahm das Knacken, ihre schabenden Krallen, sah noch mehr Wurzeln in dem dunklen Schacht wachsen. Sie stützten den Tunnel den sie freilegte vor einem erneuten Einsturz. Da Galux wenig Möglichkeiten besaß, um die überflüssige Erde irgendwo verschwinden zu lassen, landete einiges wieder im Inneren des Wagons. Ray suchte nach seinem Sportbeutel, um seiner Frau etwas von dem Wasser zu geben, dass er darin noch verstaut hielt. Er kramte in der Tasche herum, als ihm etwas auffiel.

Seine Hände. Sie waren so kraftlos. Und sie sahen komisch aus…

Er wischte den Dreck davon weg. Wirkten sie etwa älter?

Das könnte aber auch an den Umständen hier unten liegen. Wenig Licht, der Dreck…

Ray verscheuchte den Gedanken wieder, suchte nach der Wasserflasche und wandte sich seiner Frau zu. Er hob Maos Kopf an, um ihr das Trinken zu erleichtern. Sobald sie die Flüssigkeit an ihren Lippen spürte, öffnete sie den Mund etwas, schaute aus müden Augen zu ihm auf, bis sie sich verschluckte. Zwischen einem schmerzlichen Keuchen brachte sie lediglich die Frage hervor, was denn nur passiert sei.

„Wir sind entgleist.“, sprach Ray auf sie ein. Doch es machte nicht den Eindruck, als ob Mariah schon genug bei Sinnen war, um seine Worte richtig zu begreifen. Er strich ihr zärtlich über das Gesicht. „Aber bald sind wir draußen. Ich verspreche es dir.“

Er sah den winzigen Anflug eines müden Lächelns auf Maos Lippen. Einmal hatte sie ihm gestanden, dass es sie beruhigte, wenn Ray in schwierigen Situationen so besonnen blieb. Das es ihr auch Kraft gab. Er erwiderte ihr Lächeln, bettete ihre Wange in seine Handfläche. Sein Daumen strich über ihre Haut hinweg. Und da bemerkte Ray zum ersten Mal die Altersflecken auf seinem Handrücken…

Einen Moment starrte er darauf. Er schloss die Augen, atmete tief durch. Dann schob Ray seine Arme unter den Körper seiner Frau. Sie war schwer. Natürlich war sie das, immerhin trug sie zusätzliches Gewicht mit sich herum. Seine kleine Tochter. Dennoch vollbrachte es Ray, sie irgendwie hochzuheben. Von Mao kam ein müdes Murren. Es klang als würde sie fragen, was er da tue. Ray antwortete nicht. Der Kopf seiner Frau klappte ohnehin wieder auf seine Brust. Sie kam ihm wie ein schlaffes Stoffpüppchen vor. Ein Arm baumelte unkontrolliert an ihr herab. Als Ray ihre Wunden verband, hatte er den Eindruck, er sei gebrochen. Er trat an die Öffnung.

„Galux, du musst mir mit Mao helfen!“, rief er hinauf. Ihm kam es vor, als sei das Bit Beast ganz schön lange unterwegs, bis es wieder zurückkam. Das gab ihm Hoffnung. Vielleicht schafften sie es bald ins Freie. Sobald er Galux hörte, hob Ray seine Frau mit einem Keuchen soweit auf, wie es nur irgendwie möglich war. Das Bit Beast schnappte mit den Zähnen nach ihrem Kragen. Es begann Mao in den Schacht hinaufzuziehen, während er seine Frau von unten weiterschob. Ray sah ihre Füße langsam im Dunkeln verschwinden. Mao hatte einen Schuh verloren. Er griff an den Rand der Öffnung, um sich selbst aufzuziehen - und hielt inne.

Seine Finger wirkten fahl und dünner. Das ging zu schnell!

Einen Moment hielt er seine zitternde Handfläche vor die Augen. Dann beeilte Ray sich ins Zwiellicht des Tunnels zu robben. Sobald Galux die Anzeichen erblickte, würde sie das ganze Vorhaben womöglich abbrechen, also bemühte er sich, nicht aufzufallen.

Desto weiter sie sich von der Enge ihrer Kabine entfernten, desto dunkler wurde es um Ray herum. Galux Gestalt war nicht mehr als eine fahle geisterhafte Erscheinung für ihn. Mao murmelte unverständlich vor sich her, wann immer ihr Bit Beast sie am Kragen weiter voran zog. Mehrmals hielt Galux inne, um den Stollen weiter zu graben, während Ray sich bemühte, den aufkommenden Dreck wegzukehren, um mehr Platz zu machen. Dazu musste er sich ständig über seine Frau beugen, vernahm dabei ihre flachen Atemzüge. Um sie herum knisterte es, Ray vermutete von den Wurzeln die den Stollen stabiler machten. Die Geräusche die seine Frau von sich gab wurden unruhiger. Lauter. Sowohl Galux als auch Ray ignorierten es. Beide konzentrierten sich auf ihr schweißtreibendes Vorhaben. Bald kam es ihm vor, als seien sie schon ewig in dem Stollen zu Gange. Ihm fiel auf dass Galux öfters Mal aufhörte zu graben. Das erkannte er daran, wenn die scharrenden Laute, für eine Minute in der Finsternis verstummten. Auch von ihr kam manchmal ein erschöpftes Keuchen. Insgeheim kam ihm der Gedanke, dass die falsche Energie dem Bit Beast auch nicht so gut tat. Auf einmal schwindelte es Ray. Es kam so plötzlich über ihn, dass er inne hielt, den Oberkörper auf den Ellbogen gestützt und die Augen stöhnend schloss. Ihm wurde übel. Die Luft schien mit jeder dahinstreichenden Minute dünner zu werden. Er blieb so lange reglos, bis Maos Gemurmel vor ihm lauter wurde.

„Ray?“, es war ein trockenes Krächzen. Da noch immer keine Antwort von ihm kam, wurde sie panisch. „Warum ist es so dunkel? Wo bist du?!“

Er hörte sie mit den Fersen strampeln.

„Wo sind wir?! Es ist so eng!“

Ray schlug die Augen auf. Er raufte sich zusammen, kroch vorwärts, so gut es ging an ihre Seite, bevor die Panikattacke die seine Frau befiel überhand nahm.

„Ich bin hier, Mao.“

„Ich kriege keine Luft!“

Sie begann zu hyperventilieren.

„Doch Mao. Atme langsam durch, Schatz.“

Er hörte Galux eiliger scharren, während Ray auf seine Frau einsprach.

„Du bist nicht alleine. Ich bin hier. Galux auch. Wir lassen dich nicht alleine.“

„Ich will hier raus…“, sie klang wie ein ängstliches Kind. Ganz anders als er sie kannte.

„Bald, Mao. Bald. Du musst noch ein kleinwenig durchalten.“

Es ließ sie einen Moment ruhiger werden.

„Gib mir deine Hand.“, wimmerte sie. Ihre Stimme war tränenerstickt. Ray kraxelte weiter voran, so schwer es ihm auch fiel. Er kam sich kraftlos vor, dennoch riss er sich zusammen, blieb standhaft. Er musste. Für seine Familie. Einer musste jetzt einen kühlen Kopf behalten. Er streckte seine Hand aus, tastete im Dunkeln nach Maos Fingern, die ebenfalls den Boden nach ihm absuchten. Irgendwann bekam er sie zu packen. Ihr Griff war fest. Doch nach kurzem Körperkontakt zuckten ihre Finger zurück.

„Wer sind sie?!“

„Ich bin es, Mao!“

„Nein! Sie sind nicht mein Mann!“

„Doch, Schatz. Ich bin es!“

„Galux, bist du da?!“

„Ja, Mao. Ich bin immer bei dir.“

„Wo ist Ray? Wer ist der alte Mann dort hinten?!“

Da durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Seine Hände mussten so rasch gealtert sein, dass selbst seine dehydrierte Frau den Unterschied merkte. Er ballte seine Finger zu Fäusten und spürte wie dünn und gebrechlich sie waren.

„Wir müssen aufhören!“, rief nun auch Galux aus. Sie erkannte den Ernst der Lage nun auch und die Verzweiflung ihres Menschenkindes schien sich auf sie zu übertragen. „Etwas stimmt nicht! Deine Stimme klingt zu alt!“

Das hatte Ray nicht einmal gemerkt…

„Nein! Mach weiter!“

„Ich werde ohne deine Energie weitermachen.“

„Und riskieren das das der Stollen ohne die Wurzeln einbricht?!“, fragte Ray entgeistert. „Du wirst uns alle verschütten! Ein Zurück gibt es jetzt nicht mehr! Uns wird die Luft hier unten ausgehen!“

Ray hörte seine Frau wimmern. Sie flüsterte seinen Namen, rief in ihrem Fieberwahn nach dem Mann, den sie nicht mehr an ihrer Seite erkannte.

„Mach weiter, Galux! Grab so schnell du kannst! Nimm so viel von meiner Energie wie du dafür brauchst, aber verdammt nochmal, sieh zu das du meine Frau hier heraus schaffst!“

„Du hältst das nicht aus…“

„Hör auf zu diskutieren!“, krächzte er ihr mit altersschwacher Stimme entgegen. „Du verplemperst unser aller Zeit damit!“

Und endlich vernahm Ray wie das Bit Beast wieder schaufelte. Dieses Mal schneller denn je. Für einen Moment fragte er sich grantig, weshalb sie nicht schon zu Anfang ein solches Tempo hingelegt hatte, als ihm klar wurde, dass die Übelkeit nun mit voller Wucht bei ihm einschlug. Es war so schlimm, dass er von Mao zurückkroch. Ein heißer Schwall Flüssigkeit brach aus ihm hervor. Galux musste sich zuvor mit seiner Energie zurückgehalten haben.

Nun gab sie alles - in einem Wettlauf gegen seine Zeit.

Sie grub als ob es um ihr Leben ginge, nicht um das seines. Sie war so schnell, dass Ray nicht mehr hinter kam und die Erde sich im Stollen sammelte. Die Wurzeln schienen stattdessen seinen Part zu übernehmen. Er spürte wie sie sich an ihm vorbeischlängelten. Auf einmal kam ein Poltern von vorne. Ein Spalt tat sich auf. Ein einzelner Lichtstrahl fiel hindurch. Ray sah wie der Staub darin tänzelte. Das Bit Beast warf sich gegen die Erdwand. In heller Aufregung hieb Galux auf das Hindernis ein.

Immer wieder. Immer wieder…

Es musste ein großer Erdbrocken sein der ihnen da den Weg versperrte.

Er sah Galux einige Schritte im Lichtstrahl zurückweichen. Dann legte das Bit Beast mit einem Schrei sämtliche Kraft in den nächsten Schlag. Der Fels erzitterte. Es knackste. Sand rieselte von der Decke herab und da kam das massige Ungetüm auch schon ins rollen. Ray beobachtete wie der Weg sich langsam öffnete, dann fiel das Hindernis endlich. Ihm kam es vor, als würde mit diesem Felsen, auch ein Stein von seinem Herzen fallen. Er sah wie Mariah die Hand hob. Sie tauchte ihre zitternden Finger ins Sonnenlicht. Die Schweißperlen funkelten auf ihrer Stirn. Sobald sich der aufgewirbelte Staub legte, tat Ray einen röchelnden Atemzug.

Ein angeekelter Blick neben sich und ihm wurde klar was er da erbrochen hatte. Blut…

Eine dickflüssige Pfütze glänzte auf dem Stollenboden. Aus glasigem Blick schaute Ray darauf. Ihm kam es vor, als sei er betrunken. Seine Sicht verschwamm ihm. Er hörte sein Blut hart gegen die Schläfe pochen. Seine Hände. Sie waren voller Altersflecken.

Sehnig. Dünn….

„Oh weh!“, sein Augen hoben sich. Ray sah Galux am Ende des Stollens stehen. Das Bit Beast starrte ihn entsetzt an. Es zwängte sich an Mariah vorbei, huschte auf ihn zu.

„Verzeih mir! Bitte verzeih mir!“, ihre Stimme klang fern.

„Mao… Schaff sie hinaus.“, raunte Ray unendlich müde.

Sein Kopf sank schwer auf den Boden. Er konnte einfach nicht mehr. Eine seiner Strähnen trat in sein Sichtfeld. Sie war grau…

„Dort sind Menschen. Sie kommen, Junge. Hab keine Angst mehr um sie.“, er fühlte wie Galuxs Kopf gegen seine Finger stupste. Ihre geflüsterten Sätze bebten bei jeder Silbe. „Vergib mir… Bitte vergib mir. Ich wollte das nicht.“

Ray vernahm Stimmen. Dort draußen waren Menschen. Sie redeten wild durcheinander in seiner Muttersprache. Er konnte hören, wie sich Leute auf der anderen Seite näherten. Sie kraxelten zu dem entstandenen Loch auf. Und als der erste grelle Helm der Rettungskräfte, am Ende der Öffnung auftauchte, das einfallende Sonnenlicht verdeckte, bettete er seinen Kopf auf den Arm.

„Hier ist jemand! Eine Frau…“, eine Taschenlampe leuchtete zu ihnen hinein. „Sie ist schwanger! Hört ihr?! Holt schnell eine Trage her! Und weiter tiefer liegt auch noch ein alter Mann!“

„Wie haben es die beiden bloß hinausgeschafft? Das ist ein Wunder!“, rief ein anderer aus, der unfähig war Galux zu erblicken. Ray musste Lächeln. Dann flüsterte er dem Bit Beast zu: „Danke.“

Mao rief weiterhin nach ihm, während die Helfer sie aus dem Erdloch zogen. Ihre kränkelnde Stimme entfernte sich langsam von ihm. Zwei Leben gegen eines. Zumindest hatte sich das Opfer gelohnt. Das empfand Ray als sehr guten Tausch. Er senkte erschöpft die Lider.

„Pass weiterhin auf meine Familie, Galux. Du bist ein wunderbarer Schutzgeist…“
 


 

*
 

„Tyson?“

Die Frage kam aus dem Mund von Dranzers Menschenkind, obwohl Dragoon genau heraushörte, dass er seine eigenen Worte anzweifelte. Natürlich witterte er den Braten. Dieser Junge schien schon immer mit einem wachen Verstand gesegnet zu sein. Es erinnerte ihn nur mehr an seinen Schutzgeist. Dranzer hatte auch stets so misstrauisch geschaut. Vor allem wenn Dragoon mit ihr sprach. Er konnte es dann an ihren Augen sehen. Wenn sie sich minimal schmälerten, wusste er, dass sie ihm nicht glaubte. In der Regel war das immer der Fall gewesen. Bei Dranzers Jungen sah es ähnlich aus, nur das sich dieses Mal seine Augen in blanker Panik weiteten. Selbstverständlich konnte das aber auch an der Tatsache liegen, dass Dragoon vor dessen Nase, Dranzer das hübsche Genick brach. Menschen waren was das betraf immer recht zimperlich, obwohl der Junge keinen Grund zur Sorge hatte. Jedenfalls noch nicht…

„Du solltest lieber auf Abstand gehen.“

„Was hast du mit ihm gemacht?!“, schrie der Bengel ihn auf einmal an. Der herrische Tonfall war ihm noch von früher bekannt. Der impulsive Ausbruch dagegen neu. Dragoons Braue zuckte hoch.

„Beruhige dich, Kleiner. Takao geht es gut.“

„Verschwinde aus seinem Körper!“

„Das hast du ja schnell durchschaut… Und nun raus mit dir! Das Geplärre von der Göre hält man ja kaum aus.“

„Ohne Tyson gehe ich nirgendwo hin!“

„Na hoppla! Wer hat denn da endlich gelernt wem er etwas Loyalität schuldet?“, spottete Dragoon. Allerdings musste er zugeben, dass Kais Verhalten an seinem Stolz nagte. Nicht etwa weil der Junge nach Jahren der Aufmüpfigkeit, endlich mal handzahm geworden war, sondern weil Takao etwas vollbracht hatte, was ihm bei Dranzer, selbst Jahrtausende nach ihrem Zerwürfnis, nicht gelang. Irgendwie empfand er es als ungerecht, dass sein Junge die Liebe seines Lebens bekommen hatte, während er von seiner nur Hohn erntete.

„Du dürftest gar nicht mehr hier sein!“

„Korrekt. Allerdings habe ich auch nicht vor meinen Besuch weiter in die Länge zu ziehen.“, belehrte Dragoon den Jungen gelangweilt. Er sah bereits ein zorniges Kontra auf dessen Lippen, fiel ihm aber ins Wort. „Hier passiert nichts ohne Takaos Einverständnis! Er hat diesem Verfahren zugestimmt.“

„Was für einem Verfahren?“

„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.“

„Dann gehe ich auch nicht!“

Dragoon schnalzte genervt. Seine Augen huschten zu Dranzers Leichnam. Die Halsschlagader begann wieder zu pochen, auch wenn sie ähnlich einer Weihnachtsbaumgirlande, in einer Spirale um den Hals herumführte. Das sah wahrlich unschön aus mit diesem verdrehten Genick.

„Wir haben ein Abkommen. Sein Körper für den Kampf, dafür bewahre ich euch vor Dranzers Zorn.“, sein Blick heftete sich auf Kai, wurde kleiner. Er hob das Kinn und zischte bedrohlich: „Also geh mir endlich aus dem Schussfeld! Nimm das kreischende Balg, verkriech dich irgendwo und komm erst heraus, wenn ich es dir befehle.“

„Du hast mir gar nichts zu befehlen!“

Er hielt ihm die Hand als Drohgebärde hin.

„Du gehörst übers Knie gelegt, weißt du das eigentlich? Verschwinde, oder ich versohle dir eigenhändig den Hintern! Etwas was deine Eltern wohl versäumt haben.“

In Kais Gesicht machte sich eine heftige Zornesröte breit.

Das fand Dragoon fast schon entzückend.

„Ich wiederhole mich nicht! Hau ab!“, brüllte er ihn stattdessen an. „Sonst mache ich als nächstens bei deiner plärrenden Schwester weiter! Hast du mich jetzt endlich verstanden?!“

Damit hatte er direkt auf seinen Schwachpunkt gezielt.

Der Blick des Jungen sprühte vor unterdrücktem Zorn. Natürlich…

Er war schon immer undankbar gewesen. Da tat man ihm einen Gefallen und es war schon wieder nicht Recht. Dragoon hätte sich von diesem Kerl niemals so auf der Nase herumtanzen lassen, wie Takao es all die Jahre tat, sondern dem Bengel ordentlich die Flügel gestutzt. Dranzers Finger fielen ihm ins Auge. Sie zuckten leicht. Da rissen ihn Kais nächste Worte doch noch von dem Anblick weg.

„Wird Tyson das überleben?“, wollte er wissen.

Es war die Art wie der Junge es sagte. Er klang tatsächlich sorgenvoll. Takao ahnte gar nicht, wie neidisch Dragoon in jenem Moment wurde. Er fuhr sich seufzend über die Nasenwurzel.

„Wenn ich es richtig anstelle wird alles gut gehen.“

„Das ist doch keine Garantie!“

„Ich werde dir auch keine erteilen!“, fauchte er ihn zornig an. „Denkst du der Junge wusste nicht worauf er sich einlässt?! Ich habe ihm die Risiken erklärt. Aber dein Wohl und das der Seinen ist ihm wichtiger. Zumindest derer die davon übrig sind.“

„Was meinst du mit die übrig sind?“, fragte Kai argwöhnisch. Dieser Junge ließ sich wirklich nie abschrecken. „Ist Großvater Kinomiya etwa…“

Er sprach nicht weiter. Glücklicherweise schloss Kai seine Anspielung auf die falsche Person. Wenn er auch nur ansatzweise an seinen anderen Freunden hing, wie Takao es stets getan hatte, wären nur unangenehme Erklärungen aufgekommen. Dafür fehlte ihm beim besten Willen die Zeit.

„Keine Ahnung. Überzeug dich besser selbst davon. Der Alte liegt wie ein misslungenes Präsentkorb an der Eingangstür.“

„Hiros Verlobte…“

„Wer?“

„Sie! Du hast ihr den Hals gebrochen!“

Er nickte zu Dranzers Körper. Da begriff Dragoon.

„Ich habe nichts getötet was nicht schon tot war.“

Noch immer keine Regung. Kai starrte auf Dranzer. Zumindest auf ihren verdrehten Kopf. Das Kreischen seiner Schwester war in ein Mitleid häschendes Schluchzen übergegangen, während das Mädchen den Kopf auf seiner Schulter gebettet hielt.

„Was dachtest du denn?“, fragte Dragoon ihn mit einem Kopfschütteln. „Das ein Mensch der besessen ist keine Folgen davon trägt?“

„Wird Tyson das auch passieren?“

„Er ist mein Menschenkind. Er wird es besser verkraften als sie. Aber diese Frau? Die war wohl relativ schnell hinüber, nachdem Dranzer sich bei ihr eingenistet hatte. Das passiert eben wenn sich zwei Wesen vermischen, die nicht dieselbe Grundlage teilen. Einer wird vom Parasiten ausgezehrt. Apropos…“, Dragoon schaute auf den Leichnam vor ihnen. „Es wäre ratsam für dich, innerhalb der Mauern des Anwesens zu bleiben. Dranzer hat einige weitere Anproben gehabt. Vor dem Haus rennen ihre leeren Kleidungsstücke nur so herum.“

Er fragte nicht nach. Kai begriff eben schnell.

Der Junge war doch sehr interessant.

„Allerdings…“, Dragoon hob mahnend den Zeigefinger. „Komm mir nicht in die Quere während dem Kampf.“

Über den Leichnam hinweg starrten sich beide eine ganze Weile lang an. Da gab der Junge endlich nach, wurde vernünftig. Kai wich zurück. Den Blick misstrauisch auf ihn gerichtet, bis auf einmal Dranzers zuvor schlaffer Arm hochschnellte. Er konnte das Keuchen von ihrem Menschenkind hören. Kai starrte auf die Hand. Ihre Finger verkrallten sich in der Couchlehne. Durch das gebrochene Genick hatte sie nun die einzigartige Gelegenheit, ihn problemlos mit ihrem giftigen Blick zu strafen, selbst wenn Dragoon hinter ihr stand.

„Du hattest schon immer etwas von einer tückischen Schlange.“, spie sie bitterböse aus. „Kein Wunder färbt das auch auf deinen Körperbau ab. Du siehst schon gar nicht mehr aus wie ein Drache. Mehr wie der Wurm der du in Wahrheit bist.“

„Du entpuppst dich wiedermal als lausige Verliererin.“

„Noch ist nichts entschieden.“

„Wenn wir es dabei belassen schon. Ich will mich nicht mehr mit dir streiten, Liebes. Sei doch vernünftig und komm mit mir Heim.“

„Das würde dir so passen!“

Dranzer richtete sich auf. Das ungewöhnliche Sichtfeld schien ihr Schwierigkeiten zu bereiten. Ihr linker Arm bekam die Lehne nicht zu fassen, da sie unfähig war, dessen Bewegungen im Blick zu behalten. Sobald sie wieder auf den Füßen stand, packte sie ihren Kopf und rückte ihn wieder zurecht. Normalerweise hätte ihr Schädel trotzdem herumbaumeln müssen, doch die glühenden Nervenstränge an ihrem Hals, verrieten Dragoon, das sie sich bereits regenerierte. Es trennte sie nur noch der niedrige Tisch.

„Du bist also erneut entwischt, Schlange.“

„Wie du hier so zischelst, klingst eher du wie eine.“

„Oh, so böse Worte? Und das deiner Liebsten gegenüber?“, kicherte sie gehässig.

„Nun, wir sind uns wohl einig, dass die Zuneigung nur von einer Seite kommt. Wie du ganz klar ausgedrückt hast…“

„Und weil dein Stolz verletzt ist, bist du jetzt hier, um mir meinen Jungen abspenstig zu machen. Wer ist nun hier der schlechte Verlierer?“

Ihre glühenden Augen wandten sich ihm zu, während Dragoon den Tisch umrundete, immer den Blick auf sie gerichtet. Er versuchte Abstand zu gewinnen, denn er gab sich keiner Illusion mehr hin. Alles deutete auf einen bevorstehenden Kampf hin. Er konnte die Feindseligkeit förmlich auf der Zunge schmecken. Zur Not würde er Dranzer auch an den Haaren Heim zerren.

„Das ist zwar nicht der Grund, aber ich kenne dich. Du hast dir deine Meinung gebildet und bleibst dabei. Selbst wenn du daneben liegst.“, er schnaubte unbeeindruckt. „Du warst schon immer ein stures Stück.“

„Genau wie du. Ich hatte gehofft meine Handlänger hätten dich zerfetzt, stattdessen hast du einen Weg gefunden, wieder durch ein Schlupfloch zu kriechen.“

„In dieser Sache hast du allerdings Recht.“, ein höhnischer Ausdruck trat auf sein Gesicht. „Das wird wohl auch der Grund sein, weshalb dir entgangen ist, dass ich mich an dich anschleiche. Du hast dich zu sicher gefühlt, Liebes. Hochmut kommt vor dem Genickbruch.“

„Sehr komisch…“

Nicht ein Muskel zuckte um ihre Mundwinkel. Sie wandte den Kopf zurück, hielt nach ihrem Jungen Ausschau. Der stand noch immer an der Tür, betrachtete die Szene mit zusammengezogenen Brauen.

„Keine Angst, Kai. Ich bin bald wieder bei dir.“, versprach Dranzer leise.

„Wenn du ihn beschwichtigen willst solltest du ihm lieber deinen Abgang ankündigen.“

„Oh, ich bin noch nicht fertig mit ihm. Aber das weiß er sicher selbst.“

Kais Brauen zogen sich tiefer. Zornig starrte er sein Bit Beast an. Die Drohung war überdeutlich. Sie wandte ihren Blick nicht von ihm ab. Seine Augen begannen von einer zur anderen Person zu huschen. Der Junge musste sich fühlen, als ob er vom Regen in die Traufe gekommen war. Seine Schwester wagte einen ersten zaghaften Blick, starrte furchtsam zu jener Frau, die sie noch vor kurzem erwürgen wollte.

„Und mit dir fange ich an.“, zischte Dranzer ihr zu. Dabei deutete sie auf das Kind.

Sofort begann die Kleine zu wimmern.

„Schaff sie weg, Junge.“

Endlich gehorchte er. Kai tat mehrere Schritte zurück.

„Wehe dir du tötest Tyson!“

Damit drehte er sich auf dem Absatz und verschwand im Flur. Nun waren sie wieder allein. Gefangen in ihrer ewigen Konstellation. Dranzer seine Gegnerin. Ihre Blicke sprühend, die Mundwinkel verächtlich verzogen. Dragoon ihr ständiger Widersacher. Der ewige Verräter in ihren Augen.

Auch ihr fiel das Makabre an dieser Situation auf.

„Und wieder sind es wir beide die bis Zuletzt stehen…“, flüsterte sie kühl. „Nach deinem Liebesgeständnis hätte ich erwartet, dass du endlich etwas daran ändern möchtest.“

„Werde ich auch.“

„Dann hättest du schon in der Gasse sterben müssen.“

„Mein Tod gehört nicht zu meinem Plan.“

„Verstehe. Dann also meiner?“

„Auch du wirst heute nicht sterben. Ich werde dich Heim holen.“

Dranzer tat ebenfalls ihren ersten Schritt, behielt ihn genau im Auge, ohne gegen ein Möbelstück zu laufen. Ihre Bewegungen waren grazil und fließend.

„Mein zuhause gibt es nicht mehr. Seit ich auf der Welt bin, hast du es nach und nach in Stücke zerschlagen. Ich werde mir ein neues Nest erschaffen. Eines aus dem du ausgestoßen wirst.“

„Och, wie schade.“, tat Dragoon in gespielter Trauer. „Ich darf nicht in dein Baumhaus?“

„Spotte du nur. Spotte nur…“, sie hielt dicht vor dem Tisch inne. Dann schrie sie: „Es wird das letzte Mal sein!“

Sie verpasste dem Tisch einen Tritt. Er flog pfeilschnell in seine Richtung.

Damit hatte es also begonnen. Dragoon ballte die Faust und hieb auf das anfliegende Geschoss ein. Die Platte zerbrach in zwei Teile, die beide an ihm vorbeizogen. Es knallte hinter ihm, als sie die vergitterten Raumteiler aus der Halterung rissen, die in dem alten Anwesen dominierten. Takao hätte sich über die Verwüstung aufgeregt. Dragoon blieb keine Zeit dafür. Sofort ging er in Deckung, denn er kannte Dranzers Taktiken. Sie wollte ihn damit nur ablenken. Schon als er die Tischplatte spaltete, war sie auf dem Weg zu ihm. Der menschliche Kopf war zu einem vogelähnlichen Gesicht geworden, ihre Finger zu Klauen. Dragoon nahm den ersten Kratzer hin.

Sein Körper blutete sofort – und die Schnittwunde tat leider auch weh.

Sowas war er von einer toten Hülle nicht gewohnt. Doch als Dranzer für den nächsten Schlag ausholte, war er schneller. Er verpasste ihr einen Hieb in die Magenkuhle, der sie zurückschleuderte. Sie prallte mit einem Ächzen gegen die Wand hinter ihrem Rücken, mitten in die Vitrine die neben dem zerborsten Fenster stand. Es regnete noch mehr Glassplitter für sie.

„Denk dir mal endlich ein paar neue Tricks aus…“

Er erwartete ein Kontra, doch stattdessen kam aus ihrem Mund ein lauter Ruf, in einer furchtbar schrillen Tonlage. Dragoon fauchte, hielt sich die Ohren zu. Takaos Trommelfell fühlte sich an, als wolle es platzen. Die Ablenkung funktionierte dieses Mal. Dranzer hechtete vor, sprang auf und verpasste ihm noch während dem Flug einen Tritt, der ihn durch sämtliche Trennwände, hinaus ins Freie katapultierte. Er rollte über den Hof und landete letztendlich im Teich. Die Tropfen stoben nur so durch die Luft, durchnässten seine Kleidung. Er spürte eine gebrochene Rippe. Takao würde ganz schön üble Schmerzen haben, wenn er den Körper wieder in Besitz nahm. Sobald Dragoon auf den Füßen stand, jagte sein Blick für einen Moment über die Umgebung. Er sah Kai. Gemeinsam mit seiner Schwester war der Junge in Richtung Trainingshalle gelaufen, das alte Familienoberhaupt helfend stützend. Bei jedem Schritt des Mannes blieb ein blutiger Fußabdruck auf dem Holz der Veranda zurück. Der Lärm hinter Kai, hatte seine Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt. Er drehte sich um, starrte aus geweiteten Augen zu ihm.

„Lauf weiter, du Narr!“

Da trug der Wind ihm schon zorngeschwängerte Schritte an sein Ohr. Als Dragoon den Blick hob, trat Dranzer durch das Loch im Haus, hinaus auf die Veranda. Sie bäumte sich dort auf und schrie über den Hof: „Reißt den Mistkerl in Stücke!“

Da kamen ihre Handlanger auch schon ins Spiel. Sie krochen aus sämtlichen Ecken hervor wie Kakerlaken. Die Ersten kletterten über die Grundstücksmauer. Wo immer ihre Füße landeten spritzte der Schneematsch unter ihren Schuhsohlen. Einige spürte Dragoon bereits direkt hinter seinem Rücken. Er vernahm das Plätschern, als sie in Raserei durch den Teich auf ihn zu rannten, bereit ihre Königin zu verteidigen. Sobald der Erste ihn packte, beschwor Dragoon aber einen Sturm herauf. Der wolkenverhangene Himmel bildete in Windeseile einen Trichter der sich der Erde entgegenneigte. Er verpasste dem Angreifer hinter sich seinen Schädel ins Gesicht, hörte wie dessen Nase brach. Dann streckte Dragoon eine Handfläche aus und dirigierte die Windhose nach seinem Willen über den Hof. Die Bonsaibäume des alten Großvaters wurden erfasst, gemeinsam mit den Shintostatuen, die schon seit Jahrhunderten im Besitz der Familie Kinomiya waren. Dranzers Hüllen wurden hochgesogen. Noch während sie im Windstrudel herumflogen, trafen sie die Ziegel vom Dach, Holz aus dem Garten und der aufgewirbelte Kies vom angelegten Weg. Die kleinen Steinchen durchsiebten die Körper förmlich in der Luft, wie die Kugeln einer Maschinenpistole. Die größeren Geschosse spalteten Köpfe, brachen Kiefer und spießten so manchen Körper auf. Sobald die letzte Hülle bewegungsunfähig gemacht war, ballte er die Faust, noch bevor Dranzer ihn mit einem Feuerball erwischen konnte. Dragoon drückte sich rechtzeitig in die Fluten hinunter. Das heiße Geschoss flog über ihn hinweg.

Da verebbte der Sturm auch schon. Für eine trügerische Sekunde wurde es still. Dann stürzte alles wieder zu Boden, was der Himmel sich geholt hatte. Es regnete Geröll, Steine und tote Körper.

Eine Leiche fiel zu ihm in den Teich. Das Gesicht der Frau war nur noch ein klumpiger Haufen. Ihr Blut färbte das Wasser rot. Sein Sturm hatte ganze Arbeit geleistet. All das ließ Dranzer unbeeindruckt.

„Wo die herkamen gibt es mehr.“

„Dann lass sie kommen!“

„Sie werden kommen. Aber zuerst sollst du meinen Sturm erleben!“

Er machte sich bereit, ließ erneut den Tornado aufkommen. Dieses Mal direkt über ihm. Dragoon hörte das unheilvolle Brodeln in Dranzers Leib sogar von weitem. Das Magma was in ihren Venen hochköchelte. Es blubberte förmlich unter ihrer Haut, wie bei einer menschlichen Lavalampe. Er roch verbranntes Fleisch. Im Gegensatz zu ihm besaß Dranzer keine Ambitionen, ihren Körper mit Samthandschuhen anzufassen. Das war ihr Vorteil. Da fegte die Feuerfontäne auch schon über den Platz hinweg, geleitet von einem Schrei wie von tausend Vogelschwärmen.

Dragoon schützte sich mit dem Wasser aus dem Teich, hob es mit der Windhose hinauf, damit die Hitze Takaos Körper nicht verbrannte. Die Leiche wurde erneut erfasst, wie ein Blatt das sich nicht gegen den Sturm wehren konnte. Es kam ihm unendlich lange vor, bis die Fontäne endlich nachließ und das kalte Nass war so schnell verdampft, dass die Wärme im Auge des Tornados, die Luft um sie herum geradezu aufheizte. Der Schweiß begann sich in seinem Nacken zu sammeln. Eine lästige Angewohnheit von Menschen. Als Dranzers Attacke vorbei war, legte sich über den Hof ein Dunstnebel und der Teich war einmal. Alles was daran erinnerte, war die tiefe trockengelegte Kuhle in der Erde. Dragoon preschte heraus und das gerade noch rechtzeitig. Dranzers nächste Attacke schoss durch den Nebel und verfehlte ihn nur knapp.

„Komm heraus, Feigling!“, rief sie gehässig. „Ich finde dich so oder so…“

Er blieb mucks Mäuschen still. Doch er hörte das Röcheln einer ihrer Diener, unmittelbar in seiner Nähe. Die Hilfsarmee war eingetroffen. Während er mit der Bienenkönigin beschäftigt gewesen war, musste es der nächste Schwarm über die Mauer geschafft haben. Dragoon horchte in den Nebel hinein.

„Du kämpfst äußerst defensiv heute.“

Ihr Ruf tanzte förmlich vor Belustigung.

„Liegt es daran dass du den Köper deines Kindes nicht beschädigen willst?“

Dragoon verkniff sich ein Knurren. Sie reizte ihn. Damit er durch einen wütenden Laut seinen Standort verriet. Sie beide waren Bit Beast, aber sie kämpften unter Bedingungen, die sie gleichermaßen einschränkten. Die Frage war wer von ihnen mit den ausgeteilten Karten besser klar kam.

„Mit deinem neuen Körper bist du vielleicht die Leichenstarre losgeworden, aber letztendlich ist es eine schlampige Lösung. Du musst zu sehr darauf achten, dass du klein Takao nicht verletzt. Ich dagegen bin in meiner Freiheit uneingeschränkt, weil ich mir genug Energie beschafft habe, um auch einen toten Körper weiter bewegen zu können, obwohl die Portale geschlossen sind.“

Dragoon verharrte weiterhin in der Hocke, horchte in den Nebel hinein, um auch ja keinen Lakaien der sich näherte zu verpassen. Selbstverständlich wäre es eine Leichtigkeit ihn auszuschalten, doch ein kurzer Schlag würde ausreichen, um seine Position zu offenbaren.

„Sieh dich doch nur an… Wie du dort irgendwo im Nebel kauerst. Du musst dich verstecken wie eine Ratte, weil in deiner momentanen Situation ein Fernkampf absolut fatal für dich ist. Nur ein kleiner Fehltritt und schon brennt Takaos noch lebender Köper lichterloh. Das kannst du natürlich nicht zulassen, nicht wahr?“

Vor den Mauern des Anwesens vernahm Dragoon die schleifenden Schritte ihrer Handlanger, die das Gebäude umringten - und jene die bereits auf dem Grundstück umherschlichen. Ihm wurde klar dass Dranzer für ihre Verhältnisse sehr laut sprach. Sonst besaß sie eher ein leises Stimmchen, das vor Kühnheit strotzte. Natürlich…

Sie wollte die Schritte ihrer Verbündeten überschallen. Damit Dragoon ihr mehr Beachtung schenkte und die Helfer vernachlässigte. Dann hätte sie ihn in der Falle. Er grübelte weiter nach. In einem Punkt hatte sie Recht. Sein jetziger Körper würde eine Flammenfontäne nicht überleben. Er steckte nicht mehr in einer Leiche. Takao besaß keine Drachenschuppen die ihn schützten und er konnte einem lebendigen Körper, nur bedingt seine Fähigkeiten aufzwingen, weil da irgendwo im Hintergrund noch die Seele eines Menschen war. Takaos Geist dachte mit irdischen Grenzen, hielt ihn so von dem zurück, was Dragoon alles erreichen könnte, hätte er diese Barriere nicht in seinem Hinterkopf. Allerdings gab es auch durchaus Vorteile…

Zum Beispiel steckte Dragoon im Körper eines Mannes, während Dranzer wiedermal aus Eitelkeit in einer Frau hockte. Im Nahkampf würde er ihr also überlegen sein, auch wenn er sich vor ihrem Schrei in Acht nehmen musste. Außerdem war Takao sein Menschenkind. Das machte seine Kräfte stärker als in seinem alten Körper, weil Dragoon direkt an seiner Energiequelle hockte. Allerdings durfte er den Bogen natürlich auch nicht überspannen…

Er musste näher an Dranzer herankommen. Dragoon tastete mit den Fingern vorsichtig den Rasen ab. Der Hof war nach seinem vorherigen Sturm so durchgewirbelt, dass er sich davon versprach, irgendwo einen Stein zu finden. Und tatsächlich wurde er schnell fündig.

Der Lakai näherte sich weiter. Sein rasselnder Atem und die taumeligen Schritte, steuerten auf seine Richtung zu. Dragoon klaubte sich einige Kiesel vom Boden. Bevor Dranzers Hülle im Nebel über ihn stolperte, warf er den ersten Stein in hohem Bogen auf die andere Seite des Anwesens. Er horchte genau hin. Der Handlanger drehte ab, folgte prompt dem Geräusch. Und wie nicht anders zu erwarten, sah er einen Feuerstrahl in dieselbe Richtung schießen.

„Gleich habe ich dich!“

Dranzer wurde hochmütig. Sie wähnte sich schon als die Siegerin, weil sie momentan mehr Energie besaß als er. Deshalb schoss sie auch wahllos umher, ohne großartig nachzudenken, während Dragoon sparsam mit seinen Vorräten bleiben musste. Als er die Handlanger um ihn herum fortweichen hörte, warf er den nächsten Stein in dieselbe Richtung und huschte zur Veranda, sobald die nächsten Flammen über den Hof schossen.

„Es nützt nichts sich zu verstecken!“, rief Dranzer aus. „Du ziehst nur in die Länge, was du nicht mehr verhindern kannst.“

Er schlich vorsichtig näher, ignorierte ihren Monolog.

„Dir bleibt kaum Auswahl. Du kannst dich jetzt stellen und vielleicht verschone ich deinen Jungen. Oder du verlässt Takaos Körper um dich in die Irrlichterwelt zu flüchten. Das wäre vielleicht sogar deine einzige Chance zu überleben. Vorausgesetzt ich erwische dich nicht vorher…“

Sie kicherte leise.

„Wie tragisch. Dann hättest du mir deinen Jungen auch noch auf dem Silbertablett serviert. Mit diesem frechen Balg habe ich sowieso noch eine Rechnung offen. Wie es ihm wohl gefallen wird, wenn ich seinen Großvater vor seinen Augen in Brand stecke?“

Ach, die alte Kamelle wieder…

Das Dranzer immer so nachtragend sein musste. Er konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen. Dragoon näherte sich weiterhin ihrer Stimme. Bald war er bei ihr.

„Du willst also nicht hervorkommen?“, kam die Frage in gespielter Neugierde. „Na, schön. Ich weiß wie ich dich aus deinem Versteck locke. Bringt mir den Großvater aus dem Do-…“

Noch bevor der Befehl ausgesprochen war, schwang sich Dragoon pfeilschnell die Veranda hinauf und packte Dranzer. Er drückte sie gegen den nächstbesten Pfeiler. Das Holz bekam eine dicke Kerbe unter der Gewalteinwirkung. Er sah den Zorn in ihrem Blick. Sie öffnete den Mund für einen ihrer Schreie. Da haute ihr Dragoon mit der Faust gegen den Kehlkopf.

Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Es kamen nur leise Würglaute aus ihrem Mund. Ein überhebliches Lächeln trat auf seinen Lippen. Er beugte sein Gesicht zu ihr herab und sprach: „Mein Vögelchen klingt als wäre es heißer.“

Da gab ihm sein Vögelchen allerdings ohne Vorwarnung einen Tritt in die Weichteile...

Dragoon schnürte es förmlich die Luft ab. Das tat ja mal gewaltig weh!

Wie hielten das Menschenmänner nur aus?!

Es kostete ihn unendlich viel Kraft, nicht vor ihr auf die Knie zu fallen – sogar die Tränen traten ihm in die Augenwinkel - da holte Dranzer schon aus, um ihm mit ihren brennenden Klauen den Hals aufzuschneiden. Er warf sich noch rechtzeitig zu Boden. Dann sprang Dragoon ebenso schnell wieder auf, um ihr seinen Schädel gegen das Kinn zu hauen. Es passierte mit einer solchen Wucht, dass er ihren Kiefer knacken hörte. Noch ehe sie die Zeit fand zu genesen, haute er sie mit einer fließenden Bewegung seines rechten Beins von den Füßen. Dranzer stürzte rückwärts nach hinten, vollbrachte es aber mit einer Drehung von ihm fort zu weichen. Sie versuchte Abstand zu gewinnen. Für ihre verdammten Feuerbälle…

Dragoon hechtete ihr hinterher über die Veranda, versuchte sie einzuholen, doch sobald Dranzer wieder auf den Füßen aufkam, kreuzte sie die Arme vor der Brust. Sie entflammten. Er konnte sehen, wie der Kiefer hinter der gekreuzten Verteidigung zu heilen begann. Die feinen feuerroten Nervenbahnen. Sie durfte nicht fertig genesen.

Beide wussten was der andere zu verhindern versuchte…

Dranzer streckte in einer raschen Bewegung die Arme wieder aus.

Da schoss eine x-förmige Flamme auf ihn zu. Es blieb keine Zeit auszuweichen.

Also warf sich Dragoon auf den Boden und rutschte über den polierten Holzdielen in Seitenlage vorwärts, während das Feuer über ihn hinweg fegte. Seine Schulter bekam etwas ab. Takaos Jacke begann dabei zu kokeln, roch ziemlich verdächtig. Ihm blieb keine Zeit sich darum zu kümmern. Beinahe wäre er bis zu Dranzers Beinen herangekommen, doch ein kurzer Blick genügte und ihm fiel auf, dass sie genau darauf wartete, wie eine Mutter die ihren Bengel am Ende einer Rutschpartie in Empfang nahm. Sie hielt eine Hand empor, die Finger hatten die scharfen Klauen eines Greifvogels, und eine hellblaue Flamme stob hervor. Dragoon blieb nichts anderes übrig, als sich schnellstens von der Veranda hinunter zu rollen. Es geschah gerade noch rechtzeitig…

Während er auf dem Rasen aufkam, fraß sich Dranzers Feuer in die Stelle, wo er zuvor noch gewesen war. Er sprang wieder flink auf die Füße, wich in gewaltigen Sprüngen von ihr zurück. Hinter ihm her schossen ihre Attacken. Sie wurde zusehends zorniger. Anscheinend hatte Dranzer sich den Kampf einfacher vorgestellt, weil sie sich im Vorteil sah. Da war sein Täubchen wohl wieder zu hochmütig gewesen. Ihre Angriffe erreichten mehr Hitze. Das Feuer schoss aus ihrer Handfläche, wie bei einem Flammenwerfer. Es war aber bläulich. Ein Zeichen für extrem hohe Temperaturen mit denen Dranzer nun arbeitete. Dragoon suchte erneut Schutz in der Dunstwolke, doch auch die verflog allmählich. Immer wieder tauchte einer ihrer Handlanger vor ihm auf, der nach ihm zu grabschen versuchte. Sobald er hörte wie sich der nächste brodelnde Feuerstrahl anbahnte, nutzte er ihre willenlosen Hüllen, um hinter ihnen in Deckung zu huschen. Auf diese Art kamen einige von ihnen auch wieder um. Offenbar maß Dranzer ihren Helfern auch keinen besonderen Stellenwert zu, denn obwohl sie ihre Königin bedingungslos mit Energie versorgt hatten, nahm sie ohne ein Muskelzucken in Kauf, dass sie zu Ascheklumpen verglühten. Mit ihren Flammen verjagte sie das letzte bisschen Nebel, was über den Anwesen geblieben war. Nun wurde es wirklich heikel. Dragoon hatte sich wieder abdrängen lassen und wenn ihm nicht bald etwas einfiel, hätte sie ihr hübsches Stimmchen zurück. Mit einer Hand hielt sie sich den geschundenen Hals.

Die Grundstücksmauer näherte sich vor ihm und mit ihr kam endlich der ersehnte Einfall. Dragoon würde von außen um das Gebäude herum rennen, um Dranzer von der anderen Seite zu überraschen. Er wollte schon zum Sprung ansetzen, als ihm die ächzende Geräuschkulisse auf der anderen Seite wieder in den Sinn kam. Nein. Da durfte er auf keinen Fall hinüber!

Also änderte er den Plan kurzfristig. Er stieß sich mit dem Fuß so kräftig von der Mauer ab, dass es ihn weit hinauf in die Höhe katapultierte. Für einen Moment flog er pfeilschnell durch die Luft, erblickte den Hof unter sich. Er sah verkohlte Fleischklumpen darüber verteilt, die stinkenden Rauchsäulen die davon aufstiegen, zerbröckelte Statuen, die Einschlagsspuren der Feuerbälle im Garten – und auf der anderen Seite der Mauer ein Meer aus Köpfen.

Es waren verdammt viele Hüllen geworden!

Sie strömten alle zum Dojo, schabten mit den Fingern an der Mauer, im lächerlichen Versuch hineinzugelangen. An vereinzelten Stellen hatte sich ein Knoten aus Menschen gebildet. Wie Ameisen kamen sie ihm vor, die achtlos übereinander her stiegen, wild durcheinandergewürfelt zu einem Knäul. Die obersten Ränge erreichten so den Rand der Mauer, plumpsten auf der anderen Seite herunter, wie nasse Mehlsäcke. Am Tor war es durch die Hektik besonders eng geworden. Die Massen trampelten dort übereinander hinweg, türmten ihre Leidensgenossen regelrecht vor sich auf. Beinahe hätte Dragoon hart geschluckt bei dem Gedanken, dass er jeden dieser Lakaien zu seinen Gegnern zählen musste. Bis ihm etwas aus den Augenwinkeln auffiel…

In einigen Gassen, lagen Dranzers Hüllen reglos auf dem Boden, obwohl sie noch gar nicht in die Nähe des Tumults gekommen waren. Ihre Leichen ruhten einfach so auf der Straße, ohne sich weiter am Kampf zu beteiligen. Dragoon beobachtete, wie eine weitere Hülle zusammenklappte. Einfach so…

Zunächst steuerte der Jugendliche zielsicher auf das Anwesen zu, bis ihn ruckartig die Kraft verließ und er schlaff zu Boden stürzte. Ohne Vorwarnung knallte er mit dem Kopf voraus auf den Asphalt.

Weshalb starben die Bienen?

Da ging ein Aufatmen durch Dragoon. Die falsche Energie…

Dranzer war nicht kompatibel mit all diesen Seelen. Daher war die Energie die sie erhalten hatte unrein. Das war in etwa so, als würde man in eine Uhr eine schwache Batterie einsetzen. Dann tickte sie zu langsam und gab bald wieder den Geist auf. Dranzer besaß zwar gerade ein riesiges Heer, verlor aber allmählich die Kontrolle darüber, desto mehr Energie sie in seine Verfolgung verschwendete. Sie konnte nicht beides – ihre Armee am Leben erhalten und ihn mit Feuerbällen beschießen.

Das musste Dragoon sich zu Nutzen machen. Er kam aber nicht dazu, weiter über diese Möglichkeit zu sinnieren. Einer von Dranzers Strahlen schoss zu ihm auf. Dragoon kam nur dazu sich zur Seite zu drehen, da streifte ihn die Flammenfontäne am Rücken. Sie hatte getroffen. Er spürte es deutlich. Die Haut an Takaos Oberarm war angesengt. Er roch verbranntes Fleisch. Sein eigenes…

Der Schmerz zog ihm durch sämtliche Glieder, lähmte ihn regelrecht. Dragoon fiel im Sturzflug hinab, die Augen vor Schmerz zusammengekniffen. Er zwang sich eines zu öffnen. Da erhaschte er schon Dranzer. Sie stand Mitten im Hof, beide Handflächen in seine Richtung ausgestreckt. Ihr gesamter Körper loderte. Ein eiskaltes Lächeln lag auf ihren Lippen. Da stieß sie mit einem Schrei eine ihrer Attacken nach ihm aus. Stärker als alle anderen davor…

Bevor das Geschoss zu ihm aufschloss, tat Dragoon dasselbe. Er holte alle Macht aus seinem Körper, alle Energie die er aus Takao und seiner Seele schöpfen konnte. Der Himmel spaltete sich, trug die Wolken herab, formte sie zu einem riesigen Trichter, der genauso schnell wie Dragoon zu Boden raste. Unter höllischen Schmerzen kam er auf dem Rasen auf, schaffte es gerade noch den Sturm zwischen ihnen aufrecht zu halten. Die Windböen peitschten vor seinem malträtierten Leib umher. Irgendwann begannen sich beide Elemente zu vermischen, formten einen Feuertornado. Zwischen all den kreisenden Flammen, konnte Dragoon immer wieder Dranzers Gestalt erhaschen. Sie stand dort auf der anderen Seite - mit erhobenem Kinn.

Siegesgewiss. Weil ihr toter Körper nicht vor Schmerzen aufschrie. Seiner aber schon…

Es fiel ihm schwer seine Macht aufrecht zu halten. Der Rücken brannte bei jedem Muskelzucken. In Dranzers Augen lag ein überlegener Ausdruck, sie legte noch mehr Energie in den Feuerstrahl. Mehrere ihrer Lakaien füllten den Hof im Hintergrund. Erneut sah er einige von ihnen umfallen. Einer lief aber direkt auf die Kämpfenden zu. Dragoon kniff die Lider etwas zusammen. Die Luft brannte um ihn herum, es tat schon in den Augen weh. Beide versuchten den Feuertornado in die Richtung des anderen zu drängen, als hielten sie ein Messer mit beiden Händen zwischen ihren Leibern, mit der Absicht, es dem jeweils anderen ins Herz zu treiben.

„Auf Wiedersehen, Liebster.“, eilte der Ruf spöttisch aus Dranzers Mund zu ihm. Die ersten Worte welche sie sprach, nachdem ihr Kiefer geheilt war, waren also erneut von Hohn geprägt. Ihre Augen blitzten auf. Sie würde noch mehr Energie nachlegen. Also machte sich auch Dragoon dafür bereit. Wenn er jetzt nicht der Stärkere war, würde Takaos Körper dem Feuer zum Opfer fallen. Das durfte er nicht zulassen. Er schaute voller Zorn zu Dranzer. Da blitzte etwas hinter ihrem Rücken auf.

Die Person die sich näherte, welche Dragoon für einen Lakaien gehalten hatte…

Das war gar keiner ihrer Handlanger. Es war Kai!

Er kämpfte sich durch den Sturm voran. Es hätte ihn fortfegen müssen. Doch in seinem Blick lag ein unnachgiebiger Ausdruck. Dragoons Augen weiteten sich vor Überraschung. Die Klinge blitzte erneut auf. Der Junge hob das Katana aus dem Dojo in die Höhe. Seine alte Hülle. Jener Gegenstand mit dem Dragoons Band zu den Kinomiyas überhaupt erst begonnen hatte. Kai schloss die Augen.

„Leb wohl, Dranzer.“

Sie schreckte auf…

Bemerkte dass ihr Geist so von den Rachegelüsten erfüllt gewesen war, dass sie ihre Deckung vernachlässigte. Und noch bevor sie den Kopf fassungslos zu Kai wenden konnte, säbelte der ihn mit einem lauten Schrei ab.
 

Die Flammen verebbten…

Ebenso wie der Sturm. Alles was in den Himmel aufgestiegen war, kam polternd zurück. Einer von den Handlangern klatschte neben Dragoon auf den Rasen. Ihm selbst war gar nicht aufgefallen, dass der Tornado einige von ihnen wieder erwischt hatte. Er fragte sich nur ob Kai etwas lebensmüde war. Immerhin war er freiwillig näher an den Sturm getreten. Sein Gesicht könnte nun auch so matschig im Dreck liegen. Für eine Sekunde kehrte Stille über den Platz ein.

Dragoon starrte zu dem jungen Mann, der es vollbracht hatte, selbst ihn zu überrumpeln. Der stand vor Dranzers Leichnam, hielt den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen. Blutspritzer klebten an seiner Wange. Irgendwann tat er einen hörbaren Atemzug und öffnete die Lider. Er schien sich seiner Tat stellen zu wollen. Aus starrem Blick schaute er auf den Kopf zu seinen Füßen. Dragoon fragte sich wen er mehr bemitleidete.

Jene Seele die ursprünglich in diesem Körper hauste… Oder etwa doch Dranzer?

Kai blieb ihm die Antwort schuldig. Nicht ein Wort kam über seine Lippen. Es war so ruhig, man hätte glauben können, die Welt hielte ebenfalls den Atem an. Selbst Dranzers Handlanger wirkten wie eingefroren, als wären sie mit der Enthauptung ihrer Herrin, ebenfalls kopflos geworden. Wahrscheinlich war das auch der Fall. Irgendwann schaute Kai auf, geradewegs in Dragoons Augen.

Sie starrten sich über den Leichnam hinweg an.

„Und jetzt… Verschwinde aus Tysons Körper.“

Dragoon blinzelte verdutzt. Noch zu irritiert von dem Geschehenen. Es kam für ein Bit Beast nicht oft vor, dass es erleben musste, wie ein Menschkind die Hand gegen seinesgleichen erhob. In den letzten Tagen wurde Dragoon aber schon zum zweiten Mal Zeuge einer solchen Rarität. Allein wie Takaos Freund Max, Draciel mit dem Fangzahn getötet hatte, war ein Schock für ihn gewesen. Inzwischen wurde Kais Ausdruck fordernder, ein harter Zug trat um seine Mundwinkel. Offenbar ging es ihm nicht schnell genug, denn schon befahl er herrisch: „Raus aus seinem Körper!“

„Was?“

„Du hast mich genau verstanden.“

Dragoon zog die Brauen verächtlich zusammen. Dann fauchte er ihm zu: „Genauso wie du mich verstanden hattest, als ich dir gesagt habe, dich zu verstecken?!“

„Ich folge keinen Befehlen von jemanden wie dir! Erst Recht nicht wenn ich sehen muss, wie du seinen Körper immer weiter zerstörst!“, Kai deutete mit dem Katana auf ihn. Obwohl der Himmel wolkenverhangen war, blitzte die rote Klinge im fahlen Licht. Geronnenes Blut tropfte daran herab. Dragoon erinnerte sich wie scharf seine frühere Hülle gewesen war. In diesem Gefäß hatte er so einigen von Takaos Vorfahren tapfer beigestanden, während sie ihren Feinden damit den Kopf abschlugen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Kai es tatsächlich wagte, ihn ausgerechnet mit dieser Waffe zu bedrohen.

„Ich habe euren Kampf beobachtet…“, zischte der zornig. Seine Augen wurden zu wachsamen Schlitzen. „Tyson hat Verbrennungen abbekommen, üble Tritte und Schläge! Einige Attacken gingen so haarscharf an ihm vorbei, es ist ein Wunder das er noch nicht tot ist!“

„Er wusste worauf er sich einlässt...“

Kai schnaubte unbeeindruckt.

„Hast du ihn auch darüber aufgeklärt, was für ein lahmarschiger Kämpfer du bist?“

„Wie bitte?!“

Das empfand Dragoon als eine bodenlose Frechheit. Er ballte zu seiner Seite die bebenden Fäuste und brüllte dem Lümmel entgegen: „Ich kämpfe hier nicht gegen den Osterhasen, sondern gegen eine Uralte! Glaubst du wirklich das ist eine Sache, die man wie eine Fünf-Minuten-Terrine, schnell hinter sich bringen kann?!“

„Du warst zu langsam! Das alles hätte viel schneller vorbei sein können. Du hast dich zurückgehalten, dabei gab es so einige Gelegenheiten, um sie schneller fertig zu machen!“

Dragoon schnalzte erbost. Selbstverständlich hätte er sie töten können, aber das durfte und wollte er nicht. Dranzer war die Einzige die ihm geblieben war.

„Hast du Takao gegenüber auch so ein loses Mundwerk?“

„Ihm hat nicht immer alles gepasst was ich gesagt habe.“

„Das wirst du bei mir unterlassen! Ich will keine Vorhaltungen von dir hören!“

„Ich werde nicht dabei zusehen wie du Tyson zum Krüppel machst!“

Dragoon horchte auf. Eine Spur von Verzweiflung lag in seiner Stimme. Seine Braue hob sich.

Es war dieser Blick der ihn beeindruckte. Er erkannte darin so viel Feuer und dennoch klang die Botschaft dahinter fast schon kaltblütig. Irgendwann blinzelte Dragoon auf den enthaupteten Leichnam. Dieser Junge wäre bereit alles für Takao zu tun…

„Hut ab. Du hast mehr Temperament im Leib als du durchblicken lässt.“

„Dann provozier mich nicht.“

Dragoon musste amüsiert darüber schmunzeln. Er bezweifelte das ihm Kai gefährlich werden könnte, aber dennoch war es irgendwie rührend.

„Na schön. Ich gebe mehr Acht auf dein Herzblatt. Will ja schließlich keiner dass dein Bett in Zukunft kalt bleibt.“

Er hörte Kai stockend den Atem anhalten. Dann wurden seine Wangen in Sekundenschnelle puterrot. Er setzte ganz offensichtlich zu einer bitterbösen Entgegnung an, als sein Blick fragend nach unten wanderte. Der Kopf zu seinen Füßen zuckte. Genauso wie der Körper. Die Nervenbahnen nahmen erneut ihre Arbeit auf. Als einer der Arme auf einmal nach vorne schnellte, fuhr der Junge zurück. Seine Augen weiteten sich in Entsetzen.

„Sie lebt noch?!“

„Selbstverständlich! Tritt den verdammten Kopf vom Torso weg!“

Doch Kai rührte sich nicht, schaute ihn an, als ob er seinen Vorschlag für einen schlechten Scherz hielt. Dragoon knurrte. Immer blieb die Drecksarbeit an ihm hängen. Also trat er eiligen Schrittes heran. Er stieß den Jungen unwirsch fort und verpasste dem Schädel einen Tritt, dass er pfeilschnell über den Hof sauste. Das Wurfgeschoss hatte ein solches Tempo drauf, dass es auf seinem Weg einen der reglosen Handlager von den Füßen haute und auf der Mauer zerbröselte. Er hörte Kai würgen. Der Junge sah von dem unappetitlichen Blutfleck weg und kniff die Augen zusammen. So abgebrüht er auch tat, doch das schien selbst ihm auf den Magen zu schlagen. Als Dragoon ein hauchzartes Wimmern vom Dojo hörte, sah er durch den Türspalt ein scheues Augenpaar zu ihm blinzeln, das verschreckt keuchte, sobald sich ihre Blicke trafen. Der Spalt schloss sich erneut, ohne das Kai etwas davon bemerkte. Er seufzte schwer. Menschen waren mit den Jahrhunderten sehr sensibel geworden, wenn es den Anblick von Leichen betraf. Tiere waren da eben härter im nehmen und ein Bit Beast schon zehnmal. Das sollte auch Kai gleich merken.

Eine helle Stichflamme stob aus dem Leichnam hervor. Dranzers Bit Beast Gestalt schoss in die Höhe, spreizte mit einem zornigen Schrei die Schwingen und entschwand einem hellen Blitz gleichend, hinter der anderen Seite der Grundstücksmauer. Offenbar wartete da schon die nächste Hülle auf sie. Sobald Kai sich von seinem Schrecken erholt hatte, funkelte er Dragoon böse an.

„Hast du eigentlich keinen Respekt vor den Toten?!“

„Die Toten sind tot.“

„Das ist kein Grund sie mit Füßen zu treten! Dieser Körper hat Tysons Schwägerin gehört… Hiros Verlobten! Sie war ein Mensch der uns geholfen hat! Und du trittst nach ihrem Kopf als ob er für dich nur ein gammelnder Apfel ist!“

„Ich musste sicherstellen dass diese Hülle für Dranzer unbrauchbar wird.“

„Wusstest du dass sie noch lebt?“

„Natürlich. Du etwa nicht?“

Kais Mund öffnete sich, doch da begann er auch schon seine Antwort zu überdenken. Dragoon erkannte es daran, wie seine Augen sich grübelnd schmälerten. Dann kam er von selbst auf die Lösung.

„Dann ist es wie bei unseren Blades? Die Hülle kann zerstört werden, aber das Bit Beast…“

„Nicht.“, beendete Dragoon den Satz knapp, sein Blick auf die verbliebenen Handlanger im Hof geheftet. Er tastete nach Kais Fingern. „Jedenfalls nicht in dieser Welt. Gib mir lieber das Katana.“

„Warum?“

Er behielt die Antwort für sich, denn auch so verstand der Junge rasch. Kai bemerkte es. Es kam wieder Bewegung in Dranzers Bienen. Einer ihrer zuvor festgefrorenen Diener hob langsam den Kopf. Sie beobachteten wie er aus milchigem Blick zu ihnen herüber starrte. Ihre Herrin hatte wohl eine neue Bleibe gesucht, nahm prompt ihre Arbeit wieder auf. Dragoon umfasste die Hand welche das Schwert hielt, versuchte den Griff darum zu lockern. Dabei riet er Kai ernst: „Du ziehst dich jetzt besser zurück. Junge.“

„Ich könnte helfen.“

„Du wirst mir keine Hilfe sein.“

„Warum?“

„Du empfindest Schuld. Das ist hier fehl am Platz.“

„Ich kann es aushalten.“

„Nein. Kannst du nicht. Du bist zu menschlich… Hier ist ein Biest gefragt.“

Er erwartete Widerworte. Doch stattdessen huschte Kais Blick auf all die Opfer, welche nun in Dranzers Armee dienen mussten. Sie alle waren einmal Menschen gewesen…

Genau wie Kai es war. Obwohl Dragoon nicht abstreiten wollte, dass der Junge viel Mut besaß, schien ihn die Aussicht gegen seinesgleichen zu morden, genauso wenig kalt zu lassen, wie jeden anderen Sterblichen in seiner Lage auch. Selbst wenn die Menschen um ihn herum tot sein mochten. Dragoon fühlte wie der Griff um das Katana bebte - wenn auch nur minimal.

„Geh jetzt, Junge.“

„Nenn mich nicht so. Ich bin kein Kind.“

„Du bist ein Mensch. Das ist nicht dein Kampf.“

Er hörte Kai tief einatmen. Dann sprach er leise: „Ich kann Tyson nicht im Stich lassen…“

Es klang recht verzweifelt. Als würde er sich selbst dafür hassen, nicht stärker zu sein. Nur ein Mensch zu sein. Es ließ Dragoon milde lächeln.

„Das hast du nicht. Du hast ihm gerade ein wertvolles Hilfsmittel beschert. Ich selbst hatte diese Waffe schon vollkommen vergessen, dabei lag sie direkt vor meiner Nase.“, er lockerte den Griff um das Katana. „Du dagegen hast diese Chance sofort erkannt. Alle Achtung. Dieses Schwert wird wie Butter durch Dranzers Helfer schneiden. Aber dazu darf man keine Skrupel besitzen es auch so zu führen.“

Seine Finger waren am ledernen Griff angelangt.

„Überlass es mir. Du kümmerst dich um die Lebenden… Ich mich um die Toten.“

Ein schweres Seufzen kam von seinem Nebenmann. Endlich ließ Kai von der Waffe ab. Dragoon spürte das es ihm wahrhaftig schwer fiel, die Führung aus der Hand zu geben, sich voll und ganz auf einen anderen zu verlassen. Darauf das ihm Takao in ganzen Stücken zurückgebracht wurde… Offenbar war Kai ein Mensch der Taten, niemand der sich damit abfinden konnte, hilflos auszuharren.

Und er wollte Takao zurück.

Sobald das Katana in Dragoons Hand lag, drehte er es zwischen seinen Fingern. Es war ein befremdliches Gefühl jene Hülle zu halten, in der er selbst einmal gesteckt hatte. Als würde er mit seinem eigenen Leichnam spielen. Inzwischen trat Kai zurück. Er wandte sich wieder dem Dojo zu, wo seine kleine Schwester erneut durch einen Spalt in der Tür lauschte. Bevor der Junge die Stufen hinauf erreichte, rief Dragoon: „So langsam verstehe ich weshalb er so an dir hängt.“

Kai blieb einen Moment stehen. Sie wussten beide von wem die Rede war.

