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Die Geister die wir riefen...

von

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Tyson hätte nicht enttäuschter sein können als sie endlich das Dorf erreichten. Es war verlassen. Von den Phantomen, die ihnen jeden Wunsch ablasen, war nichts zu sehen und die Häuser waren mehr Holzhütten, wie man sie aus den frühen Anfängen Japans kannte.

Er ließ seinen Blick über die strohbedeckten Dächer wandern und tat seiner Verwunderung laut kund. „Gibt es hier keine Phantome?“

Wolborg schüttelte verneinend den Kopf und trat an die Schwelle einer Hütte, die sich nur durch ihre Größe von den anderen unterschied. Trotzdem wirkte sie dadurch nicht komfortabler.

„Wozu erschaffst du dir ein ganzes Dorf, wenn du nur ein einziges Haus nutzt?“

„Ich habe es nicht erschaffen…“

„Wie meinst du das?“

Wolborg strich mit ihren zierlichen Fingern am Türrahmen entlang.

„Dieses Dorf stand vor sechshundert Jahren in der Menschenwelt.“

Tyson schreckte auf.

„Aber… wieso steht es jetzt hier?“

„Ich habe es geschenkt bekommen.“

„Von wem?“

„Dragoon.“

„Und was ist mit den Menschen passiert die hier gelebt haben.“

„Tot.“

Entsetzt blinzelte Tyson ihr entgegen, doch mit einem verständnisvollen Ausdruck, sprach Wolborg: „Vor sechshundert Jahren war das Leben weitaus gefährlicher. Es kam nicht selten vor, dass in einem harten Winter ein ganzes Dorf erfroren ist. Krankheit und Tod waren allgegenwärtig. Als ich diesen Ort geschenkt bekam, waren die Bewohner bereits lange Zeit verstorben – aus vielerlei Gründen.“

Tyson fröstelte es bei diesem Gedanken und er spürte wie sich das Kind an seiner Hand verschüchtert an ihn drängte. Auch Kai schien es nicht zu behagen an diesem Ort zu bleiben.

„Weshalb macht dir Dragoon so ein… Geschenk?“

„Für meine guten Dienste? Weil ich ihm einen Gefallen getan habe?“, Wolborg wandte sich von ihnen ab und schob die Decke zur Seite, die über der Tür hing, um den Wind aus dem Haus zu halten, doch Tyson meinte für einen kurzen Moment einen verbitterten Ausdruck auf ihrem Gesicht zu sehen. „Oder womöglich weil selbst die schrecklichsten Kreaturen manchmal die Reue überkommt… Wer weiß das schon?“

Mit diesen Worten trat sie ein und ließ die Junge alleine mit ihren Gedanken stehen.

Wollte Tyson ihr wirklich in dieses Haus folgen?

Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihnen in diesen Pappschachteln warm werden würde, aber in ihrer Situation durfte er wohl nicht wählerisch sein. Hauptsache sie kamen raus aus dem Schnee und gegen eine warme Mahlzeit würde er sich auch nicht sträuben.

Eine Stunde später saßen die Jungen in Wolborgs Hütte, hielten ihre Schüsseln mit Brei in den Händen und aßen, dabei verbrachten sie die Zeit stillschweigend.

Tyson hing seinen Gedanken nach, Wolborg rührte im großen Kessel über einer Feuerstelle in der Mitte des Raumes. Etwas seltsam fand er, dass sie die Feuerstelle nicht wirklich nutzte, denn sie zündete die Holzscheite unter dem Kessel nicht an, deshalb war der Brei den sie aßen kalt und in der Hütte dominierte die Kälte jede noch so kleine Ecke. Schließlich verstaute Wolborg ihre „Seltenheiten“ in einer Kiste und nachdem Kai gegessen hatte, bat Tyson um einpaar Decken, um den Kleinen darin einzuwickeln. Kurz darauf war das Kind auch schon neben ihm eingenickt. Tyson beobachtete eine Weile die zusammengekauerte Gestalt, die friedlich auf dem Boden zu seiner Seite schlummerte und sein Blick wanderte zu Kais Lippen, die endlich nicht mehr blau waren. Nur Kinder konnten in einer solchen Situation sorglos schlafen, dass wurde ihm in diesem Moment bewusst. Entspannt seufzte er, lehnte seinen Rücken gegen die Wand und sah Wolborg bei ihrer Arbeit zu. Was immer sie tat, sie machte es mit einer Engelsgeduld und Sorgfalt, an der sich mancher Mensch ein Beispiel nehmen konnte.

Etwas später setzte sie sich an ein altertümliches Gerät und begann an einer langen Stoffbahn zu weben. Wie sie das so behände anstellte, konnte Tyson sich nicht erklären, immerhin war sie doch angeblich blind. Trotzdem schien sie keine Probleme zu haben, den altmodischen Webstuhl zu bedienen. Er schüttelte den Kopf um sein Misstrauen zu verscheuchen, immerhin wären sie ohne Wolborg erfroren und ihm fiel ein, dass er sich noch nicht einmal erkenntlich gezeigt hatte.

Vollkommen unerwartet, sprach er in die Ruhe hinein: „Danke!“

Wolborgs Gesicht erhob sich von ihrer Arbeit und der Webstuhl verstummte.

„Wie bitte?“

„Ähm…“, Tyson rutschte unangenehm berührt auf seinem Platz hin und her.

„Ich habe Danke gesagt. Mir ist gerade aufgefallen, dass ich das vergessen hatte.“

Wolborg nickte nur um ihm zu zeigen, dass sie verstanden hatte. Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Obwohl Tyson sie nicht nerven wollte, fragte er:

„Ist es nicht einsam hier?“

„Die wenigsten Bit Beast bevorzugen Gesellschaft.“

„Oh“, er wusste nie, ob solche Kommentare von ihr eine Anspielung waren. „Weißt du, wir bleiben auch nicht lange. Wir wollen dich nicht stören.“

„Das tut ihr nicht.“

Kurzes Schweigen kehrte ein, welches das Klappern des Webstuhls umso lauter ertönen ließ.

„Dieses Kind ist Kai, nicht wahr?“, kam es ganz unerwartet von ihr.

„Ja… Du erinnerst dich noch an ihn?“

„Ich erinnere mich an jeden von euch. Von Kai meinte ich aber, dass er älter wäre.“

„Ist er eigentlich auch. Seit wir hier sind, ist allerdings einiges vorgefallen. Ich weiß nicht warum, aber Kai ist viel jünger geworden als wir alle zusammen.“

„Hmm…“, machte Wolborg, als dachte sie über etwas nach. „Er benimmt sich anders als in meiner Erinnerung. Als ich ihn kennenlernte war er nicht so temperamentvoll. Er war kalt… genau wie ich.“

Tyson lachte auf.