Er lief ohne ein weiteres Wort weiter, doch Dragoon spürte, dass der Junge noch einmal einen sorgenvollen Blick in seine Richtung warf. Sobald die Schiebetür geräuschvoll zuging, hob er das Schwert, visierte seine Gegner an. Die Klinge schwebte dicht neben seinem Kopf. Das geronnene Blut daran war getrocknet, dennoch stieg ihm der bleierne Geruch in die Nüstern. Während sein Blick durch die sich aufreihenden Truppen huschte, kam ihm der Gedanke, dass wohl irgendwo in dieser großen Stadt, die Familien dieser bedauernswerten Geschöpfe, genauso auf deren Rückkehr warteten, wie Kai gerade auf seinen Takao.

Doch Dragoon schloss die Augen und verbannte diese Überlegung in die hinterste Ecke seines Kopfes. Solche Gedanken waren zu menschlich. Das durfte er sich jetzt nicht erlauben. Sein Blick huschte weiter über die Reihen. Er suchte nach Dranzer. Irgendwo hier oder hinter der Mauer, lauerte sie in einer neuen Gestalt. Ihr letzter Körper war ein Reinfall gewesen. Sie hatte zu eitel gehandelt.

Dieser Fehler würde ihr nicht noch einmal passieren. Dazu war sie zu intelligent.

Dragoons Brauen zogen sich nachdenklich zusammen. Dranzer war noch gar nicht hervorgetreten. Sie hielt sich also bedeckt, nutzte nun den Tumult den ihre Helfer verursachten. Wenn die Bienen im Schwarm um ihre Königin flogen, konnte man sie nur schlecht ausmachen, egal wie fett sie war. Trotzdem griff noch niemand an, als verfolgten alle einen geheimen Plan. Wahrscheinlich war das auch der Fall…

Er versuchte Dranzers Vorgehensweise zu erahnen. Wäre er an ihrer Stelle, würde Dragoon auf einen Körper zurückgreifen, der physisch stärker als jener von Takaos war. Ein Hieb gegen ihren Kehlkopf hatte ausgereicht und schon konnte Dranzer ihren Schrei nicht mehr verwenden. Den zierlichen Kiefer hatte er auch schnell gebrochen. Ein Weibchen war unvorteilhaft. Das war sicherlich auch ihr aufgefallen. Also musste er wohl nach jemanden Ausschau halten, dessen Statur seiner weitaus überlegen war. Gleichzeitig durfte Dragoon sich nicht zu weit vom Eingang des Dojos entfernen, um einen Angreifer davon abzuhalten hineinzugelangen. Er warf einen verstohlenen Blick hinter seinen Rücken. Es wäre klüger die Meute auf ihn zukommen zu lassen. Er musste durchhalten. Dranzer ernährte sich von einer Energie, die nicht optimal für sie war, deshalb starben ihre Bienen auch so schnell. Dragoon musste auf Zeit spielen.

Also erwartete er den ersten Angreifer.

Sobald sich Dranzers Armee formiert hatte kam der auch schon.

Mit einer fließenden Bewegung säbelte Dragoon ihm den Kopf ab. Der nächste Angreifer der nach ihm packte verlor die Hand und wurde kurz darauf in der Mitte halbiert. Unglaublich wie scharf diese Klinge immer noch war. Zusammen mit seiner Bit Beast Kraft, war jeder Gegner für ihn nicht mehr, als ein Stückchen Butter. Die Familie Kinomiya musste das Schwert seit Jahrhunderten wahrlich in Ehren gehalten haben. Das Katanas war noch so gefährlich wie zu den Anfängen der Familie. Für einen Moment musste Dragoon Lächeln. Es erinnerte ihn an die alten Zeiten zurück. Als die Menschen noch nicht das Blutvergießen scheuten und sich regelmäßig in stürmischen Schlachten gegenüberstanden.

Dragoon hieb, trat, schnitt und enthauptete ohne Unterlass. Seine Bewegungen wurden so rasend schnell, das menschliche Auge hätte Probleme gehabt, ihm noch zu folgen. Die Körperteile häuften sich. Der Hof war übersät von ihnen. Weg und Grasfläche bald blutgetränkt. Das Heiligtum der Familie Kinomiya wurde immer weiter besudelt. Dragoon aber versuchte seine Gedanken nur noch auf sein Vorhaben zu konzentrieren. Er würde jeden von Dranzers Handlangern zerteilen, bis keiner mehr übrig war, um ihr noch weiter Energie zu beschaffen. Dann würde ihre Glut langsam erlöschen.

Und Dragoon könnte sie endlich wieder Heim bringen…

Als hätte Dranzer seine Gedanken gehört, erspähte er beim nächsten Blick durch das demolierte Eingangstor, eine hünenhafte Gestalt, die weit hinter den angreifenden Reihen stand, wie ein Befehlshaber der seine Armee aus sicherer Entfernung bei der Schlacht beobachtete. Er hielt die Augen geschlossen, schaute nicht zu Dragoon herüber, hielt nur die Arme vor sich verschränkt.

Doch die Art wie die Bienen ihn beschützten sagte alles aus. Sie umschwirrten ihn, wie einen schützenden Mantel. Das war er also. Dragoon hatte Dranzers neuen Körper gefunden…
 


 

*
 

Jana zitterte. Ihre Arme hatten sich um Kais rechten Ellbogen geschlungen, obwohl er dadurch kaum noch Bewegungsfreiheit besaß. Dennoch duldete er es, auch wenn es ihm so schwerer fiel, nach Großvater Kinomiyas Wunde zu schauen. Kai hob die blutgetränkten Mullbinde an um darunter zu spähen. Es sah schlimmer aus als es war. Dranzer musste es so eilig gehabt haben, ins Innere des Hauses zu gelangen, dass sie sich nicht weiter darum scherte, ob Mr. Kinomiya tot oder lebendig war. Dennoch bereitete es ihm Kopfzerbrechen, immerhin war Tysons Großvater nicht mehr der Jüngste und lag nun hier, mit dieser tiefen Verletzung an der Brust. Bei alten Menschen verheilte jede Wunde langsamer, deshalb sollte sich ein Arzt ihn dringend ansehen. Als Kai ihn fand, dachte er zuerst, alle Hilfe sei vergebens. Allein die Blutlache in der er lag…

Von Mr. Kinomiya war keine Regung mehr gekommen. Er hatte dort auf der Seite gelegen, die eine Hand unter seine Rippe geschoben, von wo aus sich der Blutfleck langsam über den Holzboden ausbreitete. Eine Gänsehaut jagte über Kais Rücken bei der Erinnerung. Er war so erleichtert gewesen, als ihm auffiel, dass die Finger an Mr. Kinomiyas anderen Hand noch zuckten.

„Wie ist die Lage dort draußen?“, wollte der sichtlich erschöpft wissen.

Er war relativ schnell wieder zu Bewusstsein gekommen. Diese Familie bestand einfach aus zähen Männern, egal welchen Jahrgangs. Kai schüttelte den Kopf verneinend. Er vermied es ihr Dilemma mit Worten hervorzuheben. Es würde seine Schwester nur noch mehr beunruhigen. Als Kai zum Katana griff um Tyson beizustehen, war Jana geradezu hysterisch geworden. Sie brüllte den ganzen Dojo zusammen, stampfte mit den Füßchen auf und ihre hochroten Wangen waren feucht von den Tränenbahnen. Es hatte ihn viel Überredungskunst gekostet, sie beim Großvater zu lassen und als Kai wieder hereinkam, klammerte sie sich nur noch an seinen Arm und sprach äußerst störrisch, dass sie ihn nicht mehr gehen lassen würde. Sie hielt ihr Wort. Er konnte keinen Schritt mehr machen, ohne dass Jana an seinem Arm hing wie ein Klammeräffchen.

Ohnehin verstand Mr. Kinomiya was Kai meinte und seufzte schwer. Sie saßen fest.

Und er konnte nichts machen, als hier drinnen auszuharren und darauf zu hoffen, dass Dragoon tatsächlich das gelang, was Kai nicht mehr schaffte – Dranzer unter Kontrolle zu bekommen.

Der Gedanke ließ ihn gequält die Augen schließen.

„Es tut mir so leid, Mr. Kinomiya.“

„Was meinst du?“, wollte der alte Mann wissen. Er tat einen schweren Atemzug, legte die Hand auf den Verband an seiner Brust. Glücklicherweise war in der Trainingshalle ein Erste-Hilfe-Kasten gewesen, sonst hätte Kai ein weiteres Problem gehabt.

„Das alles ist meine Schuld. Ich habe vollkommen die Kontrolle über Dranzer verloren.“

„Kai, ich sage dir jetzt dasselbe, was ich es zu meinem Jungen gesagt habe - diese Wesen hatten wir nie unter Kontrolle.“, er seufzte bedauernd. „Es ist wohl wie mit einem Kind, das die Waffe seines Vaters findet und sich damit selbst ins Bein schießt. Bit Beast sind keine Spielzeuge. Sie entziehen sich unserem Einfluss. Wir müssen jetzt auf den großen Dragoon vertrauen.“

„Wie können sie ihm noch vertrauen? Nach allem was er ihnen angetan hat…“

„Wir sind nur Menschen. Es steht uns nicht zu ihn zu hinterfragen.“

Kai ballte die Fäuste auf den Knien und das so fest, dass selbst das Weiß seiner Knöchel hervortrat.

„Das sind wohl nicht die Worte die du hören wolltest. Hmm?“

Als keine Entgegnung von Kai kam, hakte Mr. Kinomiya nach.

„Ich weiß du misstraust ihm, aber dieses Wesen hat schon seit Jahrhunderten über meine Familie gewacht. Er hat Fehler gemacht. Aber die machen Menschen auch. Also wer sind wir, dass ausgerechnet wir uns anmaßen, einem Schutzgeist Vorwürfe zu…“

„Das ist es nicht!“, fuhr ihm Kai dazwischen.

„Was dann?“

Doch er blieb wieder stumm. Von draußen ertönte so mancher Schrei zu ihnen herein. Einige klangen fremd. Einer aber bekannt. Dragoon besaß nun auch Tysons Stimme, so wie es bei Dranzer mit Hana gewesen war. Allein die Erinnerung an Hiros Verlobte, ließ eine Gänsehaut über Kais Rücken fahren. Er war erleichtert gewesen, als bei seiner Rückkehr in den Dojo, keiner der Anwesenden mitbekommen hatte, was er ihr mit den bloßen Händen antat. Sein Schweigen hielt wohl zu lange an, denn auf einmal sprach Mr. Kinomiya: „Weißt du, ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht sagst, was dir durch dein Oberstübchen geht.“

Kai schaute zu ihm auf, sah die tief zusammengezogen Brauen. Die altersgezeichneten Augen. Obwohl dieser Mann so schwer verletzt war, jammerte er nicht. Stattdessen kämpfte er gegen den Schmerz an, tat alles, damit die Stimmung im Raum nicht in Panik umschlug. Kai senkte einen Moment die Lider, bevor er antwortete: „Ich fühle mich so machtlos.“

„Da stehst du nicht alleine da.“

„Ich hasse es mich machtlos zu fühlen.“

„Das mag keiner.“

„Nein! Sie verstehen nicht… Ich hasse es mehr als alles andere auf der Welt!“, Kai zog an Janas Griff. Sie war so überrumpelt von seinem Ausbruch, dass sie für eine Sekunde vergaß, ihn festzuhalten. Also erhob er sich und trat endlich einige Schritte weg, schaffte sich Freiraum. Kai kam sich aufgewühlt vor. Ein weiteres Gefühl das ihm missfiel. Er tat einen tiefen Atemzug. „Ich will mich wehren können!“

„Junge, manchmal ist man wehrlos. Selbst als Erwachsener.“

Kai fuhr sich seufzend über die Nasenwurzel. Daran gab es leider nichts zu rütteln. Sie saßen hier fest, kamen wegen Dranzers Helfern nicht heraus und er war dazu verdammt, wie eine kauernde Ratte hier drinnen zu hocken, um einen alten Mann und seine kleine Schwester zu beschützen. Da fiel Kai ein, dass er noch nicht einmal das konnte. Sollten die Angreifer dort draußen hereinkommen, hatte er gar nichts zur Hand, womit er sie abwehren könnte. Das Katana war ja nun bei Dragoon…

Er schaute sich im Dojo um und ihm fiel der robuste, altmodische Holzschrank, mit dem Schloss davor auf. Tyson hatte ihnen einmal erklärt, dass dort drinnen weitere Schwerter gelagert waren. Jene die nicht so eindrucksvoll waren wie das Katana, aber dennoch sicher aufbewahrt wurden, da sie so viele Generationen durchwandert hatten. Als Mr. Kinomiya im Krankenhaus lag, war Kai einmal ins Anwesen gekommen, um Tyson wieder mit den Papieren zu helfen und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass der nun den Unterricht seines Großvaters übernahm. Es war sonderbar ihn in seiner Trainingsuniform zu erleben, vor allem da ihn Kai meistens nur in seiner legeren Aufmachung kannte. Doch nach anfänglicher Gewöhnungsphase, fand er, dass Tyson der Kendolehrer wie auf den Leib geschrieben stand. Auf einmal strahlte er eine natürliche Autorität aus und keiner seiner Schüler wagte es, ihn bei seinen Erklärungen zu unterbrechen. Sie hockten auf Knien wie brave Lämmer und lauschten Tysons Worten. Er hatte die Schwerter aus dem Schrank hervorgeholt, sie der Größe nach auf dem polierten Boden sortiert und konnte die Unterschiede bis ins Detail genau erläutern, selbst wenn sie für Kai manchmal gleich aussahen. Tyson wusste sogar haargenau, aus welchem Material sie bestanden und wann sie ungefähr geschmiedet worden waren. Manchmal reichte er sie seinen Schülern, damit sie ein Gespür für das Gewicht bekamen. Während die ehrfurchtsvoll die Waffen durchreichten, erklärte Tyson ihnen, in welcher Epoche die Schwerter hauptsächlich Anwendung fanden. Kai hätte niemals erwartet, dass er sich für Geschichte interessierte, doch offensichtlich erfüllte ihn sein historischer Stammbaum mit Stolz. Man sah Tyson an dass er Freude am Unterrichten hatte. Für eine kurze Zeit, war er dadurch nicht mehr so betrübt gewesen, weil sein Großvater im Krankenhaus lag. Und Kai hatte lächeln müssen, weil er sich damals insgeheim doch um ihn sorgte, auch wenn er es niemals offen zugab. Da hatte Tyson ihn noch so sehr mit neckenden Worten aus der Reserve locken wollen, er leugnete es vehement.

Doch wahrscheinlich wusste er es auch so. Als Tyson ihn damals nämlich am Türrahmen bemerkte, hoben sich seine Mundwinkel zu einem kurzen Lächeln. Seine dunklen Augen hatten für eine Sekunde wissend auf ihm geruht. Dann ermahnte er einen seiner Schüler, beim Sitzen nicht so zu zappeln, weil der nachschauen wollte, was seinen Meister so erfreute. Kai hatte über die harsche Wortwahl geschmunzelt und sich abgewandt, um im Haus auf den Meister zu warten. Auf dem Weg dorthin fiel ihm auf, dass eine angenehme Gänsehaut ihn befiel.

Hatte es schon damals zwischen ihnen begonnen?

Seine Fäuste ballten sich bei dieser Erinnerung in purer Verzweiflung. Dieser Moment war schon so lange her. Wenn Tyson heute sterben sollte, wären sie nur für einen Wimpernschlag zusammen gewesen. Sie hätten so viel Zeit verplempert, obwohl doch die Anzeichen schon zuvor da waren.

Kai trat zum Schrank und rüttelte am Schloss. Dann schaute er hilfesuchend zu Mr. Kinomiya.

„Du kannst nichts tun, Junge.“, erriet der seine Gedanken.

„Er ist ihr Enkel!“

„Wenn Tyson sich ihm angeschlossen hat, dann sicherlich nicht, weil er lebensmüde ist. Es muss einen Grund geben, warum mein Junge so gehandelt hat.“

Ein verbitterter Zug trat auf Kais Mund. Hätte er Mr. Kinomiya doch nur nicht davon erzählt, dass Tyson freiwillig mit seinem Bit Beast kooperierte, dann würde der jetzt nicht sein gesamtes Vertrauen in Dragoon setzen. Kai wollte sich nicht allein auf ihn verlassen. Dieser Kerl war doch wie ein Fähnlein im Wind. Wankelmütig durch und durch.

„Wir wissen nicht einmal ob es wahr ist. Vielleicht hat er Tyson unter seine Kontrolle gezwungen.“

„Und warum kämpft er dann da draußen?“

„Ich weiß es nicht… Keiner kann sagen was im Kopf eines Bit Beasts vor sich geht.“, seine Stimme war nachdenklich geworden. Dann schaute Kai sich das Schloss genauer an. Es brauchte eine Zahlenkombination. Tyson hatte ihm einmal erklärt, dass es zur Sicherheitsvorkehrung gehörte, damit nicht einer der Schüler in die Versuchung kam, ein Tantō mitgehen zu lassen. So etwas war schon einmal passiert, weil diese Kurzmesser einfacher unter der weiten Trainingskleidung verschwinden konnten, also war nur noch das Katana auf seinem Podest geblieben. Hätte das im Raum gefehlt, wäre es der Familie sofort ins Auge gesprungen.

„Mr. Kinomiya, ich weiß sie werden diese Idee nicht mögen, aber wir müssen uns verteidigen können, falls der da draußen versagt.“, es klang etwas abfälliger als Kai wollte.

„Das sind keine Spielzeuge.“

„Das ist mir klar. Es sind Waffen. Die sind für den Kampf da.“

„Denkst du nicht es könnte jemanden hier im Raum erschrecken, wenn du wieder mit einer Waffe hinausrennst. Das letzte Mal war schon ein Schock.“

Kai wandte sich ihm zu und bemerkte, dass seine Schwester sich an Mr. Kinomiyas Seite gelehnt hatte, während er den Arm um sie legte. Jana lutschte am Daumen, blinzelte aus tränennassem Blick zu ihm und wippte auf dem Hosenboden. Das tat seine Schwester immer dann, wenn sie völlig überfordert war. Wenn sie nicht mehr verstehen konnte, was um sie herum passierte und die Welt sie nur noch verstörte. Es ließ Kai schwer seufzen. Was waren das nur für Pläne die er ausheckte?

Er konnte auf keinen Fall weg. Sein Platz war hier. Bei Jana…

Kai wollte sich schon vom Schrank abwenden, sich endlich geschlagen geben, als ein Schrei alle aufschrecken ließ. Eigentlich hätten sie sich bald an die bedrohliche Geräuschkulisse von draußen gewöhnt, nur kam ihnen diese Stimme sehr nah vor. Alle Anwesenden im Raum schienen die Luft anzuhalten. Kai horchte mit starren Ausdruck Richtung Tür. Doch da kam der Schrei wieder.

Und zwar von der Rückseite des Gebäudes. Er sah wie Mr. Kinomiya sich etwas von der Wand abhob. Seine Augen wurden groß. Da versuchte Kai auch schon, aus einem der Fenster zu spähen. Sie waren sehr hoch angesetzt, weshalb er sich an ihnen aufziehen musste, um überhaupt hinausschauen zu können. Er kundschaftete vorsichtig die Umgebung ab. Die Rückseite des Kinomiya Anwesens lag sehr dicht an der Grundstücksmauer. Dort gab es auch keine Holzveranda, wie beim vorderen Abschnitt. Nur wenige Meter lagen zwischen dem Gebäude und der Abtrennung und doch konnte er nichts sehen. Die Mauer war zu hoch. Der Schrei musste aber von außerhalb des Anwesens kommen. Die Rückseite des Gebäudes war menschenleer. Dranzers Helfer tummelten sich wohl vorne bei Dragoon herum. Kai setzte sich wieder auf dem Boden ab, drehte sich zu Mr. Kinomiya. Beide schauten ziemlich ratlos drein, bis gleich darauf ein weiterer Hilferuf zu ihnen schallte. Da sah Kai wie dem Großvater vor Entsetzen der Mund aufklappte.

„Ich wusste es! Diese Stimme kam mir gleich bekannt vor!“

„Ein Nachbarskind?“

„Ja! Das ist die kleine Momo!“, nun hielt es auch ihn nicht auf dem Hosenboden vor Panik. „Das Mädchen ist erst sieben! Diese Biester sollen gefälligst die Finger von ihr lassen!“

Seine donnernde Stimme überschlug sich vor Zorn, während die kleine Momo wohl draußen um ihr Überleben kämpfte. Mr. Kinomiya versuchte verzweifelt sich aufzustellen, klappte aber schneller in sich zusammen, als Kai bei ihm war. Jana wich von ihnen zurück, rutschte in die nächste Ecke und legte dort die Stirn auf die Knie, um leise vor sich her zu singen. Sie steckte die Finger in die Ohren und zog sich von da an in ihre Welt zurück. Kai wusste gar nicht, um wen er sich mehr sorgen sollte.

Der alte Mann, seine Schwester, oder das arme Ding was da draußen wie am Spieß um Hilfe schrie.

„Die Zahlenkombination!“, er zog Mr. Kinomiyas Oberkörper wieder auf, lehnte ihn an die Wand. „Genau das habe ich gemeint! Wir müssen uns wehren können! Nennen sie mir die Kombination!“

„Ich mache das! Takao würde nicht woll-…“

„Soll das ein Scherz sein?! Sie können kaum sitzen! Geben sie mir die verdammte Kombination, ich werde das erledigen!“

Zur Not sogar mit Gewalt. Doch das würde Kai nicht laut aussprechen. Es reichte aus, wenn er sich heute schon die Finger schmutzig gemacht hatte, da musste Mr. Kinomiya sich nicht auch auf seine alten Tage mit solchen Schuldgefühlen plagen. Der wollte wohl auch widersprechen. Doch der nächste verzweifelte Schrei des Mädchens, ließ ihn gequält die Augen zusammen kneifen. Beide ertrugen den Gedanken nicht, ein hilfloses Kind im Stich zu lassen.

„Vier, Acht, zwölf. Vierundvierzig.“

Kai ließ sich kein zweites Mal bitten. Er sprang auf, eilte zum Schrank, wo er schnell die Zahlen eingab. Sobald es klickte, riss er die schweren Holztüren auf und schaute sich hektisch um. Sein erster Gedanke war, ein Schwert zu ergreifen, was der Länge des Katanas entsprach. So könnte er einen potenziellen Gegner wenigstens ein wenig auf Abstand halten. Seine Finger schnellten hinauf zur Halterung, bis sie aber vor dem Griff des Schwertes inne hielten. Er konnte nicht so einfach auf die Rückseite des Gebäudes gelangen. Das Tor war voll von Dranzers Handlangern, also würde Kai nicht darum herum kommen, über die Mauer zu klettern. Mit der langen Klinge herumzuhantieren wäre da ein Hindernis. Seine Augen huschten weiter. Es war wirklich eine große Sammlung.

Kurzerhand entschloss er sich, nicht auf die Größe zu setzen. Er brauchte etwas Handliches.

Zur Not eben sogar zwei Schwerter, Hauptsache er konnte sie gut verstauen. Kai fand was er suchte. Einen Dolch steckte er in die Gürtelschlaufe seiner Hose, einen Tantō behielt er in der Hand. Manchmal war Quantität eben doch besser. Die Schreie auf der Rückseite des Gebäudes drängten zur Eile. Kai riss die Tür auf, schaute aber für einen Moment starr auf das Schlachtfeld vor ihm.

Dragoon hatte ein Massaker veranstaltet…

Überall Blut, Körperteile und tote Menschen. Und das in diesem wunderschönen Anwesen, worum Kai seinen Freund doch immer so beneidet hatte. Das Kinomiya Haus strahlte stets etwas friedliches, aber auch Erhabenes aus. Nun wurde es auf so grausame Art zu einem Friedhof besudelt. Kai schüttelte den Kopf, ermahnte sich standhaft zu bleiben. Er wollte hinaus treten und unbeobachtet auf die Rückseite des Gebäudes gelangen. Weit kam er aber nicht. Vor der hohen Veranda kauerte eine Gestalt. Sie hatte keine Beine mehr. Die Frau reckte den Oberkörper hoch und starrte zu ihm auf. Ein Arm streckte sich in seine Richtung aus, während ein blutiges Gurgeln aus ihrem Mund kam. Dann brach sie zusammen. Für eine Sekunde hielt Kai der Anblick so gefangen, dass er nicht bemerkte, wie schnell Dragoon neben ihm landete. Er packte ihn am Kragen, drückte ihn gegen die Häuserwand.

„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst drinnen bleiben?!“, brüllte er ihn an.

Kai starrte auf das Gesicht was doch eigentlich Tyson gehören sollte. Die unnatürlich blauen Augen blitzen ihn zornig an, während die Haut darum herum in Rot getaucht war.

War das wirklich noch Tysons Körper?

Selbst seine Haarsträhnen trieften vor Blut. Dragoon zog an seinem Kragen, riss die Tür auf und stieß ihn wieder zurück in den Raum, noch bevor Kai protestieren konnte. Er landete gerade noch auf den Beinen, während Mr. Kinomiya ein geschocktes Krächzen von sich gab, als er seinen blutüberströmten Enkel erblickte.

„Keiner rührt sich hier heraus! Das ist ein Befehl!“, fauchte Dragoon aber nur gleichgültig. Dann schob er die Tür lautstark zu, dass sie beinahe aus der Halterung fiel. Gleich darauf sahen sie die Silhouette eines Angreifers auf ihn zu rennen. Die beiden Schatten hinter der Tür, hatten einen kurzen Schlagabtausch, dann schrie Jana auf, als Dragoon mit dem Katana ausholte und eine lange Blutbahn die Tür verdreckte.

„Bei allen Göttern…“, Mr. Kinomiya fuhr sich über die Stirn. „Unser Heim.“

Das war wohl auch für sein Nervenkostüm zu viel. Doch Kai…

In dem brodelte es. Dragoon führte sich auf, als sei er sein Aufseher. Er nahm keine Befehle von diesem Mistkerl entgegen, schon gar nicht, wenn er so kaltblütige Methoden an den Tag legte. Kais Fäuste ballten sich, sein Blick schnellte zum Fenster. Der alte Trotz lebte in ihm auf, zusammen mit dem Wunsch sich von niemandem etwas sagen zu lassen. Also rannte Kai zum Fenster, riss es auf und mit viel Anlauf gelang es ihm, sich soweit hinauf zu hieven, dass er das Bein über den Rahmen schwingen konnte.

„Ai! Geh nich weg!“, jammerte seine Schwester verzweifelt.

„Ich bin gleich zurück. Das verspreche ich dir!“

Damit ließ er sich auf die andere Seite fallen. Er landete auf dem Rasen und verlor auch keine weitere Zeit. Kai hopste an der Mauer hinauf und zog sich auch dort hoch. Sobald er oben angelangt war, schaute er sich um. Er hatte schon lange keine Hilferufe gehört und befürchtete bald das schlimmste, als ihm zwei Männer auffielen, die über ein kleines Mädchen, mit langen schwarzem Haar gebeugt waren. Der eine packte das reglose Kind an einem Fußknöchel und schleifte es hinter sich her, während eine Blutspur zurückblieb. Kai dachte er käme zu spät, beinahe hätte er vor Zorn aufgeschrien, bis ihm auffiel, wie sich die Lippen des Mädchens bewegten und sie leise um Hilfe flehte. Sie lebte noch...

Kai zog die Brauen zusammen. Wenigstens hier wollte er nicht machtlos sein. Er konnte dieses Mädchen retten. Der Griff um das Tantō wurde fester. Kai zog sich vollends die Mauer hinauf, balancierte vorsichtig näher und als einer der Männer seinen Schatten auf sich bemerkte, erkannte er einen milchigen Blick. Er rief sich in Erinnerung was Dragoon gesagt hatte. Die Toten sind tot…

Er durfte jetzt nicht menschlich denken, andernfalls musste dieses Kind aufgrund seiner Schwäche sterben. Der Mann öffnete den Kiefer, klackerte damit wie eine schaurige Gestalt. Er entließ den Knöchel des Mädchens und sein Kumpan folgte ihm prompt. Kai tat einen tiefen Atemzug.

Dann sprang er die Mauer herab. Die Klinge drang tief in den Schädel des Mannes ein. Er unterdrückte jegliches Würgen. Jede noch so kleine Gefühlsregung.

Jetzt, in diesem Moment, konnte er sich glücklich schätzen in der Abtei gelandet zu sein, andernfalls hätte er nicht die Kraft aufbringen können, sämtliche Emotionen in seinem Inneren im Keim zu ersticken, die sich gegen das hier sträubten. Er konzentrierte sich lediglich auf sein Ziel. Dieses Mädchen retten. Einmal sollte die verdammte Abtei für etwas gut sein.

Die Klinge blieb im Kopf seines Gegners stecken. Der Mann klappte ächzend zusammen. Der nächste Angreifer folgte schon. Ein Junge. Definitiv jünger als Kai. Er stolperte in seine Richtung. Das blasse Augenpaar war auf ihn fokussiert, während Kai nur daran denken konnte, dass dieser Junge so furchtbar früh sterben musste. Das alles nur wegen seinem Bit Beast.

Er richtete sich auf, zog den nächsten Dolch aus seinem Hosenbund und näherte sich dem bemitleidenswerten Kerl. Mit jedem Schritt sprach er sich Stärke zu. Kai hätte angenommen, dass nach dem ersten Gegner, der Zweite ihm leichter fallen würde. Dem war ganz und gar nicht so.

Es fühlte sich furchtbar falsch an. Er hatte keine Ahnung wie leichtfertig Dragoon das hinnehmen konnte. Dieses Wesen stammte eben doch von einer Bestie ab. Er tat einen tiefen Atemzug.

Es kostete ihn viel Überwindung die Klinge zu heben.

Bis zur letzten Sekunde verharrte er unschlüssig, dann, als es nicht mehr vermeidbar war, nahm er alle Kraft aus sich heraus und rammte dem Jungen den Dolch gegen die Brust. Er hielt die Augen geschlossen. Alles in ihm sträubte sich, seinem Gegner ins Gesicht zu schauen. Er rührte sich aber noch immer, zog an Kais Oberteil. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als ihn gegen die Mauer zu pressen und ihm den Dolch gegen die Schläfe zu rammen. Das hatte sich bei dem anderen Kerl schließlich bewährt. Und schon erschlaffte der Körper…

Kai atmete stockend aus, als der Junge von der Mauer herabrutschte. Er kniff die Augen mehrmals zusammen, weil wieder Blutspritzer sein Gesicht trafen. Dann geschah eine ewig lange Zeit nichts. Es war wie bei Hana gewesen. Kai musste erst so richtig begreifen, was er da getan hatte. Seine Finger fuhren an seine Stirn. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Ihm schlug das Herz bis zur Brust.

Das er wirklich das Kalkül besaß, um zu so einer Gewalttat fähig zu sein…

Irgendwie machte ihm das selbst Angst. Kai schaute in den Himmel auf.

Erst als das Wimmern des Mädchens an sein Ohr klang, fand er aus seiner Starre heraus. Sein Kopf wandte sich seitwärts, wo die Kleine in ihrer kindlichen Schuluniform lag. Sie war leichenblass. Als Kai sich zu ihr herabbeugte und ihr Gesicht vorsichtig tätschelte, schütte sie den Kopf unwillig.

„Mama… Mama, hilf mir.“

„Hey, Kleine wach auf.“

Seine Stimme bebte. Er konnte sich noch so sehr bemühen, es gelang ihm nicht, sie stabil zu halten.

Außerdem zitterten seine Finger, wenn auch nur minimal.

„Ich will Heim. Papa?“

Diese verzweifelten Worte ließen ihn schwer seufzen. Er redete sich ein, allein deshalb das Richtige getan zu haben, auch wenn es sich nicht so anfühlte. Das Mädchen klang erschöpft. Er würde sie auf keinen Fall zurücklassen. Obwohl sie Jana kaum ähnlich sah, erinnerte die kleine Momo ihn auf sonderbarerweise an sie. Kai hob das Mädchen behutsam auf seine Arme. Zunächst wandte sich ihr Kopf aus kleinen Augen der Umgebung zu, bis er erschöpft auf seiner Schulter zum Erliegen kam.

„Sie haben Mama mitgenommen.“, flüsterte sie aus tränenerstickter Stimme an Kais Ohr.

Einen Moment dachte er tatsächlich nach, ob er ihre Mutter suchen sollte. Doch eigentlich wusste Kai, was das bedeutete.

„Dich nehmen sie nicht mit.“

Er tätschelte ihr etwas unbeholfen den Rücken, bis sie ein ersticktes Fiepen von sich gab. Als er in ihre Blickrichtung schaute, wusste er, weshalb sie so reagierte. Es tauchten Schatten hinter der nächsten Ecke auf. Sie fielen auf den Gehweg. Ohne weiter zu überlegen, schob er das Kind auf seinen Rücken und kletterte mit ihr im Schlepptau, die Mauer empor. Kai landete wieder auf der Rückseite des Gebäudes, wo er so damit beschäftigt war, das Mädchen durch das Fenster zu zwängen, das ihm entging, wie hinter der Mauer, die vermeintlich niedergestreckten Angreifer wieder auf die Füße kamen.
 


 

*
 

Der Junge hatte ihn aus dem Konzept gebracht mit seinem plötzlichen Auftauchen. Dragoon war ziemlich nah an Dranzers Hülle herangekommen, an diesen Knäuel aus leblosen Menschen, die sich um sie scharrten, als er auch schon den Klang der Tür vernahm. Schon musste er wieder auf Rückzug gehen, war in weiten Sätzen zurückgesprungen, nur um den Jungen zu packen und ihn vor Dummheiten zu bewahren. Das hatte ihn furchtbar wütend gemacht und so waren die Worte an Kai dementsprechend düster ausgefallen. Dieser Bengel konnte einfach nicht hören…

Inzwischen hatte sich ein ganzer Haufen aus leeren Körpern im Hof gebildet. Es wurde so viel, dass das Eingangstor dadurch verstopft wurde, wie bei einem Rinnsal das zu viele Blätter führte. Dragoon stampfte mit den Füßen hart auf. Er war noch nie ein Fan von Müll gewesen, also wurde es Zeit, Dranzer ihren wieder vor die Haustür zu legen. Seine Finger spreizten sich. Dragoons Augen leuchteten auf, dann beschwor er eine Sturmböe herauf, die sämtliche abgetrennten oder enthaupteten Körperteile in ihre Richtung fegte, samt jedem Gegenstand, der nicht fest genug an seinem Platz saß. Die Nachbarhäuser bekamen einiges ab. Dragoon hörte splitterndes Glas, als die herumwehenden Geschosse durch Scheiben rasten. Doch das war ihm nicht genug…

Es wurde Zeit dieses Versteckspiel zu beenden. Er hatte die Schnauze voll sich mit dem Fußvolk zu befassen. Die feige Henne sollte endlich wieder hervortreten. Dranzer musste endlich wieder anfangen, ihre Energie zu verschwenden, bevor Dragoon am Limit angelangte.

Ihm war irgendwann klar geworden, weshalb sie ihre Handlanger auf ihn loshetzte.

Sie musste bemerkt haben, dass die gesammelte Energie nicht ausreichte, um ihre Armee zu lenken und gleichzeitig ihre Feuerattacken zu verwenden. Das war Dragoon bei der ersten Runde bereits aufgefallen, als einige ihrer Helfer wie die Eintagsfliegen umkippten. Sicherlich hatte es auch damit zu tun, dass Dranzer nicht auf reine Energie zurückgriff, sondern auf zweitklassige. Dadurch das sie Menschen angezapft hatte, die nicht zu ihrer Seele passten, hielt ihr Vorrat nicht lange genug.

Und nun spielte sie auf Zeit…

Dranzer versteckte sich hinter ihren Helfern, die wie eine schützende Mauer um sie herum standen, während Dragoon sich nur weiter verausgabte. Das durfte nicht so weitergehen. Auch Takaos Energie war begrenzt. Also legte Dragoon noch eine gewaltigere Böe nach, um die Karten ordentlich durch zu wirbeln. Da kam endlich Bewegung ins Spiel. Die Grundstücksmauer bröckelte. Die Ziegel der benachbarten Häuser flogen von den Dächern. Alles was nicht niet- und nagelfest war, wurde herausgerissen und als Wurfgeschoss verwendet. Das schloss auch die herumliegenden Körper ein. Mit einem gellenden Schrei warf Dragoon alles in Dranzers Richtung, was seine Winde zu fassen bekamen. Es riss eine klaffende Wunde in ihre Verteidigung. Das war seine Chance…

Genau darauf hatte er hingearbeitet. Er hatte nur einen Versuch und er musste schnell handeln, da dieser Angriff voraussetzte, dass er sich vom Eingangsbereich des Dojos entfernte. Die Tür durfte nicht zu lange ungeschützt bleiben.

Dragoon schoss vor. Verließ damit seinen Posten. Auf seinem Weg zu Dranzer, blitzten die raschen Bewegungen des Katanas immer wieder auf, sobald ein Gegner seine Bahn passierte. Er tat einen beherzten Sprung, um über einen Haufen Geröll hinwegzukommen. Während dem Fall machte er sich bereit. Er setzte das Katana an, fokussierte die hünenhafte Gestalt, die mit ausgestreckten Händen ihre Diener herumscheuchte, wie ein Dirigent. Der Mann war mindestens zwei Köpfe größer als Takao. Er musste auch weitaus älter sein, besaß wettergegerbte Haut, war aber auch mit strammen Muskeln bepackt. Womöglich war er einmal Fischer gewesen. Jemand der seine Arbeit stets im Freien verrichtete. Und nun dazu verdammt Dranzer als Behausung zu dienen…

Die Augen öffneten sich langsam. Einen Fehler hatte sie schon wieder gemacht. Diese Hülle war vielleicht ein ziemlicher Koloss, besaß aber sicherlich nicht Takaos Flinkheit, so stämmig wie er war. Dragoon sauste rasend schnell zu ihm herab. Er sah wie Dranzer einen Arm schwerfällig vor das Gesicht schob, doch schon war das Hindernis abgesäbelt und die Klinge stieß auf die Schädeldecke des Kerls.

„Hab ich dich!“, rief Dragoon triumphierend aus.

Die Handfläche flog zu Boden, offenbarte ihm das Gesicht dahinter. Er hatte das Katana dem Hünen bis zwischen die Brauen gerammt. Der Moment indem er die Augen seines Gegners endlich erblickte, war jene Sekunde, in der Dragoon die Verwechslung erkannte.

Milchige Pupillen. Es war auch nur ein Diener gewesen. Weshalb sollte Dranzer einem ihrer Helfer eine solche Leibgarde zur Verfügung stellen? Da wurden Dragoons Augen weiter.

Natürlich um ihn auf die falsche Fährte zu locken…

Eine böse Finte. Nichts weiter.

Sein kurzes Entsetzen über seine eigene Dummheit, wurde ihm sofort zum Verhängnis. Der Hüne holte mit der anderen Faust aus und verpasste ihm einen Schlag, der sich gewaschen hatte. Takaos Körper schrie vor Schmerz auf, als die Finger sich in seine Wange gruben und zum ersten Mal fühlte Dragoon, dass der Junge sich gegen die Besessenheit auflehnte. Es wurde ihm zu viel. Der ständige Schmerz ließ seinen Geist erwachen. Als würde man eine ohnmächtige Person wecken wollen, indem man ihr Ohrfeigen verpasste. Dragoon stolperte zurück, jemand packte ihn von hinten, hielt ihn im Würgegriff. Als der nächste Fausthieb sich anbahnte, hob er die Klinge, um sie dem Hünen in die Brust zu stoßen. Es hielt den Riesen für einige Sekunde auf Sicherheitsabstand. Da rammte Dragoon ihm auch schon den Fuß in den Magen, dass der Koloss nach hinten stürzte.

Es verschaffte ihm Zeit…

Zeit die er brauchte, um seine Hand auf die Brust zu legen und für eine winzige Sekunde, Takaos schlafende Seele zu beschwichtigen. Wann immer der Junge sich gegen ihn auflehnte, fühlte Dragoon, wie er die Kontrolle über den Körper verlor, seine Arme nicht die Bewegungen ausführten, die er wollte, sondern Takaos Wunsch nachkamen, sich vor den Hieben zu schützen. Sein Herz raste dann so schnell. Selbst die Schläfen pulsierten wie verrückt, hämmerten ununterbrochen gegen die Seite seines Schädels, dass es ihm die Sicht verschwamm.

„Du schaffst das Takao. Mach es für deine Familie.“, krächzte Dragoon inmitten des Würgegriffs der ihn hielt. Da wurde der Junge endlich wieder ruhig. Es ließ ihn erleichtert Keuchen. Dann hatte Dragoon schlagartig wieder die Kontrolle. Er verpasste seinen Hintermann einen gezielten Ellbogenhieb. Sobald der Griff um seinen Hals sich lockerte, machte er ihn einen Kopf kürzer. Der Hüne versuchte inzwischen sich noch einmal ungelenk aufzustemmen, als ihm dasselbe Schicksal widerfuhr. Es folgten noch einige weitere von Dranzers Handlangern, die Dragoon rasch in die Knie zwang. Vor dem Eingang des Dojos war die Straße ziemlich eng geworden, so sehr, dass er bald meinte, es schnüre ihm die Luft ab. Also beschwor Dragoon einen kurzen Sturm herauf, um sämtliche Angreifer gegen die umliegenden Grundstücksmauern zu schleudern. Dann stieß er sich weit in die Luft, um sich einen Überblick über das Schlachtfeld zu verschaffen. Seine Augen huschten über die Menschenmeute die dort unten torkelte. Irgendwo musste Dranzer doch stecken.

Da schnalzte er erbost. Der Blick von hier oben verriet ihm endlich, was sie hier trieb. Innerhalb der Gassen hatten sich einige dieser besonders dicken Menschenknollen gebildet. Immer mal wieder stach ihm ein Pulk ins Auge, worunter Dranzer wohl eine ihrer Finten versteckt hielt. Es war wie bei einem Hütchenspieler. Man wusste nicht unter welchem Becher sich die Kugel befand. Der Einzige der dabei draufzahlte war aber Dragoon. Wenn er sich von Finte zu Finte schlug, würde er sich rasch verausgaben. Und Takao wollte wieder die Gewalt über seinen Leib…

Darauf setzte sie wahrscheinlich. Das der Junge es nicht mehr aushielt. Doch etwas ließ ihn auf einmal stutzen. Es war sonderbar, dass sie ihn jetzt nicht angriff. Die Erfahrung hatte schließlich gezeigt, dass er eine gute Zielscheibe abgab, wenn er sich in der Luft befand. Jeden Moment erwartete Dragoon den brodelnden Klang eines Feuerballs. Doch der Vorbote blieb aus.

Weshalb griff sie nicht an?

Sollte er wieder zum Eingang des Dojos gehen?

Darauf warten das Dranzer von alleine zu ihm kam…

Er durfte jedenfalls nicht noch tiefer in die Menschenmeute hineinrennen, dann würde er das Anwesen und seine Bewohner ungeschützt lassen. Dragoons prüfender Blick schnellte hinter ihn, da fiel ihm erneut etwas Sonderbares auf. Die ganze Zeit über, während er sich außerhalb der Mauern des Anwesens befand, hatte kein einziger von Dranzers Handlangern die Gelegenheit genutzt, um unbemerkt auf das Grundstück zu gelangen. Alle gingen gezielt auf ihn los. Man hätte doch meinen sollen, Dranzer wäre intelligent genug, um bei dieser Gelegenheit an ihr Menschenkind heranzukommen. Da schlug eine Frage in seinen Kopf ein. Es war wie ein gleißender Blitz.

Warum war Kai vorhin hinausgegangen?

Er schien auf die Rückseite des Hauses zu zusteuern.

Was war so wichtig gewesen, dass er die Sicherheit des Dojos verließ, um dorthin zu gelangen?

Dragoons Augen wurden weiter. Sein Blick huschte für eine Sekunde nochmal hinab. Noch immer kein Angriff. Alles was er sah, waren tote Augen, kalte Körper und Arme die sich zu ihm in den Himmel streckten, als würden diese Wesen dort unten darum flehen, erlöst zu werden.

„Raffiniertes Miststück…“, flüsterte er. Dann schoss Dragoon wieder zu Boden, direkt vor dem Eingang zum Dojo. Er ignorierte das Stöhnen der Meute von außerhalb, die sich nun wieder durch sämtliche Öffnungen in der Grundstücksmauer zwängten, um zu ihm zu gelangen. Stattdessen rannte Dragoon zur Tür. Er riss sie zur Seite. Es geschah so heftig, dass die Schiebetür aus ihrer Schiene brach. Sein Blick irrte durch den Raum, blieb an einer Person hängen. Er konnte förmlich fühlen, wie Takao in seinem Inneren vor Erleichterung aufseufzte.

Da war Kai. Heil und unversehrt…

Der Junge musste kurz zuvor vor dem alten Großvater gekniet haben, um seine Wunde zu überprüfen. Er erhob sich langsam. Seine Augen bedachten ihn ernst. Er konnte die stumme Frage darin vernehmen, die Forderung um eine Erläuterung für sein stürmisches Auftauchen. Dragoon erhaschte die leicht zusammengezogen Brauen in dessen Gesicht. Dieser Junge konnte einfach nie erfreut schauen. Im Gegensatz dazu starrte der alte Großvater wieder drein, als sei einer der Toten hereinspaziert. Sein altersgeprüfter Blick huschte – warum auch immer – an seiner Statur vorbei.

Seine Schwester stand dicht neben Kai. Sie drängte sich an seine Seite. Er konnte ihre kleinen Finger sehen, wie sie nach seiner Hand griffen. Einer ihrer Knopfaugen blinzelte furchtsam zu ihm herüber, während die andere Gesichtspartie hinter Kais Hosenbein verschwand.

„Klingt nicht so als ob du da draußen fertig wärst…“

Die Stimme ihres Bruders klang streng. Offensichtlich ging es ihm nicht schnell genug. Er wartete förmlich darauf, dass Dragoon mit der Botschaft eintrat, dass Takao von jetzt an entlassen wurde. Den Gefallen konnte er ihm noch nicht tun. Sein Blick schweifte über seine Schulter. Die ersten Gegner strauchelten schon wieder über den Hof auf ihn zu. Zugegeben, er war ganz froh, dass alle noch wohlbehalten waren, dennoch kam ihm etwas merkwürdig vor. Dranzer heckte doch irgendetwas aus…

Ein weiterer wachsamer Blick in den Raum und da wurde Dragoon sich der neuen Person im Raum bewusst. Fast gänzlich verdeckt hinter den anderen Menschen, erhaschte er lediglich die Fußspitze eines schwarzen Schuhpaares, was vorher nicht da gewesen war. Seine Augen wurden zu Schlitzen.

„Wen versteckt ihr da?“

Er sah Kai überrascht blinzeln. Dann verschränkte er missbilligend die Arme vor der Brust und schaute von ihm weg: „Hier wird niemand versteckt. Das ist nur das Nachbarsmädchen.“

„Die war aber vorhin nicht da.“

Anstatt ihm zu antworten, schnalzte der Bengel nur abfällig.

„Tidom… Das Momo. Momo hat Mama verlore.“, erklärte Kais Schwester mit großen Unschuldsaugen. Zunächst begriff Dragoon nicht, dass sie ihn ansprach, bis ihm klar wurde, dass das Mädchen noch Takao in ihm sah. Da erklärte sie auch schon schüchtern: „Jetzt bei uns bleiben. Kai gerettet hat.“

Sein Blick schnellte zu ihr. Jana gab ein furchtsames Quieken von sich und huschte noch weiter hinter ihrem Bruder zurück. Etwas an ihm schien ihr Angst zu machen, auch wenn Dragoon nicht verstand, was es war. Irgendwann spürte er etwas sein Kinn hinabwandern. Er wischte es mit seiner Handfläche weg und sah auf das zurückgebliebene Blutrinnsal.

„Ich entscheide ob sie bliebt.“, sprach er dessen ungeachtet.

Dragoon schritt zielstrebig in den Raum, bis sich Kai in den Weg stellte.

„Was ist dein Problem?“, wollte er wissen.

„Das Mädchen sehe ich mir mal genauer an.“

„Hast du nicht besseres zu tun?“, er nickte hinaus.

Es klang als wolle Kai ihn rauswerfen. Frecher Bengel…

„Aus dem Weg, Junge.“

„Ich bin kein Junge! Was stört dich überhaupt an dem Mädchen?“

„Sie könnte Dranzer sein, du dämlicher Narr!“

Für einen Moment zuckte Kai zurück. Er wandte sich zu dem Kind um, dass jedoch verschüchtert näher an den Großvater rückte. Da bekam Dragoon auch endlich mehr von ihr zu sehen. Sie trug eine dunkelblaue Matrosenschuluniform, besaß pechschwarzes Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte, mit einem akkuraten bauschigen Pony vor der Stirn. Das Mädchen wirkte wie die Unschuld in Person. Etwas was Dragoon umso verdächtiger vorkam – Kai aber scheinbar nicht.

„Das Kind fliegt hinaus.“

„Nein!“, Kai stellte sich schützend vor ihr auf und selbst der Großvater hielt einen Arm vor sie. „Hier wird kein wehrloses Kind auf die Straße geworfen!“

„Mit der Kleinen stimmt etwas nicht!“

„Wenn sie Dranzer wäre, hätte sie uns doch längst angegriffen!“

„Woher willst du wissen ob das nicht noch kommt?“

„Sie ist schon seit einer viertel Stunde hier. Wir wissen beide das Dranzer nicht viel Zeit bräuchte, um uns alle umzubringen!“

Dragoon starrte seinem Gegenüber in die Augen, dessen kleine Schwester dicht hinter ihm stand. Beide Mädchen waren fast im selben Alter. Das zielte ja förmlich auf Kais Schwachpunkt…

„Lass sie mich anschauen!“, kam der herrische Befehl.

„Nein! Sie hat genug mitgemacht! Hast du dich einmal angesehen? Du lässt Tyson wie einen wahnsinnigen Metzger aussehen! Selbst Jana hat Angst vor dir und das obwohl sich beide zuvor so gut miteinander verstanden haben. Dein Anblick wird ihr auf ewig im Gedächtnis bleiben!“

„Dranzer kennt dich! Sie weiß welchen Knopf sie drücken muss, um dein Mitgefühl zu bekommen!“, fauchte Dragoon ihn an. „Sich in einen Körper zu zwängen, der an deinen Beschützerinstinkt appelliert, schreit förmlich nach ihr!“

„Dann hätte sie schon viel früher gehandelt!“

„Ihr Menschen seid doch so leicht zu verblenden!“

Seine Geduld war am Ende. Dragoon packte Kai und stieß ihn zur Seite, dessen Schwester eilig in die nächste Ecke rannte. Sie kauerte sich dort zusammen, da stellte sich auch noch Takaos Großvater in den Weg.

„Wenn da wirklich der große Dragoon in dir steckt, bitte ich dich, dieses Mädchen zu verschonen! Ich kenne das Kind. Ich kenne ihre Familie! Ich bürge für sie! Und Tyson kennt sie au-…“

Was immer er sagen wollte, es blieb unausgesprochen. Mit einer raschen Bewegung stieß Dragoon auch den alten Mann zur Seite, der das Kind zuvor schützend zwischen der Wand und seinem Rücken verborgen hielt. Und genau da geschah es…

Dieser dumme Moment in dem er Dranzer direkt in die Hände spielte.

Als der Körper des Mannes zur Seite fiel, sah er das boshafte Grinsen auf dem zuvor unschuldigen Gesicht. Die kleinen Finger waren ausgestreckt und schon stob aus der Handfläche eine flammende Fontäne hervor. Der Abstand war zu gering, als das Dragoon noch hätte ausweichen können. Er schaffte es nur sich umzudrehen und bekam die volle Wucht in den Rücken ab. Takaos Kleidung brannte lichterloh, die Haut darunter bekam einiges ab. Sein geborgter Körper schrie vor Schmerzen auf. Es war ein abscheuliches Gefühl, als er gegen die Wand krachte. Er roch verbranntes Fleisch.

Takaos Fleisch…

Als er mit einem zornigen Brüllen zu Boden fiel, gelang es ihm noch, die Flammen auf seinem Körper zu ersticken, indem er sich zur Seite rollte. Doch der Schaden war passiert. Dragoons Atemzüge kamen röchelnd. Nicht einmal die Augen konnte er vor Schmerz noch richtig öffnen. Der Blick vor ihm war verschwommen. Er spürte das Takao zurück in seinen Körper kam. Dieser Schmerz war zu heftig, als das der Junge ihn ignorieren konnte. Doch Dragoon versuchte ihn davon abzuhalten, wieder die Kontrolle zu bekommen. Diese Qual würde seinen Verstand wie eine Welle hinwegspülen. Ein Bit Beast konnte mit einem hohen Maß an Schmerzen umgehen. Ein Mensch war dieser Fähigkeit nur bedingt mächtig. Drei Stimmen drangen in jenem Moment in Dragoons Gehörgang.

Die eine gehörte Dranzer. Ihr schallendes Lachen.

Ihre spottenden Worte, weil er nun Schachmatt war. Die andere gehörte dem Großvater. Zwischen den verklebten Augenlidern konnte Dragoon sehen, wie der alte Mann seine gesamte Kraft aufnahm, um Dranzer niederzuringen. Das Ergebnis war, dass sie ihm einen übermenschlichen Stoß verpasste, dass er gegen den Waffenschrank prallte. Es klirrte als die Klingen dicht neben dem bewusstlosen Mann zu Boden stürzten. Dann richtete Dranzer die Handfläche auf ihn. Ihre Augen blitzten vor Genugtuung. Die Worte die sie sprach klangen dumpf und doch konnte Dragoon sie ihr genau von den Lippen lesen: „Das ist für meine Schwester!“

Und es war jener Moment, in dem er die dritte Stimme vernahm. Es war Kais. Dragoon sah den brodelnden Feuerball der auf ihn zuraste. Er roch das verbrannte Holz im Raum.

Und er hörte wie Kai einen Namen schrie.

Nicht seinen. Sondern Takaos…

Der Junge warf sich auf ihn. Er umarmte schützend den geschändeten Körper seines Geliebten.

Und als der nächste Schlag auch ihn traf, schrie er nicht vor Schmerz auf. Es war immer nur Takaos Namen der aus seinem Mund kam. Diese eine Sekunde kam Dragoon so unfassbar lang vor. Er hatte so etwas noch nie erlebt. Für Takao war es ohnehin nun vorbei, weil er so nicht mehr kämpfen konnte. Ein Raubtier das sich verletzt hatte, war zum Tode verurteilt und doch versuchte Kai ihn noch immer zu retten. Als die Attacke verklang, kam keine weitere nach. Dabei wäre es die perfekte Gelegenheit gewesen ihn auszulöschen. Stattdessen kehrte Stille ein…

Eine unheimliche Stille.

Takaos Körper zitterte. Dragoon war unfähig diesen menschlichen Impuls zu unterdrücken. Dennoch schaffte er es aufzusehen, als Kai von ihm hinabrutschte. Der Junge stürzte keuchend zur Seite. Sein Gesicht lag dicht neben seinem. Seine Augen waren fest zusammengekniffen.

Und als Dragoon zu Dranzer schaute, war ihr das Lachen vergangen. Ihre Lippen waren weit geöffnet. Aus geweitetem Blick, der ihr pures Entsetzen ausdrückte, starrte sie auf jenen Jungen, den sie doch eigentlich zu beschützen versprochen hatte, und nun durch ihre eigene Hand schwer verletzt am Boden lag.

Die Minuten verstrichen. Da formten ihre zitternden Lippen nur ein Wort: „Wieso?“

Dranzer umfasste jene Hand, mit der sie geschossen hatte, als sei es eine Waffe, die sie zu verbergen versuchte. „Kai, wieso?“

Es kam keine Antwort. Da schrie sie: „Warum Kai?! Warum tust du das für ihn?!“

Dragoon erhob sich keuchend. Zumindest versuchte er es. Alles was er zu Stande brachte, war, dass er auf alle Vieren aufkam. Seine Haut rauchte noch an einigen Stellen. Der Gestank war widerlich.

„Er hat es nicht für mich getan…“

„Was?“, Dranzer blinzelte verwirrt zu ihm herüber. Dann begriff sie. „Für Takao? Für ihn?!“

„Als hättest du es nicht vorher bemerkt…“

„Ich ahnte das dein Bengel ihm hinterherschmachtet – aber mein Kai doch nicht!“

„Da hast du wohl nicht genau hingeschaut.“, Dragoon setzte sich auf, lehnte sich gegen die Wand. Ein Zischen kam aus seinem Mund, da das Holz in seinem Rücken, direkt auf die Brandwunde drückte. „Es ist beiderseitig. Wärst du nicht so sehr mit deiner Rache beschäftigt gewesen, hättest du bemerkt, was sich die letzten Tage zwischen ihnen entwickelt hat. Beide lieben sich…“

„Er kann ihn gar nicht lieben! Er ist der Spiegel meiner Seele! So wie ich für dich empfinde, muss er auch für ihn fühlen!“

„Muss er das?“, fragte Dragoon. Ein abgekämpftes Lächeln folgte. „Und du hast mich doch auch einst geliebt. Hast du es vergessen?“

Sie starrte ihn geradezu angewidert an, ihre Atemzüge kamen schnaufend. Dann kniff sie die Augen fest zusammen, schüttelte den Kopf Unwillens. Als ein Wimmern aus der anderen Ecke erklang, schwang ihr hasserfüllter Blick zu Jana. Das Mädchen duckte sich ängstlich.

„Diese kleine Hexe ist schuld! Sie hat ihn komplett verdorben!“

Dranzer richtete die zitternde Handfläche auf das Kind.

Da durchbrach auch schon ein Schrei den Raum.

„Nein!“

Dieses kleine Wort schien in jenem Moment unendlich lang.

Vor Dragoon kam Bewegung in den betäubten Körper. Kais rechte Seite war durch den Einschlag versengt. Seine Hände zitterten unkontrolliert, denn von der Schulter abwärts, hatte ihn Dranzer voll erwischt. Seine Kleidung glomm noch an einigen Stellen, entblößte das verbrannte Fleisch darunter. Dennoch vollbrachte es der Junge irgendwie noch etwas Kraft aus seinem geschundenen Leib zu schöpfen. Er hob sich auf die Knie.

„Mach das nicht! Bitte Dranzer!“

Seine Stimme war verletzt, angeschlagen - und tränenerstickt.

Dragoon hatte keine Ahnung, ob es der Schock war, doch zum ersten Mal erlebte er den Jungen vollkommen außer sich. Geradezu verzweifelt, versuchte er zu seiner Schwester zu gelangen. Zunächst auf allen Vieren und als ihm die Glieder versagten, er in sich zusammenbrach, zog Kai sich auf den Händen vorwärts. Seine Finger kratzen auf dem Boden. Und als er sprach, da klang es, als würde er mehr zu sich selbst sprechen. Als würde der Junge wie von Sinnen reden.

„Mach das nicht! Mach das nicht!“, er zog sich weiter vor. Immer seine Schwester im Fokus. „Du darfst sie mir nicht wegnehmen! Sie war der einzige Mensch, der mir einen Grund gegeben hat, nachhause zu kommen! Sie war der einzige Mensch, der jemals daheim auf mich gewartet hat! Sie war immer froh wenn ich nachhause kam! Niemand hat in diesem Haus sonst auf mich gewartet. Niemand! Erst durch sie wurde es endlich ein zuhause!“

Es war ein trauriger Anblick. Dieser zitternde Körper. Wie ein Vogel im Sand dem man beide Flügel gestutzt hatte. Und auch Dranzer starrte mit aschfahlem Gesicht auf Kais Verzweiflungstat. Da schrie er seine größte Furcht hinaus: „Bitte! Lass mir meine Schwester! Lass mir meine Familie!“

Kai zog sich wieder näher voran. Dragoons Blick heftete an seinem rechten Bein. Die Wunde unter dem zerrissenen Stoff, die den Jungen daran hinderte noch aufrecht zu stehen. Die Blutstriemen die er auf dem Boden hinterließ. Und doch ignorierte der Junge jeglichen Schmerz. Alles was er wollte, war zu diesem kleinen Mädchen zu gelangen, was in der Ecke des Raumes seinen Namen wimmerte.

„Nimm sie mir nicht weg, Dranzer! Bitte, nimm sie mir nicht weg!“

Dragoon stockte der Atem. Diese Bitte. Diese Worte. Diese tränenerstickte Stimme…

Natürlich fiel es auch Dranzer auf. Dragoon sah es an der Art wie sich ihre Augen weiteten. Die roten Pupillen zitterten darin. Sie wandte den fassungslosen Blick von Kai ab – und starrte Dragoon an.

Für wenige Sekunden, fühlten sich beide an jenen verhängnisvollen Tag zurück erinnert, der ihre Liebe vernichten sollte. Als Dragoon aus purer Eifersucht den schlimmsten Fehler seines Dasein begann. Er schaute Dranzer eindringlich an. Es war alles wozu er noch in der Lage war, denn sie hatte jetzt eindeutig gewonnen. Er war geschlagen. Sein Körper war verletzt. So konnte er niemanden mehr beschützen. Es bedurfte nur noch eine winzige Attacke und Dranzer wäre am Ziel. Dennoch rührte sie sich nicht, schaute ihm nur unentwegt in die Augen.

„Bitte, Liebes.“, wiederholte Dragoon noch einmal die Worte, die er ihr erst vor kurzem nahegelegt hatte. „Mach nicht die gleichen Fehler wie ich.“

Es wurde still. Alles was man hören konnte, war Kais verzweifeltes Bemühen zu seiner Schwester zu gelangen und deren Wimmern. Dranzer wandte den Blick zu dem Mädchen. Es hielt die Hände schützend über den Kopf, zitterte am ganzen Leib, als befürchtete sie schlimme Schläge von ihr.

Ein kleines, armes Geschöpf, was nicht einmal wusste, was es falsch gemacht hatte, um ihren Zorn heraufbeschworen zu haben. Dranzer drehte die Handfläche in ihre Richtung, starrte auf ihre eigenen bebenden Finger.

„Nein…“, hauchte sie. In ihrer Stimme schwang pures Entsetzen mit.

Da vernahm Dragoon auch einen Laut von draußen. Schwerfällig gelang es ihm, seinen Schädel zur Seite zu drehen, aus einem Auge hinauszuspähen. Genau wie Dranzer mussten auch ihre Diener die letzten Minuten erstarrt gewesen sein. Nun fielen sie. Einer nach dem anderen. Sie klappten im Hof in sich zusammen, wie die leblosen Puppen die sie eigentlich waren. Inzwischen senkte Dranzer die Hand. Sie wich zurück, schüttelte immer wieder den Kopf.

„Nein!“, kam der ungläubige Ausruf. „Oh bitte, nein!“

Sie presste beide Hände fest gegen ihre Brust, wich weiter von den Geschwistern fort.

„Was mache ich nur hier? Was ist nur aus mir geworden?! So wollte ich doch nie sein!“

Ihre Stimme überschlug sich förmlich. Und endlich fiel Dranzer…

Sie sank kraftlos zu Boden, begann zu weinen. Stürzte auf die Knie, als ob die Last ihrer Schuld sie drohte zu erdrücken. Ihr Körper bebte als die Scham sie überrannte. Dragoon vernahm ihre hemmungslosen Schluchzer, sah die Tränenbahnen die wie Bäche über ihre Wangen rollten und wusste dass die nächsten Worte ihm galten.

„Ich bin überhaupt nicht besser als du…“, es war nicht mehr als ein ersticktes Wispern. „Ich bin um ein vielfaches grausamer geworden als du damals!“

Sie vergrub das Gesicht in den Händen. In jenem Moment ließ sie endlich ihre kalte Mauer fallen.

Vorbei war es mit dem Stolz. Vorbei war es mit dem Hass. Endlich hatte Dranzer eingesehen, dass ihre Rache sie zu dem Wesen machte, das sie nie sein wollte…

Dass sie ihr eigenes Menschenkind in dieselbe Situation manövriert hatte, die sie einst erleiden musste. Damals, als Dragoon mit Wolborg fortflog. Und Dranzer unter Tränen hinterherflatterte. Schwerverletzt. Verzweifelt. Mit gebrochenem Herzen. Als sie sich von ihm verraten vorkam. Als sie Dragoon dieselben Worte hinterherschrie, wie Kai ihr gerade. Wie makaber. Offenbar teilten Bit Beast nicht nur dieselbe Seele mit ihren Kindern, sondern auch deren Schicksal. Es ließ Dragoon für einen Moment die Augen schließen.

„Nein, Liebes.“, er versuchte sich aufzurichten. „Du warst nicht immer so. Einst warst du so unglaublich liebreizend, ich konnte den Blick kaum von dir abwenden. Doch dann… Dann habe ich dich wohl kaputt gemacht.“

Seine Hand fuhr an den hölzernen Paneelen hinauf. Er zog sich an der Wand auf, stütze sich einen Moment ab, bevor er schweratmend fortfuhr: „Alles was du heute bist… Dieser ganze Hass den du in dir trägst. Es geht auf mein Konto. Es ist allein meine Schuld! Ich habe dich so gemacht. Ich war ein furchtbarer Partner.“

Sie schaute zu ihm auf, blinzelte aus feuchten Augen zu ihm. Kein Spott. Keine Häme mehr.

Zum ersten Mal seit langem, war sie willens sich zumindest anzuhören, was er sich von der Seele sprach. Sowie Dragoon zum ersten Mal die Courage besaß, sich endlich seine vielen Mängel einzugestehen.

„Was ich getan habe – es mag grausam gewesen sein. Doch auch wenn du mich hasst, Liebes, musst du mir eines glauben. Ich habe nie so gehandelt, weil ich dir wehtun wollte. Ich wollte dich ganz einfach nur befreien. Ich wollte dich für mich. Ich wollte keine Minute von dir jemand anderem überlassen. Wir Drachen können vieles gut… Doch das Teilen liegt uns leider nicht. Wir sind wohl Egoisten wenn es um Dinge geht, die wir lieben.“

Dranzer schaute auf ihre Hände herab. Sie lagen offen auf ihrem Schoß. Ihr Blick wirkte leer.