„Dann hast du Kai noch nie richtig kennengelernt. Er mag zwar von Außen her kühl erscheinen, aber der Junge ist ein echter Hitzkopf.“

„Ist das so?“

„Natürlich!“

„Warum bist du dir so sicher?“

„Naja…“, Tyson überlegte. „Das erkennt man eigentlich recht schnell.“

Er schielte zu Kai um sicherzustellen, dass er auch wirklich nicht zuhörte. Was er jetzt sagte, musste das Kind nicht mitkriegen, weil es Tyson irgendwie seltsam vorkam, diese Entdeckung jemanden zu erzählen.

„Allein Kais Augen sprechen für sich. Wenn du sie sehen könntest, wüsstest du wovon ich spreche…“

Ganz unvermittelt hielt Wolborg in ihrer Arbeit inne.

„Was ist mit ihnen?“, fragte sie, scheinbar neugierig geworden und legte ihr Werkzeug auf ihren Schoß.

„Oh man, wie erkläre ich dir das, ohne das du mich für seltsam hältst?“

Tyson rieb sich den Nacken, als ihm schließlich die Erleuchtung kam.

„Weißt du dass Kai ein richtiger Mädchenschwarm ist? Als wir früher noch gebladet haben, konnte er sich vor Verehrerinnen kaum retten. Ihm ging das total auf die Nerven, weil er kreischende Girlies hasst. Sie sind ihm zu penetrant und zeigen seiner Meinung nach keine Selbstachtung. Jedenfalls war da mal ein besonders lästiges Exemplar. Die hat ihm damals aufgelauert wie eine Stalkerin. Kurz vor der zweiten Weltmeisterschaft in Japan, sind wir abends vom Training gekommen, als Kai auf seinem Bett einen Brief fand… einen Liebesbrief. Irgendwie hatte es seine Verehrerin geschafft, in unser Hotelzimmer zu kommen und das vollkommen unbemerkt! Als ihm das klar wurde, hat er ihren Brief ungeöffnet zusammengeknüllt und in den Papierkorb geworfen. Daraufhin ist er unter die Dusche verschwunden. Max und ich fanden die Liebesbriefe von dieser Irren aber immer so urkomisch, dass wir den Brief wieder aus dem Müll gefischt und durchgelesen haben. Wir konnten nicht mehr aufhören zu lachen.“

Bei dem Gedanken daran begann Tyson zu Glucksen, musste aber feststellen, dass sein Humor wohl seines Gleichen suchte. Wolborg verzog keine Miene, deshalb räusperte er sich und fuhr fort.

„Wir haben uns den Brief durchgelesen und das Mädchen hat echt schräge Sachen geschrieben. Dinge die einfach nur kitschig und schnulzig waren. Aber da war ein Satz, bei dem ich stutzen musste - weil er stimmte. Sie meinte, dass sie jedes Mal, wenn sie Kai bei einem seiner Matchs beobachtete, ein Feuer in seinen Augen sehen könnte.“

„Ein Feuer?“

Tyson nickte und fuhr schnell fort.

„Es stimmt. Manchmal wenn Kai und ich gegeneinander antraten, hätte ich schwören können, auch dieses Feuer zu sehen. Es ist seltsam… aber in diesen Momenten wurde mir immer bewusst, dass Kai so viel… lebendiger ist, als wir alle zusammen. Und heute seit wir nicht mehr bladen, bin ich sicher, dass er seine ganze Kraft für seine Schwester aufbringt.“

Etwas nachdenklich blickte Tyson auf den Streit zwischen ihm und Kai zurück. Wie sein Freund ihn zurechtgewiesen hatte, weil Tyson Trisomie kranke Kinder als Mongos bezeichnet hatte… Sein Freund wollte seine Schwester einfach nur beschützen.

„Du siehst in seinen Augen also ein Feuer?“

„Ja“, Tyson wurde verlegen. Der nächste Satz der folgte, war mehr ein Nuscheln. „Sie sehen aus wie Rubine.“

Ganz unbewusst wanderte seine Hand zu dem Haarschopf neben ihm und strich eine von Kais Strähnen aus seiner Stirn. Das Kind bewegte sich zaghaft der Handfläche entgegen, bis Tyson die warme Wange spürte. Erst als der Junge im Schlaf ein leises Seufzen von sich gab, erstarrte Tyson in seiner Bewegung. Schnell, um Wolborgs Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken, verschränkte er die Hände hinter seinem Kopf und lehnte sich zurück an die Wand, während ein verstohlener Blick seine Gastgeberin traf. Doch die war mit den Gedanken weit fern.

„Rubine?“, wiederholte Wolborg das Wort, als würde es ihr irgendetwas sagen. „Flammende Rubine also…“

Dann fuhr sie wieder mit ihrer Arbeit fort. Es blieb nur kurze Zeit still, denn sie fragte:

„Wo wird euch euer Weg als nächstens hinführen?“

Tyson überlegte.

„Also zuerst müssen wir Ray und Max finden. Die beiden sind bestimmt krank vor Sorge. Anschließend auf direktem Weg raus aus dieser Welt.“

Etwas schien sie zu belustigen, denn sie lächelte.

„Was ist?“

„Auf direktem Weg aus dieser Welt? Wie willst du das anstellen?“

„Das weiß ich auch noch nicht“, gestand Tyson. „Aber wir finden bestimmt eine Möglichkeit. Bisher haben wir immer eine Lösung auf unsere Probleme gefunden.“

„Damals hattet ihr ein Bit Beast an eurer Seite.“

Etwas schnippisch kam die Antwort:

„Ich brauche Dragoon nicht! Wir kommen auch ohne ihn klar.“

„Du stellst dir das zu einfach vor.“

„Warum?“

„Ohne die Hilfe eines Bit Beasts kommen Menschen nicht in unsere Welt. Es sei denn natürlich sie sind tot. Demnach kommt ihr auch nicht ohne ein Bit Beast wieder nachhause.“

Tysons Mund klappte auf. Wenn das wahr war, hatten sie ein Problem.

„Verdammt“, er biss sich auf die Unterlippe. „Wieso? Wozu brauchen wir ein Bit Beast?“

„So wie wir in eurer Welt einen Menschen brauchen, der unsere Hüllen bedient, so brauchen Menschen in unserer Welt ein Bit Beast, das ihnen zur Seite steht. Ohne Tala, wäre ich niemals in der Lage gewesen, außerhalb der heiligen Neujahrswende in der Menschenwelt zu wandeln, ohne ständig in der Irrlichterwelt meine Kraftreserven aufzufüllen.“

„Neujahr? Wir haben erst den dreißigsten Oktober.“

„Und der einunddreißigste Oktober läutet das neue Jahr in unserer Welt ein.“

Tyson verstand nur Bahnhof. Warum spielte der einunddreißigste Oktober hier so eine große Rolle? Was war an diesem Tag so anders, dass Bit Beast stärker waren als sonst?

Wolborg las wohl seine Gedanken, denn sie fragte:

„Du verstehst nicht viel über unsere Welt.“

„Nein.“, gab er geknickt zu.

„Gut, dann lass es mich erläutern.“ Sie ließ ihre Arbeit ruhen, setzte sich zu ihm an die kalte Feuerstelle in der Mitte des Raumes und faltete die Hände sittsam auf ihrem Schoss. „Weißt du warum Bit Beast in eure Welt kommen?“

Tyson berichtete von Allegros Erfahrung, der ihnen erklärt hatte, dass Strommäuse die Elektrizität der Menschen antrieben.

„Das ist ein Anfang.“, stellte Wolborg fest. „Jedes Bit Beast hat seine Aufgaben in der Menschenwelt. Selbst der kleinste natürliche Vorgang basiert auf unserem Zutun. Das Wispern des Windes, das Flackern einer Flamme, das Rascheln der Bäume… überall steckt ein Geist dahinter. Desto größer der Vorgang, desto stärker ist das Bit Beast dahinter.“

Tyson nickte gebannt und lauschte ihren Worten.

„Das Problem an unserer Existenz ist nur, dass unsere Energiereserven in der Irrlichterwelt liegen. Wenn wir in die Menschenwelt reisen, bekommen wir nur so viel Kraft mit, wie wir benötigen, um unsere Pflichten dort zu erfüllen. Anschließend kehren wir zurück, um uns von Neuem auf unsere Reise vorzubereiten.“

„Dann ist Dragoon jedes Mal wenn ich ihn nicht gebraucht habe, zurück in die Irrlichterwelt gekommen?“

„Nein. Womit wir bei dem Grund wären, warum manche Bit Beast sich Menschen suchen. Wenn wir eine Verbindung zu einem Menschen eingehen, zapfen wir seine Energieressourcen an, um eine Rückkehr in die Irrlichterwelt zu vermeiden.“

„Wie?“

„Hast du dich während einem Kampf noch nie so stark auf dein Bit Beast konzentriert, dass du spürtest, wie deine Kraft zu Dragoon floss?“

Doch, das hatte er. Aber er war immer davon ausgegangen, dass er sich das nur einbildete.

Als er nämlich älter wurde, kam er sich dämlich vor, weil er als Junge beim Bladen immer so gebrüllt hatte, obwohl es doch eigentlich nur ein Spiel war.

„Die Wahrheit ist“, fuhr Wolborg fort. „Nur ein geringer Teil dieser Kraft wird von uns zum Kämpfen benötigt. Den Rest verbraucht ein Bit Beast für sich selbst. Man könnte es als einen Handel bezeichnen. Wir kämpfen für euch…“

„Dafür zapft ihr uns an.“, beendete Tyson den Satz. Er wusste aber nicht ob ihm das gefallen sollte. Er wollte nicht als Steckdose fungieren.

„Um aber zum einunddreißigsten Oktober zurückzukommen. An diesem Tag strömt die Energie aus der Irrlichterwelt in die Menschenwelt und macht es uns möglich, auch ohne Menschen dort auszukommen. Stell dir einen Wasserdamm vor.“

Sie zeichnete in den erdigen Boden, der um die Feuerstelle lag, eine gerade Linie ein.

Er beobachtete, wie ihre feinen Finger auf die eine Seite wellenförmige Linien zeichneten, während auf der anderen Seite eine Zeichnung entstand, die ihn an eine Mühle erinnerte. Wieder war er über ihr Geschick verwundert, mit der sie die Formen zog, obwohl sie doch eindeutig blind war. Sie deutete auf das Abbild welches den Damm symbolisierte.

„Dieser Damm ist die Mauer zwischen Bit Beast und Menschenwelt.“

Sie deutete auf die wellenförmigen Linien.

„Das ist die Energieressource hinter der Grenze, folglich die Irrlichterwelt.“

Dann zeigte sie auf die andere Seite des Damms.

„Nun stell dir vor, hier ist eine Wassermühle, die für ein Bit Beast steht, dass gerade in der Menschenwelt weilt. Da der Damm das Wasser versperrt, wird kein Korn in ihr gemahlen. Die Bauern darin müssen also allein die Räder zum Laufen bringen. Ihr Menschen seid die Bauern.“

Tysons Braue zuckte gekränkt, er verkniff sich aber ein Kommentar.

„Nun stell dir vor der Damm bricht.“

Sie verwischte mit der Handfläche die Linie, die für den Wasserdamm stand.

„Der Fluss führt wieder Wasser und die Bauern in der Mühle werden nicht gebraucht, da sich die Räder von alleine drehen. So verläuft auch der einunddreißigste Oktober für uns. An diesem Tag können wir in der Menschenwelt, ungeachtet jeglicher Barrieren, unseren Kräften freien Lauf lassen – so wie wir es in der Irrlichterwelt gewohnt sind.“

Tyson war erstaunt. Wolborg hätte eine sehr gute Lehrerin abgegeben, wenn sie ein Mensch wäre. Mit diesem ebenweißen schönen Gesicht, hätte sie auch die ungeteilte Aufmerksamkeit der männlichen pubertierenden Schüler und die tosende Eifersucht der Mädchen auf ihrer Seite. Zum Glück konnte sie nicht seine Gedanken lesen. Er lenkte sie in eine andere Richtung und sagte: „Verstehe. Deshalb diese Abhängigkeit von uns. Aber warum wollt ihr überhaupt länger als nötig in unserer Welt bleiben?“

„Würdest du gerne hier leben?“

Nein. Das würde er nicht.

Bis auf die folgsamen Phantome, war alles in der Irrlichterwelt schrecklich.

Tyson schüttelte den Kopf, merkte das Wolborg das wahrscheinlich nicht sah und verneinte schließlich.

„Da hast du deine Antwort.“ Sie richtete sich auf, tastete sich wieder Richtung Webstuhl und Tyson erkannte zum ersten Mal, dass es sich bei dem eingespannten Stoff um ein glitzerndes Material handelte, der ihn an den feinen Frost erinnerte, welcher sich in der Menschenwelt jeden morgen auf die Wiesen legte.

„Darf ich?“, er war näher getreten und deutete auf den Stoff, bis ihm wieder klar wurde, dass sie ihn nicht sah. „Den Stoff anfassen, meine ich.“

Sie nickte.

Er berührte das Material und tatsächlich… er war eiskalt.

„Es wintert bald bei euch. Da wird es Zeit für die ersten Frosttage.“, erklärte sie ihre Arbeit und Tyson war noch einmal mehr verblüfft. So entstand Frost? Das klang wie aus einem Märchenbuch.

„Wolborg, ich habe noch eine Frage. Weißt du wie Kai und ich zurück zu unseren Freunden gelangen?“

„Ja, aber ich würde dir davon abraten.“

„Warum?“

„Weil ihr euch dem Ausgang der Irrlichterwelt einen Schritt genähert habt. Weshalb also noch einmal zurück gehen?“

Tyson stellte sich kerzengerade auf. Das war doch mal eine gute Nachricht!