„Warum hast du mir das bloß nicht damals gesagt? Warum musste es erst so eskalieren?“

„Weil ich nicht wusste, was das ist, was mich so empfinden lässt!“, er tat einen Schritt auf sie zu. „Ich lerne erst wie man liebt. Wie ein Kind das erst lernen muss, wie man läuft.“

Eine ihrer Tränen fiel auf den Boden. Ihm kam es vor als müssten sie heraus, wie bei ihm damals, als er mit dem Totenbaum sprach. Irgendwann sprach sie: „Ich habe mich selbst ausgelöscht. Diese Rache hat alles was ich einst war von meinen Knochen abgenagt.“

Dragoon schaute sie bedauernd an.

„Vielleicht kannst du wieder so werden wie früher.“

„Ich kann doch gar nichts mehr außer Hass fühlen…“

„Nein. Das glaube ich nicht. Du hast Kai geliebt.“

„Und was hat es ihm gebracht?“

Dranzer schaute aus mitleidigem Blick zu ihrem Menschenkind, das es endlich vollbracht hatte, zu seiner Schwester zu gelangen. Kai schien ihre Unterhaltung gar nicht mehr richtig zu begreifen. Er zog sich mit letzter Kraft an der Wand hinauf, nahm das verstörte Mädchen in eine behutsame Umarmung und sank mit ihr in der Ecke zusammen. Als wäre sein Körper nur noch dafür zu gebrauchen als Schutzschild für sie zu fungieren.

„Sieh ihn dir nur an… Ich habe mein eigenes Menschenkind verletzt. Er wird auf ewig entstellt sein.“

Dragoon torkelte schwerfällig auf sie zu, unterdrückte Takaos Wunsch zurückzukommen. Er hatte Dranzer nun dort, wo er sie brauchte. Jetzt würde er endlich zu ihr durchdringen. Sie würde mit ihm Heim kommen. Sie würde ihm helfen diese Welt zu retten. All die Opfer wären nicht umsonst…

Dragoon sank vor ihr auf die Knie. Er bedachte die kindliche Gestalt in der sie steckte. Wie Dranzer so ihre stummen Tränen vergoss, kam sie ihm ebenfalls wie ein verletzliches Mädchen vor. Er griff nach ihrer Hand, drückte die zarten Finger ganz fest. Seine eigene Hand war verbrannt. Dranzer entzog sich ihm dennoch nicht. Es war das erste Mal seit Jahrtausenden, dass sie eine Berührung von ihm wieder ohne Klage gestattete.

„Ich habe meinem Menschenkind auch vieles zugemutet.“

„Du wolltest mich aufhalten. Du hast mich gewarnt. Du hast gesagt, dass ich dabei bin, dieselben Fehler wie du zu machen. Das ich verblendet bin vor Zorn….“, ein enttäuschtes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Ihr Kopf neigte sich beschämt zu Boden. „Und ich? Was tue ich? Ich mute meinem Menschenkind dieselben Grausamkeiten zu, wie ich sie durch dich erlebt habe – und bin auch noch der festen Überzeugung besser als du zu sein!“

Ihre Schultern bebten.

„Ich wollte meinem Kai seine Schwester wegnehmen! Obwohl ich genau weiß wie weh das tut! Wie konnte ich das nicht bemerken? Was bin ich nur für ein furchtbarer Schutzgeist?!“

Dragoons Hand griff nach ihrem Kinn. Er hob es zärtlich an.

„Ich war ein furchtbarer Partner. Du ein furchtbarer Schutzgeist. Wir sind schon ein furchtbares Gespann zusammen, findest du nicht auch?“

Dranzer blinzelte aus feuchten Augen zu ihm auf. Und lachte…

Ein kurzes verzweifeltes Lachen - auch wenn es doch amüsiert klang.

Manchmal war das Leben so schrecklich, dass einem nichts anderes blieb, als über sein Pech zu lachen. Früher hatte sie ständig über seine Bemerkungen gelacht. Sie hatten so viel herumgealbert.

Dragoon strich ihr über den Handrücken. Er tat einen tiefen Atemzug.

„Die letzten Tage haben wir so viel Schaden angerichtet. Lass uns zur Abwechslung einmal etwas Gutes tun. Komm mit mir mit, Liebes. Lass uns Heim gehen. Wir beide zusammen können diese Welt retten. Das Beste was wir für unsere Menschenkinder tun können, ist ihnen eine heile Welt zu schenken.“

Dranzer antwortete nicht. Sie schaute zu Kai. In ihrem Blick lag viel Trauer.

Und irgendwann schüttelte sie den Kopf.

„Es ist zu spät für mich…“

„Nein. Wir können-…“

„Es ist zu spät für mich.“, sie drehte ihre Hände in seinen, sodass ihm der Blick auf die Flächen ermöglicht wurde. Es raubte Dragoon den Atem. Seine Augen weiteten sich vor blankem Entsetzen.

„Nein!“

„Ich habe mein Menschenkind entstellt. Ich habe ihn verletzt...“

Dragoon packte ihre Hände. Als hätte es irgendeinen Nutzen begann er über die geschundene Haut zu reiben. Dranzers Adern. Sie färbten sich pechschwarz, als würden sie kein Blut, sondern nur noch zähflüssigen Teer führen. Die Strafe für jedes Bit Beast, was aus purer Boshaftigkeit das Kind, dass es zu beschützen geschworen hatte, angriff.

„Das kriegen wir hin, Liebes!“

„Nein, tun wir nicht…“

„Doch! Er lebt noch! Du hast ich nicht getötet!“

„Ich habe ein Tabu gebrochen.“

„Gib nicht auf!“

Doch es gab kein Halten mehr. Dranzers Fleisch verfärbte sich. Ihre Finger wurden spröde, bekamen Risse. Es war nicht wie sonst, wenn sie nach einem schweren Kampf ihre Energie sammelte, indem sie zu feiner Phönixasche wurde, um daraus erholt hervorzukommen.

Ihre Hand wurde steinhart. Sie wurde zu Stein!

Die rabenschwarzen Finger bildeten nur den Anfang. Bald zogen sich die verkommenen Adern bis zu ihrem Hals auf. Voller Verzweiflung packte Dragoon ihren Arm, als könne er dadurch verhindern, dass die Versteinerung sich ausbreitet. Stattdessen war sein Griff so grob gewesen, dass beide Arme abbrachen. Sie fielen klackernd zu Boden. Dragoon keuchte entsetzt auf.

„Nein!“, schrie er verzweifelt. „Das darf doch nicht wahr sein! Nein! Nicht jetzt!“

Das Gestein hatte Dranzers Hals erreicht. So vorsichtig wie irgendwie möglich, umgriff er ihre Wangenknochen. Ihm traten die Tränen in die Augen. Er war eines der mächtigsten Wesen, dieses Planeten und konnte nur dabei zuschauen, wie jeme die er am meisten liebte versteinerte.

„Sag mir was ich tun kann, Liebes?! Sag es mir! Wie kann ich dir helfen?!“

Dranzer lächelte traurig. Dann sank ihre Stirn langsam gegen seinen Kopf.

„Erinnerst du dich, an die Zeit, als du mir das Fliegen beigebracht hast?“

„Wie könnte ich die vergessen?“

„Weißt du auch noch des Nachts… Wie du mich da gehalten hast?“

Selbstverständlich wusste Dragoon das noch. Er würde niemals auch nur eine einzige dieser Nächte vergessen, in jenen er in seiner Drachengestalt schützend Dranzers zierlichen Körper umschlungen hatte. Er hob die Arme. Es war vielleicht nicht dasselbe, doch als sie gegen seine Brust sank, stieg ihm immerhin wieder ihr Duft in die Nase. Selbst der sterbliche Körper in jenem sie festsaß, konnte nicht ihren wahren Geruch überdecken. Nach Feuer, Sonnenschein und heißer Glut…

Dragoon platzierte vorsichtig sein Kinn auf ihren Kopf. Er hörte Dranzer wohliges Seufzen.

Für eine Sekunde gab es nur sie beide. Wie damals zu ihren Anfängen.

Er streichelte ihr tröstend über das Haar – weil es das einzige war, was Dragoon für sie tun konnte.

Dann hörte er ihre letzten Worte: „Verzeih mir…“

Es klackte. Etwas brach.

Da fühlte er wie der Körper in seinen Händen zerfiel.

Steinklumpen für Steinklumpen. Sie wirkten wie schwarze Kohlestückchen.

Und alles was Dragoon tun konnte, war mit gequältem Ausdruck darauf zu schauen.

Er nahm die Bruchstücke in die Hand. Ein dicker Kloß entstand in seinem Hals. Als er die Teile gegeneinander hielt, im lächerlichen Irrglauben, Dranzer so wieder zusammenfügen zu können, verschwamm ihm die Sicht. Er fühlte Tränen. In den letzten Tagen hatte er so viel verloren.

Und jetzt auch sie…

Ein Sturm baute sich in ihm auf. Das Gefühl dieser Trauer drohte aus ihm herauszuplatzen. Dragoon ließ es zu. Ein zorniger Schrei brach aus ihm heraus. Er haute auf den Boden. Immer wieder, bis Takaos Fäuste blutig waren. Dragoon bemerkte gar nicht, wie ihn die beiden Geschwister von ihrer Ecke aus beobachteten. Brüllte seinen Schmerz in die Welt hinaus. Als seine Fäuste noch einmal auf die Dielen hauten, hinterließen sie zwei tiefe Kerben im Holz. Dragoon blieb wie er war. Das Haupt nach vorne gebeugt, das Gesicht zum Boden gewandt, die Zähne gefletscht, während auf seinen Wangen Tränenbahnen die Haut benetzten.

Ihm wurde schlagartig bewusst, dass dies das Ende war. Jetzt gab es keinen Ausweg mehr. Und wenn er so darüber nachdachte, wollte Dragoon auch gar nicht mehr weitermachen. Dazu hatte er viel zu viel verloren. Auf makabre Art war ihm der Gedanke seines eigenen baldigen Ablebens ein Trost.

Er erhob sich langsam. Kniff die Augen noch einmal zusammen um den Tränenfilm zu verscheuchen.

Dann spähte er zu den beiden Geschwistern hinüber. Kai lag mehr auf der Wand, als das er saß. Seine Augen waren geschlossen. Er hielt das Mädchen dennoch in seinen Armen, das immer wieder ihre Wange, an seine verbrannte Brust rieb. War er bewusstlos – oder sogar tot?

Die Antwort darauf folgte, als ein leichtes Beben alle im Raum aufhorchen ließ. Kai schlug die Augen auf, als habe man ihn aus dem Tiefschlaf gerissen. Seine Pupillen irrten umher, er blinzelte verwirrt, als alles um sie herum zu wackeln begann. Ein Erdbeben. Doch Dragoon spürte das es mehr als das war. Es war nur ein Vorbote. Etwas wirklich Erschreckendes bahnte sich an. Er schaute zu Kai. Der war zu erschöpft, um sofort zu begreifen, was sich um ihn herum abspielte. Dragoon erhob sich. Er trat hinaus auf die Veranda.

Überall lagen die Überbleibsel von der Schlacht mit Dranzer herum. Vor allem die Opfer.

Dragoons Blick richtete sich in den Westen. Der Fuji war heute wieder besonders schüchtern. Die weiße Bergspitze war durch die Wolkendecke nicht zu erhaschen. Doch das war ohnehin uninteressant. Vielmehr gab es ihm zu denken, was sich unterhalb des Vulkans abspielte. Er spürte wie die Welt den Atem anhielt. Vogelschwärme stoben von dort davon. Die Natur würde sich gleich von ihrer furchterregendsten Seite zeigen. Dann wurde das Beben schlimmer. Es ließ das ganze Haus erzittern und bald schon vernahm Dragoon den Klang von ächzendem Holz.

„Tidom?! Was da los?!“

Dragoon wandte sich um, schaute auf das kleine Mädchen – aber vor allem auf Kai.

Er ahnte es. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet. Das Gesicht wirkte wie eine marmorne Maske. Er klammerte seine Schwester fester an sich. Und als das ohrenbetäubende Donnern kam, kniff der Junge die Augen zusammen. Dragoon hielt sich am Türrahmen fest. Er spürte eine nahende Druckwelle. Noch war sie viele Kilometer entfernt, doch sie war so gigantisch, dass sie selbst die Wolken um den Berg herum auseinanderstob. Auf einmal zeigte der Fuji dass er nicht nur schüchtern sein konnte. Nun erhaschte man auch die weiße Bergspitze. Eine dreckige, dunkle Rauchwolke schoss weit in den Himmel empor. Das war kein gewöhnlicher Ausbruch.

Dranzer war tot. Driger auch.

Gerade die beiden Uralten, die dieses Phänomen kontrollieren konnten.

Dragoon dagegen war zum Zuschauer degradiert worden. Er schloss die Augen, spürte die Katastrophe kommen. Ein gewaltiger pyroklastischer Strom der von dem Vulkan ausging. Der Fuji umhüllte seine Spitze erneut, dieses Mal aber mit einer Gas- und Aschewolke, die an seinen Hängen hinabdonnerte, wie eine giftige Lawine. Der Wind trug Dragoon die Schreie ans Ohr, all jener Menschen, die im unmittelbaren Umkreis des Fujis lebten.

Sie hatten keine Chance. Wie denn auch?

Es gab keine Anzeichen dafür, dass der Vulkan kurz vor dem Ausbruch stand. Keine seismische Aktivitäten die den Menschen dieser Region, einen Hinweis hätten geben können, ein Warnsignal, damit sie ihre Sachen packten und sich soweit es ging in Sicherheit brachten. Sie alle wurden nun von Mutter Natur böse überrumpelt. Sie machte was sie wollte, ohne sich an die von den Uralten auferlegten Gesetze zu halten. Das Erdbeben nahm an Intensität zu. Dragoons innerer Instinkt sagte ihm, dass sie kam. Die Druckwelle. Gefolgt von der giftigen Aschewolke die sich ihr anschloss. Ein schreckliches Paar.

„Halt deine Schwester gut fest, Kai!“

Er wusste nicht ob der Junge es noch tat. Gleich darauf fühlte Dragoon, wie die Druckwelle mit voller Wucht einschlug und das die Erde die Weltmetropole Tokyo teilte.
 


 

*
 

Der Boden war hart und kalt. Tyson lag auf dem Bauch. Seine schmerzende rechte Hand dicht neben seinem Gesicht. Er versuchte seine Finger zu bewegen. Die Haut dort spannte furchtbar. Ihm gelang es nicht, seine Hand zu einer Faust zu ballen. Stattdessen schabten seine Fingerkuppen nur leicht über den Boden. Er fühlte dass eine staubige Schicht an ihnen hängen blieb.

Tyson tat einen tiefen Atemzug und bekam erst einmal einen Hustenanfall. Es ließ ihn endlich aus seiner Bewusstlosigkeit herausfinden. Keuchend schlug er die gereizten Augen auf und würgte angewidert. Beinahe wäre ihm alles hochgekommen, doch er konnte sich gerade noch zusammenreißen. Um sich vor dem herumliegenden Staub zu schützen, schob Tyson den Kragen seines Oberteils über die Nase. Er versuchte sich mit irgendeiner sauberen Partie seiner Kleidung über die Augen zu wischen, um den Dreck von dort zu bekommen, doch musste leider feststellen, dass er von oben bis unten besudelt war. Überall klebte eine dünne graue Schicht an ihm.

Und er hatte Schmerzen…

Es war kaum auszuhalten. Sein Rücken tat besonders weh. Ihm fiel nicht ein, wo er war und was mit ihm zugestoßen war. Alles was sein betäubter Verstand zu Stande brachte, war, ihn auf allen Vieren ziellos umherkrabbeln zu lassen. Unter seinen geschundenen Händen sah er nur grau. Überall dieser Staub. Irgendwann traf er auf ein Hindernis. Er zog sich daran hinauf, doch ihm klappten die Beine weg. Erst beim dritten Anlauf, kam er auf die Füße. War er alleine?

Tyson versuchte sich umzuschauen. Seine Augen irrten über den Anblick den seine Umgebung abgab. Erst langsam kam die letzte Erinnerung in ihm hoch. Er hatte sich auf einen Deal mit Dragoon eingelassen. Allem Anschein nach, musste ihn dieser Irre, in die Vorhölle gebracht haben. Anders konnte er sich dieses Schlachtfeld vor sich nicht erklären. Tyson schloss die Augen, tat durch den Stoff noch einmal einen tiefen Atemzug. Auch wenn es ihn viel Überwindung kostete, versuchte er, die beißenden Schmerzen in seinem Rücken zu ignorieren. Stattdessen ging er auf Spurensuche.

Seine Pupillen irrten von Fleck zu Fleck, um einen Hinweis zu finden, wo er war. Zumindest konnte er sagen, dass er sich in einem Gebäude befand. Es musste aber eingestürzt sein. Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, ob das die Überreste vom Kampf gegen Dranzer waren.

Hatten Dragoon etwa in der Innenstadt gegen sie gekämpft?

Tyson konnte mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass er sich dort zuletzt aufgehalten hatte. Anscheinend hatten die beiden Bit Beast das Heim, irgendeines traurigen Pechvogels verwüstet. Sein Blick forschte weiter. Die obere Etage des Gebäudes schien eingebrochen zu sein. Die Betondecke über ihm lag in Schräglage, als würde er sich unter einer steinernen Plane befinden. Wie das sagenumwobene Damokles Schwert schwebte sie unheilvoll über ihm. Bei ihrem Sturz hatte sie die gegenüberliegende Wand eingerissen und durch einige Ritzen, ließ das einfallende Tageslicht die Staubkörner in seiner Nische tänzeln.

Geröll, Bretter, Holz und auf alles legte sich dieser trockene Staub. Tyson steckte sich den kleinen Finger ins Ohr, den seit er aufgewacht war, hörte er ein nervendes Piepsen darin. Es wurde dadurch aber auch nicht besser. Irgendwann gab er resignierend auf. Stattdessen torkelte er zu dem einzigen Spalt, den er in seiner Nische fand, um einen Blick hinauszuwerfen.

Draußen sah er eine Mauer, die das Grundstück umsäumte. Alles lag unter einem gespenstischen grauen Mantel. Tyson kniff angestrengt die Augen zusammen. Weit weg am Horizont, erhaschte er eine blitzende Wolkendecke am Himmel. Er sah eine kegelförmige Bergkette und da wurde ihm schlagartig klar, was da draußen passierte. Das Wahrzeichen Japans zeigte sich von seiner finsteren Seite. Tyson wich entsetzt zurück. Sein Kopf schnellte in alle Richtungen. Jetzt begriff er erst was das für ein sonderbarer Staub war. Man vermochte kaum zu sagen, ob er vom Einsturz stammte oder von der Asche des Fujis. Tyson prallte mit dem Rücken gegen etwas. Es ließ ihn schmerzhaft aufschreien. Er spürte wie der Dreck seine Schultern hinabbröckelte als etwas sich über ihm lockerte. Ein Husten seinerseits wirbelte den Dreck nur noch weiter auf. Er drohte in Panik zu verfallen. Es war entsetzlich eng hier drinnen war, wie damals in den Stollen des Wurzelpfades. Deshalb kostete es Tyson viel Kraft, dieses bedrückende Gefühl nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Eigentlich wollte er laut schreien.

„Bleib ganz ruhig…“, raunte er sich selbst Mut zu. Tyson lehnte seine Stirn gegen die Betonwand am Spalt, begann von zehn abwärts zu zählen. Es half sogar. Er beruhigte sich allmählich. Als er wieder die Kontrolle gewann, spähte er noch einmal hinaus. Da erhaschte er eine gebückte Gestalt, die durch das Grau stakte. Wer immer es war, humpelte, hielt sich die Brust, während sie die Umgebung untersuchte. Auf einmal beugte sie sich auf und schrie etwas, in blanker Verzweiflung: „TYSON!“

Es ließ seine Kinnlade hinabklappen. Dann erst begriff er wessen Haus das hier war.

Als Tyson sich noch einmal umschaute, wären ihm beinahe die Tränen gekommen.

Was zur Hölle hatte Dragoon nur angestellt?!

Er wollte ihm doch helfen – nicht alles noch schlimmer machen!

Tyson haute verzweifelt gegen die Wand, biss die Zähne zusammen, als der Schmerz seinen Arm hinaufzog. Dann fand er endlich die Kraft, um auf die Rufe seines Großvaters zu reagieren. Er sah wie die gebeugte Gestalt sich abrupt zu ihm umwandte. Inmitten des Ascheregens draußen den man fast mit Schnee hätte verwechseln können. Dann humpelte sein Großvater los. Er steuerte zielsicher in seine Richtung, folgte seinen Rufen.

„Mein Junge! Oh nein, mein Junge!“, er vernahm kraxelnde Laute auf der anderen Seite der Wand, wie ein Hund der an der Tür schabte, wenn er hineinwollte. Einer der größeren Lichtflecken am Boden erlosch und an der dazugehörigen Öffnung spähte das altersgezeichnetes Gesicht zu ihm hinein. Er sah wie die Augen seines Großvaters forschend in seine Nische blickten. Als Tyson ihm die Hand entgegenstreckte, hörte er das erleichterte Aufatmen. Die gebrechlichen Finger packten zu, hielten ihn für einen Moment ganz fest. Es war ein wunderbares Gefühl.

„Tyson! Mein armer Junge… Kannst du dich bewegen?“

Er weinte. Sein alter Herr weinte…

Noch nie hatte Tyson so etwas erlebt. Es riss ihm beinahe das Herz entzwei.

„Ich bin okay.“, er klang wie ein jahrelanger Kettenraucher. Seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. „Was ist denn bloß passiert?“

„So vieles, mein Junge. So vieles…“, sprach sein Großvater wehmütig.

„Wo ist Dragoon?“

„Fort… Glaube ich.“

„Und Dranzer?“

„Ebenfalls weg. Glaube ich.“, er fühlte wie ihm über die Hand getätschelt wurde. „Deine Finger. Sie sind angesengt! Ganz rot...“

Das war ihm vor lauter Asche gar nicht richtig klar gewesen. Ihm tat doch ohnehin alles weh.

„Dann war es das wohl mit meiner Karriere als Pianist.“

Es ließ seinen Großvater verzweifelt auflachen.

„Das dir noch nach Scherzen ist, Junge?“

„Na, weinen hilft ja wohl nicht weiter, oder?“, kam es recht beklommen von Tyson.

„Wohl war. Wohl war…“, er hörte ihn schnaufen. Dann gestand sein Opa: „Ich kann Kai und seine Schwester nicht finden. Die arme kleine Jana.“

Es ließ Tyson geschockt die Hand zurückziehen. Wie konnte er das nur vergessen…

Die beiden waren auch hier gewesen, als er das Anwesen verließ.

„Ich hole Hilfe! Hörst du mich, Tyson?! Allein bekomme ich den Schutt nicht weg, aber ich hole euch da irgendwie heraus! Das schwöre ich dir bei meinem Leben!“, er sah seinen Großvater verzweifelt den Kopf schütteln. „Das kann ich nicht zulassen! Die Alten sollten nicht vor den Jungen sterben!“

„Opa, hör auf! Fang nicht an dir solche Vorwürfe zu machen.“, keuchte Tyson. „Geh! Geh einfach und hol Hilfe! Das ist schon verdammt viel wert.“

„Ja, natürlich. Ich verplempere nur Zeit. Ich beeile mich! Ich komme nicht ohne Hilfe! Halte durch mein Junge, ja?“, seine gebrechliche Hand erschien wieder im Spalt. Tyson packte sie und drückte sie ganz fest, als stummes Einverständnis. Es fiel seinem Großvater schwer ihn loszulassen. Dennoch brachte er irgendwann die Kraft auf und verschwand vor der winzigen Öffnung. Sofort fiel wieder etwas Tageslicht in die Nische, wenn auch nur in bedingtem Maße. Die Sonne schien draußen ziemlich gegen die Aschewolke anzukämpfen. Tyson trat an eine der anderen Risse in der Betonwand, von wo aus er sich ein anderes Sichtfeld versprach. Die Gestalt seines Großvaters humpelte mühselig durch die Trümmer. Die Straße vor dem Anwesen ähnelte einem Schlachtfeld. Tyson taumelte einen Schritt in den ehemaligen Wänden seines Zuhauses und erdrückte etwas unter seinem Gewicht. Ein Blick hinab und er erkannte ein Familienbild. Als er es da so liegen sah, wurden ihm allmählich die Ausmaße um ihn herum bewusst. Sie hatten alles verloren.

Dieses Anwesen existierte so viele Jahrhunderte und nun war es eine Ruine.

Tysons Blick haftete an dem gerahmten Foto. Das Glas über dem Bild war gesprungen. Dahinter schaute sein Großvater mit einem stolzen Grinsen zu ihm auf. Seine Großmutter hatte bei der Aufnahme schon nicht mehr gelebt, dafür aber Tysons Mutter. Sie hielt eine jüngere Ausgabe von ihm selbst in den Armen, während sie auf einem Stuhl saß, zu dessen Seite sein Bruder Hitoshi als kleiner Vorschüler stand und schüchtern in die Kamera lächelte. Damals wussten alle beteiligten auf dem Foto noch nicht, dass seine Mutter bald an ihrer Krankheit zu Grunde gehen würde und wirkten noch zuversichtlich. Ihre Augen ruhten liebevoll auf dem Neuzuwachs. Sein Vater dagegen hatte die rechte Hand stolz auf der Schulter seines ältesten Sohnes.

Tyson blickte nur starr auf sich selbst hinab.

Auf sein kleines Abbild was damals noch ein Säugling gewesen war.

So viele Generationen hatten hier gelebt und jetzt war alles zerstört!

Er kniete sich hinab und begann zu wühlen. Das musste die Flurwand sein. Auf ihr waren noch mehr Bilder gewesen. Sie hingen alle an dieser Wand. Sie waren doch wertvoll…

Tyson spürte gar nicht mehr die Schnitte welche er sich selbst zufügte. Da erblickte er auch schon die Ecke eines Fotos, welche von einem Brocken verdeckt wurde und von dem aus ihm Ray entgegen lachte. Er rollte den Stein hektisch fort. Der Rest seines ehemaligen Teams strahlte zu ihm auf.

Tyson erblickte sich selbst, wie er den Arm um Maxs Schulter geworfen hatte, der wiederum ein Peacezeichen Richtung Kamera machte. Neben ihm stand Hilary, die ihre Hände sittsam vor sich faltete und geradezu mädchenhaft lächelte, während Kenny neben ihr seine Brille zu Recht rückte, weil Daichi ihm einen heftigen Klaps auf den Rücken verpasst hatte und sie ihm deshalb, während der Aufnahme, von der Nase gerutscht war. Ray hielt die Hände strahlend in die Hüften gestemmt und Kai stand leicht von der Kamera abgewandt, mit vor dem Oberkörper verschränkten Armen. Als wären diese beiden Fotos aus Porzellan hob Tyson sie mit bebenden Fingern auf. Diese Bilder…

Waren sie alles was ihm noch geblieben war?!

Bei diesem Gedanken geriet er ins Stocken. Er fühlte sich als würde ihm jemand die Faust immer tiefer in die Magengrube prügeln. Die Wucht der Ereignisse schnürte ihm die Luft ab. Gegen die aufkommenden Tränen war er machtlos. Auch wenn er zuvor noch gescherzt hatte, konnte Tyson es nun doch nicht verhindern. Seine Finger strichen zitternd die Konturen der vielen Gesichter nach. Diese Menschen waren wahrscheinlich alle nicht mehr da!

Max Flieger war abgestürzt. Er wusste nicht was aus Ray geworden war und Kai musste schon viel Glück gehabt haben, um dieses Schlachtfeld zu überleben! Übermannt von diesem Chaos drückte er die Fotos an sich. Seine Schultern bebten. Jeder Schluchzer fuhr ihm tief durch die Glieder. Er beugte sich vor und legte seine Stirn auf den staubigen Boden. Ihm wurde klar dass es aus diesem Albtraum kein Erwachen geben würde. Was sich hier abspielte war die gnadenlose Realität. Der trügerische Frieden in diesem Haus war geplatzt, wie eine zierliche Seifenblase. Sein Atem beschleunigte sich in hektischen Zügen. Er fühlte seine Welt um ihn herum brechen.

„Das ist nicht real!“, flüsterte er panisch. Immer wieder. Es wurde sein Mantra.

Er konnte das nicht begreifen. Das durfte einfach nicht real sein…

„Kai?!“, rief er zwischen den Trümmern verzweifelt. Dabei rechnete er gar nicht mit einer Antwort.

Es kam auch keine. Diese Menschen konnte doch nicht wirklich alle aus Tysons Leben verschwunden sein. Er vernahm das Donnern des Fujis in weiter Ferne. Der Berg spie seine glühendenden Geschosse in den Himmel auf. Doch hier in den Ruinen war alles still. Niemand erwiderte seinen Ruf.

Wenn seine Freunde wirklich alle tot waren…

Er wollte nicht so leben. Er konnte es nicht! Sie waren doch auch Teil seiner Familie gewesen.

Tyson dachte an die dritte Weltmeisterschaft. Bereits damals, als sein Team sich nach und nach auflöste, hatte es ihm den Boden unter den Füßen entrissen. Es war für ihn schwer zu verdauen, dass seine Freunde sich von ihm abwandten. Doch es war kein endgültiger Zustand gewesen, auch wenn es ihm anfangs so vorkam. Aber das hier…

Hier war eine Grenze erreicht, ein Rückschlag, von dem Tyson genau wusste, dass er sich davon niemals mehr erholen könnte, dass er es eigentlich auch gar nicht mehr wollte. Da konnte er sich ja gleich hinlegen und sterben.
 

„Ai?“
 

Ein Wimmern...

Gefolgt von einem Näschen das ganz in seiner Nähe hochgezogen wurde.

Tyson hielt den Atem an. Da vernahm er das leise Schluchzen eines Kindes.

Es lockte seinen erstarrten Verstand aus dem Nebel der ihn gefangen hielt.

„Jana?“

Er wagte kaum sich zu rühren und verharrte, um auch wirklich kein Geräusch zu verpassen.

Womöglich spielte ihm sein Verstand einen Streich.

„Kai… Aufstehe! Auge auf mache!“

Tyson fuhr hoch, geriet aber ins Taumeln. Sein Körper war die dauernden Strapazen überdrüssig geworden. Er strauchelte in Schlangenlinien der Stimme entgegen, zwängte sich tiefer zwischen dem Geröll hindurch. Weiterhinten war eine Art Luftblase entstanden, weil zwei Enden der Decke, gegeneinander gelehnt waren, wie bei einer Pyramide. Er folgte dem Wimmern. Es kam vom Boden. Unter einer umgekippten Fusuma Tür, welche in traditionellen japanischen Häusern wie ihrem Dojo, noch immer Anwendung fand, machte er Jana Stimme aus.

Sie sprach mit Kai. Also musste er auch bei ihr sein!

Der Gedanke ließ vollends seine Lebensgeister erwachen. Tyson holte seine letzte Kraft heraus und packte die Tür. Darunter waren aber nur Holzdielen. Da wurde ihm klar was passiert sein musste. Ihr Haus stand auf einem höher gelegenen Sockel. Womöglich war der Boden unter den Geschwistern eingebrochen und sie waren etwas tiefer abgesackt. Zunächst fand er viele Papierfetzen von den Raumteilern, Holzbalken und Klumpen. Er grub sich immer tiefer, legte ein Loch inmitten der Trümmer frei obwohl ihm die Finger bald bluteten, bis das kindliche Weinen unter einer weiteren lädierten Tür hervorkam. Tyson schob sie ein Stückchen vor und fand Janas schmächtige Statur darunter. Sobald sie von der Last befreit war, kniete sie sich hin. Wie durch ein Wunder schien sie unverletzt. Er lachte erleichtert auf als er das sah. Inzwischen legte sie ihre kleinen Finger auf das Gesicht einer weiteren reglosen Gestalt.

„Kai!“, der Ruf klang verzerrt aus seiner Kehle. Der eingeatmete Staub hatte sie ausgedörrt. Er rief erneut nach ihm und als er sich rührte, brach eine Woge der Erleichterung über ihm herein. Da lag einer der wenigen Menschen die ihm noch geblieben waren. Das Mädchen blickte wimmernd zu ihm auf. In ihren Augen lag die stumme Hoffnung, er möge ihrem Bruder doch bitte helfen. Augenblicklich überkam ihn das Gefühl, jetzt nicht vor ihr in Panik zu verfallen. Für sie stark zu bleiben, half ihm, sich weiterhin zusammenzureißen.

„Komm erst einmal heraus, mein kleiner Hamster, okay?“, sprach er beruhigend auf das Mädchen ein. Sie schüttelte unwillig das Ruß befleckte Gesicht und schaute wortlos auf ihren bewusstlosen Bruder. „Ja, den hole ich auch gleich heraus...“, erriet er ihren Gedanken. „Sobald du draußen bist. Greif nach meiner Hand.“

Sie rührte sich noch immer nicht.

„Wenn du willst dass ich Kai helfe, musst du zuerst heraus. Also bitte komm jetzt!“

Zögerlich streckte sie ihm, die mit Schrammen übersäten Ärmchen entgegen. Tyson packte sie unter den Schultern und obwohl er selbst nicht minder von Schmerzen geplagt war, biss er die Zähne zusammen und zog sie mühsam hervor.

„Kai au hole.“, bat sie traurig von seinen Armen aus.

„Ja, natürlich. Den holen wir jetzt auch heraus.“, beschwichtigte er sie, als er sie wieder hinunterließ. Kurz darauf begann er noch mehr Gerümpel wegzuschieben. „Wir machen es zusammen. Okay?“

Sie nickte eifrig und versuchte anzupacken. Obwohl sie sichtlich bemüht war, blieb der Löwenanteil an ihm hängen, denn natürlich konnte er dem kleinen Mädchen nicht zumuten, die schwereren Holzbalken wegzuschieben. Dennoch trieb ihn etwas wie verrückt an. Eigenartig welche Kräfte man entwickelte, wenn man für das Bisschen kämpfte, was man noch besaß. Geradezu krampfhaft riss er an den Brettern, um sie von seinem Freund herunterzubekommen. Doch irgendwann wurde Tyson das Ausmaß von Kais Lage bewusst, denn in jenem Moment, als er einen weiteren Teil der Tür wegschob, offenbarte sich ihm der Ausblick auf dessen Unterleib. Er lag eingezwängt unter einer der schweren Betonwände von der Decke. Tyson hielt den Atem an, als ihm klar wurde, was für ein Gewicht nun auf ihm lastete. Er beugte sich zu Kai herab und fühlte nach dessen Puls.

Ziemlich schwach…

Seine Finger wanderten weiter und erfühlten, ob sie einen Atemzug wahrnehmen konnten.

Der war deutlich spürbar. Er tätschelte mit der Handfläche vorsichtig Kais Wange. Dessen Gesicht war totenbleich und verdreckt, die Lippen aufgerissen. Etwas Blut hatte sich im rechten Mundwinkel gesammelt - doch die Lider zuckten.

„Kai, hörst du mich?“, es ermutigte ihn. „Wach auf. Bitte…“

Ein leises Stöhnen kam von ihm. Die Lider öffneten sich einen spaltweit und die Pupillen dahinter blinzelten ihn aus trüben Augen an. Kais Lippen bewegten sich. Er vernahm dessen Stimme, die etwas sagte oder vielmehr flüsterte. Tyson beugte sich zu ihm herab, strich ihm liebevoll über die verdreckte Wange. Er platzierte einen sanften Kuss seine Stirn, der seinen Freund leise Seufzen ließ.

„Ich bin bei dir. Hörst du? Du bist nicht allein.“, raunte Tyson ihm zu. Kais verklärte Augen wandte sich in seine Richtung. Es schien lange zu dauern, bis er ihn erkannte. Doch irgendwann trat ein abgekämpftes Lächeln auf seine Lippen. Sie begannen sich zu bewegen. Er flüsterte etwas, was Tyson nicht ganz verstand.

„Was willst du mir sagen?“

Behutsam als wäre er aus Glas, legte Tyson seine Hand auf Kais Finger und neigte ihm sein Ohr entgegen. Da verstand er endlich, was da über seine Lippen kam.

„Du bist wieder du selbst.“

Es ließ Tysons Mund zu einer schmalen Linie werden. Er kam sich so betrogen vor. Dragoon hatte geschworen, seine Familie zu beschützen, sonst hätte er nicht in den Handel eingeschlagen. Nun lag der Mensch den er liebte hier unter Trümmern. Es tat furchtbar weh Kai so verletzt zu sehen.

„Es tut mir so leid. Dragoon wollte euch retten! Dieser Mistkerl!“

„Er hat es versucht…“, raunte Kai.

„Er hat gelogen!“

„Nein… Er hat es wirklich versucht.“, seine Augen schlossen sich müde. „Dranzer ist tot.“

Tyson blinzelte perplex. Das war genau das was Dragoon doch auch verhindern wollte. Dieser Versager hatte wohl gar nichts hinbekommen. In jenem Moment konnte Tyson ihn nur hassen.

Da drang Kais Stimme zu ihm. Nur ein einzelner Name...

„Jana?“

„Sie ist hier. Und wir holen dich jetzt auch heraus.“, noch einmal strich er ihm über den Haarschopf. Er tätschelte sanft sein Gesicht. Dann erklärte er Kai seine Lage. „Du bist unter einer Platte eingeschlossen, ich werde versuchen sie anzuheben. Glaubst du, du kannst dich dann hervorziehen?“

Kai brauchte lange für eine Antwort. Offensichtlich stand er noch ziemlich neben sich. Doch irgendwann hob er die Arme an, stemmte sich schwerfällig auf und nickte langsam. Tyson tat einen tiefen Atemzug. Dann positionierte er sich vor der Platte und nahm all seine Kraft zusammen.

„Auf drei.“, er zählte herab, umgriff dabei die groben Ränder und drückte mit einem Aufschrei dagegen. Ihm zog der Schmerz den Rücken hoch, als ob er jeden Hautfetzen dort spüren könnte.

Die Platte hob sich auch nur wenige Millimeter an.

Kais Hände packten nach seinem Fußknöchel und er versuchte sich hinauszuziehen. Doch seine Beine rührten sich einfach nicht. Tyson flehte ihn an sich zu beeilen, aber was immer er tat, sein Unterleib gehorchte ihm nicht. Erst als Jana dazu kam, seinen Kragen packte und mit all ihrer Macht verzweifelt zerrte, kam sein Körper in Bewegung. Sobald er unter der Platte hervorgerobbt war, ließ Tyson sie fallen. Dabei verursachte selbst diese winzige Erschütterung einen Staubwirbel. Etwas stürzte aus dem oberen Geschoss zu ihnen herab. Er warf sich über die beiden Geschwister doch zu ihrem Glück, handelte es sich dabei nur um etwas Isolierung vom Dach. Als er Kais Körper unter sich hatte, spürte er wie der vor Schmerzen gequält zitterte. Er strich ihm vorsichtig über den Rücken, doch selbst die federleichteste Berührung schien ihm zu schaden.

„Mein Großvater holt Hilfe.“, versicherte Tyson ihm.

Er sah ein Nicken von ihm. Kai versuchte sich aufzusetzen, bis Tyson klar wurde, dass er es scheinbar nicht konnte. Er beobachtete ihn in seinem verzweifelten Versuch, sich auf den Rücken zu drehen, doch der Part, den seine Füße hätten übernehmen sollen, funktionierte nicht. Seine Beine lagen reglos auf dem Boden und versagten ihm komplett den Dienst. Tyson atmete geschockt ein. Kai ebenfalls. Beide überfiel dieselbe Befürchtung.

„Darf ich mal kurz einen Blick auf dich werfen?“, fragte er ihn zögerlich.

Kai nickte nur starr. Er ahnte es…

Behutsam hob Tyson dessen Pullover an. Er musste sich ein heftiges Zischen verkneifen.

Kais Rücken war gezeichnet von einem einzelnen, riesigen, tiefdunklen Fleck. Er begann unterhalb des Schulterblattes, zog sich weiter zu den Hüften und kroch unter den Hosenbund. Es sah furchtbar aus. Da wirkten die Verbrennungen an seiner Seite fast schon harmlos. Tyson fragte sich ob das nur eine heftigere Prellung war, denn etwas Derartiges war ihm noch nie unter die Augen gekommen. Es musste jedenfalls seine Wirbelsäule beschädigt haben, sonst hätte Kai sich bewegen können. Er wirkte zumindest den Umständen entsprechend noch fit, da man ihn ansprechen konnte. Das machte Tyson Hoffnung. Dennoch war ihm klar, dass sich das ein Arzt ansehen musste.

„Oi nein! Kai Aua.“, rief Jana tiefbekümmert aus. Sie wollte beruhigend über den Fleck streicheln, doch die Berührung ließ ihren Bruder erstickt keuchen. Seine Augen weiteten sich und er legte die Stirn schweratmend auf den Boden.

„Nicht anfassen.“, Tyson packte Janas Handgelenk. „Das tut ihm weh. Lass es lieber, okay?“

„Oh oh… Schuldigung! Böse auf mich, Kai?“

„Nein.“, beteuerte der. Seine Stimme klang beunruhigend leise. Tyson bedeckte den Rücken wieder. Ihm wurde schlagartig bewusst, dass die Einfahrt und vielleicht sogar das Wohnviertel, in Trümmern lagen. Ein Krankenwagen würde nicht einfach so hier hineingelangen. Sicherlich würde man Kai nur noch auf einer Trage hinausbekommen. Er dachte angestrengt nach, welches das nächstgelegene Krankenhaus war und ein wirklich ungutes Gefühl beschlich ihn dabei. Momentan war die Stadt ein Hexenkessel. Sie waren sicherlich nicht die Einzigen die Hilfe brauchten. Es könnte seinen Großvater Zeit kosten, bis er sich durch das Trümmerfeld geschlagen hatte.

Und wie lange erst die Rettungskräfte dann benötigten um sie zu erreichen?

Kai brauchte doch aber sofort einen Arzt…

Unmittelbar nach diesem Gedanken stemmte er sich gegen die Betonwand, die sie eingeschlossen hielt. Er drückte angestrengt dagegen, mit ganzer Kraft, warf sich mit der gesunden Schulter dagegen, während die beiden Geschwister ihn in seinem verzweifelten Versuch beobachteten. Jana ließ von ihrem Bruder ab und sprang auch auf die Wand zu. Sie platzierte ihre kleinen Handflächen auf das kalte Gestein und drückte nun ebenfalls dagegen, mit einer solchen Inbrunst das ihr Köpfchen hochrot anlief. Doch nichts rührte sich…

Offenbar hatte sich die Platte irgendwo eingekeilt. Schnaufend starrte Tyson durch die Risse im Gestein. Da erblickte er mehrere Gestalten die sich vor der Einfahrt herumtrieben. Einen Moment machte sein Herz einen glücklichen Hüpfer. Doch es war nicht sein Großvater der da kam. Eine Gruppe Menschen tummelte sich inmitten der Trümmer. Sie mussten alle ungefähr in seinem Alter sein, wobei er meinte, auch eine ziemlich alte Dame dazwischen zu sehen. Sie ging ziemlich gebückt und auch sehr langsam.

„HALLO!“, Tyson pochte wie wild gegen die Wand. Die Gruppe zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Ihre Köpfe schnellten in alle Richtungen um ihn zu orten. Er rief immer weiter um auf sich aufmerksam zu machen, doch als das Großmütterchen auf das Haus deutete, kam nur in eine junge Frau Bewegung. Sie kletterte vorsichtig über den Schuttberg und als er seine Finger durch den Spalt zwängte, fand sie ihn endlich.

„Dahinter sind Menschen!“, rief sie über ihre Schulter hinweg. Ihr Gesicht war von Asche gezeichnet und die Lippe ein wenig aufgeplatzt. Sie besaß kleine Löckchen und große dunkle Kulleraugen, die verzweifelt zu den zwei jungen Männern weit abseits blinzelten. Die kamen nur zögerlich hinterher. Einer von ihnen verzog verstimmt das Gesicht hinter seiner Brille, während der andere ziemlich ratlos dreinschaute. Tyson beschlich das Gefühl, dass er eigentlich gar nicht wissen wollte, ob sich noch Überlebende unter den Trümmern befanden. Mit Unwissenheit ließ sich besser leben.

„Wir brauchen Hilfe!“ erklärte er dennoch. Die junge Frau spähte in ihre Nische.

„Mein Freund ist verletzt. Er braucht einen Arzt!“

Er meinte den bebrillten Mann schnaufen zu hören.

„Seine kleine Schwester ist auch hier. Wir sind eingeschlossen.“

„Oh Himmel.“, die junge Frau schielte mitleidig zu Jana herab. „Wir müssen etwas tun!“

„Dafür ist keine Zeit. Die evakuieren die Stadt.“

„Lasst es uns doch wenigstens versuchen!“

„Und wenn diese komischen Freaks wieder auftauchen?! Hast du dir die ganzen Leichen in dieser Gegend mal angesehen? Hier sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld.“

„Uns sind seit Stunden keine mehr über den Weg gelaufen! Wir können die drei doch nicht hier sitzen lassen!“

Der bebrillte Kerl bedachte die Frau mit ernster Mimik. Dann trat er an den Spalt, als wolle er sich selbst von dem Anblick dahinter überzeugen. Tyson beobachtete ihn genau. Wie seine Augen über das Szenario huschten. Er nahm sich Zeit. Studierte jeden ausgiebig. Sein Blick blieb lange an Jana hängen, dabei zuckte seine Braue und noch länger verweilten seine Augen auf Kai. Letztendlich packte er seine Leidensgenossin am Handgelenk und schob sie etwas zurück. Doch obwohl er flüsterte, vernahm Tyson jedes Wort.

„Vergiss es.“

Ihm gefror das Blut in den Adern.

„Warum?“, keuchte sie entsetzt auf.

„Sein Freund ist bald hinüber und das Mädchen… Mit der stimmt was nicht. Ich glaube das ist eines dieser Mongokinder.“

Es schnürte Tyson die Kehle zu.

Er wollte etwas sagen, doch die Sprache versagte ihm.

„Ist das ein Grund sie zurückzulassen? Wir können diese Leute doch nicht ignorieren!“

„Schatz, während wir hier debattieren, leert sich die Stadt immer mehr. Desto länger wir hier bleiben, desto weniger Rettungskräfte warten an den Sammelpunkten auf uns.“

„Was für Sammelpunkte?!“, rief Tyson durch den Spalt.

Das Mädchen schaute in seine Richtung, doch ihr Freund packte sie forsch am Handgelenk.

„Wir haben schon deine Großmutter bei uns! Das macht uns bereits langsamer. Jetzt stell dir mal vor, wir helfen denen da drinnen auch noch! Bis wir am Sammelpunkt ankommen, fliegt uns der ganze Berg um die Ohren!“

„Bitte sprich nicht so laut… Er hört was du sagst und das ist grausam!“

„Ja verdammt, dass ist es! Aber jetzt müssen wir uns um unseren eigenen Arsch kümmern! Wäre er darunter begraben, weil sein Haus wegen einer defekten Gasleitung explodiert ist, wäre die medizinische Versorgung nicht zusammengebrochen… Ich hätte doch dann auch geholfen! Sollen wir aber alle nur drauf gehen, um unser Gewissen zu beruhigen? Die ganze Stadt ist eine tickende Zeitbombe! Wir müssen weg, Izumi. Und sein Kumpel… Der macht es nicht lange! Glaub mir, ich bin Sanitäter, ich weiß wann es zwecklos ist zu helfen! Selbst wenn wir die daraus bekommen, wir müssten ihn die ganze Strecke bis zum Sammelpunkt tragen und selbst dann geht er wahrscheinlich Hopps!“

„Kommt schon! Das kann nicht euer ernst sein?!“, schrie Tyson ihnen zu. Die Frau namens Izumi starrte aschfahl zu ihm. Sie kniff die Augen zusammen, während ihr Freund weiter auf sie einredete.

„Das Mädchen ist krank. Die packt es bestimmt auch nicht.“

„Sie sieht okay aus. Und der andere scheint zumindest laufen zu können.“

„Ja toll! Einer gesund und zwei krank. Was für ein scheiß Kuhhandel!“

„Hör mal, ich wollte echt nichts sagen!“, mischte sich nun der andere Mann ein. Obwohl er hastig flüsterte, war jedes Wort zu vernehmen. Dazu war der Typ zu aufgebracht. „Aber wir schleppen schon deine Oma mit uns herum und dagegen war ich eigentlich auch schon!“

„Du Arschloch!“, fauchte Izumi ihn an. „Würdest du deine Großmutter einfach zurück lassen?!“

„Nein! Aber wenn du uns schon so einen Ballast aufbürdest, musst du uns nicht noch mehr aufhalsen!“, seine dunklen Augen blitzten sie anklagend an. „Ich will hier raus! Sofort! Meine Familie muss irgendwo am Sammelpunkt auf mich warten und ich habe keine Ahnung wie es ihnen geht! Also entweder lässt du die Typen jetzt hier zurück, oder du und deine Großmutter dürfen ihnen Gesellschaft leisten!“

Ein herzloses Ultimatum…

Tyson spähte von einem Gesicht zum anderen und begriff, dass die einzige Verbündete in diesem Streit, dabei war einzuknicken. Sie hatte die guten Absichten, aber nicht genügend Rückgrat es durchzusetzen. Offensichtlich war sich hier jeder selbst der Nächste. Die Männer wandten sich ab, während die junge Frau unschlüssig stehen blieb und damit stieg die Panik in ihm hoch.

„Hey, Izumi, richtig?!“, die junge Frau zuckte zusammen als er sie beim Namen ansprach. Sie blickte ihn furchtsam an. „Bitte, die Kleine… Sie ist gerade mal fünf Jahre!“

„Oh Himmel.“, ihr Freund rief sie drängend zu sich. Seine Stimme bellte über den Hof. „Ich schaffe das nicht alleine! Wie soll ich euch denn da herausbekommen?“

„Dann musst du deine Freunde irgendwie umstimmen! Wenn du in unserer Lage wärst, würdest du dir nicht auch Hilfe erhoffen?“

„N-Natürlich…“

„Izumi! Komm sofort her!“

Die Gruppe lief eilig weiter, während ihr Freund sie mit eisernem Gesicht taxierte. Tyson hörte das gebrechliche Großmütterchen fragen, was los sei, während der bebrillte Mann ihr antwortete, dass schon Hilfe unterwegs sei, um die fremden Leute aus den Trümmern zu bergen. Nicht nur eiskalt, sondern auch noch ein Lügner. Solche Leute hasste Tyson wie die Pest!

„Bitte hilf uns!“

„Es tut mir Leid…“, sprach Izumi tränenerstickt und tat einen Schritt von ihm weg.

„Ihr müsst doch nur helfen die Platte wegzumachen! Danach könnt ihr gehen! Ich werde mich schon um meine Freunde kümmern, aber alleine schaffe ich das nicht!“

„Tut mir Leid!“, ihre Stimme überschlug sich förmlich vor Schuld. Dann rannte sie weg. Dabei presste sie ihre Hände an die Ohren um Tysons Rufe nicht mehr zu hören. Dagegen vernahm er ihr Schluchzen umso mehr.
 

Nach dieser Gruppe stand er noch eine ganze Weile vor dem Riss in der Wand und spähte hinaus. Das ging so lange bis es draußen dämmerte und nur noch die glühenden Geschosse des Fujis über den bewölkten Himmel zogen. Selbst wenn die Brocken mehrere Kilometer entfernt aufschlugen, schallte der Aufprall laut nach, was Jana furchtsam wimmern ließ. Doch obwohl Kai so geschwächt war, sprach er stets ruhig auf das Mädchen ein. Dagegen war Tyson mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Er musste an Max und Ray denken…

Sie hätten sich niemals so verhalten wie diese andere Gruppe. Was für besondere Menschen waren die beiden doch gewesen. Und jetzt sollten sie weg sein?

Das war so unfair! Warum holte es immer zuerst die Guten?

Wann immer dieser Satz durch seinen Kopf spukte, schnürte es ihm die Luft ab. Ihm wurde schlecht, er wollte weinen, schreien, seiner Wut freien Lauf lassen oder zumindest der Welt entgegenbrüllen, was für ein ungerechtes Miststück sie war, dass sie gerade solch treue Menschen von ihrem Antlitz radierte. Hatte er ihnen das überhaupt einmal gesagt?

Beinahe wäre ihm ein lautes Aufschluchzen entwichen. Doch Jana war hier und er wollte das Kind nicht verängstigen. Und dann war da noch Kai. Er wusste es nicht einmal…

Das sie die letzten aus ihrem Team waren, die anscheinend lebten. Was wohl aus Kenny, Hilary und seinem Bruder passiert war? Selbst um Daichi machte er sich mittlerweile Gedanken. Dann war da noch sein Großvater. Der Himmel allein wusste wo es ihn hin verschlagen hatte.

„Tyson?“

Das rauchige Flüstern hinter ihm riss ihn aus den Gedanken.

Er wandte sich mit fragendem Ausdruck um. Kai schaute ihn an.

„Willst du dich nicht mal kurz setzen?“

Erschöpft blickte er auf ihn herab. Ja, warum nicht…

Momentan war ohnehin alles zwecklos. Sie mussten ausharren bis sein Großvater zurückkam. Er nickte geistesabwesend, nahm neben Jana und Kai Platz, der noch immer auf dem Bauch lag. Der wirkte furchtbar blass. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet. Er sollte sich jetzt wirklich mehr um Kai kümmern.

„Komm, wir machen es dir mal gemütlicher.“, sprach Tyson sanft und griff behutsam nach dessen Schultern, um den Oberkörper anzuheben.

„Das musst du nicht.“, es klang sehr abgekämpft.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal zu dir sage, aber sprich nicht so viel. Du musst dir deine Kräfte jetzt wirklich aufsparen. Keiner weiß wie lange es noch gehen wird, bis Opa kommt. Also spricht doch nichts dagegen, aus dem ganzen das Beste herauszuholen.“

Ein erschöpftes Seufzen war die einzige Erwiderung. Kai ließ zu, dass Tyson ihn äußerst vorsichtig auf die Seite drehte. Danach fuhr er mit seinen Fingern in dessen Haarschopf und hob den Kopf ganz langsam an, um ihn auf seinen Schoß zu betten. Dann kraulte er ihm durch den Nacken. Immer in kreisenden Bewegungen. Ein leises Seufzen drang an sein Ohr. Das gefiel ihm wohl. Dabei wäre das hier vor wenigen Wochen noch undenkbar gewesen. Das Kai so bei ihm lag und sich von ihm behüten ließ, wie ein verletzter Kater.

„Ich au kuschel…“, klagte Jana aus Kulleraugen und mit einem dicken Schmollmund. Prompt fühlte sie sich wieder ausgeschlossen, als sie diesen Anblick sah.

„Natürlich. Du auch.“, Tyson streckte ihr einladend die Hand entgegen und sie kam der Aufforderung, mit einem geradezu euphorischen Glucksen nach. Was das anging, waren die Geschwister wirklich komplett verschieden. Der eine versteckte seine Gefühle, die andere war wie ein offenes Buch. Es kehrte Stille ein, wenn man auch erwähnen musste, dass sie vom ständigen Poltern des Fujis getrübt wurde.

„Dranzer hatte sich Hanas Körper geschnappt.“, sprach Kai auf einmal leise. Doch zunächst verstand Tyson nur Bahnhof. Er brauchte lange bis er auf die Lösung kam. Ein gequälter Atemzug kam aus seinem Mund. Dann hatte Dranzer auch noch die Verlobte seines Bruders auf dem Gewissen.

„Es tut mir so leid, was mit ihr pas-…“

„Du kannst nichts dafür.“, schnitt Tyson ihm ins Wort. Er wusste zu welchen Mitteln Dranzer griff um Menschen zu manipulieren. Er hatte es schließlich am eigenen Leib erfahren. Ihm ging durch den Kopf wie willig er ihrem Wunsch nachgekommen war, als sie ihn in Kais Körper geradezu umgarnte. Sie hätte ihn darum bitten können, auf den höchsten Punkt der Welt zu steigen, er wäre frohen Herzens losgezogen, um ihre Forderung zu erfüllen. Sie war wohl einfach geschickt darin, in die Seele eines Menschen hineinzuspähen.

„Ich hätte es ahnen müssen.“, warf Kai sich vor.

„Das hatten wir doch schon. Du konntest es nicht wissen.“

Kai schloss die Lider und antwortete traurig: „Sie war mein Bit Beast. Ich habe sie nicht verstanden.“

Tyson dachte über diese Worte lange nach.

„Dann hätten wir es alle ahnen müssen. Geister sind keine Spielzeuge.“

„Nein. Das sind sie wirklich nicht.“, pflichtete Kai ihm bei. Seine Stimme klang beklommen. Es wurde still zwischen ihnen. Draußen donnerte der Fuji weiter, während Jana zaghaft, von Tysons anderer Seite aus, die Finger nach ihrem Bruder ausstreckte. Sie begann ihm über den Kopf zu streicheln und sang dabei immer wieder kaum hörbar: „Heile, heile. Alles gut.“

Scheinbar spürte sie, dass für ihn die Grenze des Erträglichen erreicht war.

„Bit du traurig, Ai?“

„Nein. Es ist schon okay.“, beschwichtigte er seine Schwester. Sie ließ sich mit der Ausrede abspeisen und begann verträumt am Reißverschluss, von Tysons Jackentasche zu spielen. Dabei summte sie leise vor sich her und vergaß ihre Umgebung bald. Ein Bild von Arglosigkeit und Unbekümmertheit.

„Du warst großartig dort drüben, weißt du das eigentlich?“

Einen Moment schaute er Kai verwirrt an.

„Dort drüben?“

„In der Irrlichterwelt.“, erläuterte der. „Das war eine sehr starke Leistung von dir.“

Er musste an Max und Ray denken. Sie hatten etwas Ähnliches behauptet.

Und doch gab es sie nicht mehr…

„Nein, war es nicht.“, sprach er traurig.

„Warum denn wieder so selbstkritisch?“

Er hätte es Kai sagen sollen. Das wäre die Gelegenheit. Doch Tyson brachte es einfach nicht übers Herz. Stattdessen antwortete er: „Sieh dich doch an. Du bist einer von vielen Gründen, weshalb ich heute versagt habe. Ich habe dir den Teufel direkt vor die Haustür gebracht.“

„Nein, das darfst du nicht denken. Du hast nichts unversucht gelassen, um dieses Unheil abzuwenden. Sogar deinen eigenen Körper dieser Sache geopfert. Woher glaubst du kommen alle deine Verletzungen? Dragoon ist nicht gerade zimperlich mit dir umgesprungen. Ich dachte einige Male das er dich noch umbringt.“

Kai hob die Hand. Er strich mit den Fingern an seinen Wangenknochen entlang.

„Also Zweifel nicht an dir, Kinomiya. Das ist furchtbar unattraktiv.“

Es ließ ihn doch kurz Auflachen. Er umfasste Kais Hand und küsste sie auf der Innenseite.

„Na schön. Aber du solltest dich jetzt wirklich schonen.“

„Das wird nichts mehr bringen. Das solltest du mittlerweile wissen…“

Ein Lächeln folgte. Es war melancholisch. Tyson hielt beim nächsten Kuss inne. Seine Lippen blieben auf der Handfläche. Er erstarrte als ihm klar wurde, worauf das hinauslief.

„Hör auf so zu reden. Willst du der Kleinen Angst machen?“, flüsterte er.

„Nein. Aber ich möchte Dinge klären.“

„Es gibt überhaupt nichts zu klären! Du musst einfach noch etwas durchhalten. Es dauert nicht mehr lange und Opa wird Hilfe hol-…“

Sein Redefluss verebbte, als er Kais Finger auf seinem Mund spürte, die ihn sachte zum Schweigen bringen wollten. Ein mitleidiger Blick traf ihn.

„Das hier kannst du nicht schön reden.“

„Kai du darfst jetzt nicht aufgeben. Das schaffst du! Du bist hart im Nehmen. Wie früher nach einem harten Match, weißt du noch?“

„Das ist doch etwas ganz anders als damals. Du vergleichst Äpfel mit Birnen.“

„Ja vielleicht, aber du…“

„Meine Beine fühlen sich taub an. So eiskalt.“

Tyson zog prompt seine Jacke aus. Zumindest die in Mitleidenschaft geratenen Überbleibsel davon. Er warf sie Kai über den Körper. Dann zog er ihn enger an sich. Er rieb ihm sachte über die Schultern um die Kälte aus seinen Gliedern zu treiben. Jana begann es ihm nachzumachen und sang immer wieder: „Heile, heile, alles gut.“

„Weißt du noch am Lagerfeuer? Da haben wir uns auch so gewärmt.“

„Das ist eine andere Kälte…“

„Bitte versuch es doch wenigstens! Du musst dich schon anstrengen!“

Er konnte der Verzweiflung nicht mehr Herr werden. Das hier lief falsch. Allein die Vorstellung konnte er nicht ertragen. Dafür war er nicht gewappnet – er wollte nicht alleine zurückbleiben!

„Man spürt wenn es zu Ende geht, weißt du?“, erklärte Kai inzwischen. Er lehnte mit dem Kopf an seiner Brust und schloss einen Moment die Augen.

„Kai was los?“, wimmerte Jana nun doch furchtsam.

„Nichts, Kleines. Komm her.“, er hob mit einem zuversichtlichen Lächeln langsam die Jacke an, damit seine Schwester zu ihm, unter den Stoff krabbeln konnte. Sie folgte der Aufforderung, lehnte ihr Köpfchen überglücklich gegen seine Oberkörper und strich zaghaft über die angesengten Stellen jenes Arms, der sich über sie legte. Währenddessen dachte Tyson fieberhaft darüber nach, wie er Kais Lebensgeister wieder wecken könnte. Er konnte ihn nicht ziehen lassen…

Das kam gar nicht in Frage! Da riss ihn dessen Flüstern aus seinen Überlegungen.

„Ich muss dir etwas beichten. Aber bitte hör mir einfach nur zu. Das ist wichtig und ich muss es dieses Mal loswerden, bevor wieder zu viel Zeit verstreicht. Ich erinnere mich wieder an unseren Streit. Den bevor wir in die Irrlichterwelt kamen.“

„Du willst jetzt ausgerechnet darüber reden?“, heulte Tyson fassungslos auf.

„Ja. Weil ich an diesem Abend etwas gesagt habe, was falsch war. Ich habe behauptet, dass ich mich nicht mit euch hätte einlassen dürfen. Aber das war so unfair von mir.“

Kais Lider öffneten sich träge. Darunter erhaschte Tyson einen betrübten Blick.

„Ich mache das ständig. Jedes Mal wenn ich das Gefühl hatte, dass ihr mir zu nahe gekommen seid, habe ich euch an den Kopf geworfen, dass ich mich nicht mehr mit euch abgeben sollte. Aber die Wahrheit ist – ihr habt mein Leben so viel reicher gemacht. Jeder von euch auf seine Art. Du ganz besonders…“

„Kai. Wir werden in Zukunft viel Zeit haben um darüber zu reden.“

„Nein. Wir sind beide Weltmeister darin, die Jahre verstreichen zu lassen. Ich bin in dieser Disziplin leider sogar der unangefochtene Champion. Selbst dich stelle ich dabei in den Schatten. Ray, Max und Kenny… Sie sind alle gestern gegangen und ich habe ihnen schon wieder nicht gesagt, was für gute Freunde sie sind. Das hätte ich endlich einmal tun sollen. Kannst du ihnen etwas von mir ausrichten?“

Tyson erstarrte. Er fühlte förmlich wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.

Mit einem schweren Schlucken schaute er auf Kai herab.

„Sag ihnen bitte, dass es mir Leid tut, das ich nie offener zu ihnen war. Ich möchte wirklich, dass sie wissen, wie viel mir die Freundschaft zu ihnen bedeutet hat. Menschen wie ihr - die sind so selten. Wenn ich euch nicht getroffen hätte… Ich weiß nicht was aus mir geworden wäre. Wahrscheinlich ein ähnliches, verbittertes Ekel wie mein Großvater. Ihr habt mir auf eure Art mehrmals das Leben gerettet. Nicht nur damals auf dieser Eisscholle im Baikalsee. Auch in der Zeit danach. Erst durch euch konnte ich erkennen, dass die Menschheit nicht nur verdorben ist. Als ich aus der Abtei kam, dachte ich aber so…“

„Kai. Bitte quäl dich nicht. Du wirst es ihnen irgendwann selber sagen können.“

„Nein. Kann ich nicht. Richte es ihnen bitte aus, ja? Erzähl ihnen von der Abtei. Alles was du darüber weißt.“, sein Blick wurde flehend. „Sag ihnen dass es mir Leid tut, das ich so misstrauisch war. Das ich euch alle immer so auf Abstand gehalten habe… Ich habe das nicht gemacht, weil ich euch für schlechte Menschen halte. Aber wenn man in der Abtei war, lässt sich diese Angewohnheit einfach schlecht abschütteln. Ich hielt mich für so klüger und erfahrener. Euch dagegen hatte ich als einfältige Kinder abgestempelt, die niemals so ausgelassen sein könnten, wenn sie auch nur eine Woche in der Abtei verbracht hätten. Ich hielt euch für charakterschwach. Das war so hochmütig von mir. Ich hatte mir eine Meinung über euch gebildet, ohne euch die Chance zu geben, mich vom Gegenteil zu überzeugen.

„Oh Kai…“, er strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Diesem einsamen Wolf, der im ersten Moment auf sich allein gestellt schien, aber doch ein Rudel besaß, was ihn beschützte. Kai hatte immer zu ihnen gehört.