„Der Ausgang ist hier? Wo?“

Der Ausruf kam so laut, dass sie ihren Finger langsam an die Lippen setzte um ihn zu bedeuten still zu sein. Hinter ihnen ertönte von Kai ein leises Murren, doch als Tyson sich zu ihm wandte, drehte der sich auf die andere Seite und döste weiter.

„Der Ausgang ist nicht hier. Ihr habt ihm euch nur genähert…“

„Dann muss ich trotzdem zurück und Ray und Max holen. Kannst du solange auf Kai aufpassen?“, er war bereit zur Tat zu schreiten, doch Wolborg schüttelte den Kopf.

„Du stellst es dir wieder zu einfach vor. Wie willst du zurück?“

„Auf demselben Weg wie ich hierher gekom-...“

Was so ziemlich unmöglich war, immerhin war er in eine Welle geraten, die Welt hatte sich um hundertachtzig Grad gedreht und plötzlich war da eine ganz andere Landschaft gewesen.

Das mit der Welle hätte er im nächsten Fluss hinbekommen, aber ob er dabei nicht eher jämmerlich ersaufen würde, war auch eine Überlegung wert.

„Aber ich muss doch zurück…“, murmelte er kleinlaut, als ihm seine miserablen Erfolgschancen klar wurden. Wolborg lächelte, legte ihre Arbeit wieder zur Seite und stand auf.

„Wie wäre es mit einem kleinen Handel?“

Tyson horchte auf.

„Ein Handel? Inwiefern?“

„Ich suche nach euren Freunden und geleite euch danach hinaus aus der Irrlichterwelt. Dafür bekomme ich etwas Seltenes von euch beiden.“

„Etwas Seltenes?“, ratlos kratzte sich Tyson am Kopf und sah an sich hinab. „Tut mir Leid, aber alles was es wert wäre, dir zu geben, habe ich in der Menschenwelt. Für Kai gilt dasselbe.“

„Wir werden uns schon einig.“

Sie tastete nach seiner Hand und sagte: „Einverstanden?“

Tyson überlegte kurz, konnte aber nicht glauben, dass an der Sache ein Haken war. Wolborg kam ihm sehr kooperativ vor und hatte ihm auch sonst sehr weitergeholfen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Schließlich griff er nach ihrer Hand und antwortete:

„Einverstanden.“ Gleich darauf fuhr ein Frösteln durch seinen Körper. Ihre Hand war eisig.

„Wow, ich find dich echt nett, aber deine Körpertemperatur liegt unter Null.“

Sie lächelte und entgegnete:

„Und du scheinst ein aufrichtiges, warmes Herz zu haben.“
 

Wie vereinbart hielt Wolborg ihr Wort. Am nächsten Morgen, als Tyson aufwachte, war von ihr nichts zu finden. Die Hütte war leer und im Topf stand sogar schon Frühstück bereit.

Das war ja fast zuviel des Guten.

Tyson füllte sich gerade einen Becher mit dem Brei ab, der nach Haferschleim aussah, aber wundersamerweise nach Schokolade schmeckte, als Kai noch völlig schlaftrunken zu ihm torkelte. Das Kind rieb sich über die Augen und murmelte: „Wo ist die Frau hin?“

„Die…“, schnell eine gute Ausrede einfallen lassen. „…sucht deine Dame Solowéj.“

„Gut.“, Kais Freude hielt sich in Grenzen was an der Müdigkeit lag. Er setzte sich taumelig neben ihn und blinzelte geistesabwesend vor sich her, im Gedanken wohl noch im Schlummerland. Tyson grinste und reichte ihm eine Schüssel.

„Warum grinst du so komisch?“

„Nur so…“, es hätte seltsam geklungen, wenn er ihm beichtete, dass Kai als ihr Teamleader, schon in den frühesten Morgenstunden alle aus dem Bett geworfen hatte, um sie um den Block zu jagen. Er war topfit, während die anderen bei jeder Pause, an einer Straßenlaterne lehnten und dösten.

„Von nichts kommt nichts!“, hatte er Tyson immer vorgehalten und wenn er nicht spurtete, durfte er bis ans Ende des Wohnblocks rennen, egal bei welchem Wetter.

„Woran denkst du?“

„Ach, an nichts…“, dann grinste Tyson gemein und sprach hämisch: „Mein müdes Küken.“

Augenblicklich verschluckte sich Kai, als er an ihre erste Begegnung mit Wolborg dachte und den Kosenamen den sie für ihn verwendet hatte. Eine leichte Röte schoss in seine Wangen und er schaute mit zusammengezogenen Brauen zu Boden.

„Hör auf das zu sagen…“, kam die verärgerte Antwort.

„Och, ist das dem kleinen müden Küken peinlich?“

Tyson piekste ihn die Seite und herrisch schlug Kai die Hand weg.

„Lass das!“

Er warf ihm einen Blick zu der Gift sprühte. Dann sagte er: „Du bist bescheuert.“

„Na schön, ich höre auf.“ Kai atmete aus, dann setzte Tyson aber ganz beiläufig hinzu: „Für mein Küken tue ich doch alles.“

Eine heftige Zornesröte kam über Kai, dass seine Wangen nur so glühten, doch Tyson sah geflissentlich darüber hinweg. Er hatte bereits nach der ersten Weltmeisterschaft aufgehört, Kai als etwas Bedrohliches anzusehen.

„Wir sind heute eine ganze Weile allein. Da wollen wir uns doch nicht streiten. Hast du Lust etwas zu unternehmen?“

„Unternehmen? Was denn?“

„Worauf hast du denn Lust?

„Weiß nicht…“

„Was machst du denn wenn dir langweilig ist?“

Kai zuckte mit den Schultern.

„Wollen wir einen Schneemann bauen?“

Kai schüttelte den Kopf.

„Nicht? Wir könnten auch Fangen spielen.“

Er schüttelte wieder den Kopf. „Zu laut.“

„Wie bitte?“

„Das ist zu laut.“, als Tyson immer noch verwirrt dreinblickte, schnalzte Kai einmal, als wäre nicht er, sondern Tyson das Kleinkind – ein verdammt beschränktes.

„Kinder dürfen nicht laut sein.“

Tyson zog die Brauen tief ins Gesicht. Wieder so eine Aussage, die nach Voltaire klang. Der alte Bock konnte sich auch an gar nichts erfreuen. Tyson wurde den Gedanken nicht los, dass Kai seine gesamte Kindheit hinter verschlossenen Mauern verbracht hatte…

Kurzerhand packte er den Jungen am Arm und zerrte ihn voller Übermut hoch.

„Wen sollen wir hier draußen schon stören?“
 

Und den sollten sie auch haben…

Knapp drei Stunden verbrachten die beiden Jungen in den weißen Schneemassen. Dabei hatte Tyson anfangs befürchtet, dass Kai nicht mitziehen würde. Er schien bereits schon mit sechs Jahren viel zu eingenommen, von den morbiden Lehren seines Großvaters. Zuerst stand das Kind unschlüssig am Türrahmen und schüttelte den Kopf, als Tyson ihn hinauszerren wollte.

„Lass mich in Ruhe! Ich mag nicht!“, hatte er immer wieder genervt betont, so lange bis Tyson von ihm abließ, ihm den Rücken zuwandte, um nach einer Ladung Schnee zu greifen und eine Kugel in seinen Händen formte. Mit einem bösen Grinsen hatte er sich zu Kai gedreht, der bereits ahnte was kommen würde.

Kurz darauf schoss die erste Kugel haarscharf an ihm vorbei.

„Hör auf damit!“, rief das Kind wütend, doch da verfehlte die Nächste knapp ihr Ziel.

„Ty-…“, getroffen taumelte er zurück und weiße Schneebrocken fielen von seinem Gesicht ab. Kais Lippen verzogen sich zu einem trotzigen Schmollmund und vor Wut färbten sich seine Wangen rot. Er wischte sich die feinen Bröckchen vom Gesicht, dann griff er entschlossen hinab in den Schnee…

Und in diesem Moment wusste Tyson, dass er gewonnen hatte!

Ein siegessicheres Lächeln trat auf seinen Mund und lachend ließ er zu, dass der erste Ball ihn traf und Kai ein schadenfrohes „Geschieht dir Recht!“ hinterher setzte. Es dauerte keine zwei Minuten, da waren die beiden Jungen auch schon in eine heftige Schneeballschlacht verwickelt.

Kais vormalige Wut löste sich immer mehr in Wohlgefallen auf, wich dem Spaß am Spiel, während Tyson ihn weiter lockte. Es war ganz einfach, wenn man den Dreh raus hatte. Man musste nur an Kais Ehrgeiz appellieren. Er wollte nicht das Opfer sein, dass von den Bällen getroffen wurde, sondern derjenige der austeilte!

Ehe sie es sich versahen, wurde Wolborgs kleine Geisterstadt von ausgelassenem Kindergelächter erfüllt. Ihre Stimmen hallten über die Dächer. Sowohl Tysons neckende Zurufe, als auch Kais üble Verwünschungen. Der unbefleckte Schnee wurde von Fußspuren übersät, die beiden Jungen tobten, rangelten und wälzten sich darin.

Ohne zu ahnen, dass sie beobachtet wurden…
 


 

*
 

„Ray? Hörst du mich?“

Ein Murren.

„Ray, wach auf.“

Jemand rüttelte ihn an der Schulter, was Ray schmerzhaft aufstöhnen ließ. Doch als sein Geist wieder ins Hier und Jetzt fand und er auch die Stimme, die mit ihm sprach, als vertraut empfand, wachte er langsam auf.

„Na endlich! Alles okay?“

„Max?“

Ray setzte sich auf und ließ seinen Blick um ihre Umgebung wandern, versuchte sich so zu orientieren. Dem Anschein nach, waren sie in einer kleinen Höhle. Es roch modrig und von der Decke flossen an vereinzelten Stellen kleine Rinnsale hinab. Hier und da schallten leise Tropfgeräusche zu ihnen. Etwas tiefer in der Höhle, konnte Ray die Oberfläche eines Höhlengewässers ausmachen. In der Dunkelheit konnte man nur erahnen, wie tief das Wasser dort war. Der Teich war umsäumt von Stalagmiten, die wie eine merkwürdige Pflanzenart, vom Boden emporragten. Das alles wäre vielleicht gar nicht so ungewöhnlich gewesen, wäre nicht noch in einer anderen Ecke, ein riesiger Haufen von Gerümpel gelegen!

Da lag ein Autoreifen, ein Bilderrahmen, ein zweirädriges Dreirad, leere CD Hüllen, ein ausrangierter Schubkarren, ein fast gänzlich kahler Besen, Gartenschläuche, ein separater Stapel nur mit Bettpfannen und eine dieser billigen Blechbadewannen, wie man sie in kakerlakenverseuchten Studentenbuden fand.

Seine Verwirrung gab Ray mit einer Frage preis:

„Was machen wir auf einer Müllkippe?“

„Frag nicht.“

Max saß im Schneidersitz gegenüber von ihm und stütze deprimiert den Kopf mit der Rechten ab. Die Entzündung an seinem Arm war schlimmer geworden, das konnte Ray auf den ersten Blick erkennen, außerdem schien sein Freund an der Stelle herumgekratzt zu haben, da der Verband etwas lose hinunter hing. Mit der anderen Hand deutete Max hinter ihn.

Als Ray sich umdrehte, sah er den Höhlenausgang. Davor tänzelten und hüpften mehrere Gestalten auf und ab, wie bei einem Kriegstanz. Auf den zweiten Blick erkannte er, dass es sich dabei um Galman und seine nervigen Duplikate handelte. Bald erklärte sich auch die Ansammlung des Mülls in der Höhle, denn die Bit Beasts hatten sich mit diversen Schrott beschmückt und benutzten die Bettpfannen als Bongo Trommeln.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst?“, fragte Ray.

„Doch.“

„Dann hast du dich gar nicht im Wald verlaufen?“

Max schüttelte den Kopf.

„Allegro und ich haben uns nicht von der Stelle gerührt. Dann kam aber dieses Pack und hat uns verschleppt!“

„Einfach so?“

„Na ja“, Max wandte sich unangenehm berührt von einer auf die andere Seite. „Vielleicht, gab es da eine Vorgeschichte…“

„Was denn für eine Vorgeschichte?“

„Ich hab einen dieser Kerlchen als mutierten Scheißhaufen bezeichnet. Das hat er nicht gerade mit Humor genommen.“

„Oh… Nun. Das macht man auch nicht.“

„Ach! Und warum bist du hier?“

„Ich habe... eventuell eines dieser Kerlchen einen Tritt in den Hintern verpasst.“

„Oh! Eventuell? Bist du etwa ausgerutscht und mit dem Fuß voraus auf seinem Arsch gelandet?“

„Hör mit dem Sarkasmus auf.“

„Herr Kon! Das macht man doch nicht!“, äffte Max ihn nach.

„Ich weiß!“, zischte Ray genervt. Dann atmete er aus und fragte: „Wo ist Allegro?“

„Den hat es am schlimmsten erwischt!“

Wieder deutete Max hinaus. Ray folgte seinem Wink und machte Allegro, über einer Feuerstelle aus. Die Affen hatten ihn an eine herabhängende Kletterpflanze geknebelt und schwangen ihn gackernd, von einer auf die andere Seite. Dabei zielten sie immer so, dass Allegros Flugbahn direkt über der Feuerstelle lag.

Der kleine Mäuserich beschimpfte seine größeren Widersacher lauthals, zog aber jedes Mal panisch den Schwanz ein, wenn er den Flammen zu nah kam.

„Rüpelhaftes Pack!“, fluchte er.

Einer der Affen krallte sich Allegro und zerrte grob an dessen Schweif, dass die Springmaus nur so vor Schmerz aufschrie.