„Wir haben doch geahnt, dass deine Kindheit nicht so einfach war. Sofort als du uns gestanden hattest, dass du in der Abtei warst. Und auch als wir deinen Opa in natura erlebt haben. Wir wussten das es schwer für dich sein musste, bei ihm groß zu werden.“

Ein müdes Lächeln umspielte Kais Mundwinkel. In jenem Moment wirkte er so gebrechlich, aber in Tysons Augen trotzdem noch so vollkommen. Er sah so abgekämpft aus…

Jana verfiel wieder in ihren tröstenden Singsang. Da fuhr Kai in ruhigem Tonfall fort, um seine kleine Schwester nicht misstrauisch zu machen. Was sie besprachen entzog sich ihrem kindlichen Geist. Kais Finger fuhren zu Tysons Arm. Er schaute auf den Brandfleck, der wohl auf Dranzers Konto ging.

„Dir muss ich auch noch so vieles sagen. Das hätte schon viel früher kommen müssen.“, er lehnte sich tiefer in die Umarmung, tätschelte dabei seine Schwester behutsam über den dunklen Haarschopf. „Weißt du eigentlich, was deine wahre Begabung ist, Tyson?“

„Meine wahre Begabung?“

„Ja. Da ist etwas, dafür wirst du wohl nie einen Titel bekommen, aber eigentlich ist es genau das, weshalb du wirklich aus der grauen Masse herausstichst. Du besitzt die Fähigkeit die Menschen um dich herum zu begeistern. Du kannst sie öffnen. Wie ein Buch. Sie können mit sieben Siegeln verschlossen sein, aber du knackst eines nach dem anderen. Man kann sich dir gegenüber noch so sehr verschließen, sich in stillschweigen flüchten, aber du liest hartnäckig Wort für Wort, Satz um Satz, Zeile für Zeile, bis du eine Seite geschafft hast und irgendwann ein ganzes Kapitel hinter dir liegt. Du kämpfst dich einfach durch, bis man sich dir komplett hingibt. Hast du eine Ahnung, wie oft ich mich nach einer Unterhaltung mit dir, über mich selbst geärgert habe, weil ich das Gefühl hatte, dir zu viel von mir preisgeben zu haben?“

Tyson schüttelte verneinend den Kopf. Die Bewegung wirkte starr.

„Und doch ist es so… Ich mag es nicht wenn Menschen zu viel von mir wissen. Die Wahrheit ist, dass die wenigsten mich so gut kennen, wie ihr es getan habt. Du weißt wohl am meisten von mir. Deshalb habe ich wohl immer versucht dich auf sicherer Distanz zu halten. Ich habe dich wohl einfach als potenzielle Gefahrenquelle betrachtet – als mein wunder Punkt. Es sind gerade jene Menschen, denen man am meisten vertraut, bei denen ein Verrat besonders weh tut.“

Das konnte Tyson nur zu gut verstehen. Behutsam legte er seine Hand auf Kais Stirn und fuhr mit dem Daumen sanft über die Haut dort. Dabei hörte er einfach nur zu, während dieses Buch mit sieben Siegeln, sich endlich gänzlich vor ihm öffnete.

„Du siehst so einfach über düstere Seiten hinweg. Wenn du an eine Passage ankommst, die dir an einem deiner Freunde missfällt, stößt du ihn nicht fort. Du fängst an ihn zu ändern, um ihn zu kämpfen oder arrangierst dich mit seinen Fehlern. Einfach weil du der festen Überzeugung bist, dass weitaus mehr Gutes in ihm steckt. Du hast mich nie aufgegeben und das obwohl ich dich manchmal so ungerecht behandelt habe. Das Schlimme daran ist, ich habe dich deshalb immer für dumm gehalten. Ich dachte, dass du irgendwann mit deiner grenzenlosen Optimismus böse fällst. Genau deshalb habe ich mich gegen dich so gesträubt, als wir uns kennengelernt haben. Ich wollte der Beweis sein, dass du falsch liegst. Ich wollte deine Seifenblase zum Platzen bringen. Einfach so… Wahrscheinlich hat mich in diesen Momenten der Neid getrieben. Mich hat es geärgert, dass du von deinen naiven Moralvorstellungen predigst und auch noch damit durchkommst, ohne auf die Schnauze zu fallen.“

Kai atmete schwer aus, während Tyson ihn mitleidig bedachte. Er schien Schmerzen zu haben. Die dunklen Ringe unter seinen Augen schienen noch finsterer zu werden. Sein Gesicht war so blass.

„Ich habe mich so sehr gegen deine Freundschaft gewehrt. Es hat dich Jahre gekostet und trotzdem wolltest du niemals aufgeben. Das war damals so seltsam für mich, weil ich doch gedacht hatte, dass dich gerade die dritte Weltmeisterschaft wachrütteln würde. Als wir uns alle von dir abgewandt haben, war ich überzeugt, deine naive kleine Seifenblase in der du lebst, kaputt gemacht zu haben. Das du endlich anfängst dich der grausamen Realität zu stellen. Endlich verstehst dass jeder Mensch verdorben sein kann.“

Er senkte die Lider und Tyson ahnte, dass das nachfolgende Geständnis ihn quälte: „Ich war richtig schadenfroh… Weil ich dachte, dass ich deinen Optimismus damit geknackt hätte. Das war so boshaft von mir. Ich verstehe selbst nicht, wieso ich so bin! Ich habe mich richtig überlegen gefühlt… Doch stattdessen hast du dir nach deiner Talfahrt, nur den Dreck von den Schultern geklopft und bist umso höher aufgestiegen. Und als ich dann bei der BEGA rausgeflogen bin, wolltest du mich unbedingt wieder in deinem Team haben. Als wäre nie etwas zwischen uns vorgefallen. Ich verstehe bis heute nicht warum? Und ich schäme mich für diese gehässige Seite an mir… Du denkst vielleicht ich bin ein Mysterium, aber eigentlich bist du für mich ein weitaus größeres Rätsel. Ich habe nie verstanden wie du ein so unerschütterliches Vertrauen in mich besitzen kannst.“

Bei diesem Satz weiteten sich seine Augen in Erstaunen. Tyson hatte nie geahnt, dass sie beide so ähnlich übereinander dachten. Dass sie für den jeweils anderen das größte Geheimnis darstellten. Etwas nachdenklich schaute er sich in der Nische um.

„Ich habe einfach gespürt, dass du vertrauenswürdig bist.“, sprach er schließlich.

„Woher? Ich habe dir keinen Grund geliefert.“

„Du warst da wenn man dich wirklich gebraucht hat. Und du hattest selbst so viel durchgemacht. Deshalb warst du so.“

„Das konntest du damals noch nicht wissen. Du weißt erst seit gestern von den Tage in der Abtei.“

„Ich kann dir nicht sagen woher, Kai. Aber ich denke… Nein. Ich weiß es eigentlich.“, ihm kam es wieder in den Sinn. „Es waren deine Augen. Als wir uns das erste Mal begegnet sind, musste ich viel über dich nachdenken. Auf der einen Seite kamst du mir furchtbar arrogant vor. Doch andererseits wollte mir nicht in den Kopf, wie ein Junge, der ungefähr in meinem Alter ist, schon so verschlossene Augen hat. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass du glücklich bist, mit der Art wie du lebst.“

Kai blinzelte träge zu ihm auf. Dann senkte er die Lider mit einem wissenden Lächeln.

„Verstehe.“, er tat einen tiefen Atemzug. Auf einmal hustete Kai. Es klang sehr beunruhigend und ungesund. Tyson wollte ihn ermahnen von jetzt an still zu bleiben, doch er schüttelte den Kopf. Was immer ihm auf der Seele lag, Kai wollte es aussprechen. Er brauchte seine Zeit, um wieder zu Luft zu kommen. Doch als es soweit war, klang seine Stimme ruhig, auch wenn er äußerst leise sprach.

Und auch sehr langsam.

„Nach der dritten Weltmeisterschaft wusste ich, dass ich deinen Kampfgeist niemals brechen würde. Ich wollte es auch gar nicht mehr und habe mir eingestanden, dass du einfach einen unbeugsamen Willen hast. Stärker noch als meiner. Seltsamerweise machte mir das gar nichts mehr aus. Ich dachte mir, dass jemand wie du, vielleicht die große Ausnahme ist. Deshalb wollte ich auch nicht mehr weiter bladen und bin ausgestiegen. Ich wusste dass ich dich niemals schlagen könnte, dazu warst du einfach zu entschlossen. Allerdings war ich der festen Überzeugung, dass wir uns von da an nie mehr wiedersehen würden, weil die einzige Gemeinsamkeit zwischen uns, für mich, nur unsere Rivalität war. Aber ich habe mich wieder geirrt… Stattdessen standet ihr permanent vor meiner Haustür, selbst als mein Großvater aus der Haft entlassen wurde und euch wie ein verdammter Irrer, mit dem Schürhaken aus dem Haus jagte.“

Die Erinnerung ließ beide kurz auflachen. Es war ein wehmütiger Moment.

Diesen Tag würde Tyson einfach nie vergessen. Max hatte aus Trotz gegen eine Statue vor der Eingangstür getreten, als Voltaire ihn am Genick packte und zur Tür hinauswarf. Das marmorne Meisterwerk geriet daraufhin schwer ins Wanken. Als das alte Ekel seine sündhaft teure Skulptur panisch umschlang, schubste Tyson, aus purer Gehässigkeit, die andere Statue, die zur linken Seite der Tür ragte. Er beschimpfte den miesgelaunten Greis als verbohrte alte Pestbeule. Dagegen war von Kenny nur noch eine Staubwolke zu sehen gewesen, als er den Schürhaken in Voltaires Hand erblickte und als er hektisch über den Zaun kletterte, riss der Chef sich den Hosenboden auf. Was hätte Tyson nicht alles dafür getan, noch einmal Rays Lachen von damals zu hören, dass begeistert von all dem Chaos, heiter über den Platz schallte.

Ob Kai sich das auch gerade so sehnlichst wünschte? Nur noch ein einziges Mal…

Ihm war so sehr zum Weinen zu Mute bei diesem Gedanken.

„Ihr habt mich immer weiter in die Gruppe hineingezogen. Es war ein geradezu schleichender Prozess und ihr hattet alle so viel Geduld mit mir. Zehn Jahre, Tyson… Diesen Zeitraum muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen, findest du nicht auch? Die Jahre sind so schnell verflogen und ich dachte doch eigentlich, unsere Freundschaft würde sich irgendwann im Sand verlaufen. Ich habe nicht wirklich an unser Team geglaubt. Aber ihr hattet mal wieder den längeren Atem. Ich habe gar nicht richtig bemerkt, wie ihr immer mehr ein Teil von meinem Leben geworden seid. Ihr habt mich da ziemlich überrumpelt…“

Kai lächelte matt zu ihm auf und Tyson konnte nicht anders. Eine einzelne Träne rann seine Wange herab. Er fuhr sich unauffällig über die Stelle, damit Jana nichts bemerkte. Die döste allmählich weg.

„Ich wünschte ich könnte den anderen offen ins Gesicht sagen, wie sehr ich sie wertschätze. Stattdessen habe ich den Moment wieder versäumt. Aber dir… Dir kann ich es wenigstens sagen. Du sollst wissen, wie viel du mir bedeutest. Wie ich dich sehe.“, Kai schloss die Augen. Es schien als würde er sich einfach der Wärme seiner Umarmung hingeben. „Für mich bist du ein wirklich unbeschreiblicher Mensch. Einzigartig, vielleicht auch mit manchem Makel versehen - aber du hast es geschafft, dass mir jeder einzelne Fehler von dir ans Herz gewachsen ist. Deine Verrücktheiten, dein Leichtsinn, deine Sturheit, die Art wie albern du sein kannst, sogar deine gelegentliche Selbstverliebtheit. Ich liebe alles davon. Dabei wollte ich das immer an dir ändern. Aber ich mag es wie du mich dadurch immer zum Lachen gebracht hast. Für mich bist du so wie du bist perfekt. Genau dieser Tyson, der du heute bist – genau den liebe ich.“

Er konnte fühlen wie Kai nach seiner Hand tastete. Seine Finger streiften ihn leicht, viel zu schwach, um richtig zupacken zu können. Also tat es Tyson. Er ergriff Kais Hand ganz fest, um ihm zu zeigen, dass er nicht alleine war. Draußen verschwanden die letzten Strahlen der Sonne. Das wenige Licht das noch geblieben war, fiel gerade noch als einzelne feine Linie durch den Riss in der Wand. Der Staub tänzelte in ihrem fahlen Glanz.

„Du bist mein Wirbelwind. Ich bin so… froh dass du nicht locker gelassen hast. Das du in mein Leben getreten bist war ein großes Glück.“

Tyson stockte der Atem. Ihm wurde klar was gerade passierte. Kai fiel es immer schwerer zwischen seinen Worten Luft zu bekommen. Seine Augen waren ein kleiner Spalt. Darunter wurden die Pupillen immer trüber. Und er saß hier und konnte einfach nur zuschauen.

„Vielleicht solltest du dich aufsetzen.“, sprach er verzweifelt.

„Nein. Das nützt nichts mehr. Und so ist es gut.“ erklärte Kai mühsam. „Kannst du mir aber… zwei letzte Gefallen tun? Nur diese beiden?“

„Ich würde alles für dich tun.“, versicherte Tyson ihm aus kratziger Stimme. Was sich hier anbahnte konnte er nicht mehr aufhalten. Der Körper in seinen Armen zitterte, vielleicht war es aber auch sein eigener. Er hatte solche Angst vor dem was bevorstand, weil Tyson sich nicht vorstellen konnte, wie es ohne Kai weitergehen sollte. Zu wissen, dass alle seine Freunde von dieser Welt verschwunden waren, einfach nicht mehr da waren, nicht mit ihnen sprechen zu können – das war der Horror.

Er würde nie mehr mit ihnen Lachen…

„Bitte, pass auf Jana auf.“, sprach Kai inzwischen seinen ersten Wunsch aus. Ganz leise war seine Stimme. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel sie mir bedeutet. Bitte nimm du sie bei dir auf. Der Gedanke dass sie in ein Heim kommen könnte… der macht mich fertig.“

Er tat eine Pause um wieder zu Luft zu kommen.

Jeder Satz schien ein enormer Kraftakt zu sein.

„Ich will dass sie bei jemandem aufwächst den ich kenne. Jemandem dem ich voll und ganz vertraue. Du kannst wundervoll mit Kindern umgehen. Das durfte ich selbst erleben. Machst du das für mich?“

„Natürlich. Ich pass auf sie auf.“, versprach Tyson mit erstickter Stimme.

Er hörte Kais Erleichterung. Es war der erste Atemzug der ohne Stocken kam. Tyson schaute auf das kleine Mädchen, dass in ihrer kindlichen Unwissenheit nicht begriff, was sich zwischen ihm und ihrem großen Bruder gerade abspielte. Die noch nie einen sterbenden Menschen erlebt hatte und daher nicht verstand, was für Pläne gerade über ihren Kopf hinweg getroffen wurden. In wenigen Minuten würde Kais Körper noch da sein, aber die Seele dazu fehlen. Jana nestelte nur verträumt, mit den kleinen Fingern, an einem Ende von Kais Pullover und hielt die Lider halbwegs geschlossen. Sie war am Einschlafen.

„Und mein zweiter Wunsch… Gib dir niemals die Schuld für das alles hier. Ich will das du nach vorne schaust und weitermachst. Und das du glücklich wirst.“

Die Tränen rannen ihm nun in Bahnen herab und Tyson begann zu Schluchzen. Er konnte einfach nicht mehr an sich halten, auch nicht als Jana verwirrt zu ihm aufschaute. Sie blinzelte verschlafen und erhob sich langsam, während er Kais Hand ganz fest hielt. Zwar wurde die Geste erwidert, aber es steckte kaum noch Kraft dahinter. Die Sonnenstrahlen waren nun gänzlich verschwunden.

„Versprichst du das? Ein Versprechen muss man halten, Kinomiya.“

Tyson nickte heftig. Er hatte keine Worte mehr. Alles in ihm flehte darum, diesen Moment nicht geschehen zu lassen. Dafür war er einfach nicht gewappnet. Auf so etwas hatte ihn niemand vorbereitet. Er kam sich so hilflos vor.

„Danke, Tyson. Vielen Dank.“

Kais Blick schien weit fern. Er murmelte: „Jana, leg dich wieder hin. Komm zu mir.“

„Bist du müde Ai?“

„Ja. Sehr müde.“

„Wir mache Auge zu und schlafe, okay?“

„Das klingt gut, meine Kleine.“, jedes Wort kam langsamer als das vorherige aus seinem Mund.

„Ich liebe dich, Kai.“, beteuerte Tyson noch einmal. Er sah wie ein letztes schwaches Lächeln über dessen Gesicht huschte. Doch seine Augen waren bereits leer geworden. Die Lider senkten sich nicht vollends über ihnen. Tyson wartete auf eine Entgegnung. Ein allerletztes Wort aus seinem Mund.

Aber da kam nichts mehr…

Er starrte wie gebannt auf Kais Lippen. Selbst das Blinzeln untersagte er sich, aus Angst, er könne das kleinste Zucken versäumen. Doch vergebens. Die Sekunden verstrichen. Es wurden Minuten. Und irgendwann musste Tyson sich eingestehen, dass es tatsächlich vorbei war.

Kai war weg. Einfach so. Der Moment indem seine Seele verschwand, war mit einem Wimpernschlag vorbei. Tyson tätschelte noch einmal seine Wange. Einfach weil er noch hoffte. Dabei flüsterte er Kais Namen. Immer wieder. Immer wieder. Irgendwann blinzelte Jana von der Brust ihres Bruders auf. Sie hob den Zeigefinger an die Lippen und schaute Tyson aus vorwurfsvollen Augen an.

„Pss! Kai schlafe.“, ermahnte sie ihn flüsternd. Sie drückte ihrem Bruder einen Gutenachtkuss auf die Wange. Dann kuschelte sich Jana wieder ganz dicht an Kai heran.

„Nich wecke, Tidom. Ai ausruhe. Dann wieder gesun sein morge.“

Er starrte sie an und konnte nichts erwidern. Seine Kehle war wie ausgedörrt.

Innerlich zerbröckelte sein Herz aber in Milliarde kleine Splitter. Sein letzter Kindheitsfreund und sein Geliebter, hatte ihn damit also verlassen.
 


 

*
 

Kais Körper schien noch sehr lange warm zu sein. Tyson konnte gar nicht richtig begreifen, dass darin wirklich keine Seele mehr stecken sollte. Er wirkte so friedlich, als würde er tatsächlich nur schlafen.

Dagegen fühlte Tyson sich wie ein Schatten. Als wäre er gestorben.

Er wusste nicht woher er die Kraft aufbringen sollte, um Kais Wünschen noch gerecht zu werden. Jana hatte ihr Köpfchen auf die Brust ihres Bruders gelegt, der sich in ihren Augen nur bei einem kleinen Nickerchen, von seinen Strapazen erholte. Bald würde Tyson ihr erklären müssen, dass Kai nie wieder aufwachte. Er lachte freudlos bei diesem Gedanken auf…

Zunächst einmal müsste jemand ihm das erklären.

Tyson wollte nicht einmal von dem leblosen Körper hier ablassen. Er war doch noch warm. Als wäre noch ein winziger Teil von Kai darin verborgen, den es unbedingt zu bewahren galt. Wie das noch nichts ausgekühlte Wachs einer gerade eben heruntergebrannten Kerze.

Tyson trieben aber noch ganz andere Gedanken. Beispielsweise das er zehn Jahre verplempert hatte, ohne sich seinen Gefühlen bewusst zu werden. Das war so unfair. Gerade fanden sie zueinander, gestanden sich endlich ein, dass zwischen ihnen mehr als Freundschaft war – da verpuffte der Moment auch schon.

Letztendlich war Tysons Seifenblase doch geplatzt. Er hatte Kai verloren, noch bevor er richtig von einer Zukunft mit ihm träumen durfte. Ein wehmütiger Atemzug entrang sich seiner Brust. Seltsamerweise weinte er nicht mehr. Seit einer gefühlten Stunde starrte er nur geradeaus. In seinem Kopf ging er alle verpassten Gelegenheiten durch. Alles was er gerade fühlte war selbsthass. Wie konnte ein einzelner Mensch so unsagbar dumm sein und ein Jahrzehnt lang nicht begreifen, was in ihm selbst vorging? Sie hätten viel früher zusammenkommen können. Doch weil er zu viel Angst davor hatte, seinen Gefühlen zu Kai auf den Grund zu gehen, gab er sich lieber mit Frauen ab, die gerade Mal die niedersten seiner Bedürfnisse befriedigen konnten. Tysons fletschte die Zähne vor Zorn. Er hasste sich. Jetzt, in diesem Moment, hasste er sich so sehr.

„Du Feigling.“, flüsterte er sich selbst zu. Tyson drückte den Körper in seinen Armen fester.

„Kinomiya, du elendiger Feigling!“, er vergrub sein Gesicht in Kais Haarschopf. „Du bist der größte Idiot den es gibt!“

„Nich weine.“, tadelte ihn Jana. „Du sons Ai wecke.“

Am liebsten hätte er sie auch angebrüllt. Da war ein furchtbar wütendes Monster in ihm, das alles zerstören wollte, weil niemand seinen Schmerz heilen konnte. Doch Tyson entsann sich gerade noch, als er das runde Gesicht vor sich erblickte. Die großen, unschuldigen Augen des Mädchens schauten ihn an, bis sie die Finger nach ihm ausstreckte und sein Gesicht umfasste.

„Warum du so traurig schaue?“, wollte sie wissen. „Bin ich schuld?“

Diese Situation. Das kam ihm so bekannt vor…

Wie damals in Wolborgs Hütte, als Kai ihn dasselbe fragte. Jana sah ihm in jenem Moment so ähnlich. Es war nicht das Aussehen an sich, sondern der Ausdruck in den Augen. Sie sorgte sich um ihn. Es machte sie traurig, wenn er traurig war.

„Alles gut. Kein Angst. Ich da für dich.“, versprach Jana mitfühlend.

Tyson starrte sie an. Dieses kleine Geschöpf was einen winzigen Funken von Kai in sich barg. Ihm kam in den Sinn, das er von Max und Ray nichts dergleichen besaß. Da war nichts von ihnen zurückgeblieben, was ihn so an die beiden erinnerte, wie dieses kleine Mädchen an Kai. Seine Fäuste ballten sich entschlossen. Er musste sie hier herausbekommen. Das letzte bisschen bewahren, was er von Kai besaß. Doch wenn sie es aus eigener Kraft hinausschaffen wollten, müsste er…

Tyson wagte gar nicht die Überlegung auszuspreche. Er müsste Kais Leichnam hier zurücklassen. Der Gedanke ließ ihn starr zu dem toten Körper schauen.

Das würde er niemals über sich bringen können. Er wollte Kai begraben. Tyson wollte einen Ort haben, an den er Jana führen konnte, wenn sie erst einmal älter war. Nicht nur sie brauchte das, er würde das auch brauchen, um dieses klaffende Loch in sich zu heilen. Er wollte einen Platz, an welchem er wenigstens einem seiner Freunde Nahe sein konnte. Ihm wurde schmerzlich klar, weshalb manche Menschen so viel Zeit auf Friedhöfen verbrachten. Er würde wohl auch jeden Tag an Kais Grab wollen. Bei dem Gedanken das Ray und Max für ihn dagegen unerreichbar waren, verzog sich sein Gesicht erneut voller Gram.

Er kam sich so verlassen vor…
 

Gerade als er darüber nachdachte, wie sie endlich hier herauskommen sollten und dabei auch Kais Körper mit sich nehmen könnten, spürte er einen kläglichen Windhauch in seinem Nacken. Er fröstelte kurz. Tyson schielte zum Riss in der Wand, in der festen Überzeugung, dass der Zug daher kam, bis ihm klar wurde, dass er in die falsche Richtung blickte.

Er wurde starr. Ein Schweißtropfen rann ihm die Schläfe herab.

Da klackerten an vereinzelten Stellen ihres Unterschlupfes, winzige Splitter über den staubigen Boden. Sie rollten gespenstisch in der Dunkelheit, während sie in einem bläulichen Glanz erstrahlten, dabei zielten sie einen bestimmten Punkt an und verschwanden hinter einem großen Geröllhaufen. Die Splitter suchten sich ihren Weg durch die Ritzen.

Jana umgriff furchtsam Tysons Ellbogen.

„Was da los?“, wollte sie argwöhnisch wissen. Der fletschte aber nur die Zähne.

Ihm wurde klar was diese kleinen kieselartigen Brocken waren - Drachenschuppen.

Der Hass den er für sein Bit Beast empfand, ließ ihn endlich von Kais Leichnam ablassen. Er legte ihn behutsam auf den Boden ab und erhob sich wachsam.

„Bleib weg, Jana.“

Sie drängte sich an den Körper ihres toten Bruders und verkroch sich. Inzwischen packte Tyson ein abstehendes Rohr, was durch das Erdbeben, von den Leitungen unter ihrem Haus, zutage gefördert worden war. Mit einem verbissenen Ausdruck, begann er der Spur aus Drachenschuppen zu folgen. Der innige Wunsch Dragoon alles heimzuzahlen hatte sich in ihm eingenistet. Er fraß sich durch sämtliche seiner Knochen.

Dieser Verräter war der Ursprung allen Übels.

Er hatte nichts von dem übrig gelassen was Tyson so innig liebte.

Sein Zuhause lag in Scherben, seine Familie war verstreut und seine Freunde tot!

Dieses Bit Beast durfte nicht ungestraft davonkommen. Das wäre einfach nur unfair.

In einer regelrechten Raserei, packte er ein Bruchstück nach dem anderen. Er warf jedes einzelne Teil achtlos fort, ließ das Rohr dann doch wieder fallen, um sich schneller in die Trümmer hineinwühlen zu können. Zwischen diesem Wirrwarr aus Brettern, Stein und Rohren, glomm ein Licht zu ihm hinauf. Das Familienschwert…

Die Drachenschuppen drangen nach und nach in das Katana ein.

Natürlich. Dragoon konnte in dieser Welt ohne eine Hülle nicht mehr existieren. Dem letzten Hindernis versetzte Tyson mit einem lauten Fauchen einen tritt. Es verursachte eine Kettenreaktion und ließ die Trümmer in einer staubigen Welle in sich zusammenfallen. Dann packte er das Schwert und haute es wie ein Irrer gegen die umliegenden Wände.

Irgendwie musste er es zerstören.

Als die Schläge nicht ausreichten, setzte Tyson das Katana auf dem Boden ab. Er trat auf die Klinge und wollte im selben Augenblick den Griff nach oben reißen, in der Hoffnung, das Schwert möge zerbersten, als eine Stimme an sein Ohr drang.

„Weißt du eigentlich wie albern das aussieht?“

Sein Kopf fuhr hoch. Aus dem Schwert stoben die Drachensplitter wieder hervor und fügten sich zu einer leuchteten Menschengestalt zusammen. Tyson packte erneut das Rohr. Dragoon hatte es noch nicht geschafft, sich gänzlich Konturen zu verschaffen, sein Körper besaß zu viele Lücken. Er wirkte wie ein unfertiges Puzzle. Da holte Tyson schon mit dem Rohr aus. Die Lichtgestalt stürzte in sich zusammen, doch prompt sammelte sie sich an anderer Stelle wieder.

„Verschwinde!“, brüllte Tyson. Er holte wieder aus.

Das Spiel ging aber wieder von neuem los. Wann immer er auf Dragoon einschlug, setzte der sich wieder an einem anderen Punkt in der Nische zusammen. So ging das ziemlich lange zwischen ihnen, bis sich etwas änderte. Tyson haute das Rohr direkt gegen Dragoons Schädel. Er wollte sich prompt abwenden, um nach dem nächsten Sammelpunkt zu suchen, doch zu seiner Überraschung, blieb das Rohr dieses Mal in dem Schädel stecken. Die Schuppen wuchsen darüber zusammen.

„Lächerlich!“

Seiner Waffe beraubt, wollte Tyson mit bloßen Fäusten nach ihm schlagen. Stattdessen wurde er selbst am Kragen gepackt. Dragoons rechte Gesichtshälfte war noch unvollständig, als er Tyson näher an sich heranzog. Seine Stimme war ein drohendes Knurren.

„Du denkst das kann mir etwas anhaben?!“

Er warf Tyson gegen den umliegenden Schutt. Sofort regnete es Asche und Geröll auf ihn. Dann zog Dragoon geradezu unbeeindruckt das Rohr aus seiner Augenhöhle. Jana gab einen spitzen Schrei von sich, als es klirrend zu Boden fiel. Tyson dagegen schnaufte vor Zorn. Für kurze Zeit kehrte eine beunruhigende Stille ein, in der Dragoon sich weiter zusammenfügte. Doch selbst dem fertigen Ergebnis fehlte ein Körperteil. Noch immer gab es nur einen Arm. Beide taxierten sich eine Weile.

„Bist du jetzt zufrieden?!“, brüllte er Dragoon entgegen. „War es das was du wolltest?!“

Sein Bit Beast blieb stumm. Es hatte auf die pompöse Drachengestalt verzichtet.

„SAG ETWAS!“, gellte der Schrei aus seiner Kehle.

„Lass mich in meine Hülle zurück.“, kam es monoton zurück.

„Ist das alles?!“

„Was soll ich sonst sagen?“

„Das kannst du doch nicht gewollt haben?! Wie kannst du damit glücklich sein?!“

„Du bist erbärmlich.“

Tyson holte aus und brachte den Körper wieder zum Bersten. Es hörte sich an, als würden tausend Eiskristalle zu Boden stürzen, doch es passierte alles so schnell, dass seine Faust unaufhaltsam gegen eine scharfe Holzkante prallte. Der Schmerz jagte ihm durch den Körper. Dragoon fügte sich anderenorts wieder zusammen, war nicht mehr als eine verschwommene Lichtgestalt - und doch erkannte Tyson deutlich den gleichgültigen Blick der ihm zugeworfen wurde.

„Du bist so erbärmlich.“, wiederholte Dragoon noch einmal. „Jetzt wo es zu spät ist, da sprechen wir endlich dieselbe Sprache.“

„Was redest du da?!“, fauchte Tyson aufgebracht.

„Jetzt weißt du endlich wie es sich anfühlt, wenn man so von Hass zerfressen wird, dass dir alles egal wird!“, zischte Dragoon ihm entgegen. „Du brichst dir den Finger. Es ist dir egal. Du brichst dir die Hand. Du spuckst darauf! Du willst dich rächen, rächen und nochmals rächen! Jetzt weißt du endlich was blinde Raserei ist!“

„Ich bin nicht wie du!“, wehrte sich Tyson gegen den Vorwurf.

„Ach wirklich?!“, Dragoon gackerte ihm böse ins Gesicht. Doch es klang eher verrückt. „Du fragst mich ob es das alles wert war… Nach allem was ich geopfert habe?! Meinen Arm habe ich verloren. Meine Kameraden mit denen ich aufgewachsen bin! Meine Gefährtin für die ich Wolborg verbannt habe! Ich weiß genau was Rache ist – und was sie anrichten kann! Genau wie du um dich schlägst wie ein Irrer, ging es mir all die Jahre, als du mich einfach verleugnet hast! Genau so fühlt sich das an, Junge!“

„Ich wollte das aber nicht! Ich war einfach nur leichtsinnig! Du dagegen bist eine Plage!“

„Glaubst du ich wollte das alles?!“, brüllte nun auch Dragoon ihm entgegen.

Sein zorniger Schrei hallte durch die enge Nische, ließ irgendwo inmitten der Ruine etwas einbrechen. Als der Krach verklang, wurde es still zwischen ihnen. Tyson zitterte vor Zorn. Er hob nochmal die Faust, wollte zuschlagen. Sie bebte in der Luft. Doch er dachte daran, was sein Bit Beast ihm vorwarf. Er war bereit jeden Knochen zu brechen, einfach um ihm weh zu tun.

Genau wie Dragoon in den letzten Tagen. Er hörte Jana wimmern und als sein Blick sie traf, konnte er nicht sagen, vor wem sie sich mehr fürchtete. Er ließ die Faust sinken.

„Ich bin nicht wie du.“, zischte er noch einmal entschieden und wandte sich ab. „Du bist eine widerwärtige Naturkatastrophe! So etwas wie dich sollte es nicht geben…“

„Dann bist du es auch.“

„Stell mich nicht mit dir auf eine Stufe!“

„Stell du dich lieber der Realität! Diese vorwitzige Maus müsste dich doch schon aufgeklärt haben, was es mit unserem Band auf sich hat. Du weißt genau das ich dich nicht ausgesucht hätte, wären wir uns nicht zu hundert Prozent ähnlich.“

„Ich will das nicht hören.“

„Das ist mir klar. Immerhin ist es hart sich seine Fehler einzugestehen. Ich musste die letzten Tage mehr einräumen, als ich verkraften konnte. Noch nie habe ich so viele Entscheidungen von mir hinterfragt.“, antwortete Dragoon geistesabwesend. Tyson beobachtete sein Bit Beast, wie es von ihm wegtrat. Es beugte sich herab und hob das Katana auf. Nachdenklich drehte er die Klinge in seiner Hand.

„Wir sind uns erschreckend ähnlich.“, fällte er sein Urteil, in einer geradezu melancholischen Tonart. „Denkt ihr Menschen wirklich, wir Bit Beast suchen uns unsere Kinder wahllos aus? Es gibt einen Grund weshalb ich dich wollte. Weil ich gespürt habe, dass unsere Seelen fast identisch sind. Es war als hätte ich einen kleineren, schwächeren Zwilling. So empfanden wir Uralten bei jedem von euch…“

Tyson schaute ihn aus leeren Augen an.

„Draciel hatte sich Max ausgesucht, weil er genauso seine Eltern liebte, wie die Schildkröte die Weltenbaumeltern. Es war von ruhiger Natur, ließ sich ständig mittreiben und horchte auf die beiden. Mir selbst ist nie aufgefallen, dass die Eltern beider Welten, eine Stimme besitzen. Draciel dagegen schon. Es konnte zwischen den Zeilen lesen.“, Dragoon senkte nachdenklich die Lider.

„Ray dagegen war ein Mensch der an Traditionen hing, findest du nicht auch? Und ja… Was hing Driger nicht auch an den alten Normen. Er war ständig so rechtschaffend. Immer hielt er mir Vorhaltungen, damals, als meine Fehde mit Wolborg begann. Er meinte ich solle meine merkwürdigen Empfindungen zurückstecken und Stärke beweisen. So wie es sich für einen Uralten geziemt.“

Er schloss die Augen einen Moment.

„Und dennoch… Als Galux seinen Weg kreuzte, lag sein Hauptaugenmerk darin, sie zu beschützen. Es ist wohl immer einfacher mit dem Finger auf andere zu zeigen, wenn man nicht selbst in deren Situation steckt. Das musste Driger auch gedacht haben, als er Ray wegen seiner Frau verurteilte, aber kurz darauf gegen mich antrat, um Galux vor mir zu retten. Wollte dein Freund nicht auch mit den alten Traditionen brechen? Seine Heimat verlassen um seine Familie zu schützen? Welche Ironie das Driger zu spät bemerkt hat, wie ähnlich er Ray im Grunde war. Hätte er es eher erkannt, hätte er mir wohl rechtzeitig ins Gewissen geredet, bevor ich meinen Plan ausheckte, euch in die Irrlichterwelt zu holen.“

Dragoon lachte leise. Es klang keineswegs heiter.

Tyson ahnte wen sein Bit Beast als nächstens ins Visier nahm.

„Kai war kein bisschen wie Dranzer.“

„Sollte man meinen, nicht? Aber dann fiel mir auf, wie er sich benahm, als er in seinem kindlichen Körper steckte. Da begriff ich erst, dass beide sich in ihrer Kindheit, wie ein Ei dem anderen glichen. Jung, unerfahren, voller Zutrauen – bis beide das Leben zeichnete.“

Dragoon erhob sich und seufzte wehmütig. Seine Stimme wurde rau beim nächsten Teil.

„Dranzer war ein so wundervolles Küken. So verspielt und abenteuerlustig. Ein unschuldigeres Geschöpf war mir noch nie unter die Augen gekommen. Ihr naives Vertrauen hat mich so gerührt, ich wollte ihr die Welt zu Füßen legen.“

„Bis du sie zerstört hast.“

Er blieb lange stumm. Bis er die Klinge senkte und ihn fragend anschaute.

„Und genau das verstehe ich nicht. Es war doch niemals meine Absicht Dranzer zu verändern. Was ich wollte, war, dass sie sich von ihrer Schwester lossagt. Es ist wie bei Kai und seinem Großvater. Dem konntest du doch auch nichts Gutes abgewinnen. Hätte sich vor dir eine Möglichkeit aufgetan, hättest du dann nicht auch die Chance genutzt, um ihn aus dem Weg zu räumen?“

Tyson schaute Dragoon lange an. Es steckte doch etwas Wahrheit in seinen Worten. Er konnte nie begreifen, warum Kai seinem Großvater gegenüber loyal geblieben war. Er war doch ein so ekelhafter Mensch. Tyson hatte so manches Mal gedacht, dass er seinen Enkel nicht verdiene. Da seine Antwort einfach ausblieb, wurde Dragoon drängender.

„Was hättest du anders gemacht, Takao?“

„Ich… Ich hätte ihn nicht aus dem Weg geräumt.“

„Nun lüg doch nicht.“

„Nicht weil ich ihm vergeben könnte.“, stellte Tyson mit erhobenem Finger klar. „Ich könnte keinem einzigen aus Kais Familie vergeben. Sie haben ihm furchtbar übel mitgespielt. Aber ich hätte sie nicht verbannt. Es gibt einfach Regeln bei Menschen. Man kann nicht einfach so willkürlich jemandem aus dem Weg räumen, nur weil einem dessen Nase nicht passt. Das wäre unmenschlich!“

Dragoon schaute ihn lange an.

„Unmenschlich.“, wiederholte er irgendwann. Es klang enttäusch. Sein Blick schweifte durch die Ruinen. „Ich bin kein Mensch. Also ist wohl das Einzige was dich Kai näher gebracht hat deine Menschlichkeit.“

Er lachte trocken auf, schüttelte den Kopf.

„Dann hatte ich wohl doch nie eine Chance bei Dranzer. Ich bin ein Bit Beast. Ein Wesen das von Instinkten getrieben wird. Ich kann mich nicht wie ein Mensch benehmen oder euren Regeln beugen. Die Natur kennt keine Menschlichkeit.“

Er deutete mit dem Katana auf Jana, die sich ängstlich neben ihrem Bruder zusammenkauerte. Seit längerer Zeit jammerte sie bereits, weil Kai einfach nicht wach wurde. Sie hielt die Hand ihres Bruders und starrte aus großen Augen zu ihnen herüber. Ungerührt sprach Dragoon aber: „Mutter Natur würde für sie auch keinen Nutzen sehen. Sie ist nun einmal grausam und kennt kein Erbarmen.“

Er senkte die Klinge.

„Ich kann doch nicht unterdrücken, was tief in meiner Seele verwurzelt ist. Instinkte sind ein angeborenes Verhalten. Das wird uns in die Wiege gelegt. Wolborg im Kampf zu besiegen und fortzuschicken, war der einzige Weg den ich gesehen habe. Ich hatte doch niemals erwartet, dass Dranzer mich so sehr dafür verachtet. Ich dachte irgendwann würde sich das legen. In der Tierwelt ist es doch nicht anders. Wenn der Anführer eines Rudels verdrängt wird, hinterfragt niemand dessen Nachfolger. Man gehorcht ihm einfach.“

Tyson seufzte bedauernd. Ihm fiel es irgendwie immer schwerer Dragoon wirklich böse zu sein, weil ihm klar wurde, dass das Kernproblem darin lag, dass er einfach nicht menschlich war. Er hätte in tausend Körpern leben, sich noch so sehr wie ein Mensch ausdrücken können, tief im Inneren würde er aber immer anders bleiben. Da schallte ein heftiges Donnern zu ihnen, gefolgt von einem kurzen Beben. Es ließ Dragoon durch den Spalt hinausschauen.

„Nun denn. Es hat keinen Sinn mehr darüber nachzudenken. Immerhin müssen wir nicht mehr lange mit unseren gebrochenen Herzen leben.“, er ließ das Katana zu Boden fallen. „Wenn du mich entschuldigst, möchte ich die letzten Minuten in meiner alten Hülle verbringen. Mir ist nicht danach, in die Irrlichterwelt zurückzukehren Es würde vorbei sein, noch bevor ich meine Heimat erreiche. Da wird mir das Schwert eine gute Gaststätte bieten.“

„Was meinst du mit bald vorbei?“

„Diese Welt stirbt, Takao. Und diese Region wird den Anfang machen. Der Fuji hat sich entschieden zu einem Supervulkan zu werden. Er wird in Kürze das gesamte Gebiet hier in einen tiefen Abgrund reißen.“

Tyson blinzelte verwirrt. Er war nie gut in Erdkunde gewesen, doch zumindest hatte er hier nicht geschlafen, weil das Thema ihn in der Schule interessiert hatte.

„Der Yellowstone ist ein Supervulkan - aber doch nicht der Fuji!“

„Der Fuji hat sich entschlossen euch vom Gegenteil zu überzeugen.“, Dragoon spähte zu ihm, seine Augen wurden zu wachsamen Schlitzen. „Die Naturgesetze beruhen auf den Uralten. Jetzt da alle tot sind, sind sie außer Kraft gesetzt. All das Wissen, dass sich die Menschheit über diese Welt aufgebaut hat, könnt ihr nun getrost in die Tonne treten. Die Natur wird nun machen, wonach immer ihr der Sinn steht, ohne euch im Vorfeld zu warnen. Und wenn sie den Fuji eine gigantische Explosion machen lassen möchte, die sonst nur ein Supervulkan schafft, dann ist es eben so, egal was ihr Menschen in euren schlauen Büchern dazu notiert habt.“

Tyson stockte der Atem. Er wusste noch, wie er einmal eine Dokumentation über Supervulkane verfolgt hatte. Demnach konnte bei einem Ausbruch, jedes Leben, in einem Umkreis von hundert Kilometer, restlos vernichtet werden. Und das mit ziemlicher Sicherheit. Alles was weiter außerhalb lag, wurde von einer Aschewolke begraben. Sie waren eine globale Klimakatastrophe. Inzwischen senkte Dragoon die Lider und sprach ungerührt: „Das, was der Fuji gerade spuckt, ist nur ein Vorbote. In wenigen Minuten wird der ganze Landstrich hier in die Luft fliegen. Es gibt nichts mehr was ich noch tun könnte. Ein Uralter allein ist so nutzlos, wie ein Tisch mit drei fehlenden Beinen.“

Tyson schluckte hart. Dann sprach er: „Aber genau das wolltest du doch verhindern! Das die Welt untergeht!“

„Tja, ich habe versagt. Dranzer ist nun auch tot. Wir beide zusammen, hätten noch das Gewicht von zwei fehlenden Uralten tragen können, aber das hier? Diese Ausgangsituation ist ein Fiasko.“, er schaute bedauernd zu Jana. „Du hast Kai keinen Gefallen damit getan, als du ihm geschworen hast, auf seine Schwester aufzupassen. Was jetzt kommt, davor kann sie keiner mehr beschützen. Nimm das Schwert und schneid ihr die Kehle durch. Das wird gnädiger sein, als das was in den nächsten Stunden passiert.“

„Soll das ein schlechter Scherz sein?!“, fragte Tyson fassungslos. Er trat näher an Dragoon heran, blitzte ihn fordernd an. „Du musst doch irgendetwas unternehmen können!“

„Hast du mir nicht zugehört?“

„Doch, aber…“

„Es ist vorbei, Takao!“, fuhr Dragoon ihm entnervt dazwischen. „Ein Bit Beast allein kann niemals alle vier Elemente lenken. Das ist zu viel Kraft die kontrolliert werden muss! Also wag es nie wieder, mich zu fragen, ob ich das hier gewollt habe, denn nein, ich wollte niemals dass die Erde wegen unser beider Fehde untergeht! Es ist schließlich auch mein Ende! Ein toter Planet benötigt keinen Luftgeist. Damit habe ich ausgedient und der Grund, weshalb ich existiere, ist dahin!“

„Wird es keine neuen Uralten geben? Habt ihr nicht irgendetwas wie eine Verwandtschaft?“

Dragoon blinzelte ihn verständnislos an. Und das eine ganze Weile…

„Was?!“, war seine einzige Frage. Es klang als hielte er Tyson für blöd.

„Naja, ihr seid doch so etwas, wie… sagen wir, Könige! Und ein König hat einen Thronerben, falls er abtreten muss. Es wird doch irgendjemanden geben, der auf die verstorbenen Uralten folgt!“

„Ich kann keines natürlichen Todes sterben, Junge! Also habe ich nie etwas wie einen Erben gebraucht.“, kam es voller Sarkasmus. Doch dann dachte er laut nach. „Wenn ein Uralter aber doch stirbt, wird einfach ein neuer geboren. Von der Weltenbaummutter.“

„Das ist doch gut, oder? Wie lange wird es denn dauern, bis die neuen Uralten auf die Welt kommen?“

„Zu lange. Das ist ein jahrelanger Prozess. Als Dranzer geboren wurde, hat sich ihr Körper erst nach hundertachtzig Monaten, komplett von ihrem Sonnenstrahl gelöst. Auch der Lebensbaum ist trächtig und braucht seine Zeit, um ein Bit Beast auszutragen. Je mächtiger das Bit Beast werden soll, desto länger geht das Ganze. Dagegen sind die lumpigen neun Monate, die eure Menschenweibchen brauchen, überhaupt nichts.“, Dragoon rieb sich über die Schläfe. „Sei es drum. Vielleicht ist es besser so. Ohne meine Gefährten will ich diese Welt nicht mehr regieren. Schon gar nicht ohne Dranzer.“

„Du meinst also es ist für dich besser!“

„Ja ist es. Ich bin ein Egoist! Auch schon begriffen?“

Tyson blickte zu Jana. Er hatte Kai doch versprochen auf sei aufzupassen…

Sie kauerte weiterhin schluchzend neben ihrem Bruder. Offenbar schien sie gemerkt zu haben, dass Kai nicht aufwachte, um sie vor dem komischen Kerl hier zu beschützen. Sie rüttelte mehrmals an seinem Arm und bat ihn darum, doch endlich aufzustehen. Es riss Tyson das Herz entzwei. Sie war noch so jung und sollte schon sterben.

„Es muss etwas geben was du tun kannst!“

„Nein.“

„Streng dich gefälligst an!“

„Was schert es dich noch was mit der Welt passiert? Du hast auch alles verloren.“

„Das ist so typisch für dich! Du leidest und alle anderen sollen es nun auch!“, Tyson deutete auf Jana. „Sie hat es verdient zu leben. Sie und alle anderen Menschen auf der Welt, die nichts für unsere Streiterei können. Wir dürfen nicht zulassen, dass noch mehr Menschen zu Schaden kommen!“

„Du meinst dieses feige Rattenpack, das euch noch nicht einmal aus diesem Loch befreien wollte?“, höhnte sein Bit Beast geradezu gehässig.

„Häng dich nicht an solchen Leuten auf! Denk an die, die es verdient haben zu leben. Und jetzt unternimm endlich etwas!“

„Entschuldige mal, ich bin keine Wunschfee!“, blaffte ihn Dragoon an.

„Aber du hast so viele Fähigkeiten! Du kannst Stürme heraufbeschwören. Du konntest in einer Leiche hausen. Du bist unfassbar stark! Nun lass dir doch etwas einfallen!“

Sein Bit Beast begann endlich zu grübeln. Wenn auch eher widerwillig…

„Warum ist dir das überhaupt so wichtig?“

„Ich muss mein Versprechen halten! Ich habe Kai geschworen, Jana zu beschützen! Er wollte dass sie in einem schönen Zuhause groß wird! Ich will das sie die Chance auf ein schönes Leben bekommt, so wie Kai es sich vorgestellt hat!“

Tysons Fäuste begannen vor Verzweiflung zu beben.

„Ich habe doch schon Ray und Max verloren! Weißt du wie schwer es für mich ist, dass ich nichts von ihnen habe, was mich an sie erinnert? Aber Jana… Kai hat sie geliebt! Ich will nicht den letzten Funken, der von ihm geblieben ist, auch noch verlieren! Ein kleiner Teil von ihm steckt doch auch in ihr. Sie waren doch Geschwister!“

Es kehrte Stille ein, während Dragoon ihn nachdenklich bedachte.

Jana weinte inzwischen – weil Kai nicht mehr aufwachte. Sie rüttelte an seinem zerschlissenen Oberteil und bettelte darum, dass er endlich die Augen auftat. Die schlitzartigen Pupillen seines Bit Beast huschten einen Moment zu ihr, beobachteten wie sie das Gesicht ihres Bruders tätschelte und dicke Tränen über ihre Wangen rollten. Dann schloss er die Lider.

„Sie war also ein Teil von ihr…“, murmelte Dragoon vor sich her. Einen Moment wollte Tyson ihn korrigieren, bis ihm klar wurde, dass er nicht von Kai sprach. Stattdessen blieb er stumm und beobachtete, wie die leise Erkenntnis, in das Bewusstsein seines Bit Beats eindrang - das er mit der Verbannung von Wolborg einen Teil von Dranzer zerstört hatte.

„So war das also.“

Ein wehmütiger Ausdruck trat auf Dragoons Gesicht. Plötzlich schlug er abrupt die Augen auf und sein Kopf schnellte in Tysons Richtung.

„Ein Teil von dir. Ja genau… Das könnte eine Möglichkeit sein!“

„Wovon redest du?“

Die Art wie ihn sein Bit Beast anschaute gefiel ihm nicht.

„Wie weit würdest du gehen um diese Welt zu retten?“

„Ich?“

„Ja, du! Bist du bereit etwas dafür zu tun oder schwingst du nur große Reden?!“

„Fahr mich nicht so an… Was soll ich denn außerdem schon tun können?“

„Mehr als du glaubst. Auch wenn der Löwenanteil wohl wieder an mir hängen bleibt.“

Tyson wollte schon fauchen, ob das eine Anspielung auf ihre gemeinsame Beybladezeit war, da schüttelte sein Bit Beast unwirsch die Hand. „Es gäbe da eine Möglichkeit. Doch ich weiß weder ob sie funktioniert, noch welche Auswirkungen sie für uns hat. Der Erfolg steht wirklich auf schwankendem Sockel. Aber eventuell… Könnte es die Lösung all unserer Probleme darstellen. Und ich meine wirklich aller Probleme!“

Tyson hob fragend die Braue. Er begriff noch nicht was das heißen sollte.

„Als würde man mit einem Schimpansen reden.“, rollte sein Bit Beast abfällig mit den Augen und überging sein empörtes Gesicht. „Wie bereits erwähnt, kann ich nicht alle Elemente auf einmal kontrollieren. Der Grund dafür ist ganz einfach. Nimm ein Fass und füll es mit Wasser. Bis wohin kommst du?“

„Na… Bis zum Rand.“

„Und wenn du es weiterfüllst?“

„Dann schwappt das Wasser über. Oder vielleicht platzt das Fass sogar.“

„Genauso ist es mit der Energie die zu mir fließen würde. Ich bin nicht dafür geschaffen, eine solche Menge in meinem Körper zu behalten. Ein Fass das man zu voll macht, schwappt über oder zerbricht sogar an der Masse seiner Fülle. Genau das würde mir wiederfahren!“

„Und was soll ich nun tun?“

„Um die Energie zu lenken muss ich meinen Körper aufgeben.“

„Deinen Menschenkörper?“

„Nein. Meinen Drachenkörper. Mein Dasein als Bit Beast.“

Etwas überrascht hob Tyson die Braue.

„Aber… Was bleibt dann von dir übrig?“

„Nichts! Das ist ja das Problem. Ich muss komplett mit der Energie verschmelzen, ein Teil von ihr werden, um sie in die richtigen Bahnen zu lenken. Und da kommst du nun ins Spiel.“

Die drachenhaften Pupillen stierten ihn geradezu lauernd an.

„Ich brauche eine Garantie. Einen Unterschlupf der gewährleistet, dass nach dieser Fusion, ein kleiner Teil von mir weiter existiert, der sich von dieser Tortur erholen kann.“

„Du willst also noch einmal in meinem Körper hausen?“

„Nein. Das ist etwas viel… Intensiveres.“, er schien nach dem richtigen Wort zu suchen. „Wenn mein Geist sich lediglich in deinem Leib einnistet, würdest du als Sterblicher irgendwann an meiner Last verkümmern. Das ist wie bei einer ausgedörrten Blume. In einem menschlichen Körper muss alles ein gesundes Maß haben. Um mich zu erholen, brauche ich aber einen dauerhaften Ort. Ich brauche etwas was viel tiefer greift. Einen kleinen Nistplatz um wieder zu erstarken, damit ich meinen Platz als Luft Bit Beast später wieder aufnehmen kann. Und da würdest du dann ins Spiel kommen.“

„Wie das?“

Dragoon atmete hörbar aus. Offenbar schien ihn dieser Teil viel Überwindung zu kosten.

„Lass mich einen Platz in deiner Seele einnehmen. Dort könnte ich wieder heranreifen.“

„Ich dachte ein schwaches Menschlein, kann auf Dauer keinen Uralten beherbergen?“, kam es etwas gehässig von ihm.

„Der Körper nicht. Aber die Grenzen einer Seele können unerschöpflich sein. Es heißt nicht umsonst, dass der Geist manches Mal willig, aber der Körper schwach ist. Du musst dich endlich wieder daran erinnern, zu welchen Dingen du fähig warst, während deiner Zeit als Blader. Woher glaubst du, hast du all deine Kraft hergenommen? Das war nicht dein Körper aus welchem du deine Macht gezogen hast. Der fungierte nur als schützendes Fundament. Es war deine Seele aus der du die Kraft geschöpft hast!“

Tyson schaute nachdenklich zur Seite.

„Ich weiß nicht ob das so gut ist.“

„Ach, meinst du? Na dann warte mal ab, denn falls du dich weigerst, wird auch der letzte Uralte sterben. Auf diesem Planeten wird es dann ganz schön ungemütlich. Stell dir eine Erde ohne Luft vor. Die Menschen werden schneller krepieren als jede Eintagsfliege!“

Tyson biss sich auf die Lippe.

„Okay. Nur mal angenommen ich gebe dir diesen Nistplatz. Wofür brauchst du ihn überhaupt noch, wenn du doch alle Elemente kontrollieren kannst?“

„Diesen Zustand kann ich nicht dauerhaft aufrechterhalten.“

„Aber dann stehen wir doch kurz danach wieder vor demselben Problem? Du zögerst das Ende der Welt damit nur hinaus! Du sagst doch selbst, dass du nicht die Kraft hast, um alle Elemente auf einmal zu kontrollieren. An dieser Tatsache wird sich nach wie vor nichts geändert haben, wenn du dich in deinem Nistplatz einquartierst.“

„Ich dachte da auch eher an eine unkonventionellere Lösung. Dazu müsste ich die Kraft ziemlich zweckentfremden. An einen Neustart wenn du so willst.“

Er starrte ihn argwöhnisch an.

„Neustart? Willst du die Erde neu erschaffen?“

„Mach dich nicht lächerlich. Nein. Einen Neustart zwischen uns. Ich könnte den Lauf der Dinge bis zu jenem Punkt zurückdrehen, an welchen unsere Fehde noch nicht begonnen hatte.“

Nun blinzelte er komplett irritiert.

„Warte mal… Willst du die Zeit zurückdrehen?“

„So ähnlich.“

„Das kannst du?!“

„Vielleicht. Es ist aber reine Theorie.“, er zog die Brauen nachdenklich zusammen. „Im Prinzip müsste es möglich sein... Ich muss dazu jedes Lebewesen, jede Pflanze, jeden Partikel, jedes Mineral was sich auf diesem Planeten befindet, wieder in den Zustand zurückversetzen, in welchen er vor unserer Fehde war.“

Er bückte sich, hob etwas auf.

„Sieh dir diesen Stein an. Ich lasse ihn fallen. Wenn ich mit der Energie verschmelze, wäre es möglich, diesen Vorgang zurückzudrehen. Das muss ich aber mit wirklich allem machen. Jeder Atemzug von einem Menschen, jeder Regentropen der aus einer Wolke kommt, jede Pflanze die wächst… Jede einzelne noch so kleine Bewegung. Alles wird rückwärts abgespielt.“

Tyson stockte der Atem als er begriff. Es wäre also, als würde Dragoon eine Kassette zurückspulen. Seine geballten Fäuste begannen bei dieser Überlegung zu zittern…

Er wagte kaum daran zu glauben, was das bedeuten könnte, denn die Furcht hielt sein Herz fest umgriffen. Die Angst dass er sich zu viel erhoffte und umso tiefer fiel, sollte er alles auf diese eine Karte setzen und doch wieder verlieren. Die Gesichter seiner Freunde erschienen vor seinem inneren Auge. Sie alle…

Sie könnten wieder leben!

Da war eine kleine Stimme, die ihn ermahnte sich keinen voreiligen Illusionen hinzugeben, weil das alles viel zu verrückt klang. Doch der drängende Wunsch, diese tiefe Sehnsucht, sie griff immer weiter in seinem Herzen um sich. Max und Ray. Er könnte ihr Schicksal verhindern!

Beide waren doch so gute Menschen und dennoch mussten sie vor ihrer Zeit gehen. Sie hätten es verdient im Kreise ihrer Freunde und Familie zu sterben. Im hohen Alter, wenn die Natur einfach ihren Lauf nahm, aber keinesfalls so wie jetzt.

Max hatte einmal gescherzt, dass sie wahrscheinlich noch als alte Tattergreise zusammenglucken würden. Daraufhin mussten sie lachen, weil der Gedanke so urkomisch gewesen war, sich alle beisammen, auf der Terrasse des Kinomiya Anwesens vorzustellen, wie sie sich aus ihren Schaukelstühlen heraus, über ihre vorlauten Enkelkinder beklagten. Selbst Kai hatte die Überlegung damals ein leises Schmunzeln entlockt. Er hatte noch dessen Lächeln vor Augen…

Wie seine Mundwinkel sich belustigt nach oben schoben. Das war in einer dieser warmen Sommernächte gewesen, als sie wieder mal gemeinsam draußen saßen und in die Sterne schauten. Er blickte zu Kais Leichnam. Zu den blassen Lippen, die für immer verstummt waren. Tyson könnte wieder seine Stimme hören. Einfach bei ihm sein und sich an seiner Gegenwart erfreuen.

Zu wissen dass er noch lebte - das würde ihm vollkommen ausreichen.

Die nächste Woge der Hoffnung konnte er nicht mehr aufhalten.

Er wollte hoffen. Er wollte seine Welt wieder zurückhaben, so wie sie einst gewesen war. Selbst wenn er dafür einen Pakt mit dem Teufel einging. Dragoons Stimme holte ihn aus seinen Gedanken.

„Es gibt da allerdings ein Problem. Ich kann die Uralten nicht wieder erschaffen.“

Die Hoffnung drohte wieder abzuebben.

„Dann haben wir das gleiche Problem wie jetzt auch!“

„Oh Menschlein… Wie soll ich dir das erklären?“, Dragoon legte sich den Finger nachdenklich ans Kinn. „Stell dir die Zeit wie einen Fluss vor. Du möchtest stromaufwärts zurück, doch um nicht unterzugehen fehlt dir das Werkzeug. Also bedienst du dich in der Gegenwart eines Hilfsmittels. Du fällst einen Baum, schnitzt daraus ein Kanu und willst damit den Fluss der Zeit hinaufpaddeln. Sagen wir dieses Kanu ist die Energie aller vier Uralten. Soweit verstanden?“

Tyson nickte eifrig. Sein Herz klammerte sich verzweifelt an diesen einen Strohhalm.

„Während du zurückpaddelst, bemerkst du, wie dein Körper sich bereits verändert. Er wird wieder jünger, um sich dem Lebensabschnitt anzupassen, an welchen du gerade zurückschwimmst. Genauso verhält es sich aber auch mit deinem Boot. Was glaubst du passiert mit ihm, wenn der seinen ursprünglichen Zustand wieder einnimmt?“

Natürlich…

Während der Zeitreise, würde zuerst Dranzer wieder erscheinen und Dragoon hätte wieder nicht genug Energie, um die Zeit weiter zurückzudrehen. Das würde womöglich Kai retten, aber nicht Max und Ray!

„Du verstehst also was ich meine. Jetzt kommst du nämlich ins Spiel.“, sein Bit Beast tat eine merkwürdige Handbewegung. Mit einer Drehung seines Gelenks, erschien etwas vor Tysons Augen. Etwas was genauso wie Dragoon schimmerte, nur in einer völlig anderen Farbe. Er kniff die Augen fragend zusammen, trat näher heran und erkannte eine rötliche Feder. Die konnte nur Dranzer gehören. „Damit mir die Energie der Uralten, für dieses Unterfangen, bis zum Schluss erhalten bleibt, werde ich meine Kameraden nicht zurück ins Leben holen, sondern ihnen ebenfalls einen Brutplatz suchen. Deshalb werde ich dir vier Attribute mitgeben. Jedes wird für einen Uralten stehen.“

Dragoons Faust schloss sich um die Feder. Er presste sie fest zusammen, bis ein Licht zwischen seinen Fingern erstrahlte. Als er die Hand wieder öffnete, lagen darin auf wundersame Weise, zwei weitere Objekte. Das eine war eindeutig eine Art kleiner Reißzahn. Aus dem anderen wurde Tyson nicht ganz schlau. Es sah aus wie eine kleine Schale, nur nicht aus Kunststoff, sondern eher aus Knochen.

„Mein Attribut bekommst du sofort. Du wirst es dir einsetzen und damit unseren Pakt völlig besiegeln.“

„Und die anderen?“

„Wirst du deinen Freunden einsetzten. Eine Feder von Dranzer, ein Zahn von Driger und ein Teil von Draciels Knochenpanzerung.“

Das war also die Schale. Zögerlich nahm Tyson die Attribute entgegen. Sie fühlten sich merkwürdig an. Als würden sie unter Strom stehen. Es musste die verbliebene Energie der Uralten sein, die noch in diesen winzigen Überbleibseln steckte. Dennoch ließen sie seine Nackenhärchen aufstehen. Nachdenklich schaute er auf die Attribute herab.

„Ein Pakt.“, kamen die Worte aus seinem Mund, dann hob Tyson argwöhnisch die Braue. „Wie lange wird der anhalten?“

„Für immer.“

„Aha!“, fauchte er anklagend. „Und was sollte dein Gerede, von wegen, du willst deinen Platz als Luft Bit Beast wieder einnehmen?“

„Das werde ich auch. Allerdings wirst du von da an, auch eine Art Bit Beast sein. Wir stecken dann beide in einer Seele. Sie werden so ineinander verwachsen, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, sie voneinander zu trennen.“

Geschockt hoben sich Tysons Brauen.

„Aber das wird doch Auswirkungen auf unser Leben haben!“

„Selbstverständlich. Ihr Vier werdet den Aufgaben der Uralten gerecht werden müssen.“

„Hast du eine Ahnung was du da von uns verlangst? Ich weiß doch gar nicht wie das geht.“

„Richtig. Aber wie du weißt sind uns die Optionen ausgegangen. Es ist die einzige Möglichkeit, noch ein Gleichgewicht in dieses Chaos zu bringen. Deshalb musst du die Attribute auch in deine Freunde einsetzen. Alleine wirst du das nicht schaffen. Egal wie, du musst einen Weg finden! Dir wird in der Vergangenheit dafür nicht viel Zeit bleiben. Höchstens bis Sonnenuntergang – wenn überhaupt.“

„Meine Freunde werden das bestimmt nicht wollen. Ich kann nicht über ihre Köpfe hinweg so eine schwerwiegende Entscheidung fällen. Das betrifft auch sie!“

„Na dann frag sie doch!“, brüllte sein Bit Beast ihn plötzlich aufgebracht an und deutete auf Kais Leichnam. „Es würde mich schwer wundern, wenn du von ihm noch eine Antwort bekommst! Das ist eine Entscheidung die nur noch du alleine fällen kannst! Also… Was willst du, Takao?! Willst du es ihnen nur Recht machen? Oder willst du das tun, von dem wir beide wissen, dass es das Beste für die Welt ist? Hast du den Mut mit den Konsequenzen zu leben, auch wenn dir deine Freunde, irgendwann einmal Vorwürfe machen könnten? Oder willst du dir selbst ständig Vorwürfe machen, weil du nicht die Chance ergriffen hast, sie wieder ins Leben zurückzuholen? Egal welchen Weg du gehst, er wird steinig, Junge, aber so ist das Leben! Man kann nicht allen Erwartungen gerecht werden…“

Tyson verstummte. Er dachte daran welche Aussicht ihm lieber war.

In einem Punkt hatte Dragoon Recht - er würde sich Vorwürfe machen, wenn er diesen Pakt nicht einging. Selbst wenn seine Freunde ihm böse sein sollten, weil er über ihre Köpfe hinweg entschieden hatte, dass sie auf immer mit jenen Geistern verbunden sein sollten, die ihnen so übel mitgespielt hatten.

„Ein kleiner Preis wenn sie dafür Leben, findest du nicht?“, schaute ihn Dragoon ernst an, als hätte er seine Gedanken erraten. „Wenn du es nicht tust, wird die Erde in der Vergangenheit erneut untergehen. Für ein paar Stunden hält sie die Abwesenheit der Uralten vielleicht aus, doch nach und nach, wird das Chaos auch dort Einzug halten. Der Weltuntergang ist ein schleichender Prozess, Takao. Es passiert nicht Schlag auf Schlag. Denk an das Fass mit der Energie der Uralten darin. Nur wird es dieses Mal langsam aufgebraucht, bis es restlos leer ist. Das Fass darf niemals überquellen, aber auch niemals leer sein! Alles muss das richtige Maß haben. Das ist die goldene Regel der Natur. Verstehst du?“

Tyson schluckte und nickte langsam. Daraufhin fuhr Dragoon fort.

„Sobald die Attribute in euren Körpern stecken, wird die Energie der Uralten, die Welt wieder versorgen können. Es wird sein als wären wir in einer Art Ruhemodus. Wir sind da, aber noch nicht vollständig in Betrieb. Die Notversorgung läuft aber. Es könnte möglich sein, dass der Anfang ein kleinwenig holprig wird, aber… auch das ist ein geringer Preis.“

Sein Bit Beast begann seine Finger nachdenklich zu begutachten, während Tyson wie versteinert auf die Attribute blickte. Er hatte keine Ahnung ob er dieser Aufgabe gewachsen war. Außerdem konnte er sich nicht vorstellen, mit einer Art Untermieter in seiner Seele zu leben. Zumal dieser ihn so boshaft verraten hatte.