„Ich muss doch bitten! Ich habe genau gesehen, wo sie sich mit ihren verlausten Händen überall gekratzt haben, mein Herr! Auf der Stelle verlange ich freigelassen zu werden, sie unzivilisierter prähistorischer Primat!“

Als Antwort kam nur ein grölendes Kreischen von der Affenbande, dann wurde Allegro umso kräftiger herumgewirbelt, dass sich seine Stimme vor Panik überschlug.

„Wo warst du eigentlich?“, fragte ihn Max schließlich.

Nur mit Mühe wandte sich Ray von dem Anblick draußen ab. Er griff in seinen Hemdkragen hinein und zog die gesammelten Frauenmantel Blätter heraus.

„Die helfen gegen deine Entzündung. Ich dachte es würde schneller gehen, wenn ich alleine losziehe. Hätte ich geahnt, dass uns dieses Affenpack über den Weg läuft…“

Er seufzte, lehnte sich gegen die Höhlenwand und murmelte ein kleinlautes „Tschuldigung“.

Zuvor war Max tatsächlich einwenig eingeschnappt gewesen, weil Ray sie einfach zurückgelassen hatte. Doch jeglicher Groll verflog, als er die Erklärung hörte.

Er lächelte Ray aufmunternd zu und meinte: „Vergiss es. Damit hat niemand gerechnet. Hilft das Zeug wirklich? Die Stelle fängt nämlich tierisch an zu jucken.“

„Ja. Aber ich muss es in Wasser aufkochen.“

„Oh man, Schade.“, für Max war das Vorhaben abgehakt. Von einem Wasserhahn, geschweige denn einem Herd, war weit und breit nichts zu sehen. Doch ein wissendes Grinsen huschte über Rays Lippen und er meinte nur:

„Ich finde schon eine Lösung.“
 

Und Ray sollte Recht behalten. Max staunte nicht schlecht, als eine halbe Stunde später, das Knistern einer kleinen Feuerstelle die Höhle erfüllte. Eigentlich hatte Max geglaubt, dass dieser Trick nicht funktionierte, doch Ray hatte einfach die altbewährte Feuerbohren Methode verwendet. Dazu hatte er sich einpaar trockene Stöcke zusammengeklaubt und aus einem eine Art Bogen gemacht. Die Kordel dazu fand er im Müllberg. Anschließend suchte er noch nach einem Brett, fädelte in die Sehne des Bogens einen weiteren Stock ein, den er mit der Spitze auf das Brett ansetzte und nach einpaar kräftigen Zügen von Ray, begann durch die Reibung, von dem kleinen Holzbrett tatsächlich Qualm aufzusteigen.

Ein erstauntes „Irre!“ war über Maxs Lippen gekommen und er hatte große Augen gemacht.

Als gebürtiger New Yorker Stadtmensch wäre er niemals auf so eine Idee gekommen, aber Ray war schon immer der Überlebenskünstler schlechthin. Etwas wofür er seinen Freund insgeheim bewunderte. Max konnte noch nicht einmal einen Kompass lesen!

Was er weniger erfreulich fand war, dass Ray zum Wasserkochen ausgerechnet eine der Bettpfannen verwendete, aber in seiner Situation durfte man wohl nicht pingelig sein…

Eine gute Stunde später war es soweit und Max bekam eine dicke Schicht der Salbe auf seinen Arm geschmiert. Sie sah eklig aus – wie flüssige Rotze um genau zu sein – und brannte höllisch auf der Wunde, aber er schluckte sein Kommentar runter, vor allem weil zehn Minuten später bereits das Jucken nachließ.

Als Max feststellte, dass die Schwindelgefühle abflauten, war Ray gerade dabei den Müllhaufen, nach einem Behälter zu durchsuchen, in den er sein Gebräu abschöpfen konnte.

„Wo hast du so etwas bloß gelernt?“, fragte er in die Stille hinein.

„Das ist normal bei uns im Dorf.“

„Können das alle bei euch?“

„Klar.“ Ray trat mit einem kleinen Einmachglas vom Haufen weg und begann es im Höhlengewässer gründlich auszuwaschen. Nebenbei erzählte er, „Das muss man bei uns können. Wir sind viel zu abgeschieden von der Außenwelt. Alle zwei Monate kommt mal ein Händler vorbei und bringt nur das Nötigste, den Rest bauen wir selbst an.“

„Macht dir das nichts aus?“

„Nein. Ganz im Gegenteil. Mir hat das immer Spaß gemacht! “, lachte Ray auf.

„Warum willst du dann von China weg?“

Es wurde abrupt still in der Höhle. Nur das Schnattern der Affen draußen war zu hören.

Max dachte etwas Falsches gesagt zu haben, deswegen setzte er noch hinzu:

„Also, nicht das ich dich aus Japan verscheuchen will! Wäre klasse wenn du dort leben würdest. Wenn ich Tyson besuchen würde, könnte ich gleich zu dir weiter fahren.“

Dabei spielte er vor allem auf seinen ersten Besuch bei Ray an. Es war schon immer eine Herausforderung gewesen nach China zu kommen, allein wegen den anderen Sitten dort. Bei seinem ersten Ausflug dorthin war Max erkältet gewesen und hatte bei der Zugfahrt in ein Taschentuch geschnäuzt, woraufhin mehrere Passagiere ihn angewidert angeschaut hatten. Erst durch Ray erfuhr er, dass es als unhygienisch und unhöflich galt, so etwas in der Öffentlichkeit zu tun. Die nächste Hürde waren die Tischsitten. Max staunte nicht schlecht, als Ray ihn bei seinem Aufenthalt in Hongkong in ein Restaurant einlud und die Herren am anderen Tisch lautstark schmatzten und rülpsten – obwohl er sich nach kurzer Zeit sehr gut damit arrangieren konnte, was Ray verschmitzt grinsen ließ.

Zu seiner Enttäuschung konnte sein Freund ihm sein Heimatdorf nicht zeigen. Ray meinte es wäre zu abgeschieden und Max hätte zwei Tage, auf dem Laderaum eines alten klapprigen Trucks verbringen müssen, um es zu erreichen, deshalb verbrachten sie die Tage bis zu seiner Abreise in Hongkong.

„Ich weiß schon was du meinst. Es hätte mir die Scheidungsanwälte vom Hals gehalten“, riss Ray ihn aus seinen Gedanken. Er kam zu Max und setzte sich ihm gegenüber in den Schneidersitz. „Eigentlich mag ich mein Dorf. Vor Mariahs Schwangerschaft konnte ich mir gut vorstellen, für immer dort zu leben.“

„Was ist jetzt anders?“

Ray schien mit sich zu hadern und Max erkannte, dass etwas auf seinen Schultern lastete, was er bisher für sich behalten hatte. Schließlich begann er zu sprechen:

„Kurz bevor ich Mariah geheiratet habe, hat ihr Großvater mich eines Abends zur Seite genommen und gefragt: Ray, willst du eine große Familie? Natürlich habe ich bejaht und daraufhin meinte er nur: Dann ist China nicht das richtige Land für dich. Geh mit Mao ins Ausland und werdet dort glücklich.“

„Was meint er damit?“

Ray rollte mit den Augen.