„Ich rate dir deinen Groll gegen mich abzulegen. Wir werden jetzt ziemlich viel Zeit miteinander verbringen. Ich bin auch nicht begeistert darüber, komplett an dich gebunden zu sein. Etwas Privatsphäre schätze auch ich.“

„Werde ich mich verändern?“, wollte Tyson unsicher wissen.

Einen Moment blickte ihn sein Bit Beast ernst an. Dann seufzte es.

„Ich weiß es nicht.“, sprach Dragoon genauso ratlos. „Eine solche Verbindung gab es noch nicht. Es ist auch für mich Neuland. Ich kann dir nur so viel sagen, dass es der einzige Strohhalm ist, den wir haben. Einige meiner Kräfte werden sicherlich auf dich übergehen. Du musst schnell lernen sie zu unterdrücken. Ihr alle werdet das tun müssen.“

„Kräfte?“, Tyson stellte sich vor, wie er sich in eine Art Drachenmutation verwandelte. Nichts worauf er wirklich scharf war. Dagegen hätte er nichts einzuwenden, durch die Luft sausen zu können.

„Außerdem verlange ich eine Gegenleistung von dir.“

„Als würde ich nicht schon genug machen, willst du noch bezahlt werden?“, brummte er angesäuert.

„Den Löwenanteil mache ich. Also hör auf dich zu beklagen! Du hast keine Ahnung welchen Kraftakt ich gleich bewältigen muss – und wie schmerzhaft das wird. Ein Blitzschlag ist ein Mückenfurz dagegen.“

Dragoons verbliebener Arm begann sich mit glühenden Schuppen zu überziehen. Aus seinen Fingerkuppen wuchsen gefährliche Klauen hervor. Dabei fuhr er fort:

„Da ist etwas was du mir beibringen musst. Ein Defizit, dass wir Bit Beasts schon lange besitzen und welches wir in diesem Zuge gleich beheben sollten.“

„Das wäre?“

„Mit Gefühlen umzugehen. Ich weiß nicht woran es liegt, aber diese irdischen Dinge… sie entziehen sich mir komplett. Genauso wie dem Rest meiner Sippe. Es ist schwierig mit etwas umzugehen, was so lange in unserer Welt verpönt war.“

Er starrte auf die Attribute in Tysons Handfläche. Ihm war als würde sein Bit Beast ganz besonders Dranzers Feder fixieren.

„Ihr Menschen… Ihr seid uns was das angeht tatsächlich einen Schritt voraus. Wir handeln nach Instinkten. Die letzten Jahrmillionen waren die auch erforderlich, bis die ersten Moralvorstellungen in die Welt traten. In deinen Augen mag ich grausam sein, aber ich handle so, wie ich es schon seit meiner Geburt kenne.“

Es hörte sich an, als wäre sein Bit Beast ein verstaubter Computer, der dringend ein neues Betriebssystem benötigte. Irgendwie begriff Tyson so langsam, wie er dachte. Dragoons Methoden waren vor Jahrhunderten noch bewährt, hatten aber nun ausgedient. Da er aber ein veraltetes Modell war, konnte er diese neue Modeerscheinung, namens Empfindung, einfach nicht mehr begreifen. Als wäre es ein Upgrade, für das er nicht mehr kompatibel war.

„Ein veraltetes Modell…“, sprach Dragoon auf einmal. Tyson war überrascht das er exakt den Wortlaut aufgriff, bis er den Kopf über seine eigenen Vergesslichkeit schüttelte. Es war so ungewöhnlich, jemanden vor sich zu haben, der durch seinen Atem seine Gedanken aufschnappte. Da fuhr Dragoon auch schon nachdenklich fort. „So könnte man es nennen. Ein veraltetes Modell das nur mit Instinkten betrieben wird. Zwar besitzt ihr die ebenfalls, doch irgendwie habt ihr Menschen es geschafft, Gefühl, Verstand und Urinstinkt in Balance zu bringen. Mag sein das ihr in manchen Momenten noch immer strauchelt, doch wenn ich mir eure Anfänge anschaue, so scheint es fast, als würde es mit jeder Generation ein Stückchen besser werden. Euer Fortschritt ist bemerkenswert, dabei wandelt ihr noch gar nicht so lange auf diesem Planeten. Es ist ein Wimpernschlag, verglichen mit den Jahren, welche dieser Planet schon existiert. Aber wir Bit Beasts? Mir ist als wären wir in unserer Entwicklung steckengeblieben. Als könnten wir uns nicht mehr weiterentwickeln. Es fühlt sich an, als stünde ich vor einer Mauer. Offensichtlich ist das was sich dahinter verbirgt wichtig für mich, doch ich kann einfach keinen Blick darauf erhaschen.“

Tyson zog die Brauen tief ins Gesicht. Ihm ging durch den Kopf, wie viele falsche Abzweigungen, die Menschheit gegangen war und sicherlich auch noch weiterhin gehen würde, um zu ihrer heutigen Moral zu finden. Jede Generation hatte ihre Fehler begangen. Manchmal wurden sie sogar wiederholt. Dennoch…

Wie viele Folgegenerationen hatten aus diesen Fehlern gelernt?

Wie viele Leben hatte dies gekostet?

Womöglich war gerade die Unsterblichkeit der Bit Beast, der Grund, weshalb sie gefühlsmäßig so abgestumpft waren. Sie hatten das Kommen und Gehen von anderen sterblichen Lebewesen, so viele Male miterlebt, dass es gar nichts mehr Absonderliches war.

„Ich muss mich unter das gemeine Volk mischen, um das zu verstehen. Von der Irrlichterwelt aus, kann ich das einfach nicht richtig beurteilen. Ich will wissen wie es sich anfühlt, wenn man… so ist, wie du.“

„Ich kann dir lediglich meine Eindrücke vermitteln.“, antwortete Tyson unsicher.

„Das ist immerhin ein Eindruck. Und es wird uns Bit Beasts womöglich helfen, endlich eine Stufe höher in unserer Evolution zu klettern.“, sprach Dragoon mit einem Achselzucken. Doch nun schaute er ihn abwartend an. „Dann darf ich annehmen, dass du meinem Vorschlag zustimmst?“

„Ja. Ich will meine Familie zurück und dazu gehören meine Freunde. Ich will diese Welt retten, damit Kinder wie Jana, eine Chance haben darin zu leben.“

Er trat näher an sein Bit Beast heran und taxierte ihn scharf.

„Eines aber vorneweg – ich weiß nicht wie du dir das vorstellst mit den Gefühlen. Das ist nichts was man einfach aus einem Lehrbuch nimmt. Ich werde mein Bestes tun, damit du Empfindungen begreifst, aber was du wirklich fühlst, liegt ganz bei dir. Ich kann dir das nicht vorschreiben. Da wirst du auf dein Bauchgefühl hören müssen.“

Dragoon hob etwas verärgert die Braue.

„Was soll ich mit einem Bauchgefühl? Ich weiß was Hunger ist!“

„Meine Fresse.“, Tyson schlug sich die Hand auf die Stirn. Wenn das ein Vorgeschmack auf die nächsten Jahre war, musste er sich warm anziehen. Das würde eine Herakles Aufgabe werden.

„Was soll diese Geste?“

„Nichts. Das ist nur-…“

Es rumpelte. Dieses Mal war die Erschütterung so schlimm, dass der Vulkan alles um sie herum heftig durchschüttelte. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich so instabil an, als würden sie auf einer wackligen Hängebrücke laufen. Während es Tyson von den Füßen fegte, schwebte Dragoon nur unbeeindruckt in der Luft. Sein Blick huschte durch den Spalt zum Fuji, dessen Spitze in sich zusammenfiel. Es begann. Dicke Rauchschwaden kennzeichneten die Strecke, welcher seine tödlichen Flüsse zuvor hinabgerollt waren.

Ein riesiger Betonbrocken löste sich über Jana. Tyson ließ einen Schrei fahren und versuchte zu dem Kind zu kraxeln, doch mit einer Handbewegung, erzeugte sein Bit Beast einen starken Wirbelstrom, der die Flugbahn des Brockens in eine andere Richtung lenkte. Er krachte scheppernd in die Wand, die daraufhin unter der Erschütterung nachgab.

„Kai aufwache!“, kreischte Janas spitzer Schrei inmitten des Lärms. Tyson kämpfte sich über den wackligen Boden zu ihr vor, mehr kriechend als gehend. Das Mädchen blickte ihn hilfesuchend an. „Ai wach mache!“

Er drückte sie gegen seinen Körper und fühlte, wie Jana ihre Finger in seinem Oberteil vergrub. Als er die Finger nach Kais Gesicht ausstreckte war es eiskalt. Er war wirklich fort…

Ein Stoßgebet ging zum Himmel. Die Bitte das dieses verrückte Unterfangen tatsächlich funktionieren möge. Er wollte Kai zurück. Einen warmen Kai. Nicht diese eiskalte Hülle.

„Gib mir dein Attribut!“, schrie er fordernd. Tyson wollte seine heile Welt zurück!

Koste es was es wolle. Egal ob er diese Dämonen dafür in ihre Seelen lassen musste. Lieber lebte er mit der Verachtung seiner Freunde, als mit dem Gedanken, diese Chance ungenutzt gelassen zu haben. Sie sollten leben!

Dragoons Füße flogen langsam über dem Erdboden auf ihn zu. Jana geriet in Panik, als sie die geisterhafte Gestalt auf sich zukommen sah. Sie heulte los und vergrub ihr Gesicht in Tysons Hemd, der kindlichen Vorstellung unterliegend, dass Dragoon sie dann nicht mehr sehen könne.

„Geh weg!“, wimmerte sie immer wieder. „Lass uns Ruhe.“

Einen Moment musste Tyson daran denken, dass sie nach der Vereinigung, vor ihm, vielleicht ebenso Angst haben könnte. Er drückte seine Handfläche gegen ihren Kopf.

„Es wird alles gut, kleiner Hamster. Kai ist bald wieder bei dir.“ Dragoon streckte die mit Klauen bespickte Hand nach ihm aus. Tyson tat es ihm gleich. Er reckte die Finger nach vorne. Dabei flüsterte er Jana zu: „Ich werde immer auf dich aufpassen. Das verspreche ich dir!“

Und als er die Spitze von Dragoons Klaue berührte, ging eine Welle aus purer Energie durch seinen Körper. Schlagartig wurde alles schwarz…
 


 

*
 

Zunächst war da nur die Schwärze.

Tyson wusste nicht ob es daran lag, dass er vielleicht nur die Augen geschlossen hielt, denn sein Körper fühlte sich merkwürdig an. Als wäre er gar nicht wirklich präsent, sondern nur sein Geist anwesend. Die Finsternis war undurchdringlich. Nicht ein winziger Fleck der heller schien. Einfach absolute Dunkelheit. Er blinzelte. Oder zumindest glaubte Tyson, dass er es tat.

Denn ein wirklicher Unterschied ließ sich nicht ausmachen. Er versuchte die Arme zu heben und sich voran zu tasten, doch da gab es nichts. Er kam sich schwerelos vor.

„Dragoon?“

Seine Stimme schallte nicht. Sie wurde einfach verschluckt. Als gebe es nichts, was seinen Ruf zurückschleudern könnte. Auch bekam er keine Antwort.

„Jana?“

Tyson versuchte nach ihr zu tasten. Doch sobald er Dragoons Klaue berührt hatte, konnte er sie nicht mehr bei sich spüren. Als wäre sie einfach zwischen seinen Fingern zerflossen. Bei diesem Gedanken überkam ihn die blanke Panik. Er hatte Kai doch versprochen auf sie Acht zu geben.

Er hatte es Jana versprochen!

Endlich erhellte ein Licht die Umgebung.

Es kam allerdings von seinem eigenen Körper. Oder zumindest das, was er gedacht hatte, was sein Körper gewesen war. Denn ihm wurde klar, dass sich sein Leib noch zusammensetzte. Kleine Partikel flogen auf ihn zu, zogen eine glimmende Spur hinter sich her und fügten sich eines nach dem anderen zusammen. Tyson wurde klar dass er tatsächlich nur ein Geist war. Der Anblick erinnerte ihn an Dragoon, als er sich inmitten der Trümmer des Kinomiya Anwesens, Schuppe für Schuppe zusammensetzte. Er hätte erwartet, dass so etwas wehtat, doch es gab wohl keine Nervenstränge in seinem Körper, die etwas wie einen Schmerzimpuls an sein Gehirn senden konnten.

Er blickte auf seinen Arm, der sich aus den leuchtenden Splittern vor ihm aufbaute und erkannte unter seiner Haut, die hellen Umrisse von Dragoons Drachenschuppen. Einen Moment überfiel ihn erneut die Angst, sich in ein seltsames Mischwesen verwandelt zu haben, doch da ebbte das Licht unter seiner Hautschicht bereits wieder ab. Und er hörte…

Stimmen. Viele Stimmen.

Die Lautstärke kam ihm bekannt vor.

Das Getrampel von Füßen. Rufe die sich näherten. Hände die begeistert Beifall klatschten. Tyson presste angestrengt die Augen zusammen und konzentrierte sich auf den Geräuschpegel. Er wollte darauf zulaufen, doch wie sollte dies zu bewerkstelligen sein, wo es keinen Boden gab, auf dem sich seine Füße hätten fortbewegen können? Bereits bevor der Gedanke zu Ende gedacht war, spürte er wie sich etwas gegen seine Fußsohle drückte, als wäre er in seiner Schwerelosigkeit auf Erdboden aufgekommen. Nur schien sich in diesem Fall der Boden unter seine Füße geschoben zu haben. Er wollte sich dem Geräusch nähern, doch bemerkte, dass es von alleine auf ihn zusteuerte. Also verharrte Tyson, bis sich die Lärmkulisse um ihn herum aufbaute. Ihm war als würde er ohne sein Zutun in einen Raum geschoben werden. Das alles um ihn herum kam ihm bekannt vor.

Plötzlich zuckte er zusammen, als er eine Stimme vernahm, die alle anderen übertönte.

„Und jetzt möchte ich euch die Stars des heutigen Tages vorstellen! Von mir jetzt mal völlig abgesehen... Übrigens könnt ihr mich für Partys und Hochzeiten buchen!“

Tyson riss die Augen auf.

Die Finsternis um ihn herum war mit einem Wimpernschlag verpufft. Sein Atem stockte als er sich seiner Umgebung bewusst wurde. Geradezu fahrig huschte sein Blick zu den Zuschauerrängen hinauf, die sich um ihn herum, in einem Kreis auftürmten. Hunderte junge Gesichter schauten auf sie herab, dazwischen blitzte immer wieder das Licht einer Kamera auf und im Zentrum des Geschehens, gestikulierte eine Gestalt impulsiv auf der Tribüne.

D.J. Jazzman.

Als wäre er Tysons Erinnerung entsprungen, stellte er sich in seiner schwarzen Lederkluft in Pose, die enden seines roten Kopftuchs flatterte dabei wild in der Luft, während der Spot der Scheinwerfer auf ihn gerichtet war. Tyson spürte wie jegliches Blut aus seinem Gesicht wich. Die Plötzlichkeit dieser Situation, ließ ihn einen Schritt zurücktaumeln, bis er gegen eine Person stieß.

„Hey! Konzentrier dich!“

Als er sich umdrehte stand da eine jüngere Version seines Bruders, die ihn mahnend anschaute. Zwar hatte er sich in den letzten Jahren nicht sonderlich stark verändert, dennoch stachen Tyson die Unterschiede nun besonders heraus. Da war zum Beispiel die Frisur. Hitoshis Haare hatten eigentlich an Länge verloren, nachdem Kurzhaarfrisuren wieder im Trend lagen. Er war schon immer zu modebewusst, womit Tyson ihn gerne aufgezogen hatte. Auch wenn sein Pferdeschwanz geblieben war, die wilde Mähne in seiner Stirn, war bei ihrer letzten Begegnung, nicht mehr so voluminös gewesen. Ihn so zu sehen raubte Tyson den Atem. Vor wenigen Stunden war er noch in einer Gefängniszelle versauert und schien mit dem Leben abschließen zu können.

„Schau auf die Bühne!“, wies Hiro ihn an. Er schnippte bedeutungsvoll geradeaus. „Du musst deine Gegner genau im Auge behalten, kleiner Bruder.“

Sofort schnellte Tysons Kopf zur Seite. Um das Seitenfeld der Arena hatten sich mehrere kleinere Gruppen gebildet, die im Halbdunkel darauf warteten, dass ein Scheinwerfer sich auf sie richtete und Jazzman ihre Teilnahme verkündete. Tyson schluckte hart.

„Heilige Scheiße.“, flüsterte er.

„Aber jetzt zu dem weshalb wir heute hier sind. Unseren Finalteilnehmern!“

Ein begeistertes Johlen ging durch die Menge. Jeder Zuschauer rief den Namen seines persönlichen Favoriten hinunter, in der leisen Hoffnung, dass einer seiner Lieblinge zu ihm aufschaute. Tyson scherte es nicht. Sein Blick haftete an Hilary, die er doch gemeinsam mit seinen Freunden zum Flughafen gebracht hatte, als sie vor Jahren ihre Stelle als Au Pair antrat. Sie müsste jetzt eigentlich in den USA sein. Ihm kam der Abschied von ihr in den Sinn.

Sie hatte geweint. Ihre Eltern hatten geweint.

Einige der Jungen hatten sich auch zusammennehmen müssen und es gab viele Umarmungen. Als er sie das letzte Mal in Washington besuchte, war aus ihr eine richtig selbstbewusste Frau geworden. Sie hatte Tyson durch die Hauptstadt geführt, die Touristen Tour mit ihm gemacht und ihm abends in einem Pub, begeistert ihren neuen Freund vorgestellt. Tyson wusste damals nicht, dass in den USA Thanksgiving vor der Tür stand, da hatte ihr Freund ihn kurzerhand auch zu sich nachhause eingeladen. Er war echt locker gewesen und Tyson konnte sich noch an seine Erleichterung erinnern, weil seine Jugendfreundin dieses Mal einen anständigen Kerl abbekommen hatte. Es freute ihn damals von Herzen, denn für ihn war sie wie eine kleine Schwester gewesen, auf die es aufzupassen galt. Sein holpriges Englisch war dagegen beim Thanksgiving Essen für einige Lacher gut.

Wie lange hatte er Hilary nicht mehr gesehen?

Es musste fast ein Jahr gewesen sein.

Nun stand sie hier, als junges Mädchen, in ihrer roten Jacke, mit dem BBA Logo auf dem Rücken und schaute mitfiebernd auf die Tribüne. Als wüsste sie gar nicht, dass doch eigentlich sieben Jahre, seit diesem Szenario vergangen waren. Er starrte auf ihre Hände die sich nervös vor ihr gefaltet hatten.

„Die Kids haben hart trainiert um bis hierher zu kommen. Doch eine Gruppe hat drei Mitglieder an andere Teams verloren. Ich spreche von den BBA Revolution!“

Der Scheinwerfer richtete sich auf ihre Ecke. Tyson blinzelte geblendet ins grelle Licht. Das war er echt nicht mehr gewöhnt. Sein Verstand war noch immer verwirrt ob der Ereignisse hier. Auf einem Monitor hinter Jazzman tauchte ein Bild von Daichi und ihm selbst auf - in seiner jüngeren Ausgabe. Er starrte auf seine zitternden Finger. Sie waren wieder die eines Jugendlichen. Er fühlte wie ihm kalter Schweiß den Nacken hinabrann. Dann fuhr sein Kopf zu seiner anderen Seite. Dort erspähte er Kenny, mit Krawatte und kurzer Hose. Der Chef war wieder so unglaublich klein, man hätte meinen können, einen Zweitklässler vor sich zu haben. Zwar war sein erwachsenes Alter Ego auch nicht sonderlich groß geraten, doch immerhin hatte der arme Kerl endlich den ersehnten Wachstumsschub bekommen. Er schob die dicke Brille zurecht, um eine bessere Sicht auf den Monitor zu bekommen.

Tyson starrte auf den Laptop in seiner Hand. Ob Dizzy auch wieder da war?

Dann machte er neben sich einen feuerroten Haarschopf aus.

Zu Daichi war sein Kontakt im Laufe der Jahre komplett abgebrochen. Der Altersunterschied zwischen ihnen war einfach zu gravierend gewesen. Als Tyson in die Pubertät kam, war er hinter jedem Rockzipfel her gewesen, während für den kleinen Rotschopf, Mädchen noch „Bäh!“ waren. Später hatte die Gruppe ihn nirgendwo mitnehmen können, weil er mit seinem Ausweis noch in keinen Club hineindurfte. Zu seinem Bedauern musste Tyson eingestehen, dass er auch damals nicht die Nerven für Daichi besaß. Er wusste noch wie er Max einmal zu gezischt hatte, dass der Kleine ihnen, mit seiner kindischen Art, die Tour bei den Mädels versaute. Doch jetzt war er irgendwie glücklich ihn wohlbehalten zu sehen. Womöglich waren die Naturkatastrophen in der Zukunft, auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen.

„Der Liebling der Fans, Tyson, ist immer noch heiß! Aber sein neuer Partner Daichi ist völlig unbekannt. Lassen wir uns überraschen!“

Sein Blick huschte hinauf zum Monitor. Schon als er Hiro erblickte ahnte Tyson, um welche Weltmeisterschaft es sich hier handelte. Der Monitor bestätigte seinen Verdacht. Als das Bild von seinem Team ausgeblendet wurde, erschien ein schwarzer Hintergrund, auf dessen Fläche weiße Lettern, den Grund für dieses Ereignis einblendeten. 3th World Championships hieß es dort.

Er schloss angestrengt die Augen und versuchte sich zur Ruhe zu ermahnen. Ihm wurde klar, dass dies der dümmste Zeitpunkt war, um wieder an die Vergangenheit anzuknüpfen. Der Grund dafür war, dass seine Freunde sich in andere Teams zerstreut hatten, um ihre Fühler mal auszustrecken. Dabei sollte er doch die Attribute schnellstmöglich in ihre Körper einsetzen. Ein Scheinwerfer erhellte eine andere Ecke in der Arena.

„Das nächste Team, das in die Finalrunden gebrettert ist, indem es alles kurz und klein gebladet hat, sind die PBB All Starz! Selbst die Schiedsrichter von ihnen sind gefürchtet.“

Ein lauter Beifall schallte durch die Halle. Tyson wurde aschfahl als er Max aus dieser Ecke erspähte. Zusammen mit den restlichen fünf Mitgliedern des amerikanischen Teams, winkte er zögerlich den Zuschauern zu, während seine Mutter Judy, im Hintergrund die Gruppe überwachte. Tysons Augen füllten sich einen Moment mit Tränen, doch er blinzelte den aufkommenden Film weg. Dafür war nicht der richtige Augenblick, auch wenn er Max am liebsten an sich gedrückt hätte. Sein Herz quoll förmlich über vor Freude ihn hier lebend zu erblicken. Sein Freund schaute aber nur konzentriert drein. So wie alle anderen Teilnehmer auch.

Für Max ging es hier um den Weltmeistertitel – für Tyson aber um noch viel mehr. Ihm wurde klar, dass wohl alle um ihn herum, ihr altes Leben vergessen hatten, sonst wären sie nicht damit beschäftigt, sich noch mit diesem Turnier abzugeben. Womöglich war diese Unwissenheit ein Segen.

„Aber das sind noch nicht alle! White Tiger X sind wieder da und sind bereit ihre Krallen auszufahren!“

Nun tauchte auch Ray im Licht eines weiteren Scheinwerfers auf, umringt von seinen Teamkameraden. Neben ihm schielte Lee etwas unsicher zu seinem Leader auf, da ihm der ganze Trubel doch nicht ganz geheuer schien.

Ray schaute direkt in Tysons Richtung – geradezu angriffslustig.

Einen Moment dachte er nach weshalb, bis ihm einfiel, dass sie zur damaligen Zeit, ziemlich böse auseinandergegangen waren. Er wusste noch was für Worte er ihm, in seinem Zorn entgegengeschleudert hatte.

„Du warst schon immer eifersüchtig auf mich!“

Er biss sich auf die Unterlippe bei diesem Gedanken.

Wie hatte er ihm so etwas an den Kopf werfen können?

Tyson hatte damals doch gar nicht das Recht besessen, Ray den Weg zum Weltmeistertitel zu verbauen. Er schaute verbissen auf dem Boden, als die Erkenntnis ihn traf. Ihm war es damals lieber gewesen, einen so starken Blader, auf seiner Seite zu wissen. Es hätte seinen Sieg viel einfacher gemacht. Da war es nur verständlich dass sein Freund ihn so unterkühlt bedachte.

Tyson schaute wieder auf und lächelte Ray aufmunternd zu, was der mit einem verwunderten Blinzeln quittierte. Er zog etwas fragend eine Braue auf und erwiderte seine freundliche Geste mit einem kühlen Nicken. Nach ihrem Streit hatte er wohl nicht erwartet, eine solche Reaktion bei ihrem Wiedersehen von ihm zu erhalten. Dann wandte er den Blick von ihm ab und schaute von da an starr dem Showmaster bei der Arbeit zu. Tyson konnte nicht beschreiben, wie unsagbar glücklich er war, beide wieder bei sich zu haben. Es folgte Jazzmans Monolog, der die anderen Gruppen vorstellte, die in diesem Jahr zum ersten Mal teilnahmen. Seine Stimme spielte sich nur noch in Tysons Hinterkopf ab. Dabei schielte er mehrmals zu seinen Freunden, die er fast verloren hätte.

Er wusste noch wie unglaublich wütend er gewesen war, als die drei sein Team verlassen hatten. Dennoch verspürte er jetzt nur noch pure Erleichterung. Es war ihm egal geworden, ob er sie an eine andere Gruppe verloren hatte, denn nun wusste Tyson, was ein wahrer Verlust war. Da hörte er ein Donnern, das auch Hillary neben ihm zucken ließ. Er und auch viele der Zuschauer, blinzelten hinauf zu der großen Glaskuppel, die als Dach über der Arena fungierte. Argwöhnisch bemerkte Tyson das es zu regnen begann. Die Wolken zogen sich über der Arena zu. Er konnte sich nicht erinnern, dass es bei einer der Weltmeisterschaften geregnet hatte. Die fanden meistens im Sommer satt, während der Ferien, damit auch Teilnehmer die noch die Schule besuchten teilnehmen konnten. Da schoss es wie ein Blitz durch seinen Kopf und er ahnte, woher das schlechte Wetter herrührte. Er musste hart schlucken. Ein grelles Licht zog sich über den wolkenverhangenen Himmel. Jazzman ließ sich dagegen weniger aus der Bahn werfen, tat einen kleinen Witz über das Wetter und fuhr mit seiner Show fort: „Die FF Dynastie sind ebenfalls dabei. Und alle sind hungrig nach dem Sieg!“

Nur wage nahm Tyson die beiden Blader in ihren gewagten Outfits wahr, die der Menge stolz zuwinkten. Sein Blick huschte viel mehr in die Ecke, in welcher er Kais Gestalt im Halbdunkeln wusste. Er dachte daran wie er in seinen Armen gestorben war…

Seine letzte Bitte - auf Jana aufzupassen.

Schlagartig wurde ihm klar, dass sie jetzt noch nicht einmal geboren war. Der Gedanke ließ ihn gequält zur Seite schauen. Nach allem was passiert war, hatte Kai seine Schwester doch irgendwie verloren. Und er ahnte noch nicht einmal etwas von dieser riesigen Lücke, die eigentlich jetzt in seinem Herzen klaffen sollte. Tyson dachte daran, wie er das kleine Mädchen getröstet hatte. Wie entsetzt Kai war, als er aus ihrem Mund hörte, wie boshaft sich seine Mutter ihr gegenüber gab. Er schien so froh, als er sah, wie gut Tyson mit ihr klar kam.

„Last but not least wären da noch die Blitzkrieg Boys!“, brüllte Jazzman inzwischen ins Mikrofon und der Spot des Scheinwerfers tauchte die letzte Gruppe in ein grelles Licht. Als er Kai an Talas Seite wohlbehalten erblickte, machte sein Herz einen Aussetzer.

Die Welt wurde für ihn still.

Den aufkommenden Applaus blendete sein Verstand komplett aus.

Er sah den kleinen Jungen vor sich. Seinen kleinen silbergrauen Kater…

Wie er ihm die Geschichte von dem Katzenrudel am Lagerfeuer erzählte. Kais kindliches Lächeln, als er müde, aber auch vertrauensselig, seinen Kopf gegen Tyson schmiegte und einfach nur seiner Stimme lauschte. Selbst die Wärme, als er auf seiner Brust eingeschlafen war, geschützt unter dem Stoff von Tyson Jacke, war plötzlich wieder für ihn allgegenwärtig.

Und er dachte an ihre gemeinsame Nacht…

Die Küsse die sie ausgetauscht hatten. Die Berührungen. Der Moment in dem sie für kurze Zeit eins waren. Alles in ihm sehnte sich danach ihn wieder so zu halten. Sein Blick blieb an dem Gesicht seines Freundes hängen. Der schaute äußerst gelangweilt zu Boden, senkte irgendwann die Lider, als ließe ihn das ganze Turnier vollkommen kalt. Die Gestalten zu dessen Seite registrierte Tyson kaum noch. Kais Teamkameraden wurden zu schemenhaften Randfiguren.

Erst Jazzmans Stimme machte ihm klar, dass er nun wieder den Blitzkrieg Boys angehörte.

„Sie werden die Kämpfe aufmischen! Und eure Augen täuschen euch nicht. Unter ihnen ist der einzigartige Kai! Er hat sein altes Team so überstürzt verlassen, dass er ihnen noch das heutige Mittagessen schuldig ist. Was soll’s, das wäre es mit den Teams! Und sie sind bereit alles zu geben was sie drauf haben!“

Jazzmans Prophezeiung ließ die Menge noch einmal aufleben.

Der Lärm war buchstäblich ohrenbetäubend, dass er sogar den Donner draußen übertönte. Einen Moment fragte sich Tyson wie er das immer ausgehalten hatte. Da hörte er etwas, was sich nicht mit dem in Einklang bringen ließ, was sich um ihn herum abspielte.

„Vernachlässige jetzt nicht deine Aufgaben!“

Er blickte sich irritiert um. Die Stimme war ganz dicht an seinem Ohr gewesen. Genaugenommen klang es sogar, als wäre der Satz direkt in seinem Kopf gesprochen worden. Dann spürte er wie sein Arm warm wurde. Unauffällig hob Tyson den Stoff am Ärmel an und sah wie etwas dort glühte. Die blauen Schuppenmuster erloschen aber bald wieder.

„Tyson? Ist alles in Ordnung?“, wollte Hilary neben ihm wissen. Er ließ von seinem Ärmel ab und schaute sie direkt an. Ihr Blick ruhte besorgt auf ihm. „Du bist auf einmal so blass. Vor ein paar Minuten war das noch nicht so.“

„Ja. Alles okay…“, es klang aber selbst in seinen Ohren zu beunruhigt. „Hast du das vorhin auch gehört?“

Eigentlich ahnte er ihre Antwort, doch Tyson wollte sicherstellen, dass wirklich nur er Dragoon vernehmen konnte. Zumindest sollte er darauf verzichten, der Stimme in seinem Kopf laut zu antworten, sonst schleppte man ihn in einer Zwangsjacke ab.

„Da musst du schon genauer werden. Hier drinnen hört man gar nichts. Es ist unglaublich laut!“, sie nickte in Richtung der Zuschauerränge. „Einfach klasse wie viele Leute gekommen sind, findest du nicht auch?“

Ihre nussbraunen Augen strahlten förmlich. Die Anzahl der Besucher imponierte ihr.

„Ja. Toll…“, entgegnete er ziemlich geistesabwesend.

„Das klingt gar nicht begeistert.“, schaute sie ihn ernst an. „Ist es wegen den anderen?“

Typisch Hilary. Sie war einfach eine gute Seele. Er musste lächeln.

Irgendwie hatte Tyson ihre fürsorgliche Art vermisst.

„Wahrscheinlich. Aber ich komme klar.“

„Vergiss bitte nicht dass es nur ein Turnier ist. Hier geht es nur um den Spaß. Okay?“

Ihre Stimme klang traurig, dabei bedachte sie ihn mitleidig. Auch sie hatte gelitten, als die Gruppe auseinanderbrach, aber sie war schon damals anders gestrickt als Tyson. Während er seiner Wut lautstark freien Lauf ließ, war sie eine Weile in ihr inneres stilles Kämmerchen gekrochen, um dort für sich alleine zu schmollen. Ihm war nicht entgangen, wie bedrückt sie in dieser Zeit gewesen war und das hatte ihn nur noch wütender auf seine Freunde gemacht. Auch wenn er sich ständig mit Hilary in den Haaren lag - sie war wie eine heilige Kuh. Man konnte sich über sie lustig machen, aber man durfte ihr nicht wehtun. Das war einfach ein ungeschriebenes Gesetz innerhalb ihrer Gruppe.

„Wir sind noch immer alle Freunde. Auch wenn die anderen das Team verlassen haben.“

„Ja… Ich weiß. Danke Hilary.“

„Warum lächelst du?“

„Keine Ahnung. Ich freue mich einfach.“

Tyson Blick huschte durch die Halle. Er suchte nach einer Uhr. Etwas was ihm einen Hinweis darauf gab, wie spät es war. Dragoon hatte gemeint, dass die Attribute spätestens bis zum Sonnenuntergang, in den Körpern seiner Freunde stecken sollten, sonst würden sich die ersten Naturkatastrophen wieder anbahnen. Allerdings klang er selbst etwas unsicher bei dieser Zeitangabe. Daher sollte Tyson schnell zur Tat schreiten. Über Mr. Dickensons Loge wurde er schließlich fündig.
 

„Denk an das Fass mit der Energie der Uralten. Nur wird es dieses Mal langsam aufgebraucht, bis es restlos leer ist. Das Fass darf niemals zu voll, aber auch niemals leer sein! Verstehst du?“
 

Er schluckte als ihm Dragoons damalige Worte einfielen. Wenn Jazzman endlich fertig mit seiner Show war, könnte er sich daran machen, seine Aufgabe zu erfüllen. Einen Moment überlegte er, ob er seinen Freunden das wirklich antun wollte. Da schallte auch schon ein Befehl durch seinen Kopf:

„Du musst es tun! Sonst sterben sie in dieser Zeit auch wieder!“

Tyson verzog verärgert das Gesicht. Würde das in Zukunft immer so ablaufen?

Er schaute auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. So viel er noch wusste, hatte die dritte Weltmeisterschaft im Sommer stattgefunden. Also würde es etwas länger hell bleiben. Wenn der Showmaster auf der Bühne, also endlich mal die Klappe hielt, könnte er sofort loslegen und sich jeden seiner Freunde einzeln schnappen.

„Jetzt ist es endlich soweit! Jetzt werden wir die Beyblades kreiseln lassen! Die Finalrunden beginnen! Welche Teams werden sich als Erste gegenüberstehen?“

Tyson horchte auf. Bei diesem Satz fiel ihm siedend heiß ein, dass es gleich im Anschluss, mit dem ersten Match losgegangen war. Vielleicht konnte er sich aber davon stehlen, so lange die ersten Teams ihren Kampf austrugen…

Er dachte fieberhaft darüber nach, welche Gruppen in der ersten Runde gegeneinander angetreten waren, doch für ihn war das ganze Geschehen hier sieben Jahre her. Er konnte sich nicht mehr haargenau an den Ablauf von damals erinnern.

„Mit den Blitzkrieg Boys sind dieses Jahr sechs Teams im Wettbewerb. Wir aktivieren unseren Zufallsgenerator, der willkürlich die ersten beiden Gegner auswählen wird. Wow! Es steht ganz schön viel auf dem Spiel! Mal sehen wen es trifft…“

Der Monitor hinter Jazzman flackerte auf. Darauf waren die beiden stärksten Spieler sämtlicher Teams aufgereiht. Der Zufallsgenerator wurde aktiviert und beleuchtete jedes Gesicht einen kurzen Moment. Tyson legte sich bereits einen Plan zu Recht, wie er an seine Freunde herankommen könnte, um sie in einer unbeobachteten Minute in ein Gespräch zu locken, da fuhr ihm der Schreck durch alle Glieder, als er sein eigenes Bild auf dem Bildschirm erhaschte.

„Da ist es! Das erste Match lautet: BBA Revolution gegen White Tiger X!“

Die Menge tobte als Jazzman die frohe Kunde begeistert in die Welt hinaus posaunte.

„So eine verdammte Scheiße!“, entfuhr es Tyson lauthals. Seine Kameraden schauten ihn ob seiner derben Wortwahl entrüstet an.

„Hey, achte mal auf deine Ausdrucksweise!“, tadelte ihn Hiro prompt.

„So ein verfluchter Mist! Das passt mir jetzt überhaupt nicht!“

„Tyson! Du bist das Vorbild aller Kinder! Fluch hier nicht wie ein Taxifahrer!“

Doch der schaute sich nur hilflos um. Weit oben in der Kuppel der Arena, waren Fenster eingelassen. Die Sonne schien noch herein, aber wenn er wirklich dieses Match noch austragen musste, würde das eine Ewigkeit gehen. Tyson könnte seinen Kampf absichtlich verlieren, um die Sache zu beschleunigen, aber das Daichi dabei mitzog bezweifelte er. Der Junge würde bis zum letzten Atemzug in der Arena kämpfen und alles unnötig in die Länge ziehen. Das bedeutete, dass Ray nicht eher von der Tribüne herunterkam, bis ein Sieger feststand. Er kniff die Augen zusammen, ballte seine Fäuste und fluchte ein verzweifeltes: „Warum musste es dieses beschissene Turnier sein?!“

„Tyson, ich warne dich nicht nochmal! Zügel dein loses Mundwerk!“, sein Bruder gab ihm einen unwirschen Klapps gegen den Hinterkopf. „Wo hast du diese Gossensprache her? Nur weil du gegen einen alten Teamkameraden antrittst, musst du nicht so ausflippen!“

Er interpretierte die Situation vollkommen falsch, doch Tyson hatte beim besten Willen keine Zeit, sich ihm gegenüber großartig zu erklären. Hiro hätte ihm ohnehin nicht geglaubt. Stattdessen überging er dessen Predigt und fuhr hektisch zu seinem Partner herum.

„Daichi!“, der Junge starrte perplex auf, weil Tyson seinen Namen geradezu bellte. Er packte ihn bei den Schultern. „Du musst unbedingt verlieren!“

Einen Moment blinzelte ihn sein Partner an, genau wie der Rest des Teams. Man konnte förmlich sehen wie die rostigen Zahnräder, unter seinem feuerroten Haarschopf, ins Stocken gerieten. Dann verlieh er seiner Verwunderung mit einem ganz gescheiten Wort Ausdruck: „Hä?!“

Tyson heulte verzweifelt auf.

„Das Match das unmittelbar bevorsteht, wird ganz schön heiß werden!“, hörte man D.J. Jazzmans Kommentar inzwischen. Niemand bemerkte was sich in ihrer Ecke gerade abspielte. „Wie ihr wisst haben die stärksten Spieler dieser Teams eine gemeinsame Vergangenheit. Kommt feuert sie an!“

Erneut schallte der Beifall laut durch die Halle. Hilflos schaute Tyson sich um. In Rays Ecke kam Bewegung. Er trat näher an Daichi heran.

„Frag nicht! Verlier einfach! Wir machen einen Doppelkampf!“

„Ist das eine Taktik?“, fragte der Chef und rückte seine Brille argwöhnisch zurecht.

„Ja. Von mir aus nenn es auch eine Taktik!“

„Die habe ich nicht genehmigt.“, antwortete Hiro mit tief herabgezogenen Brauen. Dabei stemmte er die Arme in die Seiten. Er hatte offensichtlich nur den Sieg seiner Mannschaft im Kopf. „Du hast nicht einfach ohne die Zustimmung deines Coachs, eine so weitreichende Entscheidung für dein Team treffen!“

„Wir müssen verlieren!“, Tyson rüttelte Daichi an den Schultern. „Frag nicht wieso! Mach es!“

„Zerr nicht so an mir! Du machst mehr Löcher in mein Oberteil als cool aussieht!“

„Scheiß auf dein Oberteil! Ich kaufe dir tausend Oberteile wenn du das Handtuch wirfst! Du wirst in zerlumpten Shirts schwimmen können! Aber diese Runde muss schnellstens über die Bühne gehen! Wir müssen eine Fünf Minuten Terrine daraus machen! Wir müssen verlieren!“

„Wieso wir? Soll das heißen du willst dein Match auch verlieren?!“

Tyson biss sich auf die Unterlippe, als er seinen Patzer erkannte. Hätte er einfach die Klappe gehalten und an der Aussage festgehalten, dass das nur eine Taktik war. Sein Gesichtsausdruck schien Antwort genug zu sein, denn die Augen seiner Kameraden wurden tellergroß. Plötzlich überschlugen sich die fassungslosen Kommentare.

„Niemals!“, rief ihm Daichi aufgebracht entgegen. „Sag mal spinnst du?!“

„Wir verbauen uns einen riesen Vorsprung wenn wir dieses Match verlieren!“, protestierte Kenny ebenso lautstark. „Willst du deine neuen Moves geheim halten? Glaub mir Tyson, diese Taktik ist zu gewagt! Woher willst du wissen, dass unsere anderen Kämpfe zu unseren Gunsten ausfallen? “

„Das ist mir egal! Ich scheiße auf dieses Turnier!“, herrschte er alle so aufgebracht an, dass es ihnen einen Moment den Atem raubte. Niemand schien mit dieser Antwort gerechnet zu haben, wo er doch zuvor unbedingt den Titel holen wollte. Daichi zog sich unwirsch weg und deutete mit dem Zeigefinger anklagend auf ihn.

„Nur weil du den Schwanz einziehst, weil deine alten Teammitglieder das Weite gesucht haben, heißt das nicht dass ich aufgebe! Ehrlich Tyson, ich habe mehr von dir erwartet!“

„Das ist wichtig! Also widersprich nicht und mach es einfach!“

„Für mich ist dieses Turnier wichtig! Und wenn du nicht mitziehst, gewinne ich es eben auf eigener Faust! Ich brauche dich nicht!“, brüllte Daichi großspurig aus voller Kehle. Der Junge war noch nie gut darin, eine Diskussion in gemäßigter Lautstärke zu führen, stattdessen hatte er immer versucht, seinen Gegenüber in Grund und Boden zu schreien. Es war nicht einmal böse gemeint, nur hatte der Junge keine Manieren. Mit Daichi zu debattieren, ließ einen zwangsläufig denken, dass man Einstein war, der King Kong die Relativitätstheorie erklären wollte. Oberhalb ihrer Ecke wurden die ersten Zuschauer auf ihre Diskussion aufmerksam. Ein kleines Mädchen spähte über die Brüstung zu ihnen herab und verkündete einem älteren Jungen, was sie aufgeschnappt hatte. Sofort reckten sich noch mehr Köpfe zu ihnen herab. Außerhalb der Arena kam Bewegung in die Teams.

Der Anfang kam von den Blitzkrieg Boys.

Kai machte auf dem Absatz kehrt und stürmte erhobenem Hauptes aus der Halle hinaus. Sein weißer Schal wehte ihm hinterher. Einen Moment blinzelte Tyson ihm verdutzt nach, bis ihm einfiel, dass Kai es damals nicht einmal für nötig empfunden hatte, sein Match gegen Ray anzusehen. Er war genauso arrogant aus der Arena stolziert, im Geleitschutz seiner neuen Teamkameraden. Tyson war ihm damals auch noch hinterhergerannt, um ihn für seinen Verrat zur Rede zu stellen. Er hatte ihm eine richtige Szene im Flur gemacht. Immerhin konnte Tyson sich dadurch denken wo er Kai finden würde.

Die ersten Vorbereitungen wurden für das Anfangsmatch getroffen. Einige Bühnenarbeiter fegten noch einmal um die Tribüne herum, da die Zuschauer ständig etwas in die Arena warfen. Außerdem war Jazzman in einer Konfettiwolke erschienen, weshalb der Boden von knallbunten Schnipseln umsäumt war. Das war recht unvorteilhaft, wenn die Blades gleich über diese Fläche kreiseln sollten.

Tyson schaute ziemlich panisch Richtung Flur.

Weil er Kai dieses Mal nicht folgte, wurde keine unvorhergesehene Pause eingelegt. Stattdessen bat Jazzman die ersten Teams, sich für ihren Auftritt bereit zu halten. Als Max sich mit seinem Kameraden ebenfalls abwandte, wurde Tyson klar, wie schwer es werden würde gerade ihn zu finden. Er hatte weder eine Ahnung, wo sich die PPB All Starz, während dem ersten Match aufgehalten hatten, noch wo ihre Umkleidekabine gewesen war. Max könnte in der breiten Masse untergehen. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, um eine Lösung aus diesem Debakel zu finden. Dabei huschten seine Augen immer wieder zu der Uhr über Mr. Dickinsons Loge.

Ihr Sekundenzeiger tickte.

Schlag um Schlag. Tick, tack…

Ihm wurde heiß. Seine Finger schweißnass.

Er überlegte bereits, ob er verkünden sollte, dass sein Team kampflos aufgab. Doch Hitoshi war der Coach und was der sagte, war nun einmal Gesetz. Eher würde er Kenny an Tysons Stelle antreten lassen, als ihr Team ohne Gegenwehr nach Hause zu schicken. Dann kam Tyson aber auch wieder nicht an Ray heran, weil der sich bereits in einem Match befand! Gerade jetzt hatte er sowohl Max, als auch Ray, an einem Fleck und doch schienen sie unerreichbar. Seine Augen wurden vor Panik groß - wo waren die Attribute eigentlich?

„Sie werden kommen, wenn du sie brauchst. Und jetzt sieh zu, dass du an die Jungen heran kommst! Los, Takao! Los!“

„Ja verdammt!“, schrie er genervt auf und bemerkte gar nicht, dass dieser Satz laut über seine Lippen kam. Tyson raufte sich verzweifelt die Haare.

„Was heißt hier ja verdammt? Hörst du mir überhaupt zu?“

Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er gar nicht mitbekam, wie sein Bruder ihm eine Standpauke hielt. Dafür hatte er jetzt echt keine Nerven. Sein Blick huschte zu Jazzman. Der tupfte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn und machte sich daran, die Tribüne für die Teilnehmer zu räumen.

„Sieh mich an wenn ich mit dir rede! Was ist denn bloß los mit dir?!“, Hitoshi packte ihn am Kragen. „Egal was mit deinen Freunden war, jetzt sind sie deine Konkurrenten! Die werden dich nicht mit Samthandschuhen anfassen, nur weil ihr zusammen eine schöne Zeit erlebt habt - und das wirst du gefälligst auch nicht! Also reiß dich zusammen und hör auf ihnen hinterher zu jammern! Du gehst da jetzt raus! Das ist ein Befehl von deinem Coach!“

Ihm kam ein Geistesblitz. Er starrte Hiro an.

„Okay.“

Der unbekümmerte Ton in welchem er es sagte, ließ seinen Bruder einen Moment stutzen. Seine Verblüffung öffnete Tyson Tür und Angel. Er riss sich los und rannte auf die Bühne.

„DOCH NICHT SOFORT!“, schrie Hitoshi ihm hinterher. Kurz darauf vernahm er, wie sein Bruder seine Kameraden fragte, was für Drogen man ihm denn verabreicht habe, denn er würde sich wie ein Bekloppter benehmen. Tyson blieb ihm die Antwort schuldig. Er schwang sich die Tribüne hoch und rannte auf Jazzmann zu. Noch bevor der Showmaster, das Treppchen zu seiner Seite der Arena hinab gehen konnte, packte Tyson dessen Handgelenk und entriss ihm das Mikrophon aus den Fingern.

„Hey Alter?! Was soll da-…“

„Max, bleib wo du bist! Du auch Ray!“

Als Tysons hektische Stimme durch die Halle schallte, verebbte der Lärmpegel langsam.

Alle Blicke wandten sich langsam zu dem amtierenden Weltmeister – auch die der anderen Teilnehmer. Er suchte nach Kai. Doch natürlich war der Junge schon hinausgestürmt. Nur die restlichen Blitzkrieg Boys blieben stehen. Offenbar hatten sie keine Muße gehabt, in Kais Tempo zu verfallen und ließen ihn vorausgehen. Immerhin ahnte Tyson wo er ihn finden würde.

Kurz vor dem Eingang zum Flur blinzelten die Blitzkrieg Boys zu ihm herüber. Genauso wie Max auf der anderen Seite der Arena. Aus seinem Blick sprach purer Argwohn. Auch bei ihm hatte er es sich damals gewaltig verscherzt. Tyson erspähte Rick und Judy an dessen Seite, welche die Brauen hochhob, gefolgt von den restlichen All Starz, die dieses Jahr leider auf der Bank versauern mussten. Insgeheim freute er sich, dass nun auch die Gräueltat an Maxs Mutter nie passiert war.

Ray hatte inzwischen mit seinem Partner Lee, ihre Taktik besprochen, blickte aber mit verschränkten Armen auf, als sein Name fiel, während Mariah mit einem verdutzten Blinzeln hinter seinem Rücken hervorschaute. Er hörte ihn schnauben, wahrscheinlich weil er eine provokante Szene von ihm erwartete. Eine Kampfansage!

Sämtliche Aufmerksamkeit galt nun Tyson. Die Halle wurde mucksmäuschenstill. Viele Augenpaare die sich alle auf ihn gerichtet hatten. Er blickte hinauf zu Mr. Dickenson Loge.

„Darf ich kurz einige Worte an meine ehemaligen Teammitglieder richten?“

Mr. Dickenson stand von seinem Platz auf und spähte verwirrt zu ihm herab. Dann schüttelte er verneinend den Kopf und beugte sich zu einem Standmikrophon herab, dass vor seinem Tisch platziert war, für den Fall, das er in seiner Funktion als Veranstalter, eine Änderung im Ablauf ankündigen wollte.

„Mm… Betrifft es ihren Ausstieg? Ich möchte ungerne, das der Zeitplan durcheinander kommt, wegen ein paar kleineren Reibereien unter ehemaligen Kollegen.“

„Es betrifft den Ausstieg. Ich muss etwas wieder gerade biegen, was ich verbrochen habe.“

„Hat das nicht bis nach dem Turnier Ze-…“

„Nein! Und wenn sie sich weigern, werde ich hier und jetzt aussteigen! Dann bin ich komplett draußen aus dem Turnier und scheiße auf den Titel!“

Zunächst war es so leise, man hätte eine Stecknadel fallen hören, bis das Raunen durch sämtliche Reihen ging. Etwa jede zweite Frage aus den Zuschauerrängen war, ob man sich verhörte habe. Perplex blinzelte ihn Mr. Dickenson an, genauso wie der Rest sämtlicher Teilnehmer. Verdutzte Gesichter schauten zu ihm hinauf. Es wurden viele Blicke ausgetauscht. Hiro trat langsam an den Rand der Tribüne und bat ihn leise wieder herunterzukommen. Offenbar war sein Ehrgeiz jetzt in Sorge umgeschlagen. Er spürte dass etwas mit seinem kleinen Bruder nicht stimmte. Wahrscheinlich glaubte er, dass Tyson dem Druck nicht mehr standhielt und jetzt total einbrach.

„Komm runter. Du willst doch nicht wirklich alles hinwerfen? Denk doch mal an deine Fähigkeiten. Du bist doch zu talentiert um dich jetzt unterkriegen zu lassen.“, nun sprach endlich nicht der Coach aus ihm, sondern der ältere Bruder. Tyson tat eine sachte Handbewegung in seine Richtung, um ihn zu beschwichtigen. Hinter Hitoshi raufte Daichi sich entsetzt die Haare, während Hilary die Hände vor den Mund schlug. Dem Chef rutschte beinahe seine geliebte Dizzy aus den Fingern. Er klappte sie auf und plapperte wie verrückt auf sein Bit Beast ein, forderte sie auf, sofort Tysons Körpertemperatur zu scannen. Offenbar wurde ihm vorgeworfen einen Hitzeschlag abbekommen zu haben.

Inzwischen blickte Mr. Dickenson ihn wie vom Donner gerührt an.

Seine Kehle schien trocken geworden zu sein. Er räusperte sich voller Unbehagen.

„Bitte was?“, für gewöhnlich war der ältere Herr sehr eloquent. Er war ein resoluter Mann und trotz seines fortgeschrittenen Alters, noch immer mitten im Geschehen – und Tyson war sein liebstes Steckenpferd. Es war ungerecht diesen Vorteil für sich zu beanspruchen, doch der Zweck heiligte in diesem Fall die Mittel. Tyson entdeckte auf dessen grauer Halbglatze funkelnde kleine Perlen. Diese Ansage hatte Stanley Dickenson offenbar schön den Schweiß auf die Kopfhaut getrieben.

„Ich habe einen schlimmen Fehler gemacht.“, erklärte Tyson. „Und ich werde keine Ruhe finden, bis ich ihn wieder ausgebügelt habe und zwar bevor das Turnier richtig beginnt! Ich muss das klarstellen, sonst würde meine Leistung darunter leiden. Also entweder lassen sie mich jetzt sagen, was ich zu sagen habe - oder ich bin weg.“

„Was machst du da?!“, rief Ray plötzlich zu ihm hinauf. Offenbar bereitete ihm die Aussicht, gegen ihn nicht mehr antreten zu können, überhaupt keine Freude. Mariah fasste zaghaft nach dessen Arm, doch er riss sich los. „Soll das ein scheiß Trick sein?!“

Er ignorierte ihn. Aus der anderen Ecke schaute Max geradezu enttäuscht drein. Tyson wurde klar, dass keiner seiner Freunde sich ein Turnier, ohne ihn vorstellen konnte. Mr. Dickenson wiegte den Kopf gequält, von einer auf die andere Seite. Dabei zuckte sein grauer Schnauzer nervös über der Oberlippe.

„Naja… Also unter diesen Umständen. Obwohl ich dich bitte, hier keinen Rosenkrieg zu veranstalten.“

„Danke Mr. Dickenson. Das werde ich nicht.“, sprach Tyson erleichtert, hob dankend die Hand und strahlte bis über beide Ohren. Dann ließ er seinen Blick über die Zuschauerränge wandern. Ihm kam es vor, als wäre ihm das in seiner Jugend viel leichter gefallen. Allerdings war es einfacher für ihn gewesen, seine Wut hinauszubrüllen, als das was er jetzt sagen wollte. Er räusperte sich und meinte: „Wow! Manchmal vergesse ich wie viele Leute in so einer Arena passen. Ich bin es gar nicht mehr gewöhnt vor so großem Publikum zu sprechen.“

Vereinzelt hörte er einige Leute kichern. Wahrscheinlich weil sich das keiner bei ihm vorstellen konnte. Vielleicht hatte er sogar den Tag zuvor noch ein Interview gegeben. So genau wusste das Tyson wirklich nicht mehr.

„Ich dachte ich fange mal mit einem Witz an.“, grinste er verschmitzt. Nun lachte die Menge doch auf. Dennoch wurde Tyson schnell wieder ernst. „Aber um euch nicht länger hier aufzuhalten. Wie bereits erwähnt, gibt es da etwas, was ich klarstellen muss. Und zwar betrifft es meine alten Teamkollegen. Sicherlich wissen die meisten von euch, dass wir vor kurzem beschlossen haben, getrennte Wege zu gehen – und auch meine Reaktion darauf. Ich bin mir sicher, dass ich in einigen Interviews ziemlich fiese Kommentare dazu abgelassen habe. Einige meiner Fans werden wahrscheinlich sogar aus Loyalität mir gegenüber, meinen Standpunkt vertreten und die anderen ebenfalls für Verräter halten. Für diese Rückendeckung danke ich euch… Aber ich bin leider auch nur ein Mensch und mache genauso wie jeder von euch Fehler. Deshalb solltet ihr wissen, dass der wahre Verräter wohl in diesem Fall ich bin.“

Ein Flüstern machte die Runde. Er beobachtete wie Max der Mund langsam aufklappte.

Dagegen wurde Rays Miene geradezu steinern.

„Ich weiß dass viele die Bladebreakers geliebt haben und auch schrecklich enttäuscht waren, dass die Gruppe sich aufgelöst hat. Ich bin genauso traurig darüber, aber Fakt ist, während ich mich in dem Ruhm unseres Namens gesonnt habe, kamen meine Teamkameraden viel zu oft zu kurz. Das ist unfair, weil jeder von ihnen ein ausgezeichneter Blader ist! Ich habe das Ganze aber zu einer One-Man-Show verkommen lassen… Der Weltmeistertitel kann Segen und Fluch zugleich sein. Wenn man nicht aufpasst wird man schnell hochmütig. Und das ist mir vor kurzem passiert.“

Tyson schaute direkt in Rays Richtung. Jegliche Rivalität war aus dessen Gesicht gewichen. Er schaute nur überrumpelt zu ihm hinauf. Seine hellen Augen zitterten.

„Du hattest Recht, Ray. Ich bin wirklich das Problem gewesen.“, griff er dessen damaligen Vorwurf auf. Die verschränkte Haltung von seinem Freund löste sich und er blinzelte ihn tief betroffen an. „Ich habe mich wie ein arroganter Gockel aufgeplustert. Sogar meinem neuen Partner Daichi, habe ich immer eingeredet, dass er niemals an mich herankommt. Das war echt eine schwache Leistung von mir… Ein Weltmeister sollte inspirieren können und sein Team zusammenhalten. Stattdessen habe ich mit meinen Starallüren, mein Team nur auseinander gerissen. Ich muss hier und jetzt klarstellen, dass es nicht eure Schuld war, dass sich die Bladebreakers getrennt haben! Das ist allein auf meinen Mist gewachsen. Was das angeht habe ich auf ganzer Linie versagt.“

Nun ließ auch Daichi von seine Haaren ab. Er starrte Tyson verdattert an, während Hilarys Hände von ihrem Mund, zu ihrer Brust wanderten. Sie faltete die Finger vor ihrem Herzen und flüsterte seinen Namen. Alle waren solche Töne von ihm nicht gewohnt.

„Wahrscheinlich habe ich deshalb auch so heftig auf euren Ausstieg reagiert. Ich weiß genau was ihr beiden - und selbstverständlich auch Kai - drauf habt. Solche Leute will man lieber als Verbündete. Als Feinde können sie einem nämlich mächtig den Arsch aufreißen.“

Er grinste und rieb sich die Nase. Bei diesem Satz sah er ein belustigtes Schmunzeln um Max Mundwinkel huschen. Nun kratzte sich Tyson etwas befangener im Nacken. Das jetzige Geständnis bedurfte ihn mehr Überwindung.

„Aber was mir wirklich Angst gemacht hat, war ehrlich gesagt nicht nur die Aussicht, euch in der Arena als Gegner gegenüberzustehen. Ich denke der Hauptgrund war, dass ich Angst hatte… das ich die besten Freunde verliere, die man je haben kann.“

Max Mundwinkel glitten steil hinab. Seine Augen wurden tellergroß ob dieser Aussage. Judy legte hinter ihm ihre Hände auf seine Schultern. Sie lächelte und flüsterte ihrem Sohn etwas ins Ohr.

„Ich hätte euch was das angeht mehr vertrauen sollen. Ihr seid nicht die Art Menschen, die einen Freund einfach so abschreiben, nur weil man in ein anderes Team wechselt. Das ist mir mittlerweile auch klar geworden. Es mag sein, das wir zuvor nur zwei Jahre im selben Team waren, ich habe aber das Gefühl, das wir uns schon ein Leben lang kennen. Was das angeht, seid ihr mir aber etwas voraus. Ich bin einfach ein Hitzkopf und habe sehr üble Dinge zu euch gesagt - wie ein trotziges Kind. Diese Vorwürfe… Die tun mir einfach Leid. Es hat nichts mit Eifersucht zu tun, wenn man seinen eigenen Weg gehen möchte. Ich hatte nicht das Recht euch dafür zu verurteilen, dass ihr auch eine Möglichkeit sucht, um euren Traum zu verwirklichen!“

Ray schaute mitleidig zu ihm auf. Hinter ihm erhaschte Tyson Mariah. Er hätte schwören können, dass sie hinter Gary verschwand, damit sie sich ohne von einer laufenden Kamera gefilmt zu werden, über die Augen wischen konnte. Ungeachtet dessen, tat Tyson einen tiefen Atemzug und sprach: „Deshalb möchte ich mich hier und jetzt, in aller Form bei euch entschuldigen. Es tut mir Leid, dass ich euch die letzten Wochen gemieden habe. Ich habe mich wie ein Idiot benommen und… dafür schäme ich mich. Ich will einfach in diesem Turnier meinen Spaß mit euch haben. Egal ob ihr in anderen Teams spielt. Die Freunde meiner Freunde sind auch meine. Und ihr hättet euch keinen besseren Mannschaften anschließen können. Mit diesen Teams habe ich ernsthafte Konkurrenz bekommen!“

Neben Judy, kam von Maxs Teammitglied Emily, ein leises Seufzen. Sie nahm sich die Brille ab und putzte sich mit dem Oberteil über die nassen Gläser, während ihr Teamkapitän Micheal freundschaftlich den Arm um ihre Schulter legte und sie belustigt aufzog. Dann blickte er in Tysons Richtung und hob den Daumen anerkennend hoch. Genauso eine Reaktion kam auch von dem White Tiger Mitgliedern. Vom Weltmeister in so hohen Tönen gelobt zu werden, ließ auch Lee stolz die Arme verschränken und die Brust nach vorne recken, während Kevin bis über beide Ohren strahlte. Meister Tao strich sich summend über das Ziegenbärtchen und entblößte eine unvollkommene Zahnreihe.

„Und wir sind nicht gut?“, beklagte sich Julia pikiert aus der F-Dynasty Ecke.

„Hey, zu meiner Verteidigung… Ich kenne euch noch gar nicht.“, spielte Tyson den Unwissenden. „Aber ich bin ziemlich sicher, dass keiner von den neuen Teams grundlos in dieser Arena steht. Wer es bis ins Finale schafft, muss nichts mehr beweisen!“

„Hört, hört!“, rief ihr Trainer Romero aus und strich sich lässig eine blonde Locke aus dem Gesicht. Tyson hatte ihn als kleinen Playboy in Erinnerung, der gerne der Damenwelt Luftküsse zuwarf.

„Um also endlich zum Punkt zu kommen, und die Zuschauer da oben nicht noch länger warten zu lassen, würde ich euch bitten, dass ihr dieses eine Mal noch, über meine aufbrausende Art hinwegseht, hier hoch zu mir auf die Bühne kommt – und wir uns freundschaftlich die Hand reichen.“

Auf seine Worte ließ er Taten folgen. In einer symbolischen Geste streckte er seinen Freunden die Hand entgegen. Zunächst blieben beide noch wie vom Donner gerührt stehen, bis ein lautes Klatschen die Halle erfüllte. Es war deshalb so gut zu vernehmen, weil Mr. Dickenson von seiner Loge aus, vor dem Mikrophon anfing zu applaudieren. Seine Partner neben ihm machten es ihm bald nach. Kurz darauf stimmten noch mehr Personen ein. Tysons Blick huschte über die Menge und bald standen einige Zuschauer auf, bis kein Mensch mehr auf seinem Platz saß.

„Genauso eine Sportlerehre braucht die Welt!“, sprach Mr. Dickenson in sein Mikro. Der Beifall wurde noch lauter auf seine Worte. In der Arena sah Tyson altbekannte Gesichter, die sich ihm lächelnd zuwandten. Fast alle Teams klatschten ihm zu. Als er hinter seinen Rücken schielte, waren sämtliche eisernen Züge, um die Mundwinkel seines Bruders herum verschwunden. Hilary hatte zu weinen begonnen, genauso wie D.J. Jazzman, dem wie ein geprügelter Schlosshund, die Tränen in Bahnen herabrannen. Er verdeckte sein Gesicht beschämt hinter seinem Ellbogen und jaulte lauthals.

Den ersten Schritt tat Max auf ihn zu…

Judy hatte ihm einen zarten Schubs in Richtung Tribüne gegeben. Als er in Bewegung kam, klatschte auch sie weiter Beifall. Ray brauchte dagegen keine Starthilfe. Er kam von der anderen Seite der Arena auf ihn zu und überwand die Stufen zu ihm hinauf. Tyson war zwar froh, diesen Fehler aus der Vergangenheit, aus der Welt geräumt zu haben, gleichzeitig fragte er sich aber, wie er seinen Freunden jemals in die Augen sehen sollte, wenn sie erfuhren, dass er diese Seifenoper dafür genutzt hatte, um ihnen die Attribute klammheimlich einzusetzen.

„Dafür werden sie Leben. Willst du das nicht?“

Die Antwort war einfach. Als Ray ihm mit einem breiten Grinsen die Rechte entgegenhielt, packte Tyson ohne weiteres Zögern zu und klopfte mit seiner andere Hand auf dessen Oberarm. Die Stelle war frei von Stoff gewesen. Da begriff Tyson was die Attribute übertrug. Beim letzter Klopfen behielt er seine Hand auf Rays Arm. Prompt spürte er wie in ihm eine Wärme hochkam. Es fühlte sich wie ein Blitz an, der aus seinem Innern hochschoss und von seinem eigenen Arm aus weiterwanderte.

„Alle Achtung.“, die hellen Augen seines Freundes schauten ihn strahlend an. „Sich seine Fehler so offen einzugestehen - das ist wahre Größe!“

„Danke Ray.“

Der Blitz wurde weitergeleitet. In Rays Körper. Einen flüchtigen Moment erhaschte Tyson ein kleines, hellgrünes Aufglimmen auf dessen Oberarm, genau dort, wo er ihn berührt hatte. Es sah aus wie ein Tigermuster. Einen Moment hielt er den Atem an, denn sein Gegenüber blinzelte etwas benommen und tat einen Schritt auf ihn zu, als würde er ins Taumeln geraten. Doch Ray fing sich relativ schnell, denn Tyson überspielte den Vorfall, indem er ihn in eine brüderliche Umarmung zog.