„Hallo? China? Ein-Kind-Politik! Sagt dir das was?“

„Ach so… Ja aber beschränkt sich das nicht nur auf die Großstädte?“

„Theoretisch schon. Aber es wird noch berücksichtigt, ob eines der Elternteile Einzelkind war oder noch Bruder oder Schwester hatte. Mariah hat Lee zum Bruder. Es spielen noch einige weitere Punkte eine Rolle. Ziemlich viel Politik mischt da mit…“

„Das heißt ihr dürft nur ein Kind bekommen?“

Ray nickte.

„Na gut, dann habt ihr eben nur ein Kind. Ist doch halb so schlimm. Ich bin auch Einzelkind.“

„Und wenn es ein Mädchen wird?“

„Na und? Ray, ausgerechnet von dir hätte ich so eine altmo-…“

„Max, du weißt nicht was für Folgen diese Ein-Kind Politik hat. Die chinesische Bevölkerung hat einen Überschuss an Männern. Vor einpaar Monaten war ein Mann aus einem Nachbardorf bei uns. Er hat uns erzählt, dass bei ihnen und umliegenden Dörfern einpaar Kinder geraubt wurden – alles samt Mädchen.“

„Warum das denn?“

„Vermutlich Mädchenhandel.“

Max verschlug es die Sprache. China war keinesfalls ein heiliges Pflaster, aber dass ausgerechnet Rays stilles beschauliches Dörfchen von so etwas bedroht wurde, hätte er nicht erwartet. Für kurze Zeit verfielen beide in Schweigen, dann flüsterte Ray:

„Ich würde durchdrehen wenn jemand meine Tochter verschleppt.“

„Kann ich dir nicht verdenken.“

„Nein Max, ich meine, wirklich durchdrehen! Ich glaube… ich würde den Kerl umbringen! Du hast nur ein einziges Kind und sie nehmen es dir einfach weg. Sie verkaufen es an irgendwelche alten Säcke. Ist das fair?“

Das war es natürlich nicht. Das wussten beide nur zu gut. Deswegen verzichtete Max auf eine Antwort und beide blickten nur nachdenklich in die Flammen. Im Nachhinein konnte Max Rays Lage doch sehr gut verstehen. Er war bereit sich von seinen Wurzeln zu trennen, weil er seinem Kind eine sichere Zukunft bieten wollte. Aber Mädchenhandel war überall ein Problem. In anderen Ländern mehr, in anderen Ländern eben weniger…

Womöglich begann Ray sogar den Fehler, alle anderen Staaten zu idealisieren, ohne darauf zu achten, dass weder Japan noch die USA Länder waren, in denen Milch und Honig flossen. Er konnte sein Kind nicht vor allem bewahren, es sei denn er sperrte es in einen unterirdischen Bunker.

„Hast du Mariah jemals deine Sicht der Dinge erklärt?“

Ray schüttelte verneinend den Kopf.

„Vielleicht hättest du das aber tun sollen. Euch wäre sicher einiger Ärger erspart geblieben.“

„Es spielt jetzt eh keine Rolle mehr. Ich weiß ja nicht einmal ob das Kind von mir ist…“

„Ich kann mir das nicht vorstellen.“

Es war Max einfach so herausgerutscht und wie nicht anders zu erwarten, folgte die Frage: „Woher willst du das wissen?“

Max kratzte sich unangenehm berührt am Kinn und wiegte seine Worte sorgfältig ab:

„Wenn man Mariah sieht, weiß man das einfach. Dir fällt es vielleicht nicht auf, aber einem Außenstehenden kommt es so vor, als ob du ihr persönlicher Superheld wärst. Sie hat schon immer zu dir aufgeblickt. Manchmal habe ich das Gefühl, als ob sie bis heute nicht glauben kann, dass sie dich hat. Sie weiß dich einfach zu schätzen…“

Er gab Ray einen spielerischen Stups und fügte noch hinzu:

„Wir wissen dich natürlich auch zu schätzen.“

Ray lachte leise auf, da wurden beide von Allegros Wuttiraden abgelenkt. Einer der Galmans hatte Allegros Schweif um seine klobigen Affenfinger gewickelt und verwendete den Mäuserich als eine Art lebendigen Jojo. Man konnte aus der Stimme der Springmaus heraushören das ihm mehr als schlecht war.

„Das ist echt zum Kotzen! Wir müssen ihm doch irgendwie helfen?“

„Du hättest mal sehen sollen, was sie gestern mit ihm gemacht haben.“, sprach Max bedauernd.

„Gestern? Wie lange war ich denn zuvor bewusstlos?“

„Seit sie dich gestern Abend hier her gebracht haben.“

„Das darf doch nicht wahr sein! So lange?“

Das fehlte ihnen gerade noch! Tyson und Kai waren verschollen, während sie hier festsaßen und einen ganzen Tag verplempert hatten. Wenn er richtig ausrechnete, hatten sie nur noch zwei Tage um aus der Irrlichterwelt zu entkommen. Nicht einmal die Zeit spielte für sie.

Deprimiert nestelte Ray an seiner kaputten Armbanduhr herum, sein Gesicht in tiefe Denkfalten gelegt.

Max beobachtete ihn dabei – und so wie es Geistesblitze an sich haben, schoss ihm plötzlich eine Idee durch den Kopf.

„War die teuer?“

Ray blinzelte ihn verständnislos an und schüttelte den Kopf.

„Die Uhr? Nein. Die habe ich zusammen mit Mariah gekauft, während unseren Flitterwochen in der Türkei. Ist so eine Kopie von Fossil.“

„Dann wirst du die sicher nicht vermissen. Gib her!“

Etwas irritiert starrte Ray ihn an, doch mit einem zaghaften Nicken kam er Maxs Aufforderung nach. Er drückte seinem Freund die Uhr in die Hand, der anschließend aufsprang und Richtung Höhlenausgang lief. Sofort als die Schmiere stehenden Affen bemerkten, dass er sich der Öffnung näherte, stellten sie sich ihm in den Weg und begannen wild zu kreischen.

„Zurück in die Höhle! Knotenfurz!“

„Lauwarmduscher! Rein, rein, rein, rein, re-…“

„Halt die Luft an!“, unterbrach Max das Bit Beast. „Wer ist der richtige Galman?“

Die Affen glotzen ihn an und legten den Kopf schief. Dann sagten beide gleichzeitig:

„Ich!“

Max grinste. Das hatte er erwartet.

„Ihr solltet euch einig werden, denn wisst ihr, mein Freund da hinten, ist niemand anderes als der König der Menschenwelt!“

„Wah?!“, Rays Mund klappte auf und er trat eiligst hinter Max.