Kurz darauf klatsche die Menge noch lauter Beifall als Max dazu stieß. Sobald er bei ihnen ankam, warf er seinem Freund ebenfalls den Arm über die Schulter und drückte auch ihn an sich. Dabei zielte er mit der Hand auf die gleiche Stelle wie bei Ray. Dieses Gefühl war anders. Es war eher als wurde Wasser in seinem Körper blubbern. Wie bei einem Springbrunnen…

„Gott Tyson, wie konntest du glauben das wir nicht mehr deine Freunde sind?“, rief Max lachend aus. Dabei bemerkte er gar nicht, dass seine Haut an jener Stelle, an der Tyson ihn anfasste, bläuliche Muster aufwies, wie die schimmernden Konturen eines Schildkrötenpanzers. Es ließ Tyson schwer ausatmen. Zwei seiner Freunde waren also die Nistplätze ihrer Bit Beasts geworden. Wie eine Bestätigung dass der Pakt vollendet war, hörte das Prasseln auf der Glaskuppel über ihnen auf, während das letzte Donnern verklang. Tyson schaute auf und bemerkte, dass die Wolkendecke bereits aufbrach. Ein Sonnenstrahl zwängte sich hindurch. Auf Maxs Aussage hin, senkte er den Blick und lächelte traurig.

„Es tut mir Leid.“, murmelte er leise vor sich her.

„Aber Tyson… Warum denn so traurig? Ist doch schon vergessen.“

Er schaute in zwei wohlwollende Gesichter. Wie Schade das keiner von beiden begriff, wofür er sich tatsächlich entschuldigte.
 


 

*
 

Kai so nahe zu kommen wie Max und Ray würde schwieriger werden, da gab sich Tyson keinen Illusionen hin. Der bekam ihre große Versöhnung nicht einmal mit, da er vorzeitig die Arena verlassen hatte. Als er sich von den beiden löste, anerkennende Schulterklopfer von ihnen erntete und sie sich gegenseitig versprachen, dieses Turnier nicht ihre Freundschaft zerstören zu lassen, wandte Tyson seinen Blick zu den Blitzkrieg Boys. Tala schaute uneeindruckt herüber und kommentierte das Ganze mit einem leicht verdrießlichen Augenrollen. Es hätte ihn auch schwer gewundert, wenn sich der hartgesottene Leader der russischen Mannschaft, von dieser Szene so erweichen ließ, wie der Rest der Anwesenden. Während die Menge noch immer klatschte, Jazzman das Mikrophon wieder an sich riss, um dieser herzerwärmenden Szene noch seinen Stempel aufzudrücken, drehte die russische Gruppe der Arena den Rücken zu und schritt erhobenen Hauptes in den Flur davon. Tyson schaute hinauf zur Uhr. Seine Brauen zogen sich zusammen. Der Minutenzeiger war wieder ein ganzes Stück weitergewandert. Dann wanderte sein Blick prüfend hinauf zu den Fenstern. Tyson wusste gar nicht nach welchem Warnsignal er Ausschau hielt. Vielleicht das der Himmel sich genauso mit schwarzen Aschewolken zuzog wie beim Ausbruch des Fujis.

Soweit würde er es auf keinen Fall wieder kommen lassen. Es war höchste Zeit Kai zu finden und ihm auch sein Attribut einzusetzen. Um Jazzmans Monolog nicht zu unterbrechen, wandte er sich an Ray.

„Wärst du mir böse, wenn ich erst einmal etwas anderes vor unserem Match erledige?“

Der schaute ihn fragend an.

„Noch etwas? Heute hast du dir ganz schön viel vorgenommen.“

„Ja, ich nehme mir einiges heraus - aber ich muss wirklich weg. Könntet ihr Jazzman sagen, dass ich für einige Minuten verschwinde.“

„Das ist keine gute Idee!“, warf Max besorgt ein. „Du könntest disqualifiziert werden! Riskier das nicht. Was immer du zu erledigen hast, es sollte warten können.“

Einen Moment wiegte Tyson seinen Kopf hin und her. Schließlich antwortete er: „Nein, kann es nicht. Dann werde ich eben disqualifiziert. Das ist jetzt wirklich zweitrangig.“

„Aber du…“

„Zieht nicht so lange Gesichter! Ihr würdet tolle Weltmeister abgeben.“, er klopfte ihnen auf die Schulter und machte auf dem Absatz kehrt. Kurz darauf hörte er Jazzmans verblüfften Ausruf, was Tyson denn jetzt schon wieder vorhabe, als er die Tribüne hinabsprang, an seinem Team vorbeirannte und geradewegs in den Flur schoss. Die anschließende Diskussion seiner Freunde, zwischen dem Moderator und ihnen, bekam Tyson schon gar nicht mehr mit, auch nicht als Mr. Dickenson von seiner Loge herunterkam und sie aufgeregt auf den alten Herren einredeten, ihn doch bitte nicht für sein Verschwinden zu disqualifizieren.
 

Etwas später hechtete Tyson durch die Gänge, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her, auf der verzweifelten Suche nach den Blitzkrieg Boys. Er konnte sich noch vage an den Flur erinnern, in welchen er Kai abgefangen hatte, musste aber einige Male fluchend feststellen, dass er dennoch die falsche Abzweigung nahm. Irgendwann hallte eine Durchsage durch die Gänge welche verkündete, dass man eine einstündige Pause einlegte und die Zuschauer, für die Wartezeit, mit kostenlosen Softdrinks vom Veranstalter entschädigt wurden. Tyson beschlich das Gefühl, dass er dies den Überredungskünsten seiner Freunde zu verdanken hatte. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, dennoch behielt er schnell wieder sein eigentliches Ziel vor Auge. Endlich fand er den richtigen Gang. Er erinnerte sich noch wie er vor sieben Jahren, mit den Blitzkrieg Boys, in eben diesem Flur gestanden hatte, um Kai lautstark zur Rede zu stellen. Damals war Tyson voller Zorn gewesen…

Heute voller Sorge rechtzeitig die Phönixfeder in ihn zu verfrachten. Er fragte sich wie er Kai von seinem Team lotsen könnte. Tala hatte damals unmissverständlich klar gemacht, dass er keines der Mitglieder aus den Augen ließ, während Bryan und Spencer ihn wie seine Bodyguards flankierten. Ihm war es damals vorgekommen, als wäre eine menschliche Mauer zwischen ihnen hochgezogen worden. Er bog in den nächsten Gang ein und fand zum Ende hin die Silhouetten die er suchte. Sie waren weiter gekommen als beim letzten Mal, meinte er sich zu erinnern. Bereits die Tür zu ihrer Kabine stand offen. Wahrscheinlich weil Tysons Unterhaltung mit den anderen, ihre Zeit in Anspruch genommen hatte. Die Gruppe machte sich bereit einzutreten, er schnappte einige unverständliche russische Wörter auf, die zwischen ihnen gemurmelt wurden.

„Kai, warte!“

Noch bevor der in die Kabine verschwinden konnte, hielt er inne und drehte ihm mit gelangweilten Blick den Kopf zu. Aus seinen Augen sprach die alte Arroganz heraus und Tyson begriff in jenem Moment, dass er eine Herakles Aufgabe bewältigen musste. Er konnte förmlich an Kais Aura spüren, dass seine Mauer meterdick war. Sein Blick wirkte kühl, irgendwie auch starr. Es fehlte die Sanftheit, die mit jedem vergangen Jahr in ihrer Gesellschaft, schleichend eingezogen war. Zu jener Zeit ließ Kai niemanden näher an sich heran als nötig. Es würde schwierig werden ihn zu berühren, ohne das er sich bedrängt fühlte. Er stand nun wieder am Anfang ihrer hochkomplizierten Beziehung. Alle Fortschritte der letzten sieben Jahre waren dahin…

„Was willst du, Kinomiya?“

Seine Stimme klang frostig, ja, geradezu geringschätzig. Er hörte die Distanz zwischen ihnen förmlich heraus. Für Kai war er wieder sein verschworener Rivale geworden. In seinen Augen trennten sie Dimensionen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Tyson ihn nun besser kannte, als jeder andere Mensch auf der Welt, ahnte nicht, wie viele Geheimnisse er ihm anvertraut hatte. Das Tysons Herz gerade vor Sehnsucht für ihn zu bersten drohte…

Vor seinem geistigen Auge sah er Jana an Kais Seite stehen. Wie das kleine Mädchen mit ihren winzigen Fingern, strahlend die Hand ihres großen Bruders ergriff. Kai hatte gar keine Ahnung, was da eigentlich für eine Lücke neben ihm klaffte - das Jana in seinem Leben fehlte. Es machte ihn viel zu traurig. Tyson schloss die Augen. Dann trat ein entschlossener Zug um seinen Mund.

„Ich müsste einen Moment mit dir reden.“, erklärte er ruhig.

„Wenn du mir etwas zu sagen hast, mach es jetzt.“

Es klang herausfordernd und wie als stummes Kommando, machte sich Spencer etwas größer. Alle vermuteten wahrscheinlich, das Tyson ihn wegen seines überstürzten Ausstieges, zur Rede stellen wollte. Bryan hob herausfordernd das Kinn, ein verschlagener Ausdruck im Gesicht. Dennoch blieb Tyson ruhig.

„Das ist nichts was in zwei Minuten geklärt ist. Lass uns unter vier Augen reden…“

„Kai geht nirgendwohin. Tragt das in der Arena aus.“, schaltete sich Tala nun ein. Er ließ das Alpha Männchen heraushängen, um klar zu machen, wer das Sagen in ihrem Team hatte. Ein kühnes Grinsen erschien um dessen Mundwinkel. Das musste wohl so eine Krankheit aus der Abtei sein. Die Kinder von dort konnten nie Lächeln, ohne dass man den Eindruck bekam, es wäre hämisch gemeint. Tyson ermahnte sich, Ivanovs Verhalten nicht allzu persönlich zu nehmen.

Zudem konnte er sich noch genau daran erinnern, wie Kai reagierte, als er ihn hier beim ersten Mal wutschnaubend zu Rede stellte. Dadurch dass er ihm förmlich zusammenbrüllte und eine Szene machte, hatte er eigentlich nur seinem eigenen Ansehen geschadet. Anstelle also lauter zu werden, zuckte Tyson nur mit den Schultern und meinte: „Nichts für Ungut, Tala… Aber glaubst du wirklich Kai braucht ausgerechnet deine Erlaubnis, um mal kurz einige Worte mit mir zu wechseln? Ich bitte dich…“

Tala hob fragend die Braue.

„Was soll das heißen?“

„Das er kein kleines Kind ist. Also lass ihn vom Rockzipfel, Großmütterchen.“

Bryan und Spencer klappte der Mund auf ob seiner Wortwahl, denn ihrem Teamleader so etwas Freches an den Kopf zu werfen, glich in ihren Augen wohl einem Selbstmordkommando. Gleich darauf tauschten sie fragende Blicke untereinander aus. Auch Kai blinzelte verdutzt, nur um danach umso finsterer zu starren. Tyson provozierte ihn absichtlich. Nur so konnte er ihn aus der Reserve locken, nicht wenn er sich selbst auch noch in Rage redete.

„Pass auf dein Mundwerk auf!“, zischte Tala bedrohlich.

„Ich bin nicht hier um mit dir zu streiten, okay? Lass mich einfach nur mit Kai alleine reden. Ich will ihm weder den Kopf abbeißen, noch in mein Lebkuchenhaus locken. Alles worum ich bitte ist eine Unterhaltung. Ist das wirklich eine so üble Forderung, Tala?“

Er sprach ihn gezielt an und gleich darauf, sah er dessen Augen zur Seite huschen. Die Überlegung war also gesät. Tyson bemerkte, dass Bryans Ausdruck an Gehässigkeit verlor.

„Wenn ich dabei wäre…“, dachte Tala inzwischen laut.

„Nimm das nicht persönlich, aber es gibt da einige Dinge, die ich wirklich mit ihm unter vier Augen klären möchte. Ich will keine Anstandsdame dabei haben.“

Tala schnalzte verächtlich.

„Hörst du endlich auf mich wie ein Kleinkind darzustellen, Kinomiya!“, kam es inzwischen herrisch von Kai. „Er ist nicht meine Amme! Die brauche ich auch gar nicht.“

„Dann stell dich auch nicht so an.“, ein Kopfnicken Richtung Flur folgte. „Ich habe keine Lust auf eine unschöne Szene. Das lässt sich auch anders klären. Dein Team hat damit auch überhaupt nichts zu tun, also warum müssen wir sie mit hineinziehen? Ich denke jeder hier hat kurz vor seinem Match andere Sachen zu erledigen, als sich mit unserem Kram herumzuschlagen.“

Und das war wohl tatsächlich so…

„Hör mal, Tala, ich habe eigentlich ziemlichen Hunger.“, meldete sich nun hinter dessen Rücken Bryan zu Wort. „Vor unserem ersten Match würde ich gerne noch mal etwas essen und was er sagt, hört sich doch gar nicht so blöd an. Die beiden haben ein Problem? Sollen sie es unter sich klären.“

Tyson sah den russischen Teamleader nachdenklich die Brauen zusammenziehen, während er hinter seine Schulter spähte. Trotz der Vormachtstellung schien er Kritik aus den eigenen Reihen sehr wohl zu durchdenken. Tala fuhr sich grübelnd übers Kinn, dann hob er den Kopf und fragte: „Hat es etwas mit dem laufendem Turnier zu tun?“

„Nein. Wie kommst du darauf?“

„Das fragst du noch? Mir macht es Sorge, dass du ihm eine deiner gefühlsduseligen Reden hältst, nur damit der Junge wieder in dein Team wechselt. Du musst das verstehen, Kinomiya, ich kann mir das momentan nicht leisten. Ein Seitensprung von ihm würde uns jetzt schwächen.“

Tala beäugte Kai äußerst misstrauisch.

„Was soll diese Unterstellung?“, fragte der ziemlich grantig.

„Nichts für Ungut, aber wir wissen beide das du nicht viel für Loyalität übrig hast.“

„Du kannst mich mal, weißt du das eigentlich?“

„Das will ich überhört haben.“, gab Tala kühl zurück. Dann wandte er sich wieder Tyson zu. „Und?“

„Ich habe mich bei Ray und Max nur vorhin entschuldigt, nicht darum gebeten, dass sie wieder in unser Boot wechseln. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.“

„Warum eigentlich dieser Auftritt?“

Tyson holte tief Luft. Dann gestand er: „Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber da sind verdammt miese Worte von mir gefallen. Wärst du dabei gewesen, hättest du verstanden, warum ich das tun musste. Ich musste ein Zeichen setzen.“

Tala schaute ihn an und auch Kais Blick ruhte nachdenklich auf ihm. Er war bei ihrem Streit nicht dabei gewesen und fragte sich wohl, ob es wirklich so übel gewesen war. Tyson hätte schwören können, dass es fast schon etwas besorgt aussah.

„Und jetzt würde ich gerne von Freund zu Freund mit ihm reden.“

Tyson nickte in Kais Richtung, was ihn wieder finsterer schauen ließ. Doch Tala ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Und letztendlich zuckte er achtlos mit den Schultern.

„Dann will ich mich nicht einmischen. Er gehört dir.“

Und schon schien die Sache erledigt. Es glich einem Wunder, weil es so einfach gewesen war. Eigentlich war Ivanov doch recht vernünftig. Kai dagegen weniger…

„Ich rede nicht mit ihm!“, stellte der klar.

„Musst du jetzt wohl. Tala hat es erlaubt.“

„Als würde ich auf den hören!“

Das hätte Kai nicht sagen sollen. Sofort hielt Tala in seiner Bewegung inne und schaute düster zu ihm hinüber. Er drehte sich noch einmal um.

„Der Junge bringt gute Argumente vor - also beweg dich mit ihm hinaus!“

„Er kann gar nicht vernünftig sein. Vernunft ist bei ihm aus der Wiege gefallen.“

Tyson fauchte genervt.

„Soll ich im Kreis hopsen, damit du dich besser fühlst?!“

„Nein. Von meiner Seite gibt es nichts zu diskutieren.“

„Eine einzige Unterhaltung, Kai! Mehr will ich nicht!“

„Ist mir egal!“

Einen Moment schaute ihn Tyson an. Dann grinste er triumphierend.

„Ich glaube es nicht. Der große Hiwatari hat Schiss vor mir!“

Er begann zu lachen. Einfach weil ihm das entgangen war, als sie sich das erste Mal hier gestritten hatten. Kai war ihm damals gezielt aus dem Weg gegangen, weil er insgeheim genau wusste, wie unfair die Art und Weise seines Ausstieges gewesen war. Irgendwann in den letzten zehn Jahren, war Tyson dahinter gekommen, wie er sich verhielt, wenn ihn das schlechte Gewissen plagte. Er gab sich dann noch bockiger als sonst, weil er zu stolz war um sich zu entschuldigen. Damals konnte er das aber noch nicht ahnen. Dazu hatten sie sich nicht lange genug gekannt.

„So ein Stuss!“, wehrte sich Kai gegen den Vorwurf. Auf einmal war sämtliche Arroganz für eine Sekunde verflogen, wich einem irritierten Ausdruck. Wahrscheinlich konnte er sich nicht erklären, woher auf einmal Tysons Spürsinn herkam. Wie präzise er ins Schwarze getroffen hatte…

„Ach komm, du willst doch nur nicht mit mir reden, weil du glaubst, dass ich sauer auf dich bin. Ich reiße dir schon nicht den Kopf ab.“, beteuerte er mit einer heiteren Handbewegung.

Das fand er einfach zu göttlich und Tyson konnte sich das Prusten kaum verkneifen.

„Mir ist vollkommen gleich ob du wütend auf mich bist!“, herrschte Kai ihn an. Seine Gelassenheit war wohl nicht die Reaktion die er von ihm kannte. „Ich habe keine Angst vor dir! Warum auch? Und hör auf so blasiert zu grinsen!“

„Kann ich nicht. Das ist einfach zu komisch! Das der große Hiwatari sich wegen einer kleinen Unterhaltung rarmacht….“, Tyson vergrub belustigt die Hände in den Hosentaschen und wippte mit den Fußballen auf der Stelle, feixte ihm dabei frech entgegen. „Ganz schön schwache Leistung, mein Freund. Ganz schwach.“

Eine mahnende Hand hob sich zwischen ihnen.

„Genug davon! Mir wird euer Gekeife zu blöd!“, sprach Tala ein entschiedenes Machtwort. Irgendwie hatte Tyson das Bedürfnis sich stramm hinzustellen. Wenn Ivanov laut wurde, klang er wie ein Offizier beim Morgenapell und tatsächlich wurden alle außer Kai kerzengerade. Selbst der riesige Spencer, der Tala doch um einen Kopf überragte. Dieser Kerl war eindeutig das Alphamännchen schlechthin in der Gruppe. Er drehte sich zu Kai und begann mit ihm auf Russisch zu debattieren. Tyson wusste nicht warum, doch diese Sprache empfand er noch nie als besonders wohlklingend. Jedes zweite Wort klang wie eine Kriegserklärung und bald wurden die beiden auch lauter, weil Kai wohl der Einzige war, der nicht vor Tala kuschen wollte. Der hatte schon immer ein Autoritätsproblem, ließ sich nie beeindrucken. Erst der nächste Satz, in seiner eigenen Muttersprache, machte Tyson klar, um was es überhaupt ging.

„Ist mir scheißegal wie du es anstellst, klär das gefälligst! Wegen unserer Vergangenheit sind wir die Außenseiter bei dieser Veranstaltung - jeder beobachtet uns. Ich habe dich nicht ins Team geholt, damit du gleich zu Anfang Unruhe stiftest!“

Er deutete auf Tyson, stierte Kai dabei aber weiterhin böse an.

„Ich will dass wir dieses Jahr unsere Rehabilitierung feiern! Das lasse ich mir nicht kaputt machen. Also wenn ihr beide Probleme habt, geht nach draußen, klärt die Sache und redet wie Erwachsene es tun! Keine Szenen die dem Team schaden könnten! Überall lauern Reporter, die sich nur die Finger nach einem Fehltritt von uns lecken. Ich dulde kein Verhalten das eine üble Nachrede mit sich zieht!“

„Ich benehme mich immer erwachsen!“, stellte Kai klar.

„Tatsächlich? Momentan teile ich nämlich seine Meinung über dich…“

„Und warum das?“, kam es empört.

„Du kneifst den Schwanz ein!“

„Tue ich nicht!“

Tala fuhr sich über die Nasenwurzel. Nach einem zischendem Einatmen sprach er ziemlich gereizt: „Hör mal, Kai… Ich könnte verstehen, wenn du nicht mit ihm reden willst, wenn er hier im Zickzack herumspringt, wie Rumpelstilzchen ums Feuer. Dann wäre mir sogar lieber, wenn du ihm aus dem Weg gehst, weil wir uns nach der Weltmeisterschaft in Russland unauffälliger verhalten sollten. Außerdem steht Kinomiya in dem Fall blöd da. Nicht wir. Was dagegen ein negatives Licht auf uns wirft, ist, wenn er dir die Hand reicht und du zu eingebildet bist, um einzuschlagen.“

„Das hat nichts damit zu tun.“

„Womit dann? Nenn mir einen guten Grund!“

Das hatte Tyson echt nicht erwartet. Ivanov schlug sich auf seine Seite. Kai wandte dagegen mit einem hochmütigen „Hmm!“ den Kopf weg, als müsse er keine Rechenschaft ablegen.

„Mir doch egal was die Leute über uns reden…“, sprach er unbeeindruckt.

„Du wirst das tun, was für dieses Team das Beste ist – so wie die anderen auch! Wer nicht pariert wird rausgeworfen! Oder willst du wie dieser Giftzwerg Ian enden?“

„Du klingst wie er.“, zischte Kai auf einmal. Da wurde Talas Blick geradezu unheimlich düster. Er bäumte sich bedrohlich vor ihm auf und jetzt verstand Tyson, woher diese Angst von seinen Kameraden herrührte. Er wirkte prompt um ein Vielfaches größer.

Er hätte sich einen Scheißdreck um sein Team geschert. Er würde sich sogar die Hände vor Freude reiben, wenn du Kinomiya wie ein Stück Scheiße behandelst. Aber das wird es in diesem Team nicht geben. Sowas unterstütze ich nicht mehr! Ich will dass alles fair abläuft – von Anfang bis Ende. Und was noch viel wichtiger ist, ich werde dich nicht bevorzugt behandeln, nur weil du der Publikumsliebling bist. Ich scheiße auf deine Fangemeinde! Du bist zu uns gekommen, nicht umgekehrt! Also komm mal schnell herunter von deinem hohen Ross, denn ob es dir nun passt oder nicht, ohne ein Team an deiner Seite, kannst auch du nicht an diesem Turnier teilnehmen! Das heißt für dich auf Wiedersehen Finale! Willst du das wirklich? War es nicht das was du wolltest?“

Kais Mundwinkel zuckten verstimmt. Eine Weile lang schauten sich beide böse an. Tyson schloss einen Moment wissend die Lider. Er dachte daran was ihm Kai über die Zeit in der Abtei erzählt hatte. Auch über Tala. Er war ein Leitwolf der sein Rudel schützte. Koste es was es wolle. Auch wenn Kai das erst viel später begriff.

„Ich bin verdammt enttäuscht von dir. Du beweist gerade wenig Rückgrat. Er will nur die Fronten klären. Das ist vollkommen legitim und fair. Und etwas weniger Wortkargheit kann dir nur gut tun. Wenn du die Klappe mal öfters aufbekommen würdest, würde uns das allen die Zusammenarbeit mit dir erleichtern.“

Autsch! Das musste wehtun…

Keine Woche in einem neuen Team und schon die erste Ehekrise.

Tyson sah Kai die Lippen fest aufeinanderpressen.

„Wenn ich die Wahl hätte würde ich alleine antreten.“, zischte er verbittert.

„Da hast du dir den falschen Sport ausgesucht. Ich mag deine Eigenbrötlerei übrigens nicht.“

„Dann hättest du mich nicht aufnehmen dürfen.“, kam es ungnädig.

„Du weißt genau warum ich das getan habe.“

Es wurde still zwischen ihnen und als Tysons Blick zu Tala huschte, sah er das erste Mal keine Kälte darin. Seine Augen wanderten weiter. Überall sah er denselben Ausdruck. Bryan wandte sich auf einmal mit einem verächtlichen Schnalzen ab, murmelte vor sich her, dass er auf diese alte Kamelle keine Lust mehr habe und verschwand in der Kabine. Tyson fühlte es. Da lagen viele unausgesprochene Geheimnisse in der Luft. Geheimnisse die nur Abteikinder kannten.

Nur Kais Ausdruck war anders. Seine Miene war steinern, eisern, kalt.

Aber die Augen nicht. Da flackerte etwas. Unterdrückter Zorn…

Er schnalzte mit der Zunge und packte plötzlich nach Tysons Arm.

„Dann bringen wir es hinter uns. Für dein Team.“

Der letzte Satz kam so überdeutlich, dass man schon recht einfältig sein musste, um nicht die zynische Botschaft dahinter zu verstehen. Offenbar wollte Tala noch einmal die Wogen zwischen ihnen glätten, denn er sprach: „Es ist auch dein Team, Kai.“

„Wenn du das sagst…“

Damit schien das Gespräch beendet. Kais Griff war fest, grub sich förmlich in Tysons Ärmel. Beide durchmaßen im schnellen Schritt den Gang und als er bei der nächsten Biegung, nochmal einen Blick über seine Schulter warf, sah Tyson die verbliebenen Blitzkriegboys ihnen ratlos nachschauen. Irgendwann senkte Tala die Augen und seufzte bedauernd.
 

Auf den Gängen herrschte inzwischen buntes Treiben, weil viele Besucher aus dem Gebäude strömten, um die unerwartete Pause im Freien zu verbringen. Einmal meinte Tyson einen Reporter in Begleitung seines Kameramanns zu erhaschen, doch Kai war geistesgegenwärtig genug, um wie ein Schatten in den nächsten Gang zu verschwinden. Er hatte schon immer die Presse gemieden. Wie ein scheuer Kater eben…

Kai wirkte auch ziemlich sauer. Offenbar fühlte er seine Autorität von ihm untergraben. Selbstverständlich durfte niemand Hiwataris Autorität untergraben. Er stieß mit so viel Kraft die Tür zum Treppenhaus auf, dass sie geräuschvoll gegen die Wand dahinter krachte. Auf dem Absatz hielt Kai einen Moment inne, um zu überlegen, wo sie ungestört waren. Er vernahm die schnatternden Menschen in den unteren Etagen und entschied sich deshalb wohl weiter nach oben zu steigen. Früher hatte Tyson nie bemerkt, wie vehement er der Gegenwart von anderen Menschen aus dem Weg ging. In ihrem ersten Jahr, hatte er Mr. Dickinson sogar einmal schwere Vorwürfe gemacht, weil er nicht verstand, weshalb sie sich überhaupt noch mit diesem Miesepeter abgeben mussten. Kurz zuvor war es zwischen ihm und Kai mal wieder ziemlich hässlich geworden, also ließ er seine Wut an dem alten Mann aus. Der hatte nur ein trauriges Lächeln aufgesetzt.

„Du weißt nie was hinter der Fassade steckt. Dazu musst du dir die Mühe machen und daran kratzen. Leider wollen das die meisten Menschen nicht, weil es ihnen zu anstrengend ist.“

Tyson wusste damals genau wie das gemeint war. Dieser Spruch hatte ihn so geärgert, dass er sich in seinem kindlichen Trotz schwor, so viel aus Kai herauszupressen, wie irgendwie möglich. Einfach um Mr. Dickenson zu beweisen, dass er nicht halb so oberflächlich war, wie der ihm durch die Blume hinweg vorwarf. Erst jetzt wurde ihm klar, wie viel er dem alten Mann schuldete, obwohl er einen ganz schön miesen Trick damals anwandte.

Mr. Dickenson hatte genau auf seinen wunden Punkt gezielt. Tysons sturer Ehrgeiz. Durch seine Nachforschungen über Voltaire, bekam er wohl mehr über Kais Situation mit. Und wusste dass jemand ihm aus seinem Umfeld heraushelfen musste…

Der Gedanke ließ Tyson seufzen, dann huschte sein Blick weiter an Kais Statur entlang. Sein fliesender, weißer Schal wehte ihm hinterher. Für eine Sekunde schwand sein eigentliches Ziel. Er konnte nicht anders, als auf Kai zu starren. Er musste daran denken, wie dieser Körper entblößt aussah. Mutter Natur hatte es so gut mit diesem Jungen gemeint…

Ein erregter Schauer zog sich seinen Rücken hoch und Tyson schüttelte den Kopf, um seine Fantasien zu verscheuchen. Das war kaum der richtige Augenblick dafür. Oben angelangt stieß Kai die Tür zum Dach auf und schritt mit ihm hinaus ins Freie. Ein kräftiger Windhauch empfing Tyson. Sie waren ziemlich weit oben. Er schielte auf die bloße Haut von Kais Armen und streckte vorsichtig die Hand aus, um das Attribut unauffällig zu übertragen. Sobald seine Fingerkuppen sich auf dessen Arm legten, fühlte er schon eine Wärme in ihnen aufsteigen, die an Intensität noch weiter zunahm, als er die ganze Handfläche darauf platzierte. Ihm fiel dabei auf wie gut Kai roch. Ziemlich wehmütig dachte er dabei an ihre erste gemeinsame Nacht. Es erinnerte ihn daran, wie selbstverständlich er seine Berührungen zuließ – wie willig er geschehen ließ. In ihm kam die verzweifelte Frage auf, ob er jemals noch einmal in den Genuss einer solchen Innigkeit kommen durfte.

Musste er wieder sieben Jahre warten, bis er ihn soweit hatte?

Da hielt Kai urplötzlich inne und schlug seinen Arm herrisch fort.

„Finger weg! Was soll das?“

Die Wärme in seinen Handflächen erstarb. Tyson spürte aus einem tiefen Instinkt heraus, dass der Körperkontakt zu kurz war, um das Attribut zu übertragen. Es fühlte sich einfach falsch an, anders als bei Ray und Max. Auch blieb kein Muster auf Kais Haut zurück. Tyson biss sich auf die Unterlippe.

Das würde echt schwierig werden…

„Ich wollte dich nur beruhigen.“

„Aha… Na das kommt verdammt spät.“, Kai stieß ihn grob von sich, was Tyson hier oben als etwas gefährlich empfand. Er unterließ aber eine herrische Bemerkung. Da trat Kai auch schon von ihm weg, fast so, als wolle er Abstand gewinnen - um eine weitere Berührung auch wirklich zu unterbinden. Dabei rieb er sich mit einem trotzigen Ausdruck über die Stelle, als wäre ihm selbst das schon zu viel Körperkontakt. Er lief zum Geländer. Der schmale Balkon um die gläserne Kuppel des Stadions, fungierte wohl als Möglichkeit, besser an die hohen Fenster heranzukommen, falls mal eine Putzaktion anstand. Die Scheibe begann auf Bauchhöhe, ihr Sockel bestand noch aus dem massiven Mauergebilde. Wenn man an die Kuppel herantrat, konnte man in die Arena hinunterspähen, auch wenn das Glas vom vorangegangenen Sturm noch feuchte Regenbahnen aufwies. Die Zuschauerränge hatten sich während der Pause weitläufig geleert. Der Wind ging sachte hier oben. Nun wo die ersten Attribute in den entsprechenden Körpern nisteten, waren die Regenwolken abgezogen, doch der Boden war noch ziemlich feucht. Allerdings bemerkte Tyson, das die Sonne irgendwie fahl wirkte und kaum blendete. Als wäre sie nur eine aufgemalte Scheibe auf einer Kulisse.

Etwas anderes war aber noch absonderlicher…

Ihre Strahlen wärmten nicht. Sie mussten Hochsommer haben, denn in den großen Ferien fanden immer die Turniere statt, doch es war zügig und unangenehm kühl, als wäre die Sonne nicht in der Lage, den Windhauch auf der Erde aufzuheizen. Irgendwie fehlte es der Landschaft vor ihm auch an Farbe. Das sonst so satte Grün der Parkanlage vor dem Stadion wirkte blasser, wie an einem grauen, wolkenverhangenen Tag. Er fragte sich, wie vielen Menschen das wohl ebenfalls auffallen mochte. Kai schien zumindest seinen eigenen Problemen nachzuhängen.

„Also los… Fang an mit deinem Vortrag.“

„Was denn für ein Vortrag?“

„Ach komm schon, Kinomiya. Ich weiß genau was jetzt kommt!“, schnaube Kai und tat eine gelangweilte Handbewegung. „Du willst mir jetzt vorwerfen, was für eine hinterhältige Ratte ich bin. Das ich keinen Funken Loyalität besitze. Nur zu! Lass deine albernen Sprüche vom Stapel. Es interessiert mich überhaupt nicht was du von mir hältst.“

Kai schlenderte gelassen am Geländer entlang – mal wieder weg von ihm. Tyson beobachtete seine Hand dabei. Seine Finger fuhren federleicht über die stählerne Oberfläche der schmalen Brüstung. Er musste daran denken, wie sich diese Hand erst vor kurzem in seinem Haar festkrallte, während sie miteinander schliefen. Am morgen danach, hatte Tyson zärtlich diese Finger noch geküsst, als er sich über Kai beugte und der ihm über die Wangenknochen streichelte. Ein Schaudern durchfuhr ihn. Diese Sehnsucht würde ihn noch umbringen…

„Eigentlich will ich mit dir über deine Geheimniskrämerei sprechen.“

„Tatsächlich?“, Kai klang belustigt. Es erinnerte Tyson an Dranzer. Sie hatte auch stets mit einer amüsierten Gegenfrage geantwortet. Es war wohl ein Verwirrspiel. Da der Abstand zwischen ihnen größer wurde, sah sich Tyson gezwungen, ihm mit langsamen Schritten zu folgen.

„Ich würde gerne mit dir darüber reden, dass du ohne ein weiteres Wort gegangen bist.“

„Das dürfte dir nicht neu sein, oder? Mal abgesehen davon, dass dich auch Ray und klein Maxi dieses Mal sitzen gelassen haben.“, er verspottete ihn. Einfach weil es ihm Spaß machte ihn zu verletzten. In einem anderen Leben wäre Tyson jetzt wütend geworden.

„Dass die beiden gehen mussten verstehe ich. Sie brauchen Freiraum um sich selbst zu verwirklichen. Ich kann sie nicht länger für mich beanspruchen.“

„Und mir sprichst du dieses Recht nicht zu?“

„Doch. Ich weiß aber das du nicht deshalb gegangen bist.“

„Lass mich raten. Mangelnde Loyalität oder Neid auf dich?“

„Keins von beidem.“

„Was dann?“

„Angst.“

Kai blieb stehen, spähte über seine Schulter hinweg zu ihm. Auch Tyson hielt inne. Es war wie bei einem wilden Tier, dem man sich behutsam nähern sollte. Schritt für Schritt.

„Angst… Ich?“

„Ja.“

„Wovor sollte ich Angst haben?“

„Das du die Menschen um dich herum anfängst mehr zu mögen, als du eigentlich willst. Das sie dich mürbe machen, weich, und so sentimental, das du deine eigentlichen Ziele aus den Augen verlierst. Aber vor allem hast du Angst davor, dass du irgendwann von ihnen enttäuschst wirst, wenn du ihnen zu sehr vertraust.“

„Was für ein Blödsinn. Ich will einfach nur Weltmeister werden.“

„Du hast aber am längsten mit deiner Entscheidung gehadert, weil du auf der einen Seite mir gegenüber loyal bleiben wolltest, aber auf der anderen Seite diese Furcht war, jemanden so sehr zu mögen, dass du dir deshalb eine Chance auf den Titel entgehen lässt. Du bist hin und her gerissen gewesen, zwischen Loyalität und Ehrgeiz. Das hat dir Angst gemacht, weil du nicht schwach werden wolltest.“

„Du machst dich lächerlich. Ich habe keine Angst.“

„Du hast ein Vertrauensproblem, Kai. Früher hast du einfach jedem nicht über den Weg getraut und dein eigenes Ding durchgezogen. Aber seit dem Baikalsee, machst du eine Entwicklung durch. Du bist gespalten.“

„Hör auf wie ein studierter Professor zu reden!“, schnalzte er erbost.

„Du tust mir leid. Mir war nie klar mit wie vielen Problemen du zu kämpfen hast.“

„Und hör auch auf mich als Feigling hinzustellen!“

„Das bist du ganz bestimmt nicht.“

Kai stutzte, schaute verwundert herüber, offenbar in Erwartung einer anderen Antwort. Um Tysons Lippen huschte ein mitleidiges Lächeln. Er tat einen weiteren Schritt auf ihn zu, den Kai nun umso argwöhnischer beäugte.

„Du schaust mich an als ob ich dir was Böses will. Warum?“

„Ich frage mich was du bezweckst.“

„Was ich bezwecke? Echt traurig dieses Misstrauen. Du hast so viele schlimme Erfahrungen in der Vergangenheit gemacht, dass du nicht einmal mehr erkennst, wem du vertrauen kannst. Selbst den Menschen gegenüber, die es eindeutig gut mit dir meinen.“

„Weshalb sollte ein Rivale es auch gut mit mir meinen?“

„Sind wir nicht auch Freunde?“

„Nicht mehr.“

„Wir können doch beides sein?“

„Vergiss es. Das funktioniert nicht.“

„Sei kein trotziges Kind.“

„Trotzig? Ausgerechnet du musst mir Vorträge über Trotz halten!“

„Ich bin nicht perfekt, aber ich weiß es zumindest. Du wirst es ohne Hilfe aber niemals von deiner Eisscholle herunterschaffen. Du bist auch seelisch festgefroren.“

„An dir ist ja ein wahrer Poet verlorenen gegangen.“, spottete Kai gehässig. Tyson überging es.

„Du kannst dich gar nicht ändern, selbst wenn du es möchtest. Dazu ist dir in der Vergangenheit zu viel zugstoßen. Ich würde dir aber wirklich gerne helfen. Du müsstest mir einfach etwas mehr Vertrauen entgegenbringen.“

„Zum letzten Mal… Rede nicht wie ein verdammter Therapeut! Sowas kann ich nicht ausstehen!“, seine Augen schauten verächtlich auf ihn herab. Das er nun auch wieder größer war, musste ihn nur in dem Gefühl bestärken, über allen Dingen dieser Welt erhaben zu sein. Irgendwann antwortete Kai zynisch: „Du weißt doch gar nichts über mich, Kinomiya. Schon gar nicht über meine Vergangenheit. Also spiel dich nicht so dramatisch auf!“

„Doch. Ich weiß sogar einiges.“, Tyson tat einen weiteren Schritt auf ihn zu. „Ich kenne dich mittlerweile besser als dir lieb ist. Bestimmt würdest du ausflippen, wenn du wüsstest, wie viel ich in den wenigen Jahren, die wir uns schon kennen, über dich in Erfahrung gebracht habe.“

„Ausflippen?“, Kai lachte schallend auf. Es klang nicht heiter - sondern kalt. Er drehte sich weg, nur um sich lässig an die gläsernen Kuppel zu lehnen und legte von dort aus den Kopf abwartend zur Seite. „Na dann… Lass mich ausflippen. Überrasch mich! Ich bin gespannt was der kleine Kinomiya über mich zu wissen glaubt.“

Jedes seiner Worte triefte vor Häme. Tyson hatte ganz vergessen, wie gehässig er damals sein konnte. Früher hätte ihn das geärgert. Jetzt sah er einen verletzten Jungen vor sich, der nichts anderes kannte, als sich hinter seiner kühlen Fassade zu schützen. Er tat einen tiefen Atemzug und beschloss, sich vorsichtig heranzutasten, indem er mit den harmlosen Dingen begann.

„Du magst Katzen.“, er lächelte. „Generell magst du Tiere.“

„Generell? Seit wann so eine studierte Wortwahl?“, gab sich Kai unbeeindruckt. „Dein Bruder hat seinen Lehrplan wohl nicht nur auf das Bladen beschränkt.“

„Na, nicht ausweichen!“, hob Tyson den Finger. Er versuchte zu sticheln, um ihn aus dem Konzept zu bringen, weil Kai wusste das Tyson nicht klar dachte, wenn er wütend wurde. Das hatte er gerne für sich ausgenutzt. „Wir wollen doch fair spielen.“

Kais Antwort war eine amüsiert erhobene Braue. Was fühlte dieser Junge sich doch überlegen…

„Du fütterst sogar manchmal Streuner. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du niemals einem hilflosen Tier etwas antun würdest. Du könntest sie stundenlang beobachten, vor allem die Kleineren.“

„Oh Tyson.“, er schüttelte den Kopf bedauernd. Ein mitleidiges Schmunzeln spielte um seine Mundwinkel, dass aber eher eine offene Beleidung seiner Intelligenz darstellte. „Du hast mich also einmal dabei beobachtet, wie ich die Katzen gefüttert habe, die in der Nähe des Kanda Flusses herumschleichen. Na und? Dann hast du eben einen kleinen Lichtfleck am Horizont erhascht. Das macht aber noch lange keinen Menschenkenner aus dir.“

„Das natürlich nicht. Es lässt auch eher auf deine Psyche schließen…“

„Psyche? Wieder so eine untypische Wortwahl von dir. Schläfst du neuerdings auf einem Wörterbuch?“

„Armer Junge. Fühlst du dich wirklich so in die Ecke gedrängt?“

„Keinesfalls. Na dann… Leg mal los, Doktor Freud.“, er vollführte eine einladende Handbewegung. Tyson ging nicht auf seinen Hohn ein und fuhr fort: „Du fütterst Tiere - vor allem Streuner - weil du das Gefühl kennst, wie ein Hund behandelt zu werden, der von einem Besitzer zum Nächsten abgeschoben wurde.“

Dieses Mal folgte kein hämischer Kommentar. Das Lächeln um Kais Mundwinkel wirkte wie eingefroren. Tyson bemerkte wie seine Augen kurz an seiner Statur entlanghuschten, als würde er ihn abschätzen. Ganz so als wolle Kai wissen, ob er ihm zur Gefahr werden könnte. Er konnte ja nicht ahnen, dass Tyson nur die Sätze wiederholte, die er ihm persönlich an diesem friedlichen Morgen in der Küche, im Vertrauen sagte. Damals waren Kais Augen so traurig gewesen. Es veranlasste Tyson dazu, dessen Kinn zu umfassen und ihm einen Kuss auf die Lippen zu hauchen. Er hatte ihm danach zum ersten Mal gesagt, wie sehr er Kai liebe. Es ließ ihn lächeln und er versicherte Tyson, dass er ebenso empfand. Und das er sich ändern wolle für ihn.

„Wie kommst du darauf?“, fragte Kai inzwischen.

Tyson hatte nun sein uneingeschränktes Interesse.

„Wegen deiner Familie.“

„Du weißt rein gar nichts über meine Familie!“, kam es plötzlich herrisch zurück.

„Falsch. Ich weiß einiges darüber!“

Ein weiterer Schritt folgte. Kai wich nicht weg, schaute ihn mit zusammengezogenen Brauen an. Wer zuerst zurückwich gestand einen Rückschlag ein. Er wollte Tyson unter allen Umständen beweisen, dass er der Überlegene bei dieser Diskussion war, weil er das Gefühl brauchte, immer die Kontrolle, in jeder Lebenslage zu behalten. In seinem Blick flackerte so viel Wut.

Wie könnte er diesen zornigen Jungen bloß besänftigen?

Tyson dachte lange nach, schaute ihm dabei direkt in die Augen.

Da kam ihm endlich die ersehnte Idee…

„Gehen wir die Sache doch zur Abwechslung mal anders an. Lass mich dir lieber eine Geschichte erzählen.“

„Eine Geschichte?“, jetzt blinzelten Kai komplett verwirrt. Wieder etwas mit dem ihn Tyson überrumpelte. „Ich dachte du willst mit mir über meinen Ausstieg reden - und keine Märchenstunde abhalten.“

„Es ist leider kein Märchen. Märchen sind in der Regel schön. Diese Geschichte ist leider sehr traurig. Aber das kannst du bald selbst beurteilen…“, er verschränkte die Arme vor der Brust, tat einige Schritte von ihm weg, grübelte darüber wie und wo er beginnen könnte. Als Tyson den Faden fand, hob er den Kopf und schaute Kai noch einmal an, der ihn mit skeptisch erhobener Braue nachstarrte. Er war neugierig geworden. Beinahe erhaschte Tyson denselben Ausdruck, wie damals am Lagerfeuer, als er Kais jüngerem alter Ego die Katzengeschichte erzählte. Derselbe fragende Blick. Es entlockte ihm ein Lächeln und schon begann er zu erzählen: „Es gab da einmal einen kleinen Jungen, den hätte es im Leben eigentlich nicht besser treffen können. Er besaß eine kleine Familie, die aus seinem Vater, seiner Mutter und seinem Großvater bestand. Der Junge stammte aus einem vornehmen und vor allem reichen Haus. Einer sehr alten Familie mit einem Stammbaum, der viele Generationen zurücklag und aus erfolgreichen Vätern und Großvätern bestand. Eine schillernde Zukunft war ihm vorherbestimmt. Diese Erwartungen wurden ihm praktisch schon in die Wiege gelegt und damit der Junge, diese Ziele auch erreichte, durfte es ihm an nichts fehlen. Er besuchte die teuersten Schulen, lebte im feinsten Haus der Stadt. Schon als Baby war sein Zimmer so groß wie manche Wohnung für eine Kleinfamilie - und doch sollte sich herausstellen, dass der kleine Junge trotz seines Reichtums, nur vom Pech verfolgt war. Die vornehme Familie in die er hineingeboren wurde, war zwar reich, wohlhabend und erfolgreich, aber leider auch korrupt, hinterhältig, kalt und jedes Mitglied davon so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht erkannten, dass es dem kleinen Jungen am wichtigsten im Leben fehlte. An einem liebevollen Zuhause…“

„Das ist sowas von kitschig.“, rollte Kai unbeeindruckt mit den Augen.

„Es ist traurig. Denn nur wenige Monate nach seiner Geburt, begannen sich die Jahre um den kleinen Jungen düsterer zu entwickeln. Die Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld verließen ihn nach und nach. Den Anfang machte sein Vater. Es hieß, er habe die Mutter des kleinen Jungen nicht wirklich geliebt. Um dieser Ehe zu entkommen, verschwand er also in einer Nacht und Nebel Aktion, ließ seine junge Familie im Stich.“

Kais Augen bleiben reglos. Sein kaltes Lächeln nicht…

Die Mundwinkel senkten sich, wurden zu einer Linie. Im Gegensatz zum letzten Mal, als Tyson ihm eine seiner Geschichten erzählte, erkannte er die Parallelen sofort. Der rief sich weiterhin in Erinnerung, wie ihm Kai seine Kindheit schilderte. Seine Gedankenwelt dazu…

„Da der kleine Junge noch kaum Laufen konnte, als sein Vater sie verließ, fragte er sich in den folgenden Jahren, wie dieser Mann wohl sein mochte. Sein Großvater hatte alle Fotos von ihm verbrannt, denn er war ein sehr jähzorniger Mensch und wütend das sein Sohn abgehauen war. Daher wurde das Gesicht seines Vaters ein Geheimnis für den kleinen Jungen. Er fragte sich, wie dessen Stimme wohl klingen mochte, wie die Farbe seiner Augen war… Und was noch viel wichtiger war, ob er seinen Sohn erkennen würde, sollten sie sich zufällig einmal auf offener Straße begegnen. Obwohl er so enttäuscht von diesem Menschen war, konnte der kleine Junge nicht anders und insgeheim hoffen, ihn irgendwann kennenzulernen. Er war einfach neugierig, auch wenn sein Großvater kein gutes Haar an seinem Erzeuger ließ. Doch die Jahre vergingen und sein Vater kam nicht zurück. Er blieb verschollen. Kein Brief, kein Lebenszeichen. Er hätte genauso gut Tod sein können. Und mit jedem Tag der verging, begann der Hass auf ihn zu wachsen.“

Tyson schaute zu Kai. Der wandte aber mit einem Schnalzen den Kopf von ihm ab. Er konnte natürlich nicht zugeben, wie verletzend dieses Verhalten seines Vaters war, dazu stand ihm sein Stolz zu sehr im Weg.

„Leider ließ der nächste Schicksalsschlag nicht lange auf sich warten. Denn die Mutter des kleinen Jungen, verließ ihn auch einige Jahre später. Sie behauptete ihr Herz sei gebrochen – das sie nicht mehr in der Lage sei, ihren Sohn zu erziehen, weil sie eine schwere Depression habe. Das waren zumindest die Worte, die sie dem Großvater des kleinen Jungen sagte. Als sie ging, da verabschiedete sie sich nicht von ihrem Kind. Sie umarmte ihn nicht einmal oder gab ihm einen Abschiedskuss, wie es andere Mütter so tun würden. Er saß in seinem Zimmer auf der Fensterbank, wo er auf einer Maltafeln zeichnete. Der kleine Junge war damals gerade alt genug, um in den Kindergarten zu gehen. Er schaute durch die Scheibe, sah seine Mutter raschen Schrittes mit einem Koffer durch den Hof stapfen, als habe sie es eilig, schnell aus dem Haus zu verschwinden. Sie blickte kein einziges Mal zu seinem Fenster auf, obwohl er ihr nachwinkte. Der kleine Junge dachte sich zunächst nichts weiter dabei, bis er zwei Tage später seinen Großvater fragte, warum seine Mutter noch immer nicht Heim gekommen sei. Erst da hielt man es für angebracht, ihm von ihrem Abschied zu berichten. Als er fragte weshalb, da bekam er nicht einmal eine richtige Antwort. Denn sein Großvater mochte keine Fragen.“

Tyson blickte nachdenklich von Kai weg. Dessen Augen waren starr geworden. Wahrscheinlich weil er gerade begriff, dass hier Details ausgesprochen wurden, die er selbst niemals erzählen würde. Dinge die Tyson nicht wissen sollte.

„Ich mag diese Frau nicht. Sie ist so kalt und hat keine mütterliche Fürsorge übrig.“

„Woher willst du das wissen?!“, kam die schneidende Frage. Es ließ Tyson bedauernd die Lider senken. Kai ahnte nicht was ihm mit dieser Frau noch bevorstand. Er war jung, vertraute darauf, dass sie wirklich zurückkam – ihr Wort hielt.

So wie er immer versuchte seines zu halten, erwartete Kai so etwas auch von anderen. Womöglich waren die wenigen Erinnerungen, die er noch von seiner Mutter besaß, auch nicht immer schlecht gewesen. Auf seine Art war er eben auch noch ein Kind, selbst wenn er immer so reif tat.

„Weil sie ihren Schwiegervater kannte. Sie wusste von seiner Verschlagenheit, seiner Geldgier und seiner bösartigen Ader. Er war grausam und duldete nie ein Widerwort. Er war ein mieser Tyrann!“

Kai löste seine verschränkte Haltung, aber nur um seine Hände zu bebenden Fäusten zu ballen. Er wollte es nicht wahrhaben. Natürlich nicht, sie war seine Mutter…

„Hast du dir einmal überlegt, wie schwierig es für sie sein musste, mit einem solchen Menschen zusammenzuleben? Ihm förmlich ausgeliefert zu sein – weil ihr feiger Mann abgehauen ist?!“

„Gerade deshalb hätte sie bleiben müssen.“

„Der kleine Junge macht ihr bestimmt keine Vorwürfe, immerhin hat er selbst erfahren, wie schwierig es ist, mit seinem Großvater zusammenzuleben! Das kannst du aber nicht verstehen, weil du nicht in diesem Haus groß geworden bist!“

„Weißt du Kai… Das ist eigentlich das Tragische an der ganzen Geschichte. Dieser kleine Junge hielt nämlich auch noch an dieser furchtbaren Familie fest und das obwohl sie ihn immer weiter emotional verkrüppelten. Wahrscheinlich weil er nichts anderes kannte. Weil er nicht wusste, dass dieses Umfeld nicht normal war. Es ist wohl wie mit einem Blinden, dem man die Farbe Blau erklären möchte. Was man nicht kennt, vermisst man nicht.“

„Oh, sehr aufschlussreich, Herr Doktor!“, höhnte Kai zynisch.

Tyson ging gar nicht auf seinen Spott ein.

„Er war damals ein schüchternes Kind, das nicht viel von der Welt verstand. Er war ehrlich und arglos. Wenn er doch mal etwas anstellte, knetete der kleine Junge verunsichert seine Finger vor dem Bauch und hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Dabei schaute er reumütig wie ein Welpe.“

Kais Augen blinzelten überrascht. Sein Blick schnellte eine Sekunde hinab zu seinen Handflächen. Von seinem früheren Tick wusste bestimmt auch niemand. Kai Hiwatari gab solche Schwächen nicht zu. Als er wieder zu Tyson schaute, bemerkte der einen Anflug von Verunsicherung in dessen Augen. Er begann Kai tatsächlich unheimlich zu werden…

„Der kleine Junge bemühte sich auch stets brav zu bleiben, gehorchte immer seinem Großvater. Warum auch nicht? Er war sein Opa. Ich hätte an seiner Stelle nicht anders gehandelt. Er vertraute einfach darauf, dass die Menschen um ihn herum wussten, was das Beste für ihn war. Ein kleines Kind tut so etwas. Gut und Böse ist ihm fremd. Kinder hinterfragen nicht. Auch dann nicht, als sein Großvater dem kleinen Jungen einredete, dass er in einen neuen Kindergarten müsse – obwohl er ihn in eine Abtei steckte.“

„Woher…“, doch Kai hielt inne. Er schien nachzudenken, wer Tyson diese Informationen zugesteckt haben könnte. Der Kreis der Verdächtigten durfte ziemlich überschaubar sein.

„Was auch ich allerdings nicht ganz verstehe, ist, weshalb der Großvater das gemacht hat? Vielleicht damit er seinen Enkel los hatte? Weil er nicht wollte, dass ihm ein Kind in den eigenen vier Wänden im Weg stand? Was glaubst du, Kai?“

„Warum fragst du mich? Es ist deine dumme Geschichte…“, zuckte der gleichgültig mit den Schultern. Doch er klang nicht halb so souverän wie sonst, eher zurückhaltend.

„Mich interessiert deine Meinung.“

„Es ist mir egal. Ich will nicht darüber nachdenken.“

„Warum?“

„Du wirst irgendwann ein miserabler Vater, wenn du so hässliche Märchen erzählst!“

Er wich aus. Das Thema gefiel ihm nicht. Weil Tyson unerlaubt Dinge ansprach, die Kai zu persönlich waren. Die zu viel von ihm offenbarten. Die er verdrängen wollte…

„Wie gesagt, es ist kein Märchen. Ich erzähle nur die Geschichte eines traurigen Jungen, dem so übel mitgespielt wurde, dass er später nicht mehr in der Lage war, sich irgendwem noch zu öffnen.“

„Der Junge war selbst schuld an seinem Elend!“, fuhr ihn Kai an.

„Wie kommst du darauf?“

„Weil er ein Idiot war! Er hätte es besser wissen müssen!“

Da war er… Ein winziger verbitterter Zug um Kais Mundwinkel.

Eine Spur dessen was er wirklich fühlte. Verletzbarkeit.

„Du gehst ziemlich streng mit einem Kind ins Gericht, das nicht wissen kann, wie es in der Welt da draußen zugeht. Hat dein Großvater dir so etwas eingebläut?“

Kai starrte ihn böse an. Die Taten Voltaires waren noch allgegenwärtig für ihn, die Wunde noch ziemlich frisch und daher seine Verachtung ihm gegenüber auch noch groß. Es dürfte ihm nicht passen, dass er ihn mit seinem Großvater verglich, doch da Kai auf die Schnelle keine zynische Bemerkung fand, fuhr Tyson fort.

„Ich persönlich glaube, dass der Junge in die Abtei musste, damit er seinen Opa keine Last war. Dieser Mann besaß ein sehr großes Reich und das hielt ihn im Atem. Andererseits war er auch sehr habgierig und dachte nur daran, seinen Reichtum noch weiter zu häufen. Sein kleiner Enkel war ihm da wohl den Zeitaufwand nicht wert.“

„Der Enkel war nicht diszipliniert genug. Das war der Grund.“, kam es bitter.

„Und das findest du gut?“

„Disziplin schadet nicht.“

„Verstehe…“, damit hatte Tyson endlich eine Antwort. Es machte ihn traurig, wie berechnend Kai in diesem Alter schon dachte. Er konnte Voltaires Einfluss aus jedem seiner Sätze heraushören. „Nur leider war der Junge sehr unglücklich in der Abtei.“

„Das kannst du gar nicht wissen!“, fauchte Kai. „Oder hast du mit Tala gesprochen?“

„Nein. Das vorhin war eine unserer wenigen Unterhaltungen. Du kannst ihn gerne fragen.“

Tyson ahnte was ihm durch den Kopf ging. Kai war ein Mensch für den Verschwiegenheit viel bedeutete. Doch hier war nun Wissen im Umlauf, dass er selbst niemals preisgegeben hätte. Sie starrten sich gegenseitig an. Kai wütend. Tyson ernsthaft, aber auch bestimmt...

„Soll ich dir erzählen, wie der erste Tag in der Abtei für den kleinen Jungen war?“

Wie vom Donner gerührt stockte Kai. Die Augen vor ihm weiteten sich eine Sekunde. Er war schon immer recht blass gewesen, doch in jenem Moment, wich ihm das letzte bisschen Farbe aus den Wangen. Die Minute verstrich und Tyson hätte schwören können, keinen einzigen Atemzug mehr von ihm zu hören. Er nutzte dessen Starre, um etwas näher an ihn heranzutreten. Tyson streckte seine Finger nach Kais aus, mit der heimlichen Absicht, ihm das Attribut zu übertragen – aber auch weil er den Wunsch verspürte ihm nahe zu sein.

„Es tut mir so leid.“, sprach er mitfühlend, legte damit endlich die Karten offen auf den Tisch. Doch noch bevor er den Arm erreichte wurde sie weggezogen.

„Das kannst du gar nicht wissen!“, schrie Kai ihn auf einmal an. Sein zorniger Ausruf verklang mit dem Wind und doch konnte Tyson ihn nur mitleidig bedauern. „Schau mich nicht so an!“

„Tut mir Leid. Ich kann nicht anders…“

„Steck dir deine geheuchelte Barmherzigkeit sonst wohin! Das alles habe ich schon längst hinter mir gelassen! Mich braucht niemand zu bemitleiden!“

„Das redest du dir nur ein damit du dich stark fühlst.“

Es ging ganz schnell. Ihm wurde so plötzlich eine gescheuert, dass es laut schallte. Tyson stolperte einen Schritt zurück, schlitterte gefährlich nah am feuchten Geländer entlang, dass selbst Kai die Luft anhielt. Der Sturm von zuvor hatte alles rutschig gemacht. Glücklicherweise konnte er sich noch festhalten. Tyson nahm den Hieb hin. Etwas überrascht stellte er fest, dass es nicht einmal schmerzte. Es gelang ihm ohne Mühe, sich einen gequälten Ausdruck zu verkneifen, stattdessen blickte er ungerührt in das Augenpaar vor sich. Das blinzelte geschockt…

Irgendwann starrte Kai auf seine zitternde Handfläche mit der er ausgeholt hatte. Es war wohl der Moment, in dem er begriff, wie nah ihm das Ganze eigentlich noch immer ging. Das sein unbändiger Zorn noch irgendwo unter seiner kalten Fassade lauerte.

Er hatte die Beherrschung verloren - etwas was Kai nicht duldete.

Er stellte hohe Maßstäbe an sich selbst. Eine davon beinhaltete, sich niemals anmerken zu lassen, was er tatsächlich empfand.

„Sieht so aus als ob der lässige Hiwatari strauchelt.“

„Ich… Das war ein Ausrutscher…“

„Ach, mach dir keinen Kopf. Angriff ist die beste Verteidigung. Das hast du doch schon so in der Abtei gelernt. Weißt du noch?“

„Halt doch endlich deine vorlaute Klappe!“, Kai trat von ihm weg, wandte ihm den Rücken zu. Er hielt jene Hand vor sich umgriffen mit der er zugeschlagen hatte. Es tat ihm wahrscheinlich sogar schon leid, gerade weil die Situation so gefährlich gewesen war, aber zugeben konnte er das auch nicht, dafür war er zu stolz.

„Ist okay. Lass deinen Zorn heraus. Schrei ihn von mir aus in die Welt!“

„Ich bin nicht zornig!“

„Sicher? Du hast doch allen Grund dazu, oder nicht?“

„Ich weiß nicht was du meinst…“

„Doch, du weißt es genau. Dein erster Tag in der Abtei sah nämlich so aus, dass du von den anderen Kindern nicht gerade mit offenen Armen empfangen wurdest.“, er sah Kai horchend den Kopf heben. „Sie wussten wer du bist, das dein Großvater Boris wichtigster Geldgeber war. Es hatte sich schnell herumgesprochen, wer zu ihnen dazu stoßen sollte. Und Boris hat es auch so richtig schön an die große Glocke gehängt. Er war nämlich nicht sonderlich begeistert darüber, den Babysitter für Voltaires Enkel spielen zu müssen, weil er dich dadurch nur mit Samthandschuhen anfassen durfte. Etwas was jemandem wie Boris zuwider war. Er hat gerne Mal mit der Faust nach seinen Schützlingen ausgeholt.“

Kai senkte den Blick wieder. Er schien sich noch lebhaft daran zu erinnern.

„An deinem ersten Tag, führte er dich in einen der Schlafräume der Abtei. Du hast deinen kleinen Koffer hinter dir hergezogen und konntest kaum mit Boris Schritt halten. Er kam dir damals wie ein Riese vor, denn du hast ihm gerade nur bis zu den Knien gereicht.“

„Hör auf…“

Doch Tyson trat stattdessen näher.

„Bereits in den finsteren Fluren fiel dir auf, wie bedrückend die Stimmung in dem Gebäude war – aber vor allem die Blicke der anderen Kinder. Sie alle beobachteten dich auf den Weg in den Schlafraum. In jeder Ecke konntest du ein wachsames Augenpaar spüren. Du kamst dir vor, als hätte man dich einem Wolfsrudel zum Fraß vorgeworfen. In eurer Kammer hast du zuerst bemerkt, dass vor den Fenstern dicke Gitterstäbe lagen, wie in einem Hundezwinger. Du wolltest einmal aus einem flüchten, weil du als Kind einen Stab entdeckt hast, der so rostig war, dass du ihn aus der Halterung hinaustreten konntest. Eines Nachts hast du versucht dich so zwischen den Gittern hindurchzuzwängen um wegzulaufen. Du warst es nicht gewöhnt dich nicht frei bewegen zu dürfen. Aber du wurdest bei diesem Fluchtersuch verpetzt. Es war dein erster Versuch…“

Tyson tat eine kleine Pause bevor er weitersprach.

„Ihr hattet kein richtiges Licht in euren Räumen. Es gab altmodische Kerzenhalter an den Wänden und einen Kamin, der aber nie angezündet wurde, weil Boris das Feuerholz für die Kammern der Aufseher aufsparte. Die Kinder die er betreute kamen bei ihm erst an dritter Stelle, wenn überhaupt… Die meisten Gelder hat er in die Trainingseinrichtung gesteckt. Oder sich in die eigene Tasche gewirtschaftet. Nicht einmal dein Großvater wusste, wie viel Geld er ihm für persönliche Zwecke abgeknöpft hatte. Ihr musstet dafür unter den dünnen Laken frieren. Der russische Winter ist hart und wer abends nochmal aufstehen wollte, hatte Pech. Dann war die Zimmertür von außen verriegelt, weil viele der Kinder wegliefen und die Aufseher euch so im Griff behalten wollten. Und genau das wurde einigen von euch eines Nachts zum Verhängnis…“

Tyson hätte schwören können ihn hart schlucken zu hören.

„Bei einer der anderen Gruppen hat es in der Kammer gebrannt. Weißt du noch was mit den sieben Jungen passiert ist, die es nicht mehr hinausgeschafft haben?“

Ein Keuchen war zu hören. Kai presste sich die Hände an die Ohren, schüttelte unwillig den Kopf. Er wusste es noch. Als Erwachsener hatte er es Tyson lebhaft geschildert. Der Geruch von brennendem Holz und die verzweifelten Schreie aus den Flammen, von jenen Kindern die darin um ihr Überleben kämpften. Kai war damals zu klein gewesen, um zu begreifen, was sich in dieser Nacht abspielte. Weshalb sie alle im Schnee standen und niemand den Schreien jener Jungen zur Hilfe eilte, die dort in den Flammen umkamen. Doch es hatte ihn geradezu traumatisiert. Er hatte Tyson erzählt, dass ihn das vor Schmerzen wahnsinnige Kreischen, noch manche Nacht im Traum verfolgte.

„Du erinnerst dich oft an den Morgen nach dem Brand.“, es war keine Frage. Vielmehr eine Tatsache. Tyson wusste immerhin wovon er sprach. „Der Anblick dieser kleinen, schwarzen Säcke im Schnee. Wie sie im zugeschneiten Hof nebeneinander lagen.“

Er hörte Kai laut atmen. Obwohl seine Hände dicht über seinen Ohren schwebten, vernahm er jedes Wort von Tyson.

„Da war dieser eine offene Sack, mit dem entstellten Kindergesicht darin. Der Gestank den diese verbrannte Leiche absondert, wirst du niemals vergessen. Du konntest kaum glauben, dass das einmal ein Mensch war. Ein Junge wie du und ich. Ein Junge der auf eine glücklichere Zukunft hoffte. Und doch so grausam sterben musste, bevor sein Leben richtig beginnen konnte.“

„Ich will nicht daran denken…“

„Hast du jemals darüber gesprochen?“

„Ich will nicht daran denken!“, kam es entschiedener.

„Du kannst das nicht verdrängen, Kai. Du brauchst Hilfe.“

„Nein, brauche ich nicht!“

„Es lässt dir vor allem nachts keine Ruhe. Es ist wie mit dem Monster im Schrank. Sobald es dunkel wird fängt deine Fantasie an ein Eigenleben zu entwickeln. Du liegst im Bett, willst endlich deine Ruhe finden, doch sobald dein müder Geist in den Schlaf abdriftet, hörst du die Schreie von damals wieder. Du siehst das verbrannte Gesicht wieder vor deinen Augen. Du willst es vergessen – aber du kannst es nicht.“, es waren Kais eigene Worte die er zitierte. „Das wird mit den Jahren nicht besser.“

„Ich denke kaum noch daran…“, er flüsterte aber. Seine Hände zitterten, wenn auch nur minimal.

„Das redest du dir ein. Wie man es in der Abtei immer so getan hat. Und es war einfacher Boris Worten zu glauben, dass es nur ein tragischer Unfall war. Wahrscheinlich war es das auch… Aber er hatte eine große Mitschuld daran! Die Tür hätte nicht verschlossen sein dürfen. Er tat so als würde er bedauern was passiert war. Und er ist auch noch damit durchgekommen, denn diese Kinder hatte er von der Straße aufgelesen. Niemand vermisste sie. Dabei hattet ihr euch Hoffnung gemacht, dass es besser wird, wenn die Polizei auftaucht.“

„Hoffnung ist für die Dummen da…“, kam es von Kai. Er klang enttäuscht.

„Boris hatte einen Bekannten bei den Behörden, bei dem er mit einem dicken Umschlag, einen falschen Unfallbericht erkaufte. Keine Toten standen darin. Diese toten Kinder tauchten nie mehr namentlich auf. Du kennst auch nicht mehr alle Namen. Die sind irgendwann in Vergessenheit geraten. Über die Kosten für die Vertuschung ärgerte sich Boris mehr, als über die Tatsache, dass die Aufseher die Tür nicht hätten verschließen dürfen. Es änderte sich danach auch nichts. Boris hat über solche Sicherheitsmängel gekonnt hinweggesehen – weil es ihn nicht geschert hat. Gleichgültigkeit ist manchmal die schlimmste Form von Schuld. Findest du nicht auch, Kai?“

Tyson sah auf dessen Finger. Sie wanderten langsam von seinen Ohren hinab.

„Weißt du noch was er wegen dem Brand gesagt hat?“

Es war eine rhetorische Frage. Kai würde es niemals vergessen.

„Das kostet alles Geld - hat er zu euch gesagt.“

„Ich weiß…“, seine Stimme klang leise als er endlich antwortete. Der Schock dieser Nacht saß tief in jeder Seele eines Abteikindes. Es musste ihnen klar gemacht haben, wie wertlos sie für Boris waren, so lange sie keine Leistung erbrachten. Nur die Auserwählten besaßen eine Daseinsberechtigung. Alle anderen dienten als Bauernopfer.

„Viele Kinder waren krank und unterernährt, aber auch das hat Boris nicht interessiert. Der Laut eines hustendes Jungen, gehörte für euch ohnehin schon zur ständigen Geräuschkulisse des Gebäudes dazu.“

Kai wandte sich ihm langsam zu. Seine Hände schwebten noch vor seiner Brust. Das Gesicht war aschfahl geworden. Die aufgemalten Zacken auf seinen Wangen stachen dadurch umso mehr hervor. Tyson deutete auf Kais Hals.

„Deshalb hast du auch irgendwann angefangen diesen Schal zu tragen. In deinen ersten Wochen in der Abtei, hattest du eine schwere Lungenentzündung und musstest auf die Krankenstation. Die war geradezu armselig ausgestattet. Der behandelnde Arzt dort, hat sich zwar wirklich um die Kinder bemüht, aber da kaum ein Groschen für die medizinische Versorgung verschwendet wurde, waren ihm die Hände gebunden. Er hat es irgendwann auch nicht mehr ausgehalten und hat gekündigt. Diesen Schal hast du von ihm zum Abschied bekommen. Es war sein eigener. Weißt du noch was er dir sagte?“

Kai antwortete nicht, starrte ihn einfach nur an.

„Ich wünschte ich könnte mehr für dich tun.“, zitierte Tyson die Worte. Er sah wie sich die Augen vor ihm einen Moment gequält schlossen. „Du hast damals gehofft dass er zur Polizei geht. Doch niemand kam. Der Zustand der Jungen wurde dagegen von Tag zu Tag schlimmer. Das war Boris Art die Spreu vom Weizen zu trennen. Wer nicht gesund wurde kam vor die Tür. Selbst im tiefsten Winter.“

Kais Finger fuhren zu seinem Hals. Er strich mit einem geistesabwesenden Ausdruck über den Stoff seines Schals, bis Tyson fortfuhr. Erst da schaute er wieder entsetzt auf.

„Mir fällt ein, ich bin abgeschweift. Ich wollte von deinem ersten Tag erzählen.“

Kai starrte ihn aschfahl an.

„An deinem ersten Tag, als du zum ersten Mal in den Schlafraum deiner eigenen Gruppe kamst, standen alle Kinder stramm wie kleine Zinnsoldaten, jeder am Fußende seines Bettes. Keiner rührte sich. Ihre Blicke waren stur geradeaus gerichtet. Jedes Kind war ungefähr in deinem Jahrgang. Sie hatten zwei Reihen gebildet, damit Boris bequem durch sie hindurch schreiten konnte. Dir fiel auf dass keiner es wagte ihn anzuschauen. Er hielt eine ausschweifende Rede darüber, wessen Enkel du warst, darüber wie besonders du bist, im Gegensatz zu den anderen im Saal. Einer der Junge konnte nichts damit anfangen, was ein Investor war. Er war genauso neu wie du und fragte Boris ganz arglos, warum Voltaire so wichtig für die Abtei war. Der hat ihn dafür vor versammelter Mannschaft verprügelt, bis dem Jungen die Lippe aufplatzte. Und selbst dann hörte er nicht auf. Weißt du noch was er als Begründung zu euch sagte? Es war Regel Nummer Eins in der Abtei.“

„Stellt niemals Fragen.“

„Und weißt du noch was der Junge gemacht hat, als er auf dem Boden zusammengekauert lag?“

Kais Geist schien weit weg, doch er flüsterte: „Er hat sich vor Angst eingenässt…“

„Dafür gab es wieder Schläge für ihn. Und keiner hat geholfen.“

„Keiner…“

Kai schien nicht ganz da.

„Ja. Niemand rührte sich. Und du hattest Angst. Dafür schämst du dich sehr oft.“

Er kniff die Augen zusammen.

„Aber du warst selbst noch ein kleiner Junge. Und du warst geschockt. Es war dein erster Tag, du kamst zuvor aus einem schönen Kindergarten, dein Großvater hatte dir die Abtei ganz anders geschildert - und dann musstest du so etwas sehen.“, Tyson wurde schwermütig bei dem Gedanken. Es war furchtbar wie viele gequälte Seelen in der Abtei hatten ausharren müssen. Kai betonte während seiner Erzählung stets, dass es ihm nicht so übel ergangen war, wie manch anderen dort.

„Es hätte noch schlimmer sein können…“

So oft war dieser Satz von Kai gekommen. Dabei wirkten seine Augen stets trübsinnig.

„Weißt du noch wie Boris euch nannte?“, fragte Tyson inzwischen.

Kai blieb wieder stumm. Sein leerer Blick auf ihn gerichtet.

„Er nannte euch seine kleinen Hunde. Und an diesem Tag sprach er davon, dass die anderen verlauste Köter seien und du zu einer edlen Zuchtrasse gehörst. Er hatte euch tatsächlich in Rassen gestuft - als wärt ihr wirklich nur Tiere. Die Wärter haben sich daraus irgendwann einen Spaß gemacht. Sie haben an die Türen zu den Schlafräumen Bilder aufgehängt und jede Gruppe einer Art zugeordnet. Die Neuzugänge waren für sie die Straßenköter. Dich hat Boris aber als gewaltige Ausnahme hervorgehoben. Auf diese Weise hat er dafür gesorgt, dass der Neid groß war und die anderen aus deiner Gruppe, dich gleich zu Anfang als Außenseiter sahen. Er wollte verhindern, dass sie dich als Möglichkeit nutzten, Einfluss auf die Lebensweise der Abtei zu gewinnen. Du als Voltaires Enkel hättest vielleicht ein gutes Wort für jemanden einlegen können… Einen der Jungen bei deinem Großvater hervorheben können, den Boris gar nicht leiden konnte. Das war alles Taktik. Er hat immer dafür gesorgt, dass die Kinder untereinander keine Gemeinschaft bilden. Er hat euch gegeneinander aufgestachelt, falsche Gerüchte in die Welt gesetzt und seine Günstlinge absichtlich bevorzugt behandelt, auch wenn es gar nicht gerechtfertigt war.“

Tyson konnte den Impuls nicht unterdrücken, seine Hände zu Fäusten zu ballen.

„Boris hat den Hass in euren Reihen gesät. Er hat euer Konkurrenzdenken bis zum Äußersten ausgereizt. Euch scharf gemacht wie man es mit Kampfhunden tut. Indem er dafür gesorgt hat, dass unter euch keine Einigkeit herrschte, war seine Position gesichert und es entstanden ständige Machtkämpfe unter den Abteikindern. Die Aufseher haben gar nicht so oft Prügel ausgeteilt, ihr habt das selbst untereinander gemacht. Wenn einer von euch deshalb mit einem gebrochenen Bein in der Krankenstadion landete, konnte Boris so behaupten, dass ihr selbst schuld ward. Es war seine Form der Manipulation. Wenn ihr euch nicht gewehrt habt, ward ihr selbst Schuld. Habt ihr euch gewehrt, ward ihr auch selbst schuld. Er hat euch immer ein schlechtes Gewissen eingeredet, um seine Hände in Unschuld waschen zu können - dabei wäre es seine Aufgabe gewesen einzuschreiten!“

Sein Vorwurf klang nach. Es kostete Tyson viel Überwindung seinen Zorn zu zügeln. Diese Ungerechtigkeit machte ihn so rasend. Boris hatte mehr getan, als seine Aufsichtspflicht zu verletzten. Er hatte ganze Jahrgänge aus aggressiven, aber auch verschüchterten Kindern herangezogen. Nach mehreren Atemzügen, schaute er Kai bedauernd an. Dessen Gesicht war wie eine marmorne Maske.

„Und als du dann an deinem ersten Tag dort ankamst, da war dein Ruf ruiniert, noch bevor du einen Schritt über die Schwelle gemacht hattest. Boris pries Voltaire als einen der wichtigsten Gründer der Abtei an. Er sprach davon, dass du diese Einrichtung irgendwann erben würdest und die anderen dir dankbar für ihr schönes Zuhause sein sollten. Wie höhnisch musste sich das für die anderen Kinder anhören? Sie lebten in diesem Elend, rauften sich um jeden Happen Essen - und dann kamst du in die Abtei. Der Enkel jenes Mannes der dieses Elend auch noch finanzierte. Da war es doch klar, dass sie ihren Frust an dir ausließen!“

Kais Blick wich zur Seite.

„Kannst du dich daran erinnern, was Boris dir damals über das Leben in der Abtei gesagt hat, bevor er dich alleine mit den anderen im Schlafraum zurückließ? Die Kinder der Abtei pflegen ihre Probleme alleine zu lösen, meinte er. Wenn ihr euch untereinander nicht versteht…“

„Dann kommt alleine damit klar.“, Kai schloss gequält die Augen und zitierte jene Sätze weiter, die sich bis heute in sein Gedächtnis gebrannt hatte. „Denn im Leben bekommt ihr auch keine Hilfe. Das gehört zum Erwachsen werden dazu.“

„Er nannte es einen Reifeprozess.“

„Ich erinnere mich…“

„Und gleich nachdem er aus der Tür marschierte, wurdest du von den Jungen im Raum herumgeschubst. Noch bevor du mit deinem Koffer dein Bett erreicht hast, hat dir der Erste einen Tritt in den Rücken verpasst, dass du mit dem Kopf gegen eine Bettkante gestoßen bist.“ Tyson überwand zögerlich die letzten Meter zwischen ihnen. „Es hat stark geblutet und musste genäht werden. Dein erster Aufenthalt auf der Krankenstation und das keine drei Stunden nach deiner Ankunft.“

Er hob die Hand und tatsächlich ließ Kai endlich zu, dass er ihm näher kam. Vorsichtig hob Tyson mit dem Zeigefinger eine seiner Haarsträhnen an – und da war sie schon. Gefährlich nah über seine Schläfe, war ein winziges Überbleibsel dieses Abends. Eine verblasste daumenbreite Narbe. Es ließ Tyson bedauernd schnalzen.

„Derselbe Junge hat sich danach vor dir aufgebäumt, den Fuß gehoben bevor er zutrat, und gesagt…“

„Danke für mein schönes Zuhause du verzogener kleiner Prinz. Ich kenne seine Worte noch ganz genau!“, er spie es förmlich aus. Da wich Kai von ihm zurück, noch bevor er sein Gesicht zu fassen bekam, huschte von Tyson fort wie ein Schatten. Er stützte sich schweratmend am Geländer ab, schloss die Augen, im Versuch seine Haltung zu wahren.

Niemals Schwäche zeigen. Immer stark bleiben…

Das war Kai Hiwatari. Er wollte nicht wahrhaben, dass ihn etwas in Straucheln bringen konnte. Emotionale Aufgewühltheit war eines der wenigen Dinge, die er nicht mit seiner Rationalität zerpflücken konnte. Tyson senkte die Hand wieder, schaute ihn ratlos an. Das war wirklich schwierig. Er konnte ihn einfach nie ergreifen. Dieser Junge mied jeglichen Körperkontakt wie ein verwilderter Kater, den böse Menschen mit Steinen beworfen hatten. Tyson tat einen tiefen Atemzug, bevor er weitersprach. Er durfte jetzt nicht aufgeben.

„Als du deinen Großvater anrufen wolltest, um ihn zu bitten, dich von der Abtei wegzuholen, da war er nie erreichbar. Er hat mit Abwesenheit geglänzt, war ständig geschäftlich unterwegs. Wahrscheinlich wollte er deine Anrufe auch gar nicht entgegen nehmen. Einmal hat er die Abtei besucht. Er sprach stundenlang mit Boris in seinem Büro, doch dich besuchte er nicht einmal in deinem Schlafraum. Du hast erst Tage später erfahren, dass er da gewesen war. Wenn Voltaire nur einen verdammten Schritt in eure Kammer geworfen hätte, wäre ihm klar geworden, dass du da hinaus musst. Aber es interessierte ihn nicht. Er wollte nur Ergebnisse sehen. Schwarze Zahlen in seiner Bilanz… Da hast du bemerkt, dass du wirklich auf dich alleine gestellt bist.“ Tysons seufzte schwer. „Jetzt begreife ich auch endlich, warum du alles auf eigener Faust schaffen möchtest. Nach allem was ich nun weiß, wird mir so vieles über dich klar. Ich verstehe endlich woher deine Ängste kommen…“

„Ich habe keine Ängste!“, leugnete Kai verbissen, die Fäuste geballt. „Diese Zeit hat mich nur stärker gemacht!“

„Hat sie nicht - sie hat dich klein gemacht! Die Tage in der Abtei sind der Grund, weshalb du Schwierigkeiten hast, dich in eine Gruppe zurechtzufinden. Du bist zu einem Einsiedlerkrebs geworden, der sich jedes Mal in seinem Haus verkriecht, wenn er mit der Welt da draußen nicht zurechtkommt!“

„Das stimmt nicht!“, kam es umso sturer. Doch Tyson deutete auf ihn, sprach sein Urteil aus.

„Du wurdest von den anderen Kindern so lange getriezt bis das Maß voll war! Irgendwann hast du nämlich zurückgeschlagen! Du hast dem Jungen der dich ständig verprügelt hat, seine eigene Medizin zu schmecken gegeben, bis auch er blutend im Krankenzimmer lag. Es war so übel, dass die anderen von da an Angst vor dir hatten. Erst dann hast du den Respekt bekommen den du wolltest – und Boris Aufmerksamkeit. Von da an sah er in dir eine kleine Kampfmaschine, deren Brutalität man fördern sollte. Plötzlich sah er dich nicht mehr als verweichlichten reichen Bengel. Er erkannte dass du auch austeilen kannst. Du erhieltst die beste Ausbildung. Das war das Einzige was in der Abtei nicht schlecht war. Wer es einmal geschafft hatte aufzusteigen, wurde wie ein König behandelt. Und das obwohl es dir insgeheim leid tat, was du mit dem Jungen angestellt hattest. Du warst im Nachhinein selbst schockiert von dir selbst. Deshalb bemühst du dich auch nie die Beherrschung zu verlieren. Du unterdrückst sämtliche Emotionen, um nicht wieder etwas Derartiges zu machen!“

„Es war ein furchtbarer Fehler… Ich wollte das nicht!“, versuchte Kai sich zu rechtfertigen.

„Das glaube ich dir auch. Es war blinder Zorn der sich bis zu deinem Ausbruch angestaut hatte. Und du hast den Jungen auch im Krankenzimmer besucht, weil du dich furchtbar gefühlt hast. Es war nie deine Absicht ihn so übel zu zurichten. Du bist an sein Bett getreten und hast dich aufrichtig dafür entschuldigt. Und er hat dich nur angeschaut und gemeint, dass du das besser nicht laut tun solltest. In der Abtei kam man nämlich mit Entschuldigungen nicht weiter. Er meinte, er hätte dich sogar tot geprügelt, wenn es ihn eine Stufe weitergebracht hätte… Und jetzt weiß ich auch endlich, weshalb du uns in Russland verraten hast. Du wolltest allen die dich in der Abtei schikaniert haben beweisen, dass du kein kleines Kind mehr bist, das man noch herumschubsen darf. Jeder der sich dir in den Weg stellt muss sich in Acht nehmen, nicht wahr?“

„Warum weißt du das so genau?!“, kam es aufgebracht von Kai. „Von dieser Unterhaltung weiß niemand! Ich habe wirklich kein Wort über dieses Gespräch verloren! Der Junge von damals meinte ich solle meine Entschuldigung für mich behalten, weil ich sonst Ärger bekomme. Und er wurde einen Tag später auch schon aus der Abtei geschmissen!“

„Ich kann dir nicht sagen woher ich das weiß.“

„Dickinson hat es dir gesagt, nicht wahr?!“

„Du weißt doch selbst das ihr alleine ward…“

„Aber er hat im Zuge seiner Recherchen viele Kinder gefunden, die hinausgeworfen wurden. Auch den früheren Arzt aus der Abtei hat er aufgespürt!“, fiel Kai nun ein. Seine geweiteten Augen huschten nachdenklich zur Seite. Tyson sah ihm an, dass sein Kopf in Hochtouren nach einer Lösung für dieses Mysterium suchte. Kais Brauen zogen sich tief zusammen. Irgendwann spie er düster aus: „Natürlich… Es kann nur dieser alte Mistkerl gewesen sein! So ist er überhaupt erst über meinen Namen gestolpert. Er hat die Abtei bei ihrer Schließung erlebt. Er war dabei als die Behörden Boris festnehmen wollten! Dieser miese Heuchler! Er wollte es für sich behalten!“

„Er war es nicht…“

„Lügner!“

„Ich ein Lügner? Was bist dann du?!“, wehrte sich Tyson. „Dickinson wollte dich damals als Insider, nicht wahr? Das habt ihr beiden aber während der ersten Weltmeisterschaft, klammheimlich hinter unserem Rücken abgemacht! Uns habt ihr im Glauben gelassen alles sei nur ein Spiel! Erst in Russland haben wir erfahren um was es wirklich ging – und selbst das war nicht die ganze Wahrheit!“

„Wir haben euch nicht einbezogen weil ihr nur einfältige Kinder seid!“

„Genau wie du!“

Kai stutzte kurz ob des Vorwurfes. Dann verfinsterte sich sein Blick.

„Und wenn es so war - was geht es dich an?!“, fauchte er zornig zurück.

„Ihr hättet uns einbeziehen müssen. Vor allem du! Wir waren dein Team. Warum hast du dich uns nicht anvertraut?“

„Warum hätte ich? Ihr ward Fremde für mich!“

„Dann sag es mir jetzt, Kai! Sag mir die Wahrheit über diese Zeit. Ich will aus deinem Mund hören, was sich damals noch alles hinter unserem Rücken abgespielt hat!“

Tyson sah ihn die Lippen schürzen. Dann schloss Kai schnaubend die Augen.

„Ja, es ist wahr. Dickinson wollte mich als Informanten, weil ich nach der Abtei bei meinem Großvater zuhause, vieles über seine Geschäfte mitbekommen habe. Ich kannte die anderen Investoren. Sie gingen bei uns ein und aus... Aber vor allem kannte ich Boris. Ich war einer seiner Schüler. Dabei wollte ich damit zu Anfang gar nichts zu tun haben! Diese verdammten Abteikinder waren mir scheißegal!“

„Das glaube ich dir nicht. Sie taten dir Leid.“

„Mitleid ist nur etwas für Schwächlinge!“

„Ach, so ist das…“, Tysons Braue zuckte hoch, als der Groschen fiel. „Deshalb erträgst du es nicht über deine Vergangenheit zu reden. Deshalb nimmst du nie Hilfe in Anspruch. Aus lauter Angst etwas Mitleid zu bekommen. Als schwach dazustehen.“

Kai blieb lange Zeit stumm. Irgendwann sprach er mehr zu sich selbst: „Ich habe nie Hilfe nötig gehabt.“

„Nein! Es gab eine Zeit, da hast du sehr wohl Hilfe gebraucht. Du weißt genau wie sich das anfühlt - einer Situation ausgeliefert zu sein, an der man aus eigener Kraft nichts mehr ändern kann. Du kennst das Gefühl hilflos zu sein. Jedes Abteikind kennt das.“

„Gerade deshalb wunderst es mich dass du davon weißt.“

„Das rüttelt wohl ganz schön an deiner Weltanschauung… Das jemand anderes das verstehen kann. Jemand wie ich. Der aus der heilen Welt kommt.“

Er sah Kai auf die Unterlippe beißen.

„Ich verstehe endlich was damals passiert ist. Dickinson hat dir den Schubs in die richtige Richtung verpasst. Deshalb hast du damals gegen deinen Großvater ausgesagt. Du kamst von außerhalb. Du wusstest dass die Zustände in der Abtei falsch waren. Und du warst Voltaires Enkel. Die anderen Kinder waren zu verschüchtert um noch der Polizei zu trauen. Als sie aber gesehen haben, dass ausgerechnet du dich gegen dein eigenes Erbe auflehnst, haben sie nachgezogen und sich endlich getraut, auch ihre Aussagen abzugeben. Dadurch hatte Dickenson noch mehr Zeugen bekommen.“

„Ich hätte mich gar nicht einmischen sollen… Nur wegen diesem Klatschweib bin ich heute mit Großvater zerstritten. Er spielte sogar mit dem Gedanken, mich in ein Heim abzuschieben. Das war alles Dickensons schuld!“

Es kam sehr verbittert.

„Er wollte dich beschützen, damit du aus diesem Teufelskreis herauskommst. Voltaire hätte dich sonst genauso verkorkst wie sich selbst. Und du bist auch nie wie dein Großvater gewesen! Letztendlich hast du Dickinson geholfen, weil du wusstest, dass sich etwas ändern muss. Du hättest diese Kinder hassen können - aber eigentlich taten sie dir nur Leid! Du wusstest dass sie keine andere Wahl hatten, weil du selbst einmal in ihrer Haut gesteckt hast."

Kai gab einen zornigen Schrei von sich. Er tat einige Schritte von ihm weg, fuhr sich mit den Händen ins Haar. Nach einigen schweren Atemzügen drehte er sich wieder zu Tyson und funkelte ihn aus gefletschten Zähnen an.

„Wieso reden wir überhaupt noch davon? Warum fängst du mit diesen alten Kamellen an?!“

„Wieso denn nicht? Ich bin dein Freund. Es interessiert mich!“

„Jetzt auf einmal interessiert es dich - nach fast zwei Jahren?!“, brach es aus Kai heraus. Es wurde still zwischen ihnen. Tyson starrte ihn an. Er öffnete den Mund zu Widerworten, doch hielt sich noch davon ab. Es war der Blick dem ihm Kai zuwarf. Da lag etwas Anklagendes darin. Lange Zeit schauten sich beide einfach nur an, bis Tyson seufzend die Augen schloss.

„Okay. Der Punkt ging an dich.“, gestand er ein.

„Seit wann so einsichtig, Kinomiya?“, kam es höhnisch. Ein eiskalter Windhauch fegte über das Dach. Tyson kniff die Augen zusammen ob des kräftigen Zuges. Ihm fiel auf das es immer düsterer draußen wirkte, obwohl es noch gar nicht so spät sein konnte. Es waren auch keine Wolken am Himmel und doch wollte es einfach nicht warm werden. Er wusste nicht, wie lange sie schon hier standen, aber das die Zeit ihm davonlief.

„Es tut mir Leid, okay?“, sprach er reumütig. „Ich war damals noch jünger. Ich hatte keine Vorstellung davon was für ein riesiges Päckchen du mit dir herumschleppst – und das schon in deinem Alter. Aber hättest du mit nur einem Wort angedeutet das…“

„Was dann?!“, fuhr Kai ihm dazwischen. „Was hättest du dann getan? Spiel mir nicht den Helden vor! Ich weiß genau wie du mich siehst… Für dich bin ich doch auch nur ein eingebildeter, reicher Prinz!“

„Das habe ich nie behaup-…“

Doch Tyson verstummte. Denn noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, fielen ihm zahlreiche Momente ein, in denen tatsächlich etwas Ähnliches über seine Lippen gekommen war. Sein Schweigen war wohl Antwort genug, denn er hörte ein verächtliches Schnauben.

„Da hast du es! Du bist genauso wie der Rest da draußen… Ihr alle haltet euch für wahre Wohltäter, die empört die Brauen heben, wenn irgendwo etwas falsch läuft - aber unternehmen würde doch keiner etwas, selbst wenn es vor der eigenen Haustür passiert! Ein Urteil fällen Leute wie du aber schnell!“, nun deutete Kai auf ihn, während Tyson sich innerlich wappnete. Er hatte eine leise Ahnung wohin das alles führte. „Das ist genau das, was ich an dir nicht ausstehen kann, Kinomiya! Du rennst durch die Gegend, mit diesem blasierten Grinsen, hältst dich für eine ganz große Nummer, einen ganz tollen Helden, du denkst das deine Freunde immer bei dir sein werden und dir niemand etwas anhaben kann, aber in Wahrheit…“

„Lebe ich in einer Seifenblase?“

Nur für eine Sekunde ließ Kai seine Verblüffung erkennen. Dann spie er umso boshafter aus: „Ganz recht! Du bist ein naiver Idiot! Ein Trottel! Blauäugig durch und durch! Du denkst dass es nur etwas Mut, Freundschaft, Zusammenhalt und all dem anderen kitschigen Scheiß braucht und schon kann man die Welt aus den Angeln heben! Aber die Wahrheit ist, dass alle Menschen in schlimmen Zeiten, nur an sich selbst denken!“

Er beleidigte ihn - weil Kai ihn nicht verstand. Weil er nicht fassen konnte, wie Menschen wie Tyson durchs Leben gehen konnten, ohne das ihnen etwas Schlimmes widerfuhr.

„Dann hätten wir dich auf dem Baikalsee ertrinken lassen sollen, anstatt Gefahr zu laufen, auch im Eis einzubrechen?“

Nun blieben ihm die Worte im Halse stecken, während Tyson ihn mit verschränkten Armen anschaute. Er legte den Kopf auf die Seite, als stumme Aufforderung weiterzusprechen. Kais Mund stand etwas offen. Er suchte nach einem überlegenen Kontra, bis er ihm das Gesicht, mit einem verächtlichen Schnalzen abwandte.

„Nein... Aber eigentlich war auch das naiv von euch! Ich hatte euch kurz zuvor noch verraten und ihr habt einfach nicht von mir ablassen wollen. So etwas… Dämliches ist mir noch nie untergekommen! Ihr seid doch total verrückt. Vor allem du!“

Doch eigentlich klang Kai selbst nicht überzeugt. Tyson lächelte. Er spürte dass er allmählich zu ihm durchdrang. Seine Worte kamen viel zu stoisch, als müsse er sich das selbst einreden. Tyson tat einen Schritt auf ihn zu.

„Nur wegen so einer Kleinigkeit, hätten wir dich sterben lassen sollen? Das ist doch verrückt.“

„Die ganze Welt ist verrückt…“

„Nein, Kai. Es gibt nicht nur schlechte Menschen dort draußen.“

„Und doch sind es zu viele.“

„Du bist zu jung um so zynisch zu sein.“

„Hör auf mit deinen Belehrungen. Das passt gar nicht zu dir…“, Kai tat einige Schritte von ihm weg. Ein kühler Windhauch jagte um die Kuppel, der seinen Schal aufbauschte. Es ließ ihn für einen Moment fröstelnd die Arme um den Körper legen. Er lief am Geländer entlang, schaute geringschätzig auf die Menschen dort unten im Park herab. Auf diese Welt dort draußen, die seiner Meinungen nach nur Enttäuschungen barg. Dann sprach Kai ziemlich verdrossen: „Ich hätte gedacht, dass dir unser Ausstieg endlich eine Lehre war. Stattdessen bist du noch naiver geworden als je zuvor. Was stimmt denn nicht mit dir?“

Es ließ Tyson einen Moment schmunzeln.

„Du würdest mich gerne fallen sehen.“

„Vielleicht…“, kam es gehässig.

„Was hättest du davon?“

Kai zögerte seine Antwort lange hinaus.

„Manchmal müssen Menschen auf die Schnauze fallen um zu lernen. Und meiner Erfahrung nach ist es ratsam, so früh wie möglich zu stürzen, um in der Zukunft schneller auf die Beine zu kommen.“

„Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.“

Er sah Kai zucken. Dann kam es umso hochnäsiger: „Du bist der Letzte um den ich mir Gedanken mache, Kinomiya!“

Tyson legte den Kopf auf die Seite.

„Wirklich? Ich sorge mich nämlich immer um dich...“

Einen Moment blieb Kai stumm, blinzelte ihn an.

Bis er sich wieder von ihm abwandte.

„Ich bin schon immer klar gekommen. So wie ich bin, ist es gut.“

„Das glaubst du wirklich?“

„Natürlich.“

„Und die Nacht mit Black Dranzer?“

Kai hielt inne. Er hörte genau zu.

„Was soll damals gewesen sein?“

„Der Blade ist durchgedreht, weil er vollgepumpt von deinem Hass war. Deshalb hat er die ganze Trainingseinrichtung vernichtet. Ein erfahrener Blader hätte das erkannt, aber ein Trottel wie Boris, hat wohl über dieses Alarmzeichen hinweggesehen. Und auch heute noch bis du voll von Zorn.“

Kai wandte sich langsam zu Tyson um, schaute über seine Schulter hinweg zu ihm. Aus seinem Blick sprach pures Misstrauen.

„Verstehe. Jetzt wird mir natürlich einiges klar. Davon kann auch Tala gewusst haben. Er ist also der Verräter. Du hast mit ihm geredet!“, er drehte sich zu ihm. Die Brauen tief im Gesicht. „Deshalb habt ihr euch vorhin gegen mich verbündet. Er erzählt diese Dinge über mich herum. Wenn Tala mich loswerden will, soll er es mir ins Gesicht sagen!“

„Er hat nichts damit zu tun. Tala war einige Jahrgänge über dir, also kann er nicht allzu viel von deinen Schikanen mitbekommen haben. Er hatte ohnehin seine eigenen Kämpfe auszutragen.“

„Dann eben Spencer oder Bryan!“

„Die waren auch in einem anderen Teil des Gebäudes untergebracht. Nur Ian war bei dir in der Gruppe und den hat Tala deinetwegen rausgeworfen, weil er zu denen gehört hat, die dich als Kind drangsaliert haben. Deshalb tritt er dieses Jahr auch nicht an. Es ist Talas Art sich bei dir für deinen Einsatz von damals zu bedanken. Sie wissen was sie dir schuldig sind.“

„Irgendjemand muss dir aber davon erzählt haben! Irgendwer aus der Abtei! Mein erster Tag, der Brand, die Zustände dort, wie sie mit mir umgesprungen sind… Es muss jemand von dort gewesen sein!“

Tyson schnalzte, stemmte die Hände in die Hüften. Er hob das Kinn herausfordernd an.

„Und die Einzelheiten über deine Familie? Wer soll mir die erzählt haben?“

„Ich… Ich weiß es nicht.“, gestand Kai mit einem verunsicherten Kopfschütteln.

„Macht es dir solche Sorgen dass ich so viel über dich weiß?“

„Es geht dich nichts an! Niemanden!“, fuhr er ihn ein weiteres Mal an. Es machte ihm wohl Angst so transparent zu werden. Kai fühlte sich sicherer wenn die Menschen ihn nicht durchschauten. Und wenn er sich bedroht fühlte, war seine beste Verteidigung zu fauchen, wie ein Tier das man in die Ecke drängte.

„Wenn es wirklich Dickenson oder jemand von der Abtei war, wie erklärst du dir dann, dass ich von dem alten Ehepaar weiß? Das was dich gefunden hat, einige Wochen nachdem der Vorfall mit Black Dranzer passierte?“

Als hätte man ihm einen Peitschenhieb verpasst, zuckte Kai zusammen. Er wich von Tyson fort, starrte ihn aus großen Augen an. Es war eine der wenigen Erinnerungen, von denen wirklich niemand aus Kais unmittelbarem Bekanntenkreis etwas wissen konnte. Nur er allein.

Es wurde still. Sehr lange still…

Eine Weile starrte ihn Kai einfach nur verdattert an. Zwischen seinen Lippen hatte sich ein Spalt aufgetan. Irgendwann meinte er: „Wenn das ein Scherz sein soll, ist das nicht mehr komisch, Tyson.“

Seine Finger umgriffen das Geländer wie einen rettenden Anker. Zum ersten Mal klang Kai verzweifelt und vergaß sogar, ihn mit dem Nachnamen anzusprechen. Seine kühle Fassade fiel förmlich in sich zusammen. Inzwischen dachte Tyson nach, wie er weiter vorgehen sollte. Er strich gedankenverloren über das Geländer, rief sich in Erinnerung, was ihm Kai von diesen Menschen erzählt hatte. Es war der traurigste Abschnitt.

„Erinnerst du dich daran, warum du dem Jungen nicht böse sein konntest, der dich bei deinem ersten Fluchtversuch verpetzt hat?“, sprach Tyson irgendwann.

„Warum fragst du mich das?“

„Ich will damit sagen, dass es nur eine Sache gab, welche den Kindern der Abtei mehr Angst gemacht hat, als die Abtei selbst – nämlich aus der Abtei geworfen zu werden. Der Grund dafür war einfach... Draußen herrschte im Winter eine Eiseskälte. Die meisten Kinder waren schon von der Straße und die wenigsten wollten noch einmal dorthin zurück. Erst recht nicht in den kalten Monaten. Da kam ihnen selbst die Hölle wie das kleinere Übel vor. Du wusstest das aber noch nicht und hast am eigenen Leib erfahren, wie es dort draußen zugehen kann.“

Er schaute zu Kai. Der starrte ihn aus geweitetem Blick entgegen.

„Nach der Sache mit Black Dranzer bist du geflohen, weil du Angst hattest bestraft zu werden. In der Abtei gab es viele Geschichten, wie mit ungehorsamen Kindern umgesprungen wurde. Du wolltest dieser Strafe entgehen. Aber ein kleiner Junge allein in einer Millionenstadt wie Moskau? Man muss kein Genie sein, um zu wissen, wie gefährlich das sein kann, aber du hast keinen anderen Ausweg mehr für dich gesehen.“

„Ich will das nicht mehr hören…“

„Es war ernüchternd, oder? Diese Erfahrung ohne Geld, Essen und Wasser, auf der Straße auskommen zu müssen. Jede Großstadt hat ihre Schattenseiten. Moskau war da keine Ausnahme. Fast einen Monat hast du auf der Straße gelebt. Wie die anderen obdachlosen Gestalten, die keine Zukunft mehr hatten – aber in die Abtei wolltest du auf keinen Fall zurück. Wie verzweifelt muss ein Junge sein, um so ein Leben diesem Ort vorzuziehen?“

Kais Blick wich ihm aus. Er blinzelte. Zu oft…

Er war jetzt vollkommen verstört.

„Ein Obdachloser hat dich unter seine Fittiche genommen. Er hatte immer seine Hündin bei sich. Du kennst sogar noch ihren Namen. Toscha. Sie besaß ein struppiges, braunes Fell und du hast dich nachts gerne an sie geschmiegt.“

„Das kannst du nicht wissen…“, es war ein fassungsloses Flüstern.

„Das alles war noch kurz vor dem Wintereinbruch. Aber irgendwann wurden die Nächte kälter. Ihr habt euch unter einer Treppe eingenistet. Vor den Eingang habt ihr Kartons geschoben. Eines Nachts überließ dir der Obdachlose seine Jacke. Am nächsten Morgen wachte er aber nicht mehr auf. Es war einfach zu kalt geworden. Und er war auch sehr alt gewesen... Siehst du noch manchmal sein Gesicht vor dir? Wie er friedlich in der Eiseskälte eingeschlafen ist?“

Kai keuchte bei dem Gedanken.

„Von da an bist du mit Tosha alleine durch die Straßen geirrt. Bis der Winter seine erbarmungslose Seite zeigte. Es hat angefangen mit dem Schnee. Minusgrade die man sich hier in Japan kaum vorstellen kann.“

„Ich habe genug davon!“, Kai wollte sich an Tyson vorbei drängen. Doch der stemmte seinen Arm gegen die Scheibe, um ihm den Fluchtweg zu versperren. Etwas geschockt hielt er inne. Nicht weil Tyson sich ihm in den Weg stellte, sondern weil er mit solcher Kraft gegen die Scheibe gehauen hatte, dass ein Sprung auf ihr entstand. Für eine Sekunde fragte Tyson sich, aus was für einem billigen Material das Glas bestand, bis er den Gedanken verwarf, um sich auf das wesentliche zu fokussieren. Weder er, noch Kai, sahen die blaue, schuppenartige Zeichnung an seiner Hand. Dazu waren sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

„Was ist los mit dir? Schämst du dich dafür, einmal ein solches Leben geführt zu haben?“

„Lass mich vorbei!“

„Nein!“

Kai wandte sich um. Er lief in die andere Richtung, in der Hoffnung, so wieder zum Eingang des Treppenhauses zu gelangen. Tyson folgte ihm. Doch bald musste Kai erkennen, dass ihm das auch nicht weiterhalf. Sein Plan ging nicht auf. Von der anderen Seite aus, erreichte er nur die Rückseite des Treppenhauses. Eine massive Betonwand versperrte ihm den Weg. Das Geländer verschwand darin. Kai drehte sich wieder zu ihm, schaute ihn böse an, als er bemerkte, dass Tyson ihm folgte.

„Lass mich in Ruhe!“

„Erinnerst du dich wie du in die Gaststätte eingebrochen bist?“, fragte er nur.

„Ich will nicht mehr! Ich habe deine Spielchen satt!“

Kai versuchte erneut an ihm vorbeizukommen, doch Tyson warf ihn zurück. Er prallte gegen die Wand und starrte ihn daraufhin geschockt an. Beide begriffen nicht, woher er auf einmal diese Kraft hernahm, nur was es Tyson in diesem Moment egal. Mit düsterem Blick fuhr er fort: „Du hast mit einem Stein das Kellerfenster eingeschlagen und bist mit Tosha hineingeklettert. Weißt du es noch?“

„Was willst du von mir?“

„Du warst verzweifelt. Es war einfach zu kalt draußen. Du hast zwischen den Mehlsäcken geschlafen und warst bereits fiebrig. Deine Lungenentzündung war wieder da. Du hast dich einfach nur in Toshas Fell geschmiegt und bist eingeschlafen.“, Tyson trat näher heran. „Der Hund muss irgendwann bemerkt haben, dass mit dir etwas nicht stimmt. Sie hat so lange an der Kellertür gekratzt und gewinselt, bis die Besitzer herunterkamen und dich dort unten fanden.“

Kai wich zurück, starrte ihn an. Doch viel Spielraum gab es nicht mehr für ihn.

„Es war ein älteres Pärchen. Sie haben sofort begriffen dass mit dir etwas nicht stimmt. Die Frau hat dich in eine Decke gewickelt. Der Mann rannte die Kellertreppe hoch, um den Krankenwagen zu rufen. Du erinnerst dich noch an seine polternden Schritte – und an das Gesicht der Frau. Sie trug ein rotes Kopftuch, besaß kleine Grübchen. Wenn du an sie zurückdenkst, erinnert sie dich an eine kleine Matrjoschka Puppe.“

„Wie kannst du das wissen?!“

„Sie hat dir beruhigend über die Stirn gestreichelt. Dich an sich gedrückt. Es war das erste Mal seit langem, dass dir jemand eine solche Zuneigung geschenkt hat. Und das obwohl sie einen wildfremden Jungen in den Armen hielt, der ihr Kellerfenster zerschlagen hatte.“

Kai starrte ihn an.

„Dieser Gedanke ließ dich damals weinen. Du hast dich so schuldig gefühlt. Es tat dir so Leid… Doch sie meinte es sei okay. Es sind nur Scherben, hat sie sie zu dir gesagt. Die kann man wegkehren.“

Tyson sah es. Ein wässriger Glanz der in seine Augen trat. Kai bemerkte es wohl ebenfalls, denn er kniff die Lider zusammen.

„Draußen herrschte ein so schlimmes Schneegestöber, dass der Krankenwagen nicht kommen konnte. Die Ärzte haben telefonisch durchgegeben, was man mit dir anstellen soll und wollten kommen, sobald der Sturm nachließ. Der alte Mann trug dich die Kellertreppe hoch. Die Frau bereitete alles vor, um dich die Nacht über durchzubekommen. Wann immer du aus deinen fiebrigen Träumen aufgewacht bist, konntest du erkennen, dass einer von ihnen dich angeschaut hat. Er hatte ein tiefschwarzes Augenpaar. Einen gütigen Blick. Sie tupfte dir mit einem kühlen Lappen über das Gesicht, während sie dir alte Volkslieder vorsummte. In diesem Moment wurde dir klar, dass du so viel Zuwendung nicht einmal von deiner eigenen Familie bekommen hast. Das tat unglaublich weh. Nicht wahr, Kai?“

Doch es kam kein Mucks mehr von ihm. Er hielt das Gesicht von ihm abgewandt. Die Augen waren geschlossen. In den Winkeln sammelten sich allerdings die aufkommenden Tränen.

„Sie pflegten dich gut. Der Arzt lobte sie am nächsten Morgen. Er meinte, er hätte es nicht besser machen können und die kleine Frau bekreuzigte sich, dankte Gott, dass der kleine Junge auf ihrer Couch durchkommen würde. Dir hat dieser winzige Einblick bei diesen Menschen aber vorgeführt, dass du deiner Familie egal sein musstest. Wochenlang schien dich niemand gesucht zu haben. Es war allen gleich wo du abgeblieben warst. Du hättest genauso gut erfroren in einem Graben liegen können.“

Er sah Kai verbissener die Augen zusammenkneifen.

„Einen weiteren Monat verbrachtest du auf der Kinderkrankenstation. Die Ärztin dort nannte dich den traurigen Welpen. Sie fragte dich ständig nach deiner Vergangenheit aus. Zumindest versuchte sie es. All ihre Bemühungen einen Draht zu dir aufzubauen scheiterten jedoch. Manchmal hast du tagelang zugebracht, ohne auch nur ein Wort von dir zu geben. Dein Schweigen begann… Du warst der Welt so leid geworden, dass du nicht mehr die Kraft aufbringen konntest, noch eine weitere Enttäuschung zu verkraften. Richtig, Kai?“

Eine winzige Regung kam. Ein minimales Nicken. Oder vielleicht in Schluchzen…

Seine Bewegung wirkte so starr und doch reichte sie aus, damit eine Träne sich selbstständig machte. Da wagte Tyson endlich den Vorstoß. Er griff mit einem wehmütigen Atemzug nach dessen Schultern, führte seine Finger zu dessen Nacken, wie durch Zufall. Er hörte Kai laut keuchen.

„Jeden Abend schaute die Ärztin die Nachrichten, blätterte in der Zeitung nach einer Vermisstenanzeige über einen kleinen Jungen, der zu deiner Beschreibung passte. Selbst bei der Polizei fragten sie nach. Aber Boris hatte dein Verschwinden wohl nie gemeldet. Bestimmt wollte er es auf eigener Faust regeln, bevor dein Großvater von der Sache Wind bekam. Ihm muss der Arsch ziemlich auf Grundeis gegangen sein, immerhin hatte er Voltaires einzigen Erben verloren.“

Die Wärme kam auf. Es war ein brodeln. Tysons gesamter Körper schien zu brennen. Er konnte sehen, wie seine eigenen Finger zu glühen begannen.

„Es vergingen so viele Tage - aber niemand meldete sich. Du wusstest gar nicht mehr worauf du noch wartest. Du konntest nicht mehr zur Abtei. Deiner Familie wollte dich offensichtlich nicht. Und dir war klar, dass du auf der Straße nicht überleben würdest. All das Elend um dich herum raubte dir den Lebenswillen. Dir schien es als hättest du keine Zukunft mehr… Und jeder Arzt der kam um dich aufzuheitern, bekam nur dein Schweigen als Antwort. Irgendwann wurde eine Therapeutin hinzugezogen. Sie sprach von einer schweren Kinderdepression…“

Ein trauriges Lächeln spielte um Tysons Lippen. Umso länger seine Hände auf Kais Haut weilten, umso heißer wurden seine Finger. Dranzers Energie begann sich zu übertragen.

„Wie alt warst du damals? Acht oder neun? So jung und schon eine Depression… Du warst am Ende. Nur einen Satz hat deine Ärztin irgendwann aus dir herausbekommen. Weißt du noch was du gesagt hast?“

Kai senkte den Kopf. Da beantwortete Tyson auch schon seine eigene Frage.

„Ich will nicht mehr leben…“

Kein Mucks kam von ihm. Es beschämte ihn, dass er einmal so gebrochen gewesen war.

„Erinnerst du dich?“, flüsterte Tyson. „Diese furchtbare Einsamkeit in dir. Das Gefühl von allen Menschen verlassen worden zu sein. Vollkommen allein zu sein. Ausgesetzt…“

Kai wollte es vergessen. Weil sein Stolz nicht wahrhaben wollte, dass er vor langer Zeit einmal an diesem Gefühl zerbrochen war. An der Einsamkeit. Und doch stand Tyson hier und zwang ihn, sich daran zu erinnern. Die Mauer bröckeln zu lassen.

„Schon okay. Du darfst weinen...“

Tysons Hände hoben sich. Ein prüfender Blick darunter. Ein flammendes Muster. Er erkannte nicht welches. Es war ihm auch gerade egal. Sobald die Wärme in seinen Fingern erstarb, das Attribut dort war wo es hingehörte, Kai den Kampf gegen seine Trauer verloren hatte - da überwand Tyson die letzten Zentimeter zwischen ihnen. Er legte einen Arm nach dem anderen um ihn, drückte Kai ganz fest an sich.

„Es tut mir so leid.“, raunte Tyson ihm zu.

Seine Finger strichen tröstend über den Haarschopf seines kleinen Katers. Dieser Junge der so oft verstoßen und verletzt wurde. Er hörte einen beklommenen Laut.

„Du wirst nie wieder allein sein. Ich lasse niemals zu, dass dir nochmal wehgetan wird.“

Und kurz darauf fühlte Tyson den ersten warmen Sonnenstrahl auf seiner Wange. Als er eine flüchtige Sekunde in den Himmel blinzelte, wirkten die Farben wieder satter.

Und der Wind war herrlich warm…
 


 

*
 

Es dauerte seine Zeit bis Kai wieder ruhiger wurde. Tyson fiel auf wie sehr es schmerzte, ihn weinen zu sehen. Es fühlte sich an als würde sein Herz zugeschnürt werden, einfach weil er Kai noch nie so aufgelöst erlebt hatte. Manche Menschen wirkten beim Weinen richtig hysterisch. Tyson wurde dabei sogar richtig zornig und steigerte sich in seine Probleme weiter hinein, knurrte, brüllte und spie bitterböse Worte aus, auch wenn es ihm danach Leid tat. Kai war das komplette Gegenteil…

Er litt im Stillen, als wolle er nicht zu viel Aufsehen um sich machen. Es waren stumme Tränen die er vergoss. Womöglich war das in der Abtei ebenfalls ungerne gesehen und man gewöhnte sich an, äußerst leise zu weinen. Nachts, zusammengekauert unter der Bettdecke.

Oder vielleicht sogar gar nicht?

Deshalb kam es Tyson vor, als hätte Kai was das betraf, sehr viel Nachholbedarf.

Jeder Tropfen verwischte etwas mehr von den Zacken, die er sich früher ständig aufgemalt hatte. Ihre Konturen wurden zunehmend unscharfer. Tyson wusste noch, wie er einmal von ihm wissen wollte, warum er sie sich überhaupt aufmalte. Das war als er Kai zum ersten Mal ohne sah und sich insgeheim dachte, dass er sein hübsches Gesicht damit nur unnötig verschandelte.

„Um Nervensägen wie dich fernzuhalten.“, war die bissige Antwort gewesen.

Nun mussten sie doch weichen. Gegen salzige Tränen kam wohl auch diese Farbe nicht an. Sie bahnten sich ihren Weg aus seinen Augenwinkeln, hinterließen lautlos ihre Spuren und er wandte ihm stets das Gesicht ab, wenn er Tysons mitleidigen Blick bemerkte. Es war ihm peinlich. Wahrscheinlich fühlte Kai sich emotional entblößt. Als er sich einmal mit der Hand über das Gesicht fuhr, verwischte er die Farbe versehentlich noch mehr. Kai hatte auf seine blaubefleckten Finger geschaut und ein frustriertes Seufzen entrang sich seiner Kehle. Es ließ Tyson traurig Lächeln. Irgendwann hob er die Hand und wischte die verbliebene Farbe von dessen Wange, während Kai ihm nur vorwarf, dass er ein Mistkerl sei. Es war wohl sein letztes Aufbäumen.

„Schon okay...“

Es veranlasste Tyson ihm den Arm um die Schulter zu legen und seinen Kopf gegen ihn zu lehnen. Er spürte wie Kai dabei verkrampfte, doch es folgte auch keine Gegenwehr mehr. So blieben sie eine ganze Weile, ohne weitere Worte, ließen einfach nur die Zeit verstreichen. Tyson ging gar nicht mehr durch den Sinn, dass er eigentlich noch ein Match bestreiten sollte. Er wollte auch gar nicht mehr weg. Es kam ihm vor als habe er Kai gebrochen. Doch manchmal mussten Menschen wohl in Scherben liegen, um sich ihre Probleme einzugestehen. Jetzt musste Tyson beim Zusammenfügen helfen. Die Ansage dass das Turnier fortgesetzt wurde kam irgendwann. Kai hatte aus monotonem Blick gefragt, ob Tyson nicht endlich verschwinden wolle. Doch der schüttelte den Kopf und blieb wo er war.

„Du solltest jetzt nicht alleine sein…“

Da schaute Kai verwirrt zu ihm. Er wirkte erschöpft von seinem eigenen Gefühlsausbruch. Seine Augen waren auch etwas rot unterlaufen. Er würde nicht eher hinuntergehen, bevor die Anzeichen seiner Schwäche verschwunden waren.

„Und dein Match?“, wollte er wissen.

„Kenny und Daichi sollen antreten.“

„Sollte der Weltmeister nicht mehr Enthusiasmus an den Tag legen?“

„Ich bleibe bei dir!“, er hatte nach Kais Hand gepackt. Sie fest gedrückt. Der schaute mit offenem Mund auf ihre Finger. Irgendwann zog er seine Hand langsam fort und rutschte etwas von ihm weg. Auf seinem Gesicht lag ein ziemlich konfuser Ausdruck. Ganz offensichtlich wusste er nicht, was diese Annährung bedeuten sollte. Er war eben noch zu jung.

„Du könntest disqualifiziert werden. Die Menge da draußen wird dich hassen, wenn sie eine Stunde auf dich warten musste, nur damit du trotzdem nicht auftauchst.“, gab Kai zu bedenken.

„Sollen sie mich hassen. Du bist jetzt wichtiger.“

Kai hatte ihn aus großen Augen angeblinzelt. Nun vollkommen ratlos…

Es erinnerte Tyson an den kleinen Jungen den er so gemocht hatte. Er steckte noch immer irgendwo da drinnen, durfte einfach nur seltener heraus. Irgendwann senkte Kai seinen Kopf gegen das Gemäuer hinter sich, auch wenn Tyson spürte, dass er ab und an einen vorsichtigen Blick auf ihn warf. Wahrscheinlich dachte er es sei ihm nicht ernst. Es blieb wieder ruhig zwischen ihnen, bis die finale Ansage von Mr. Dickenson über die Lautsprecher zu ihnen hinaufschallte. Er erklärte den Zuschauern, dass der Weltmeister für diese Runde gesperrt sei, weil Tyson nicht wie abgesprochen angetreten sei. Es folgten fiese Buh-Rufe, welche die ganze Halle erfüllten.

„Ray wird dich umbringen.“, flüsterte Kai mit geschlossenen Augen.

„Er würde es verstehen.“

„Hast du… Ihm etwa auch davon erzählt?“, es schien seine schlimmste Befürchtung zu sein. Das sich herumsprach wie verletzlich er sein konnte. Tyson senkte wissend die Lider.

„Nein. Das muss von dir selbst kommen.“, er tat einen tiefen Atemzug. „Allerdings, denkst du nicht, sie hätten etwas mehr Vertrauen von dir verdient?“

„Damit sie mir damit so in den Rücken fallen wie du gerade?“

„Ich weiß dass ich dich aus der Bahn geworfen habe. Es tut mir Leid wenn du deshalb aufgewühlt bist. Aber wenn ich dich verletzen muss, um dir dabei zu helfen deinen Frust endlich herauszulassen, dann werde ich es jederzeit wieder tun.“, er schaute ihn nun geradewegs an. „Trauer gibt es nicht ohne Grund, Kai. Wenn du sie nicht herauslässt, wie sollen die Menschen um dich herum bemerken, dass du unglücklich bist?“

Tyson sah wie er nachdenklich die Brauen zusammenzog. Da fiel sein Blick auf Kais Hände. Er war tatsächlich so in seine Grübeleien versunken, dass ihm entging, wie er an seiner Fingerkuppe herumdrückte. Eine abgeschwächte Form seines Ticks. Tyson dachte an all die Tiefpunkte die sein kleiner Kater hatte überstehen müssen. Und das alles nur wegen dieser gleichgültigen Familie...

Ihm wurde klar das Voltaire wieder leben müsste. Seine Brauen zogen sich bei dieser Erkenntnis zusammen.

„Kai… Ich habe mir ein paar Gedanken zu dir gemacht.“, begann er vorsichtig. „Ich habe zwar noch nicht mit Opa darüber gesprochen, aber was würdest du davon halten, einfach bei uns zu wohnen?“

Er sah ihn überrascht blinzeln. Seine Braue schoss hoch. Als Kai ihm das Gesicht zuwandte, lag darin ein Ausdruck, als würde er Tyson für verrückt erklären, bis er verächtlich schnaubend den Kopf von ihm wegdrehte.

„Nein danke.“, es klang nicht im Geringsten dankbar.

„Ist das so ein dämliches Angebot?“

„Das kannst du vergessen.“

„Und warum?“

Es kam keine Antwort. Alles was Kai tat, war mit verbissenem Ausdruck vor sich her zu schweigen. Er verschloss sich ihm gegenüber, behielt für sich, was seine Beweggründe waren.

„Es ist wegen Voltaire, oder? Du willst ihn nicht alleine lassen.“

Er hatte ins Schwarze getroffen. Tyson erkannte es an der Art wie Kai die Lippen trotzig aufeinanderpresste. Sie kannten sich einfach zu lange. Zumindest Tyson. Kais Reaktion ließ ihn genervt schnalzen.

„Ich verstehe dich nicht. Du lässt einen genau erkennen, dass du keine große Meinung von ihm hast und doch bleibst du bei ihm. Bist du irgendwie masochistisch veranlagt?“

„Du hast dein Vokabular ja ganz schön aufgebessert.“, kam es sarkastisch.

„Lass das, Kai. Deine Spielchen kannst du bei jemand anderem versuchen.“

„Welche Spielchen?“

„Du provozierst mich damit ich von dir ablasse. Dir fällt es leichter wenn man dich für ein Arschloch hält, als dich mit unbequemen Fragen abzugeben.“

Wieder keine Antwort.

„Es passt dir nicht das ich dich durchschaue.“

„Nein…“, dieses Mal klang es nicht bissig. Eher beklommen. Kai schaute zur Parkanlage hinaus, wo der Wind durch die Baumkronen fegte.

„Beantwortest du noch meine Frage?“

„Du bist furchtbar hartnäckig heute. Schlimmer als jemals zuvor!“, es klang verzweifelt.

„Dann bring es hinter dir und sag mir die Wahrheit. Ich lasse nicht locker.“, Tyson schaute ihn mit zusammengezogen Brauen an und wiederholte seine Frage: „Was hält dich bei Voltaire?“

Jede Silbe klang energischer als die vorangegangene. Kai schloss die Augen. Ein Zeichen das er endlich aufgab. Er seufzte schwer. Irgendwann schaute er wieder auf seine Finger herab, begann die Farbe auf seiner Haut dort fort zu reiben.

„Er war der Einzige der mich gesucht hat.“

Seine Antwort war nicht mehr als ein Murmeln. Offenbar war es ihm peinlich, dass ausgerechnet dem selbstbewussten Kai Hiwatari, so etwas viel bedeutete. Tysons linke Braue zuckte hoch.

„Du meinst als du weggelaufen bist?“

Er nickte wortkarg.

„Du bist seinetwegen überhaupt erst in diese Situation geraten.“, kam es unbeeindruckt.

„Das verstehst du nicht...“

„Dann erklär es mir! Einmal in deinem Leben hat er dich gesucht und deshalb verkaufst du ihn mir als Heiligen? Jetzt mal ehrlich, Kai, das kann doch nicht der Grund sein? Das passt nicht zu dir!“

Es war das einzige Geheimnis, was Tyson einfach nie lüften konnte. Weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Kai hatte ihm niemals erklärt, weshalb Voltaire seine Loyalität besaß, stattdessen war er seiner Frage immer nur ausgewichen. Ein tiefer Atemzug entrang sich dessen Kehle. Dann sprach Kai äußerst gequält: „Du hast es doch selbst gesagt, Tyson. Als ich im Krankenhaus lag, da hatte ich mich aufgegeben. Ich dachte niemand wolle mich haben. Das der Welt egal ist ob ich sterbe oder lebe… Und doch stand irgendwann mein Großvater im Türrahmen und forderte die Ärzte auf, mich auf der Stelle herauszurücken.“

Kais Blick änderte sich. Sein Geist schien weit fern zu sein.

„Du hast Recht. Boris hatte mich nicht als vermisst gemeldet. Als mein Großvater herausfand, dass ich schon seit Wochen aus der Abtei verschwunden war, schickte er sofort seine Handlanger los.“

„Das hätte früher passieren müssen.“, sprach Tyson unversöhnlich.

„Wie denn? Boris hatte ihm doch gar nichts gesagt!“

Tyson konnte nicht leugnen, dass er begann sich über ihn zu ärgern. Immer wieder hatte Kai ihm vorgeworfen er sei ein naiver Idiot und nun strotzte er selbst vor Blauäugigkeit. Der fuhr mit seinen Rechtfertigungen fort: „Großvater war so unglaublich wütend an diesem Abend. Meinetwegen war er extra aus Japan angereist. Er wollte mich sofort wieder mitnehmen. Aber die Ärzte wollten mich nicht herausrücken, weil zu der Zeit bereits das Jugendamt eingeschaltet worden war. Es stand eine größere Untersuchung vor ihm. Sie wollten wissen, ob er seine Aufsichtspflicht verletzt hatte. Wie es dazu kommen konnte, dass ich auf der Straße gelandet bin. Und das auch noch in einem fremden Land…“

Kai ließ seine Hände, wie sie waren. Die Farbe war zu hartnäckig.

„Großvater bäumte sich vor ihnen auf, seine Handlanger um sich geschart und meinte, er würde die gesamte Station kurz und klein schlagen lassen, wenn man nicht sofort seinen Enkel herausrückte.“

Kai senkte den Blick, schloss die Augen.

„Noch nie hatte jemand so vehement darauf bestanden, mich wieder mit nachhause nehmen zu können. Niemand. Ich war erstaunt wie hartnäckig er um mich kämpfte – und dankbar.“

„Er wollte doch nur seinen Erben zurück, damit seine Firma am Leben bleibt, sobald er ins Gras beißt.“

„Das ist mir heute auch klar. Aber damals… Damals war ich einfach nur froh. Und egal wie man es dreht und wendet, ich bin dieser Hölle entkommen, weil er mich herausgeholt hat. Nicht mein Vater. Nicht meine Mutter. Nicht die Polizei oder das Jugendamt. Großvater war es!“

Ein Satz ging Tyson durch den Kopf. Etwas was Kai zu ihm gesagt hatte, als sie damals in der Küche des Kinomiya Anwesen saßen.
 

„Tiere die aus dem Elend herausgeholt werden, sind die dankbarsten Gefährten.“
 

Endlich verstand er wie das gemeint gewesen war…

Auf seine eigene Art gab Kai ihm damals schon die Antwort auf seine Frage. Tysons Finger wanderten zu seiner Nasenwurzel. Er tat einen tiefen Atemzug. In dem damaligem Elend musste Voltaire eine wahre Lichtgestalt gewesen sein.

„Manchmal wirkt wohl selbst der Teufel wie ein Engel.“

Kai entgegnete nichts darauf. Doch der Zug um seinen Mund verriet Tyson, dass ihm diese Worte sauer aufstießen. Er war immer sehr still geworden, wenn man über seinen Großvater schlecht sprach. Zwar schien ihm klar zu sein, dass Voltaire einen gewöhnungsbedürftigen Charakter besaß, dennoch ertrug er es. Etwas was Tyson einfach nicht ertragen konnte. Der Gedanke das Voltaire von klein auf Kais Vertrauen genoss, während er sich jeden Tag etwas mehr davon erkämpfen musste, war so unfair. Er verdiente Kai einfach nicht.

„Ich hasse deinen Großvater.“

Neben ihm atmete Kai hörbar aus. Sein Kopf schnellte zu ihm.

„Nicht einmal wegen der Sache in Russland oder seiner furchtbaren Erziehung. Ich hasse ihn, weil er in mir diesen Neid aufkommen lässt.“

„Neid?“, fragte Kai verständnislos.

„Er hatte deine Loyalität und hat sie ausgenutzt. Ich kämpfe darum, bekomme sie aber einfach nicht. Das ist einfach falsch! Dieser Mann weiß gar nicht zu schätzen was für einen Enkel er hat.“, als Tyson ihm den Blick zuwandte, blinzelte sein Nebenmann aus großen Augen. „Gib mir eine Minute und mir fallen hunderte Menschen ein, die würdiger wären dein Vertrauen zu besitzen! Ich würde dich niemals so enttäuschen!“

Doch zu seiner Überraschung, schnaubte Kai nur verächtlich.

„Nach allem was du heute gebracht hast, sprichst du von Vertrauen?“

„Was soll das denn jetzt heißen?“

Er wischte sich trotzig die letzte Tränenbahn weg.

„Jemandem wie dir meine Loyalität geben? Du würdest mich nie enttäuschen? Was sollte dann diese Aktion vorhin?! Du hast in meiner Vergangenheit geschnüffelt - einfach so um dich an mir zu rächen, weil ich ausgestiegen bin!“

Das war zu viel…

Tyson ballte die Fäuste vor Zorn und haute mit der Hand auf den Boden.

„Nein, nicht deshalb!“, schrie er ihn an. „Sondern weil du nie redest! Du zwingst einen förmlich dazu, dir auf die Pelle zu rücken!“

Es kam so stürmisch dass Kai verdutzt zurück zuckte.

„Glaubst du mir wäre es nicht lieber gewesen, wenn du dich mir von alleine anvertraut hättest?!“

„Vielleicht will ich einfach nichts mehr davon wissen!“, wurde Kai nun auch wieder lauter.

„Blödsinn! Es vergeht kein Tag an dem du nicht an die Zeit in Russland denkst! Dabei steht hier jemand, der sich jederzeit alles anhören würde! Du hattest dir aber schon deine Meinung über mich gebildet, als wir uns das erste Mal in der Arena gegenüberstanden! Ich könnte hundert Mal beteuern, dass ich dein Freund bin, du würdest mir trotzdem misstrauen!“

„Was soll ich nach dieser Aktion auch sonst von dir denken?“

„Du wirfst mir vor nichts über dich zu wissen - dasselbe gilt aber auch für dich! Wie kannst du darüber urteilen, ob die Menschen um dich herum dein Vertrauen verdienen, wenn du ihnen keine Chance lässt, dich zu überzeugen? Was muss ich denn noch alles machen?!“

Darauf fiel Kai nichts ein. Da schnaubte Tyson auch schon wütend.

„Das ist so unfair von dir… Ehrlich! Was glaubst du denn, was ich mit diesem Wissen anfange? Denkst du ich stolziere durch die Gegend und posaune es in der Weltgeschichte herum! Einfach so, um mich an dir zu rächen, weil du ausgestiegen bist? Was glaubst du eigentlich was ich für ein Arschloch bin?“

Er starrte Tyson einfach nur an. Es war wohl das erste Mal, dass Kai richtig begriff, was sein Verhalten bei seinen Freunden für einen Nachgeschmack hinterließ. Irgendwann wich er seinem Blick nachdenklich aus, da packte Tyson ihn zornig am Kragen.

„Sieh mich verdammt nochmal an wenn ich mit dir Rede! Ich würde alles für dich tun! Also sag mir gefälligst was ich verbrochen habe, dass du eine so schlechte Meinung von mir hast? Wann habe ich als Freund versagt?!“

Er schaute in das überraschte Augenpaar vor ihm, blickte ihm lange entgegen und doch wurde Tyson die Antwort wieder einmal verwehrt, bis er Kai mit einem entnervten Fauchen entließ. Geradezu ruckartig drehte der sich von ihm weg, da bereute Tyson schon seinen Ausbruch. Er hatte wieder zu impulsiv reagiert. Dabei hatte er sich geschworen, in diesem Leben anders zu werden. Müde fuhr er sich über die Augen, dachte daran, dass es wieder sieben Jahre dauern könnte, bis Kai endlich ihm gegenüber auftaute. Das würde ein furchtbar langer Kampf werden…

Ob er noch einmal die Kraft dazu aufbringen könnte?

„Naja. Vielleicht brauchst du wohl einfach noch Zeit.“, entschied er schließlich. Tyson erhob sich schwerfällig und klopfte sich den Hosenboden sauber. „Wenn du irgendwann bereit bist mit mir zu reden, weißt du ja wo du mich findest. Ich bin für dich da. Das sollst du einfach nur wissen.“

Er streckte sich. Seine Glieder fühlten sich vom langen Sitzen betäubt an. Es wurde Zeit sich dem wütenden Mob da unten zu stellen. Wahrscheinlich führte sein Bruder die Meute mit einer Heugabel an. Zumindest hatte es sich gelohnt. Kai schien nicht von seinem Misstrauen geheilt, doch immerhin war das Attribut dort, wo es nisten konnte. Dennoch fühlte er sich irgendwie wie ein Verlierer…

Es war enttäuschend, wie viel er verloren hatte. Ohne ihn weiter anzuschauen lief Tyson von Kai weg. Die Parkanlage war wieder menschenleer. Alle Zuschauer befanden sich im Inneren der Arena. Nur ein verliebtes Pärchen genoss den Sonnenuntergang. Es schlenderte Hand in Hand.

Wie ätzend… Tyson konnte sich überhaupt nicht für die beiden freuen. Er umrundete die Kuppel, bis er endlich wieder zum Eingang des Treppenhauses gelangte. Seine Hand ruhte bereits auf der Türklinke, als er Kais Stimme hinter sich vernahm: „Du hast nicht versagt…“

Es ließ ihn inne halten. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass Kai ihm folgte. Dann drehte sich Tyson um, schaute ihm dabei zu, wie er sich näherte. Zunächst wischte Kai sich ein letztes Mal über das Gesicht, schaute auf seine Hände, auf das was von der Farbe übrig geblieben war. Unten in der Arena ging ein Raunen durch die Menge, das bis zu ihnen hinaufklang. Tyson war sich ziemlich sicher, dass seine Teamkameraden von Ray gerade auseinander genommen wurden. Der war auch bestimmt ziemlich sauer. Er wollte jetzt nicht in Daichis Haut stecken. Inzwischen tat Kai einen tiefen Atemzug. Dann kam er auf ihn zu, überwand die letzten Meter zwischen ihnen. Und das sehr langsam…

Seine Bewegungen wirkten äußerst bedacht, als würde er sich auf einer dünnen Eisscholle vorsichtig zu ihm heranwagen.

„Was ich gerade gesagt habe… Vielleicht war das doch nicht ganz richtig von mir.“

Einen Moment starrte Tyson verdattert zurück. Das war neu.

Seine Finger glitten langsam von der Türklinke herab.

„Nein. Das war es wirklich nicht.“, er schaute vorwurfsvoll auf Kai, in Erwartung auf mehr. Diesen Schritt konnte er ihm nicht abnehmen. Das sollte er nun alleine bewältigen. Der umfasste inzwischen das Geländer, schaute hinaus auf die Parkanlage. Der Wind spielte mit einer seiner Strähnen und Tyson erkannte, dass Kai nach den richtigen Worten suchte. Nach einer Möglichkeit sich mitzuteilen.

„Ich muss zugeben, was du da eben alles über mich gesagt hast - all diese Dinge die du weißt - das macht mir tatsächlich Angst.“, er schluckte schwer. Es war wohl das erste Mal, dass er jemanden etwas Derartiges eingestand. „Und Angst lässt Menschen dumm werden. Oder in meinem Fall ungerecht. Ich habe mich wohl so in mein Misstrauen hineingesteigert, dass ich vergessen habe wen ich vor mir habe.“

Er schloss die Augen.

„Ich finde es einfach nur seltsam, dass du ausgerechnet dann diese alten Geschichten aus dem Hut zauberst, nachdem ich bei dir ausgestiegen bin. Mir kommt es wie ein Racheakt vor. Eine Möglichkeit mich während dem Turnier aus der Konzentration zu reißen, damit ich eine schlechtere Leistung in meinem neuen Team bringe.“

„Glaubst du wirklich ich würde mit so dummen Psychotricks spielen? Nach allem was wir gemeinsam durchgestanden haben?“, fragte Tyson enttäuscht. Kai atmete tief durch, schaute zu ihm herüber. Seine Augen huschten an seiner Statur entlang, als würden sie ihn abschätzen. Dabei konnte Tyson nur daran denken, wie schön sie waren. Wäre darin nur nicht ständig dieses verdammte Misstrauen…

„Ich weiß nicht mehr was ich von dir halten soll. Eigentlich traue ich dir das nicht zu. So ein Plan klingt zu berechnend für dich - und so habe ich dich nie eingeschätzt. Auch wenn wir Rivalen sind, kamst du mir immer sehr… aufrichtig vor.“

„Du bist für mich schon lange kein Rivale mehr. Ich sehe dich in erster Linie als meinen Freund. Einer der wichtigsten den ich besitze.“

„Es würde mir leichter fallen dir zu glauben, wenn du mir einfach sagen würdest, woher du das alles weißt.“, es klang wie eine Bitte. „Vielleicht habe ich meine Wut an der falschen Person ausgelassen. Womöglich hat dich jemand nur angestiftet, um zwischen uns Streit zusähen. Theoretisch kannst du das alles nur von jemanden erfahren haben, der selbst auch aus der Abtei stammt. Jemandem der seinen Mund nicht halten konnte. Auch wenn du Dinge weißt, von denen ich mir einfach nicht erklären kann, wie du sie überhaupt in Erfahrung bringen konntest. Es gab so vieles was ich niemals erzählt habe. Das würde ich niemals wollen.“

Tysons Blick ruhte weiterhin auf ihm.

„Ist dir meine Quelle wirklich so wichtig?“

„Es ist als hätte ich ein Tagebuch geführt und jemand darin gelesen. Dabei habe ich nicht mal eines! Das was du da erzählst hast – das waren meine dunkelsten Momente. Meine tiefsten Gefühle! Ich will doch nur wissen, wer einen solchen Einblick in mein Leben haben kann. Wie diese Informationen überhaupt in Umlauf gekommen sind. Kannst du das nicht verstehen?“

„Selbst wenn sie richtig in Umlauf kämen, wofür schämst du dich? Etwa dafür das du ein Kind warst?“

„Du verstehst es also nicht…“

„Nein, tue ich nicht. Also hilf mir dabei!“, forderte Tyson.

Kai biss sich auf die Unterlippe. Er umfasste nun mit beiden Händen das Geländer.

„Hast du eine Ahnung, wie lange es gedauert hat, bis ich endlich diesen Ruf von damals losgeworden bin? Bis die Leute aufgehört haben, mich zu ignorieren, weil ich in ihren Augen nur ein kleiner, lästiger Bengel war? Erst als ich begriffen habe, wie die Welt da draußen funktioniert, erst als ich mich den Spielregeln angepasst habe, erst da hat man mich ernst genommen. Mein Großvater, Boris, die Abteikinder - zu meinen Anfängen hat mich jeder von ihnen belächelt! Der dumme kleine Prinz, der keine Ahnung vom Leben hat - so hieß es ständig. Erst als ich stärker wurde, wachsamer, misstrauischer… Erst da hat meine Meinung Gewicht bekommen. Großvater sah mein Potenzial, Boris das in mir mehr steckt als ein verzogener Bengel und die Abteikinder, dass man mich nicht ungestraft herumschubsen darf. Ich wurde endlich respektiert! Das wäre aber niemals passiert, wenn ich auf Hilfe gehofft hätte. Wenn ich weiterhin nur ein Opfer geblieben wäre…“

„Du hast aber auch Hilfe bekommen.“

„Ich habe auf der Straße gelebt, Tyson! Und das fast einen Monat. Weißt du wie beängstigend es war, nicht zu wissen, wie es am nächsten Morgen weitergeht? Es war meinem Großvater zu verdanken, dass ich nicht wieder dort gelandet bin. Aber nur weil ich mich bemüht habe, der Enkel zu werden, den er gebrauchen kann. Wäre ich ein Kind geblieben, wäre ich nutzlos für ihn gewesen, dann wäre ich weiterhin herumgeschubst worden! Glaub mir, es gibt nichts Schlimmeres, als wenn andere Menschen dich deiner Entscheidungsfreiheit berauben. Kein Erwachsener fragt ein Kind was es wirklich möchte.“

Er sah wie sich Kais Griff um das Metall verstärkte. Die Knöchel an seinen Fingern traten weiß hervor. Der Ausdruck in seinen Augen war starr geradeaus gerichtet und doch schien er die Landschaft vor sich nicht mehr zu erkennen.

„Ich will mich nie wieder in meinem Leben wie ein Kind fühlen müssen…“

Tyson hörte es. Das minimale Beben in seiner Stimme. Und endlich begriff er das gesamte Ausmaß dieser Tragödie. Kai hatte seiner Kindheit nichts Schönes abgewinnen können. Er konnte mit keinem guten Gefühl darauf zurückschauen - erst als sie in der Irrlichterwelt strandeten und er für einen winzigen Bruchteil seines Lebens, als Kind liebevoll umsorgt wurde. Der Gedanke machte Tyson traurig. Es bedeutete doch eigentlich nur, dass seine Chancen an Kai so nah wie damals heranzukommen, damit weiter gegen null sanken. Dazu war sein Unwille zu groß etwas von dem kleinen grauen Kater herauszulassen, den Tyson doch so gemocht hatte. Ein bedauerndes Schnalzen kam aus seinem Mund.

„Bei dir ist so viel schief gelaufen. Das tut mir so leid.“

„Hör auf das ständig zu sagen!“, Kai kniff die Augen gequält zusammen. „Genau das ist es was ich vermeiden wollte! Genau dieser Blick von dir! Du siehst in mir nicht mehr was ich jetzt bin - nur noch was ich damals war!“

„Was du damals warst hätte ich sehr gemocht.“

„So ein Blödsinn!“, fuhr Kai ihn verbittert an. „Meine eigenen Eltern wollten mich nicht haben und mein Großvater lange Zeit genauso wenig! Wie kannst du dich also hier hinstellen und so etwas behaupten? Du weißt gar nicht wie ich als Kind war!“

Tyson stockte der Atem einen Moment. Dann rief er ihm verzweifelt entgegen: „Das war doch aber niemals deine schuld!“

Er tat einen Schritt auf ihn zu.

„Sieh dich doch um, Kai! Es gibt Menschen die dich schätzen! Einer steht direkt vor dir! Aber weil du noch immer der Antwort nachjagst, weshalb du ständig abgeschoben wurdest, bist du blind dafür geworden! Es ist als ob du verdammte Scheuklappen trägst!“

Kai fuhr sich über die Schläfen. Er war sichtlich müde und auch nicht wirklich überzeugt. Da tat Tyson einen ausgiebigen Atemzug, holte seine gesamten Gefühle aus seinem tiefsten Inneren hervor.

„Ich liebe dich!“

Der Satz platzte förmlich aus ihm heraus. Zunächst sah er Kai verwirrt blinzeln, seine Hand blieb wo sie war. Es wirkte als würde er sich fragen, ob er sich verhört habe. Immerhin war es ganz schön windig hier oben.

„Was hast du gesagt?“

„Du hast mich genau verstanden!“

„Nein. Ich glaube nicht. Es hat sich angehört, als…“

„Verdammt, Kai! Ich liebe dich!“, fauchte Tyson ihn zornig an. Seine Hände ballten sich zu zitternden Fäusten und noch immer blieb sein Gegenüber reglos. Kais Blick war starr geradeaus gerichtet. Er blinzelte nicht einmal mehr. Offenbar war sein Gehirn unfähig diesen Satz zu verarbeiten. Und als es dann soweit war, er endlich begriff, was ihm sein härtester Kontrahent da an den Kopf knallte, ließ die Reaktion nicht lange auf sich warten. Tyson konnte beobachten wie sein Atem stockte, die Augen sich immer mehr weiteten. Mit einem ungläubigen Ausdruck wandte Kai ihm langsam den Kopf zu.

„Was?“

Es kam ziemlich fassungslos.

Ein weiterer tiefer Atemzug entrang sich Tysons Kehle.

„Ich wollte dir das eigentlich gar nicht sagen. Zumindest nicht jetzt! Weil ich nicht der Meinung war, dass du schon bereit bist, um so etwas richtig zu verstehen. Aber das du so denkst – das macht mich einfach fertig!“, sprach er verzweifelt. „Die Wahrheit ist, ich fasse genauso wenig, wie deine Familie dich so behandeln konnte! Mir geht nicht in den Kopf, wie sie dich mit einer solchen Gleichgültigkeit strafen können. Ich würde das niemals tun!“

Kais Mund klappte auf. Doch Tyson sprach nur weiter, ungeachtet dessen, dass er genau wusste, dass seine Gefühle zum jetzigen Zeitpunkt auf Ablehnung stoßen würden. Er ahnte dass er einen Korb bekommen würde.

„Sie verdienen dein Vertrauen nicht. Ich dagegen würde alles dafür geben es zu besitzen! Das würde mir eigentlich schon reichen. Egal ob ich dich haben kann oder nicht…“

Der Wind fegte ein weiteres Mal zwischen ihnen hindurch. Selbst das Rauschen in den Baumwipfeln klang von der Parkanlage hinauf. Es war kaum zu übersehen, dass Tysons Liebeserklärung Kai sprachlos machte. Lange verharrte er reglos, seine Hand an die Stirn gehoben, als wäre er in seiner vorherigen Bewegung festgefroren. Nur das Blinzeln seiner Augen verriet Tyson, dass er nicht gänzlich zur Salzsäule erstarrt war. Eine unendlich lange Zeit passierte nichts. Irgendwann senkte Kai aber langsam seine Hand, als würde er allmählich aus seiner Betäubung erwachen.

„Tyson…“, es glich mehr einem Raunen. Dann wurde seine Stimme fester. „Ich… Ich weiß nicht was ich sagen soll. Das kommt doch ziemlich unerwartet.“

Er wandte ihm den Kopf ab, starrte entsetzt hinaus und da erhaschte Tyson die Vorboten einer heftigen Röte. Irgendwann schnalzte Kai missbilligend mit der Zunge.

„Warum sagst du so etwas?! Kannst du dir nicht denken, in was für eine blöde Lage du mich damit bringst? Wie soll ich mich denn jetzt verhalten, verdammt?!“

„Was du daraus machst ist deine Sache. Ich würde mir aber zu aller erst wünschen, dass du dich endlich besser fühlst. Zumindest das du erkennst, dass deine Familie deinen Wert unterschätzt. Und das es jemanden gibt, der dich liebt. Auch wenn sie es nicht tun… “

Kais Finger tippten angespannt auf den Geländer herum. Die Röte in seinem Gesicht blieb aber.

„Ich fühle mich anders. Auf jeden Fall ziemlich verwirrt. Ob das wirklich so viel besser ist weiß ich nicht.“, er seufzte schwer. „Ich habe keine Ahnung was ich nun sagen soll. Erwartest du etwa auch noch eine Antwort von mir?“

Tyson schaute nachdenklich zur Seite. Kai hätte eigentlich antworten können…

Aber er zog es offensichtlich vor zu schweigen. Das hieß kein Nein.

Ein Ja zwar auch nicht, aber vor allem kein Nein. Ein Vielleicht.

„Es ist okay wenn du weißt, was ich für dich fühle. Du musst mir nicht um den Hals fallen, oder mir überhaupt etwas dazu sagen. Ich habe keine Erwartungen an dich.“

„Okay, gut. Darüber muss ich wirklich nachdenken. So etwas bekomme ich nicht jeden Tag an den Kopf geworfen. Auch noch von meinem Rivalen. Das ist doch total verrückt…“

Da schmunzelte Tyson auch schon.

„Jetzt verkaufst du dich aber unter Wert. Ein hübsches Gesicht wie deines hat nicht umsonst so viele Fans.“

Kai zischte. Offenbar weil ihm dieses Kompliment peinlich war. Der Ton um seine Wangen wurde um einige Nuancen dunkler.

„Glaubst du ernsthaft ich bekomme so etwas oft gesagt? Auch noch von einem Jungen?!“

„Echt nicht? Na so etwas…“

„Spiel nicht den Blöden! Du weißt genau wie ich das meine.“

„Ich weiß. Ich ziehe dich nur auf.“, lächelte Tyson ihn sanft an. „Sieh es doch mal positiv. Du hattest die ganze Zeit Angst, ich könnte mein Wissen gegen dich verwenden. Jetzt hast du eindeutig die besseren Trümpfe gegen mich in der Hand.“

„Das ist wohl wahr…“, es kam sehr nachdenklich. Dann schielte Kai aus den Augenwinkeln zu ihm. „Ist dir klar dass ich dir damit böse mitspielen kann? Ich bin nach wie vor dein Gegner. Die Presse würde dich zerreißen, wenn sie davon erfahren würde, dass das Vorbild aller Kinder… so drauf ist.“

„Ich vertraue dir.“

Kai schaute nun direkt zu ihm. Seine Brauen waren grübelnd zusammengezogen. Das er nun ein Druckmittel gegen ihn hatte, schien ihn wieder sicherer werden zu lassen, auch wenn Tyson wusste, dass er niemals diese Karte gegen ihn ausspielen würde. Kai nutzte gerne Gelegenheiten, um seinen Erfahrungsschatz zu erweitern, doch das wäre unter seinem Niveau.

Er wollte den Titel – aber auf faire Art.

Das gebot schon alleine seine Sportlerehre.

„Wo nimmst du dieses Vertrauen in mich her?“

„Ich kenne dich.“

„Aber nicht lange genug, um dir so ein Urteil über mich bilden zu können.“

„Für dich sind es vielleicht zwei Jahre. Für mich ein ganzes Jahrzehnt.“, ein skeptisches Schmunzeln huschte um seine Mundwinkel. „Und jetzt mal ernsthaft – du warst noch nie sehr gesprächig. Erst recht nicht vor der Kamera. Ich kann mir kaum vorstellen, dass du über Nacht zur Quasselstrippe mutierst.“

Nun zuckten auch Kais Mundwinkel. Offenbar weil er das auch bezweifelte.

„Es bleibt unter uns.“, versprach er schließlich.

„Deine Geheimnisse auch.“

„Gut.“, einen kurzen Moment kehrte Stille ein. „Und… Du kannst mir wirklich nicht sagen, von wem du das alles weißt?“

Tyson schaute ihn lange an. Dann schüttelte er den Kopf.

„Tut mir Leid, aber nein.“

„Hast du es jemandem versprochen?“

„So gesehen nicht.“, überlegte er. „Aber es geht einfach ums Prinzip. Dieser Mensch der mir davon berichtet hat, hat es getan, weil er mir vertraut hat. Er wollte dass es im kleinen Kreis bleibt. Er hat es mir erzählt, damit ich dich besser verstehen kann… Ich würde niemanden verraten, der mir etwas im Vertrauen sagt.“, Tyson schaute ihn entschuldigend an. „Das gilt auch für dich.“

Sie blickten sich an. Er sah wie Kais Augen in seinem Gesicht nach Anzeichen forschten, die seine Worte als Lüge enttarnten. Doch schließlich schloss er sie resignierend.

„Na schön. Ich muss dir wohl glauben.“, dann sprach er leise. „Du hast dein Match verpasst. Meinetwegen.“

„Es war mir wichtiger hier zu sein.“

„Und was wirst du jetzt tun?“

„Gute Frage.“, Tyson stellte sich zu ihm ans Geländer. „Höchstwahrscheinlich werde ich gleich hinunter gehen und mir erst einmal von meinem Bruder eine Trachtprügel abholen. Danach gehe ich zu Daichi, der mir dir restlichen Zähne ausschlägt. Anschließend kommt Ray hinterher und verpasst mir einen Karatekick in die Eier, gefolgt von einer wütenden Meute Fans, die mich hinter ein Pferd spannt und es im vollen Galopp durch die Stadt treibt. Mr. Dickenson wird wahrscheinlich in seiner Limousine hocken und fröhlich hinterher hupen.“

Es war das erste Mal das Kai seit seinem Ausbruch lachte, auch wenn er zunächst versuchte, es zu unterdrücken. Doch das Bild in seinem Kopf schien zu lebhaft zu sein. Tyson musste ebenfalls grinsen. Einfach weil es wie Musik in seinen Ohren klang. Der Wind trug ihm Kais Geruch an die Nase. Irgendwie war es intensiver als vorher. Am liebsten hätte er ihn jetzt geküsst. Stattdessen meinte Tyson: „Was danach wird weiß ich noch nicht. Ich würde diese Weltmeisterschaft gerne etwas ruhiger angehen lassen. Ohne die ganzen Dramen.“

„Du klingst wie ein alter Mann.“

„So fühle ich mich auch.“

„Du bist sehr seltsam heute. Deine Ausdrucksweise, dein Verhalten… Sogar deine Worte klingen viel zu alt.“, Kai schaute ihn etwas befangen an. „Und dann auch noch dieses seltsame Geständnis.“

„Man wird eben älter.“, zuckte Tyson mit den Schultern. „Und man verliebt sich.“

„Aber nicht in so kurzer Zeit. Und so plötzlich…“

So plötzlich. Wenn Kai wüsste wie lange er wirklich gebraucht hatte…

Es ließ ihn zum Himmel schauen. Die Abendsonne war vor ihnen. Hinter ihnen verdunkelte es sich und der Mond war schon zu sehen. Unter anderen Umständen wäre das hier wirklich romantisch.

„Wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal gesehen?“, wollte Tyson wissen. Es wäre gut das so langsam zu wissen. Er war sich immer noch nicht sicher welches Datum sie hatten.

„Vor zwei Wochen.“, Kais Braue hob sich verwundert ob seiner Frage.

„Ooh…“, jetzt wurde ihm erst klar, wie seltsam sein Verhalten auf seine Freunde wirken musste. Sein Kopf hatte quasi innerhalb von wenigen Tagen einen Reifesprung von acht Jahren gemacht. Technisch gesehen war er jetzt sogar älter als sein großer Bruder. Tyson fuhr sich grübelnd übers Kinn. Etwas verstimmt kam ihm in den Sinn, dass er keinen Führerschein mehr besaß, und was noch viel schlimmer war – er bekam nur noch Taschengeld. Mit einem gequälten Stöhnen, ließ er den Kopf hängen.

„So eine verdammte Scheiße…“

„Was denn?“

„Ich denke nur an mein schönes Auto.“

„Dein Auto?“

„Ähm. Vergiss es…“

„Du bist echt merkwürdig.“, Kai schüttelte den Kopf, als wäre Tyson ein hoffnungsloser Fall. Dann dachte er noch einmal nach. Was immer ihm durch den Sinn ging, schien ihn sehr zu beschäftigen. Schließlich begann er vorsichtig: „Was hier oben war… Ändert es etwas über deine Meinung von mir?“

„Wie meinst du das?“

„Das ich weinen musste... Hältst du mich deshalb für einen Schwächling?“

Es war ihm noch immer unangenehm. Kai hatte wohl Angst seinen Respekt verloren zu haben. Um seine Mundwinkel lag ein Zug der sein Unbehagen darüber ausdrückte. Tyson blinzelte ihn an, doch dann huschte ein breites Grinsen über sein Gesicht. Dann beugte er sich zu ihm vor. Noch bevor Kai wusste, wie ihm geschah, erstarrte er perplex, als Tysons Lippen seine Wangen trafen.

„Dazu bist du viel zu hübsch wenn du weinst.“, hauchte er ihm gegen die Haut. Kai zuckte zurück.

„Bist du verrückt?!“, rief er aus.

„Nein, nur verliebt. Manchmal ist das aber auch dasselbe.“

Damit wandte Tyson sich ab, ignorierte den geschockten Ausdruck auf Kais Gesicht. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sein Kopf nun puterrot war. Die Hitze schoss Kai so schnell in die Wangen, dass Tyson es auf seinen Lippen hatte schmecken können.

„Ich kann dich immer noch nicht ausstehen, Kinomiya!“, fauchte Kai ihm zornig hinterher. „Und bei unserem Match werde ich dich auseinandernehmen! Glaub nicht ich würde Rücksicht auf deine albernen Gefühle nehmen!“

„Das will ich für dich hoffen, sonst halte ich dich doch für ein Weichei.“

„Nimm dich in Acht! Ich hole mir dieses Jahr den Titel!“

„Schon okay. Ich stehe auf Herausforderungen.“

Seine Stimme klang zweideutig. Und trotz seines Alters verstand Kai den Wink…

„Da kannst du warten bis du schwarz wirst!“

„Sag das lieber nicht so laut. Man weiß nie was die Zukunft bringt.“, grinste Tyson über seine Schulter hinweg. „Immerhin bin ich eine Kämpfernatur, Krümel.“

„Krümel?!“, blinzelte Kai verwirrt. Doch da öffnete Tyson schon die Tür, ließ ihn ohne eine Antwort auf dem Dach zurück. Er schritt mit den Händen in den Hosentaschen die Treppen hinab, sich insgeheim versprechend, nichts unversucht zu lassen, um auch in diesem Leben Kai für sich zu gewinnen. Denn wie gesagt, bisher war kein Nein gefallen. Wäre Tyson nicht so sehr mit seinen Plänen beschäftigt gewesen, hätte er bemerkt, dass Kais Röte im Gesicht etwas sonderbar wirkte, ja, geradezu unmenschlich. Seine Wangen glühte förmlich, als würde ein Magmastrom darunter fließen - wie bei einem Phönix der in Flammen stand.
 


 

*
 

Etwas später war Tyson im Erdgeschoss angekommen. Alles hier unten war nun menschenleer. Dafür war die Halle wohl umso überfüllter. Zunächst zielte Tyson auf einen der Flure an, der seiner Erfahrung nach in die Arena führte. Doch kurz bevor es hinaus ins Rampenlicht ging, hielt er noch einmal Inne. Irgendwie fühlte er sich zu alt für den Scheiß…

Die vollen Zuschauerränge da oben. Das ständige Blitzgewitter. Alles war so laut. Tyson rieb sich über die Schläfe. Ihm kam es vor, als würde er sämtliche Gerüche, Geräusche und Bewegungen viel intensiver wahrnehmen, als früher.

„Tust du auch…“

Dieses Mal klang die Stimme nicht aus seinem Kopf. Tyson wandte sich um, schielte in den verlassenen Flur. Doch bald machte er den Ursprung der Stimme aus. Sein Schatten. Er sah irgendwie sonderbar aus…

Als ob er ihm nicht gehörte. Und als wäre das nicht schon seltsam genug, besaß er auch noch Augen. Nur wenn sie blinzelten wurde der Schädel gänzlich schwarz. Es hatte etwas von einem überdimensionalen schwarzen Lebkuchenmann, dem man ein Satz Augen verpasste, indem man mit den Finger zwei Löcher ins Gesicht bohrte. Doch wenn man ganz genau hinschaute, erhaschte man die hauchdünnen Schlitze von Dragoons echsenhaften Pupillen, die hellblau hervorstachen. Tyson starrte darauf.

„Von der Kopfstimme zum Schatten?“, bemerkte er leicht unterkühlt.

„Ich bin selbst noch am Experimentieren.“, Dragoons Mund war also auch zu sehen. Ein weiterer Spalt tat sich immer dann auf wenn er sprach. „Immer noch eingeschnappt?“

„Teilweise. Ich weiß nicht was ich von dieser Verbindung halten soll.“

„Ich genauso wenig.“

„Das meine Gründe sich von deinen Unterscheiden ist ja wohl klar, oder?“

Er hörte einen tiefen Atemzug von seinem Schatten.

„Nun, ich kann dir dein Misstrauen wohl kaum übel nehmen. Allerdings werde ich nicht vor dir zu Kreuze kriechen und um Vergebung winseln.“

„Das erwarte ich auch nicht.“

„Und was ist dann dein Problem?“

Tyson verschränkte die Arme vor der Brust und schielte zu der Wand neben ihn, von wo aus sein Bit Beast ihn erwartungsvoll anschaute.

„Du hast dich nie richtig dafür entschuldigt.“

„Ich sagte dir bereits, dass ich nicht betteln werde.“

„Es hat nichts mit betteln zu tun, wenn man ein einfaches Entschuldigung von sich gibt! Das zeugt vom guten Willen sich zu bessern. Ich habe mich in der Irrlichterwelt dafür entschuldigt dass ich dich vernachlässigt habe. Was kam aber bisher von dir?“

„Ist dir das so wichtig?“

„Wenn du so blöd fragst, hast du deine Lektion nicht gelernt. Woher soll ich wissen ob ich dir vertrauen kann, wenn du deine Fehler von früher nicht einmal einsiehst? Dann kann man ja nie einen Schlussstrich unter unseren Streit ziehen.“

Eine ganze Weile blinzelte Dragoon zu ihm herüber.

„Das klingt furchtbar menschlich. In der Natur hat immer der Stärkere recht.“

„Wolltest du menschlicher werden, oder nicht?“

„So viele komische Regeln.“, sein Schatten schüttelte den Kopf. „Wie dem auch sei. Es tut mir Leid was ich getan habe. Du brauchst keine Angst haben, dass ich noch einmal auf so eine dämliche Schnappsidee komme.“

„Na bitte. Es geht doch.“, murrte Tyson. „Dann wäre das auch endlich geklärt.“

Aus der Arena kam ein Raunen. Vom Flur aus konnten beide nicht in das tiefer eingelassene Stadium sehen, deshalb wusste keiner so Recht, welche Attacke dem Publikum den Atem anhielt.

„Wie wird das jetzt in Zukunft weitergehen? Wirst du ein Schatten bleiben?“

„Bisher verschafft mir dieser Zustand am meisten Abstand von dir.“, die Schlitze huschten zur Seite. „Nicht das ich mich beschweren will, aber etwas mehr Privatsphäre käme auch mir gelegen.“

„Damit stehst du sogar nicht alleine da.“

Tyson schaute zu Ray. Weit oben auf der Arena und ihm den Rücken zugewandt, rief er seinem Blade die Attacken zu. Da kam ihm ein Gedanke.

„Wie soll Ray Driger beschwören, wenn er noch in ihm nistet?“

Die Antwort fiel äußerst dürftig aus.

„Ich habe keine Ahnung…“

Als Tyson seinen Schatten mit hochgezogener Braue anschaute, hob der entschuldigend die Hand.

„Was willst du von mir hören? Ich habe dir schon gesagt, dass das hier auch für mich Neuland ist. Wonach wir gegriffen haben war der letzte Strohhalm. Eine Verschmelzung die es so nicht geben dürfte. Es ist widernatürlich.“, Dragoon schien auch zur Arena zu schauen, wenngleich man das in seiner Situation schlecht beurteilen konnte. Immerhin konnte Tyson mit Sicherheit sagen, dass er nun ebenfalls die Arme verschränkte. „Ich kann dir weder sagen, wohin das führen wird, noch ob es gut ausgeht. Wir werden versuchen müssen das Beste aus dieser Situation zu holen. Ein fehlendes Bit Beast während einem Match, wird da das kleinere Übel sein.“

Die Menge hob es von den Sitzen. Eine Attacke musste besonders heftig gewesen sein.

„Vielleicht kommt Driger. Vielleicht auch nicht. Vielleicht wird Ray mit seiner neugewonnen Kraft, die ganze Arena in Schutt und Asche legen. Wer weiß? Unser Ziel geht nun weit über einen Weltmeistertitel hinaus, Takao. Dessen musst du dir bewusst sein…“

„Das brauchst du mir nicht sagen. Ich würde alles tun um diese Welt zu schützen. Aber vor allem die Menschen die mir wichtig sind.“

„Dann kannst du damit leben, wenn dir der Titel durch die Krallen geht?“

„Gibt ja wohl wirklich schlimmeres…“

„Hut ab. Ich hätte dir so viel Weitsicht nicht zugetraut.“

Einen Moment schauten beide stillschweigend zur Arena. Es war seltsam das alle Anwesenden in dieser Halle nicht ahnten, wie knapp sie ihrer Vernichtung entkommen waren. Auf einmal kamen Tyson seine alten Probleme so trivial vor.

„Wirst du noch einmal hinein gehen?“, wollte Dragoon wissen.

„Ich weiß nicht. Ich will irgendwie nachhause.“, Tyson schaute müde zur gläsernen Kuppel hinauf. Dort oben war das Abendrot. Vielleicht war Kai auch noch auf dem Dach und schaute zu den Menschen herunter. Bei dem Gedanken an ihn, musste Tyson kurz lächeln. „Ich möchte unseren Dojo sehen. Mein Zuhause. Opas Bonsaibäume im Garten. Den Geruch von den Azaleen vor der Veranda genießn. Das Geräusch vom Wasserspiel in unserem Teich hören. Die alten Familienfotos an der Wand anschauen... Ich will mich auf unsere Holzveranda legen und in den Sternenhimmel blicken, während draußen die Grillen zirpen. Ich will mich einfach an meinem wunderschönen Zuhause erfreuen. Dann kann ich vielleicht dieses Bild vergessen. Diese staubigen Ruinen unter der Vulkanasche...“, er senkte die Lider, tat einen tiefen Atemzug. „Und ich bin müde. So unglaublich müde. Es war eine furchtbar anstrengende Zeit.“

Dragoon brummte leise. Es klang zustimmend.

„Ich bin auch müde. Wer weiß welche Kämpfe wir in der Zukunft noch austragen müssen? Da würde nichts gegen etwas Schlaf sprechen.“, er gähnte lautstark. „Und wo könnte sich ein Drache besser hinlegen, als in deinem Zuhause? Es hat mir dort immer schon sehr gut gefallen.“

Tyson lächelte. Schließlich wandte er sich von der Arena ab.

„Hier scheint alles friedlich zu sein. Lass uns nachhause gehen…“
 


 

*
 

Sieben Jahre später…
 

Jana Hiwatari saß auf ihrem kleinen Stuhl und ließ die Beine baumeln. Sie hielt die Händchen brav vor sich auf dem Kinderpult gefaltet, denn auf keinen Fall wollte sie bei ihrer Lehrerin schlecht auffallen. Ihr Bruder behauptete ständig dass sie zappelte. Deshalb riet ihr Kai, die Hände auf dem Tisch zu lassen und einfach nur nach vorne zu schauen. Das war auch kein Problem, weil bisher noch keiner der Jungen aus ihrer Klasse es wagte, sie an den Haaren zu ziehen. Wenn das trotzdem passierte, sollte Jana ihnen sagen, dass morgen ihr großer Bruder in die Schule kommen würde, um dem Rüpel eine fiese Kopfnuss zu verpassen, der die Frechheit besaß, seine Schwester auch nur mit der Fingerspitze anzutippen. Im Kindergarten hatte das auch geholfen. Alle Jungs bekamen Angst, wenn ihr großer Bruder sie schief anschaute. Sie nannten Kai immer: „Den mit dem Killerblick.“
 

Jana schaukelte fröhlich mit den Beinen. Seit drei Wochen ging sie nun in die erste Klasse der Takeda Shingen Elementary School. Mittlerweile gefiel es ihr sehr gut. Sie hatte ganz viele neue Freundinnen gefunden, einige kannte sie sogar noch aus der Vorschule und Fräulein Bennett war ganz lieb. Jana mochte sie sehr. Sie war eine hübsche Lehrerin und unglaublich freundlich. Als Jana während der Pause einmal vom Klettergerüst stürzte, hatte sie ganz furchtbar geweint, da war Fräulein Bennett sofort angerannt gekommen, um ihr die Wunde sauber zu machen und ein Pflaster auf das blutende Knie zu drücken. Fräulein Bennett kam aus dem Ausland. Es war dasselbe Land wo auch der Freund von ihrem großen Bruder herkam. Der war genauso blond wie Fräulein Bennett. Manchmal holte er Jana sogar von der Schule ab, um ihre Lehrerin abzuchecken. Jana wusste nicht was das bedeutete, aber weil Max dabei so grinste, war sie ziemlich sicher, dass es etwas Gutes war. Fräulein Bennett kicherte dann immer sehr viel. Eines Tages wollte Jana auch so eine fröhliche Lehrerin werden…
 

Es klingelte. Fräulein Bennett beendete mit einem zuversichtlichen Händeklatschen den Unterricht und wünschte allen Kindern noch ein schönes Wochenende. Geradezu überschwänglich verabschiedete sich Jana von ihren Freundinnen und packte ihre Sachen schnell zusammen. Ihr großer Bruder hatte versprochen, mit ihr heute in den neuen Freizeitpark zu gehen. Als eine der ersten rannte sie zum Treppenhaus. Sie war sogar schneller als die Jungs aus den höheren Klassen. Auf den letzten Stufen zur Eingangshalle, tat sie einen ganz gewaltigen Hüpfer, der ihrer Meinung nach rekordverdächtig war. Irgendwann würde sie dafür ins Fernsehen kommen, da war Jana ganz sicher.

„Nicht so schnell, Kleines. Der Freizeitpark läuft dir nicht davon.“

Jana strahlte bis über beide Ohren als sie Kai erblickte. Er stand schon im Eingangsbereich, wahrscheinlich weil es draußen ein wenig nieselte. Die anderen hatten deshalb ausgelacht, weil Jana ihnen doch erzählte, dass sie heute noch in den Freizeitpark gehen würde. Doch ihr Bruder meinte heute Morgen beim Frühstück, das es wie an ihrem Geburtstag werden würde. Da regnete es auch die Tage zuvor wie aus Eimern, doch wenige Stunden bevor ihre Feier losging, war ganz schnell die Sonne herausgekommen. Es wurde so warm, dass einige Kinder sogar ihre Pullover ausziehen mussten, weil sie so schwitzten. Jana war die Einzige die damals in ihrem liebsten Sommerkleidchen und ihrer Sonnenbrille dasaß, während sie ihren Erdbeereisbecher löffelte. Und das im Februar…

Ihr großer Bruder wusste immer ganz genau wann schönes Wetter war. Jana nannte das seine Superkraft. Manchmal brauchte Kai nur hinaufzuschauen, dann verschwanden die Regenwolken. Bestimmt hatten die auch Angst vor seinem Killerblick…

Jana wusste gar nicht, warum ihn alle so fürchteten, denn zu ihr war er immer ganz brav. Genau wie heute. Er holte Jana immer von der Schule ab, obwohl Kai sehr wichtig in seiner Firma war. Sie wusste allerdings nicht genau was ihr großer Bruder dort tat. Wenn sie morgens zusammen in der Limousine losfuhren, zeigte sein Assistent ihm immer ganz viele Blätter. Manchmal malte Kai dann etwas darunter. Er nannte es eine Unterschrift. Vielleicht war er ein Künstler?

Obwohl Jana das nicht wirklich verstand. Ihr großer Bruder konnte vieles - Malen aber nicht.

Wenn sie ihn bat, ihr einen Hasen zu malen, sah der immer aus wie ein geplatztes Kopfkissen.

Nichtsdestotrotz rannte sie mit wehenden Zöpfen auf ihn zu, sprang an Kai hoch und bettelte um eine Umarmung. Er lächelte, drückte sie an sich. Jana war so aufgeregt weil er da war, dass sie beinahe vergessen hätte, an ihren Spint zu gehen, um ihre Straßenschuhe anzuziehen. Erst als Kai sie daran erinnerte, rannte sie nochmal zurück und tauschte eiligst ihre Schuhe aus. Dann lief sie zu ihrem Bruder, griff nach seiner Hand und winkte ihrer Freundin Momo zum Abschied zu. Am Wochenende übernachtete Jana manchmal bei ihr in der Nähe. Dann spielte sie jeden Tag zusammen. Sie hüpften dann Seil, malten Bilder, versuchten sich gegenseitig zu fangen oder sangen in ihrer eigenen Rockband. Jana wollte auch Sängerin werden und Momo war ihre aller beste Freundin.

Die anderen Kinder wurden von ihren Eltern abgeholt. Sie sah wie viele ihre Klassenkameradinnen zu ihren Müttern rannten. Früher wäre Jana traurig geworden. Aber die anderen Mädchen meinten einmal zu ihr, dass sie die Einzige in der Klasse sei, die von einem großen Bruder abgeholt wurde, der so gut aussah – und auch noch nett zu ihr war.

Die Brüder der anderen Mädchen waren manchmal ganz fies oder nervten. Der von Momo hatte ihr einmal eine Kaulquappe in den Schuh gesteckt. Als Jana das hörte, war sie überglücklich, dass sie ihren Kai hatte. Er war der beste Bruder auf der ganzen Welt. Beide liefen gerade durch das Schultor hinaus, während Jana ihm davon erzählte, was sie heute alles erlebt hatte. Besonders die Geschichte mit der dicken grünen Raupe, auf dem Fenstersims ihres Klassenzimmers, fand Jana besonders erzählenswert. Es war Frühjahr. Die ersten bunten Blumen blühten am Gehwegrand. Jene die Jana besonders schön fand, hob sie auf, um sie mit Heim zu nehmen. Tante Mao hatte ihr einmal gezeigt, wie man sowas zwischen Bücher presste, dann blieben die Blumen ganz platt und lange schön.

„Hey, kleiner Hamster!“

Janas Blick huschte vom Gehwegrand weg, dann ließ sie vor Freude die Blumen fallen und rannte auf ihren anderen Bruder zu. Der war nicht ihr richtiger Bruder, aber Jana hatte ihn so gern, als wäre er ein echter Bruder. Sein Name war Takao. Er kümmerte sich ganz oft um sie, wenn Kai auf der Arbeit war und sie mal nicht von der Schule abholen konnte. Bei Takao zuhause wohnte auch sein Opa. Der war richtig lustig, weil er viele verbotene Wörter sagte, vor allem wenn ihm etwas auf den Fuß fiel. Er schimpfte immer über seinen Jungen, weil der nicht so fleißig wie Kai war. Großvater sagte immer zu Jana, dass sie niemals Takao als Vorbild nehmen dürfe, denn er habe nur Stroh im Kopf. Aber eigentlich schien er ihn doch ganz gern zu haben. Ihr großer Bruder anscheinend auch. Er war sehr oft bei Takao, vor allem am Wochenende. Das war schön, weil Jana dann mit Momo spielen konnte.

„Kommst du mit uns in den Freizeitpark?“, wollte sie inzwischen wissen.

„Natürlich.“

„Toll! Aber du, Tyson… Es regnet ein wenig.“

„Och, dass bisschen...“, er zwinkerte ihr zuversichtlich zu. Dann hielt ihr Takao die Tür von seinem Wagen auf und schon kletterte Jana auf den Rücksitz. Während er sie anschnallte, stieg Kai auf der Beifahrerseite ein. Mit Takao eine Spritztour zu machen, war richtig lustig, weil er immer ganz schnell raste. Onkel Max meinte sogar er sei ein richtiger Sonntagsfahrer.

„Schlaf aber nicht auf der Fahrt zum Freizeitpark wieder ein.“, ermahnte Takao sie lächelnd.

„Mach ich nicht!“, Jana schüttelte wie wild den Kopf. Er kniff ihr grinsend in die Backen. Dann nahm er neben ihrem großen Bruder Platz und ließ den Motor aufheulen. Das Auto hinter ihnen hupte, weil Takao sich so knapp in die Straße einfädelte. Es ließ Jana kichern.

Und weil sie gluckste, mussten auch die beiden Männer grinsen. Während der Autofahrt unterhielten sie sich. Hauptsächlich darüber wo sie die anderen treffen würden und das es traurig war, dass Ray seinen Urlaub, dieses Frühjahr nicht bei ihnen im Ausland verbringen konnte, weil doch Tanta Mao so schrecklich fett geworden war. Jana fragte sich, ob sie wieder abnehmen würde, wenn der Storch das Baby brachte. Das hoffte sie zumindest, weil ihr Onkel Ray und Tante Mao fehlten. Sie brachten immer Süßigkeiten mit, wenn sie zu Besuch waren und wunderhübsche Haarspangen. Jana hatte schon sehr viele davon. Sie trug jeden Tag eine andere. Dafür kamen aber Max und der komische Onkel mit der dicken Brille mit. Er erinnerte Jana immer an Momos kleinen Skye Terrier, weil ihm seine Haare ständig vor die Augen fielen. Wenn ein Mädchen ihn ansprach, gab er auch genauso komische Laute von sich, wie Momos Hund, wenn man mit ihm schimpfte. Während die Großen im Auto sich unterhielten, schaute Jana immer argwöhnischer hoch in den Himmel. Die dicken Wolken wollten einfach nicht verschwinden.

„Kai, es regnet noch immer.“

„Das ist kein Regen. Bestenfalls Nieselregen.“

„Aber Kai…“, sie zog einen Schmollmund, konnte sehen, wie Takaos Augen im Rückspiegel zu ihr huschten. „Du hast mir mal gesagt, dass für mich immer die Sonne scheinen wird.“

„Tut sie doch auch. Ab und zu kommt sie raus. Ehrlich Kleines, diese winzige Wolke und die kleinen Tropfen werden dich nicht umbringen. Es ist so warm wie im Sommer.“

„Aber Regen ist doof.“

„Die Natur braucht den aber genauso wie Sonnenschein.“

„Kann sie ja auch haben. Nur nicht heute!“

„Es gibt wirklich Schlimmeres.“

„Was denn zum Beispiel?“, sie verschränkte eingeschnappt die Ärmchen vor der Brust. Ihr Bruder schnalzte genervt mit der Zunge. Jana hasst es wenn er das tat. Vor allem wenn er dann nebenbei eine Zeitung las. So wie jetzt. Dann wusste Jana dass er ihr gleich einen Vortrag halten würde. Vorträge waren wie Schimpfen.

„Sehr vieles sogar. Arm zu sein, hungern zu müssen. Ein zerstörtes Zuhause. Ein schrecklicher Vulkanausbruch. Oder das man nicht so gesund auf die Welt kommt wie die anderen Kinder. Mit einem schlimmen Herzfehler zum Beispiel. Du dagegen bist so kerngesund, dass dir die paar Tropfen nichts ausmachen werden.“

„Immer dasselbe mit dir. Immer sagst du sowas.“, Jana schaute mit großen Hundeblick zum Fahrer. Der rollte schon die Augen wegen Kais düsteren Schilderungen. „Tyson… Kannst du deinen Zaubertrick machen?“

„Hmm?“

„Denk nicht einmal daran.“, ermahnte Kai ihn flüsternd.

„Bitte, bitte!“, rief Jana aber aus. Jetzt zog sie einen richtig dicken Schmollmund, einfach weil sie wusste, dass Takao ihr dann nichts abschlagen konnte. Er nannte sie immer seinen kleinen Hamster. Manchmal sogar seine Prinzessin. Takaos Augen ruhten ganz lange auf ihr. Er hatte ganz komische Pupillen, aber das störte sie nicht. Immerhin schaute er mitleidig.

„Ach komm schon, Kai.“

„Tyson, das ist kein Spielzeug.“

„Wir machen doch nichts Schlimmes... An ihrem Geburtstag hast du es doch auch getan.“

„Sie wird verwöhnt.“

„Wundert dich das? Sieh sie dir doch nur einmal diese Knopfaugen an! Als würde man zu einem Korb voller Welpen nein sagen.“

Ihr Bruder schnalzte wieder. Er senkte seine Zeitung, schielte über seine Schulter zu ihr nach hinten.

Sie setzte ihren traurigsten Hundeblick auf.

„Ach verdammt…“, murrte er. Endlich bekam sie ihren Willen.

Wenn Kai gleich das tun würde, worum man ihn bat, müsste er nicht ständig dieses böse Wort benutzen. Es war eben nicht immer einfach mit ihrem großen Bruder. Doch die Frau von Onkel Hiro meinte dazu, dass man Männer eben erziehen müsse, bevor sie anfingen mit ihrer Unterhose auf der Couch zu liegen und sich die Eier zu kratzen. Das machte ihr Bruder zum Glück nicht. Jana wusste auch gar nicht weshalb Kai das tun sollte, denn wenn sie gemeinsam frühstückten, klopfte er immer mit einem kleinen Löffel gegen sein Ei. Das schien mehr zu bringen als zu kratzen. Jana wusste das so genau, weil sie eingehende Recherchen darüber geführt hatte.

„Komm schon, Kai.“

„Na gut…“, seufzte der resignierend an Tyson gewandt. „Jana, du weißt ja was du machen musst, damit der Trick funktioniert.“

„Ja!“, rief sie glücklich aus. Die Finger mussten in die Ohren. Die Augen ganz fest zu gekniffen werden. Und sie musste bis zwanzig zählen. Nur gut das sie das auch endlich konnte. Kai nannte es nämlich die Voraussetzung damit der Zaubertrick auch wirklich klappte. Jana zählte artig bis zwanzig.

Und als sie fertig war und die Augen aufschlug, war endlich strahlender Sonnenschein draußen.

„Wie macht ihr das nur immer?“, fragte sie überglücklich.

„Geheimnis.“, kam es unisono von vorne. Das war richtig gemein. Kai sagte immer, dass jeder Mensch seine Geheimnisse hatte. So etwas müsse man respektieren, aber Jana war nun einmal so furchtbar neugierig. Als die Großen wieder miteinander redeten, öffnete sie ihre Schultasche und kramte nach den Keksen, die sie jeden Morgen aus der Küche stibitzte. Ihre Finger brachen Stück für Stück ab, schoben die Brösel in die Tasche ihres Mäntelchens, wo zwei kleine Ärmchen hervorguckten und sich gütlich an der Leckerei bedienten.

„Höchsten Dank, Mademoiselle!“, hörte sie das leise Fiepen darin. Jana war so vertieft in ihrem Vorhaben, dass sie gar nicht bemerkte, wie vorne schmunzelnde Blicke ausgetauscht wurden. Dann griff Tyson nach Kais Hand und fuhr mit seinem Daumen, über die Haut zwischen seinen Fingern.
 


 

ENDE
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das letzte Kapitel hat leider einige Rechtschreibfehler, weshalb ich es demnächst noch einmal gründlich überprüfen muss. Tut mir Leid falls es deshalb etwas lieblos wirkt, aber ich wollte die FF endlich als abgeschlossen sehen.

Danke für all die lieben Kommentare die ich erhalten habe. Vor allem jene Leser die wirklich die Ausdauer besessen haben, um mir beinahe zu jedem Kapitel ein paar Worte da zu lassen. Ich hatte echt das Glück, auf User zu treffen, die sich wirklich bemühen, mehr als ein oder zwei lieblose Sätze da zu lassen. Da ich selber nur schlecht Kommentare verfassen kann, weiß ich wie anstrengend das sein kann.

Diese FF war wirklich ein hartes Stück Arbeit, besonders durch die Schreibblockade zwischen drin und ich bin ehrlich gesagt doch froh, dass sie nun beendet ist, auch wenn die Fortsetzung dazu wohl nur ein Wunschgedanke bleibt. Ansonsten lest ihr von mir höchstwahrscheinlich nur noch One Shots. Daher noch einmal vielen Dank und vielleicht liest man sich noch einmal, in der unendlichen Weite von Animexx.

LG Eris ^_~ Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Wolkenherz
2018-04-08T00:15:32+00:00 08.04.2018 02:15
Liebe Eris,
ich habe diese Fanfiction verschlungen! Ich muss zugeben, dass ich nicht die allergrößte Leseratte bin, die womöglich schon trilliarden Bücher durch hat. Aber diese Geschichte hier konnte ich absolut nicht aus der Hand legen! Ich bin froh, dass ich sie erst jetzt entdeckt habe, wo sie gerade abgeschlossen ist. Ich glaube, es hätte mich jedes Mal ein kleines bisschen umgebracht, auf's nächste Kapitel warten zu müssen :D An dieser Stelle ein riesiges Kompliment und großer Respekt, dass du es all die Jahre durchgezogen hast! Ich hab in einem Nachwort irgendwann gelesen, dass du es eigentlich gar nicht mehr weiterschreiben wolltest. DANKE!!! Tausend Dank, dass du diese Fanfiction fertig gestellt hast. Sie ist wundervoll!!

Dein Schreibstil ist einfach unglaublich. Man kann sich zu jeder Zeit zu hundert Prozent in die Charaktere hineinfühlen. Du hast ja häufig mal ein wenig die Perspektiven gewechselt, so dass der Schwerpunkt mal abwechselnd auf den verschiedenen Charakteren lag - und selbst dann konnte man sich in ALLE anwesenden Charaktere hineinfühlen, nicht nur in den in diesem Moment im Mittelpunkt stehenden. Was habe ich an so vielen Stellen gelacht, geweint, Panik geschoben - ich muss für andere Menschen ausgesehen haben wie eine Irre. Zum Beispiel die Stelle, als die Jungs in diesem engen Stollen unterwegs waren und du Tysons Empfindungen geschildert hast, da ging mir echt der Arsch auf Grundeis. Schweißausbrüche, flache Atmung, alles dabei. Richtig schlimm war es dann natürlich an den Stellen, als es mit den einzelnen Protagonisten Zugrunde ging. Ich habe geheult wie ein Schlosshund, mein Herz brach bei jedem einzelnen in tausende kleine Stückchen. Da denkt man gerade, dass das Schlimmste endlich vorbei ist, denn unsere Helden sind wieder in ihrer Welt – und dann wird man dermaßen „von der Skyline zum Bordstein zurück“ GESCHMETTERT. Wahnsinn!

Ich muss zugeben, dass mich die Entwicklung zwischen Kai und Tyson zunächst etwas überrascht hat - ich fand einfach die Thematik der Ficition sehr interessant und hatte einfach mit dem Lesen losgelegt, ohne auf die Tags zu achten - hoops. Umso schöner finde ich es, wie du auch dies beschrieben hast. Hier wurde einem nicht die Homokeule um die Ohren gehauen, wie es zugegebener Weise oftmals in anderen Fanfictions zu solchen Serien der Fall ist. Dieser sanfte Beginn, dass man es nur ganz langsam erahnen konnte und die beiden selbst, jeder für sich, erstmal hinter diese Gefühle steigen mussten. Ganz große Klasse! Denn um der Wahrheit ins Gesicht zu blicken, ist es in der heutigen Gesellschaft noch lange nicht "normal" homosexuelle Gefühle zu haben. Von daher fand ich es unglaublich angenehm, mich in Tysons und Kais Verwirrung und Unsicherheit hineinzulesen.

Außerdem ist es bemerkenswert, wie treu du den Figuren im Sinne des Charakters geblieben bist. Ich könnte sie mir für die Zukunft nach dem Untergang der Bega echt nicht besser vorstellen. Und zwar allesamt, auch die Nebenfiguren. Und mitsamt ihrer teilweise untypischen Seiten, die eher selten ans Tageslicht kommen, bist du stets dem Charakter der jeweiligen Personen treu geblieben (z.B. Tysons Ernsthaftigkeit, Max's Wut, Kais Sanftmütigkeit und Ray's Aggressivität). Die erdachten Charaktere fand ich im Übrigen auch alle sehr passend getroffen.

Die Handlung ist der absolute Wahnsinn. Aus einer so einfachen Jugendserie eine dermaßen aufregende Geschichte zu zaubern verdient großen Respekt. Da kann ich jetzt auch gar nicht genauer werden, welche Handlungsstränge mir am besten gefallen haben, denn dann würde ich damit enden, eine Zusammenfassung der ganzen Geschichte niederzuschreiben.
Studierst du etwas in dieser Richtung? Oder ist das Schreiben einfach nur ein Hobby? Ich glaube, wenn du die Namen und die Handlung um die Serieninhalte selber etwas abändern würdest, könntest du diese Geschichte als Buch verkaufen. Ich würd's kaufen :)
Zusammenfassend kann ich zu deiner Interpretation nur sagen: Ich LIEBE sie! Dieser Fan-Roman ist fortan meine Bibel in Sachen Beybladegeschichte. Vielen lieben Dank für dieses wunderbare Abenteuer!

Ganz ganz liebe Grüße,
wolkenherz
(Funfact: ich habe mich nur bei Animexx angemeldet, um dir diesen Kommentar zu schreiben :D)

ps.: ich habe gerade einen Blick auf den vorigen Kommentar erhascht und habe gesehen, dass du Ideen zu einer Fortsetzung hast. *-* Falls du ja mal unheimlich viel Lust (und natürlich Zeit und Ernergie) dazu versprüren solltest, würde ich mich – und sicherlich so einige andere noch – sehr darüber freuen, etwas in der Richtung zu lesen. Es würde mich tatsächlich unheimlich interessieren, wie es mit den Kräften für die Jungs weitergeht. Wow ich werd ganz kribbelich und aufgeregt wenn ich nur darüber nachdenke :D
Antwort von:  Eris_the-discord
23.10.2018 21:45
Hallo Wolkenherz,

tut mir wirklich Leid, dass ich mich erst jetzt für deinen lieben Kommentar erkenntlich zeige. Ich hatte mir fest vorgenommen, wenigstens beim letzten Kapitel so höflich zu sein und mich - gerade bei einem so ausführlichen Kommentar - zu bedanken, doch irgendwie fliegt die Zeit davon und ständig hinke ich wie auf Krücken hinterher. Gott, in den Läden verkaufen die schon wieder Weihnachtsgebäck. Spinnt die Welt oder ich? >_<

Jedenfalls, ich bin wirklich baff von dem Feedback was ich bekomme, obwohl die FF noch nicht einmal ordentlich überarbeitet ist. Als ich mit dem letzten Kapitel fertig war, wollte ich noch viele Ausbesserungen vornehmen, da mir mein Schreibstil zu Anfang sehr holprig vorkommt, auch üble Rechtschreibfehler enthält. Selbst da liege ich leider seit Monaten zurück. Deshalb freut es mich umso mehr, dass selbst diese - für mich persönlich - rohe Fassung gut ankommt.

Besonders freut mich wenn du der Meinung bist, dass die "Homokeule" im Schrank geblieben ist. Eine langsame, vor allem vorsichtige Annäherung war mir wichtig, weil mir alles andere (leider) zu unrealistisch vorkommt. Ich glaube das es nach wie vor schwierig ist, wenn Homosexuelle zu ihren Gefühlen stehen wollen und das es mit vielen Unsicherheiten, Zweifeln und Ängsten verbunden bleibt. Dass die Charakteren für dich nicht OOC geraten sind, ist für mich die Kirsche auf dem Sahnehäubchen, da ich oft gedacht habe: "Okay, jetzt gehst du zu weit. Das würde der niemals so sagen."
Da bin ich froh noch nichts dergleichen gehört zu haben.

Übrigens ist es auch nur ein Hobby und ich habe nichts in dieser Richtung studiert. Aber wenn ich solche Kommentare lese, kribbelt es mir wirklich in den Fingern, nochmal eine Fortsetzung anzufangen, ganz ehrlich. Ich habe nur leider die Befürchtung, dass ich dann solchen Mist tippe, dass es besser gewesen wäre, meine Finger still gehalten zu haben. Es heißt ja, dass Fortsetzungen ihre Vorgänger killen. >.<

Jedenfalls vielen lieben Dank für deinen Kommentar und das du dir die Zeit genommen hast, in die FF hineinzuschauen. ^^

LG Eris
Von:  jasuminu
2018-02-23T21:17:36+00:00 23.02.2018 22:17
Neeeeeinnnnnn die Geschichte ist zu Enddeeeee T.T
Was soll ich denn jetzt machen...ich habe diese FF immer mit so viel Spannung verfolgt und ich wurde NIEMALS enttäuscht!
Danke für dieses Meisterwerk *heul*

Ach Eris, tut mir leid ,mein Kommentar ist längst überfällig.. Also was soll ich sagen....Verbesserungsvorschläge? Da hab ich wirklich absolut keine. Du bist die Perfektion in Person, was das Schreiben angeht. Ich denke sogar eine bessere FF wie diese, wirst du nicht mehr hinbekommen. Nicht falsch verstehen, deine One Shots sind grandios (besonders die aktuelle), aber sie kommen nunmal nicht an diesen Schinken heran. Ich mein , du hast uns wirklich alles geboten ! Vom Humor bis zum Horror war alles dabei. Das wäre meine persönliche beste Fortsetzung zur Anime Serie, selbst Mr. Aoki würde das nicht besser hinkriegen

Ich kann verstehen, dass du jetzt nur noch Kurzgeschichten schreiben möchtest, hoffe dennoch auf eine weiteres Großprojekt oder einer Fortsetzung ^.-

Ich finde was diese Geschichte so lesenswert macht, ist deine Liebe zum Detail. Ich konnte darin eintauchen und mir alles genau vorstellen , besonders die Emotionen kannst du überdurschnittlich gut rüberbringen - die Worte, die Mimik, die Gestik und die Pausen zwischen dem Gesprochenem...ein wundervolles Zusammenspiel. Da bebt der ganze Körper mit , kein Witz! Ja ich finde das ist eins deiner Markenzeichen.
Die Konfrontation zum Beispiel zwischen Tyson und Kai auf dem Dach, einfach nur der Hammer! Ich dachte ich Krieg gleich ein Herzinfarkt vor Aufregung.
Das Verhör auf dem Polizeipräsidium ...so mega spannend wie im Krimi.
Oder die Flashbacks wo nochmal deutlich wird wie eng alle doch miteinander verbunden sind aber du auch von jeden einzelnen eine kleine Geschichte zu erzählen hast wie zum Beispiel die Beziehung zwischen Ray und Mao. Ausserdem lockern diese Erinnerungen das Ganze gut auf.
Das find ich gerade so interessant, dass man einen Einblick in das Leben von jeden Charakter bekommt und nicht nur von den Hauptpersonen. Ah da fällt mir Grad eine kleine Kritik ein, ich finde Kenny ist zum Ende hin ein wenig zu kurz gekommen.

Die Persönlichkeiten der jeweiligen Charaktere hast du mega gut hinbekommen, stilecht wie im Anime. Wenn nicht sogar noch besser. Auch sehr lobenswert, dass du auf die Rechtschreibung so geachtet hast. Bei so vielen Seiten nicht einfach. Man kann es schön flüssig lesen und ist einfach verständlich. Du hast dich auch bemüht nicht immer die gleichen Wörter zu benutzen.

Obwohl ich erfundene Charakter nicht so mag , haben diese mich hier überhaupt nicht gestört ganz im Gegenteil! Allegro habe ich richtig ins Herz geschlossen.
Jana ist so süss ohne sie wäre Kai vielleicht ein ganz ander Mensch? Hiros Freundin ,auch ein sehr interessanter Charakter.

Die Welt der BitBeasts und der Weltenbaum einfach fantastisch. Am Anfang diese Menschen ohne Gesicht , das wirkte ziemlich skurill auf mich. Aber ich mag solche abgefahrenen Sachen haha Und diese verlorenen Seelen waren ziemlich gruselig.

Oft kamen Stellen, wo die Bitbeats den Menschen die achtlosigkeit gegenüber der Umwelt vorgeworfen wird. Das bringt einem zum Nachdenken, zumindest bei mir. Ja die Menschen schätzen die Natur viel zu wenig bis gar nicht. Sehr traurig.

Die Mutter von Max hast du sehr liebenswert dargestellt. Ich vergleiche das auch mit mir, da ich selbst Mutter bin. Bei maxis Tod Ohh das war so traurig und gleichzeitig so schön, wie die Mutter auf max agiert hat.

Die Intrigen zwischen Dragoon und Dranzer, die Vergleiche derer Persönlichkeiten zu den beybladern.
Kai als Kind und die einfühlsame Art von Tyson ihm kindgerecht Dinge zu erklären. So süss....

Achja mit dem Ende hatte ich wirklich nicht gerechnet. Nochmal alles zurückzudrehen mit der Aufgabe die restlichen Bitbeasts in den Körpern der Beyblader zu verfrachten. Einfach genial. Das dadurch Tyson dem alten Ich von Kai gegenübersteht hat mich richtig gefreut. Das hätte mir sonst gefehlt.


Ich fand so viele Sachen toll , zum Ende würde ich niemals kommen. Entschuldige , fals ich was durcheinander gebracht haben sollte. Bei so vielen Kapiteln, welche ich davon vor einem Jahr gelesen habe, bleibt nicht alles hängen.

Ich danke dir für diese wunderbare Geschichte. Du machst das echt prima , mach weiter so!
Antwort von:  Eris_the-discord
25.02.2018 20:55
Vielen lieben Dank für deinen Kommentar! Ich bin immer wieder überwältigt von der positiven Resonanz die ich zu dieser Geschichte erhalte. Selbstverständlich nehme ich dir da auch nicht übel, dass dein Kommentar ein wenig später kommt, vor allem wenn man als Mutter daheim gebraucht wird. ^_~

Ich hatte ja vorher kaum die Gelegenheit, einmal ausführlich auf deine Kommentare zu antworten, da ich immer nur mit Schreiben beschäftigt war und nur zum Hochladen zu Animexx kam. Daher wollte ich an dieser Stelle endlich einmal Danke sagen.

Um ehrlich zu sein, schwirren mir wirklich viele Handlungsstränge für eine Fortsetzung durch den Kopf. So viele, dass ich jetzt schon weiß, dass es wieder ein jahrelanges Projekt werden würde, weil ich wirklich keinen der Charas zu Kurz kommen lassen möchte. Wie du ja richtig erkannt hast, war es bei dieser FF zum Schluss Kenny der spurlos von der Bildfläche verschwand. Genau wie Hiro, von dem kaum noch die Rede war und wenn doch, dann nur noch über eine der anderen Personen. Daher würde es wirklich schwierig werden, so etwas großes noch einmal auf die Beine zu stellen, auch wenn ich deinen Wunsch nur zu gut nachempfinden kann. Allein bei dem Gedanken, die Jungs ihren Alltag mit ihren neuen "Kräften" bewältigen zu lassen, lässt meine Finger wieder jucken. ^^

Ich befürchte bis ich fertig wäre, würde leider niemand mehr Beyblade kennen, da bereits jetzt das Fandom dazu auf Animexx ziemlich geschrumpft ist. Dennoch vielen Dank das du die FF verfolgt hast. Es freut mich vor allem, dass du daran eine solche Freude hattest. ^^

LG Eris


Zurück