„Was redest du da?“, zischte er ihm zu, doch sein Freund winkte nur ab. Währenddessen begannen die beiden Affen zu grölen. Ihre Belustigung lockte weitere ihrer Sorte an und es sammelte sich eine Meute ringsum den Eingang.

Einer von ihnen deutete auf Ray und kreischte:

„Der da? Niemals! Du lügst doch! Weichbirne!“

„Weichbirne! Weichbirne!“, echoten die anderen spöttisch.

„Ihr glaubt mir nicht? Hier ist der Beweis!“, Max hielt die kaputte Armbanduhr in die Höhe und wie vom Donner gerührt, verebbten die Rufe. Was immer diese Wesen an Ramsch mochten, es zeigte seine Wirkung. Geradezu fasziniert blickte der Haufen auf die kaputte Uhr in Maxs Hand und wie das Ziffernblatt im Sonnenlicht funkelte, hatte es tatsächlich etwas Magisches an sich. Plötzlich gehörte Max die ungeteilte Aufmerksamkeit der Affentruppe.

Selbst das Bit Beast, dass sich Allegro um den Finger gewickelt hatte, hörte auf ihn als Jojo zu benutzen.

„Was ist das?“, wimmerte einer der Galmans fast schon zittrig.

„Das hier ist das Zeichen eines Königs.“, pries Max seinen Schatz an. Er zeigte die Uhr in jede Richtung, damit auch bei keinem der Galmans der gierige Sabber ausblieb.

„Ist sie nicht wunderschön? Die glänzenden Zeiger, das hervorragend verarbeitete Edelstahlgehäuse, das sportliche Ziffernblatt…“

„Der riesige Kratzer auf dem Glas…“, murmelte Ray spöttisch vor sich her und fing einen bösen Blick von Max ein. Er hob beschwichtigend die Hände und formte ein leises „Sorry“ auf seinen Lippen. Was immer Max damit bezwecken wollte, es schien die Meute ruhig zu stellen. Sein Freund räusperte sich und fuhr fort:

„Nicht zu vergessen das schwarze Silikonband, Quarzwerk mit Datumsanzeige und Stoppfunktion, Wasserdicht und…“ Max machte eine bedeutsame Pause, „die zwei Jahre Garantie die darauf liegen.“

Ein ehrfürchtiges „Ooh!“, machte die Runde, obwohl Ray sich hundertprozentig sicher war, dass keiner von ihnen wusste, was eine Garantie war. Außerdem wurde er den Gedanken nicht los, dass Max seine Uhr besser kannte, als er selbst. Da sprach wohl die Erfahrung als kritischer Einkäufer aus seinem Freund. Schließlich kam das, worauf Max gewartet hatte.

Einer der Galmans sprang näher an ihn ran und rief: „Gib es mir!“

„Geht nicht!“, Max ließ die Uhr mit arroganter Miene hinter seinem Rücken verschwinden und als der Affe enttäuscht aufheulte, erklärte er: „Die Regel habe ich nicht erfunden! Wenn es nach mir ginge würde ich sie dir sofort geben, Kumpel. Aber wie ihr seht, hat sie zuvor dem König der Menschenwelt gehört. Also ist es doch klar, dass die Uhr nur an einen Anführer gehen kann!“

„Ich bin der Anführer!“, beteuerte der Affe und deutete hektisch auf sich.

„Ach wirklich? Hmm… Ich weiß nicht. Ihr seht alle gleich aus.“

„Er lügt! Ich bin der Anführer!“, kreischte es aus einer anderen Ecke.

„Nein! Der da lügt auch! Ich bin es!“

Plötzlich schnatterte es von allen Seiten. Max drehte sich zu Ray und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Das Spielchen lief besser als er erwartet hätte. Die Müll besessenen Freaks begannen sich gegenseitig zu streiten. Ray wusste aber immer noch nicht ganz, wie es weitergehen sollte.

Wollte Max darauf bestehen, die Uhr gegen ihre Freiheit und Allegro auszutauschen?

Wenn sich die Meute wieder besinnte, würden sie erkennen, dass sie nur gemeinsam auf Max losstürzen mussten, um die Uhr zu bekommen. Es waren immer noch zu viele Affen.

Aber diesen Missstand schien sein Freund als nächstens in Angriff zu nehmen…

Die Galmans waren gerade dabei, die ersten Schläge gegeneinander auszuteilen, als Max beschwichtigend die Hände hob und rief:

„Leute, bitte! So benimmt sich aber kein König!“, er schnalzte mit der Zunge und legte die Stirn in Falten. „So viele die behaupten der Anführer zu sein, aber nur eine Uhr! Das ist echt ärgerlich. Aber wenn es nicht anders geht, sollten wir die Uhr in ganz viele kleine Teile zerschlagen, dann hat jeder ein Stückchen. Ist nicht schön, aber selten…“

Die Affen hielten geschockt den Atem an und riefen im Chor: „NEIN!“

Etwas abseits saß eine dreier Gruppe aus Galmans, von denen der Erste sich die Ohren, der Zweite die Augen und der Dritte den Mund zuhielt. Trotzdem hob Max einen größeren Stein vom Boden auf und zuckte arglos mit den Schultern.

„Euch kann man auch nichts recht machen! Kann ich etwas dafür das ihr so viele seid?“

Endlich…

Die Bit Beast bildeten kleine zweier Gruppen, die zu einem Galman zusammen wuchsen. Der Affe der daraus entstand, suchte sich wiederum einen neuen Partner mit dem es zu einem Galman werden konnte. So ging das Spiel weiter.

Man konnte sich das vorstellen wie eine Zellteilung, nur das der Vorgang rückwärts ablief,

bis aus den dutzenden Affen nur noch einer übrig war – und ausgerechnet der hatte Allegro noch um den Finger geschnürt. Galman kam zu Max gehumpelt und streckte seine Hand aus, um seinen Tribut einzufordern. Etwas unschlüssig blickte dieser ihn an. Wie sollte er den Affen dazu bringen die Springmaus loszubinden?

„Gib ihm die Uhr“, meinte Ray leise.

Max blickte ihn zuerst geschockt an, immerhin verloren sie dadurch ihr Druckmittel, doch Ray nickte ihm nur aufmunternd zu. Da sein Freund so gut mitgespielt hatte, würde er ihm jetzt auch vertrauen müssen.

Nur Widerstrebend kam Max der Aufforderung nach und legte die Uhr in Galmans Hand.

Sofort begann der Affe zu jubilieren und sprang vor Freude im Zick Zack, während Allegro durch die Sprünge schlecht wurde.

„Willst du sie dir nicht umbinden?“, unterbrach Ray schließlich Galman.

Der Affe glotzte ihn an und fragte: „Warum denn das? Armleuchter!“

„Na weil das ein König so macht. Es sei denn natürlich, du hast gelogen und bist gar nicht der König…“

Das machte das Bit Beast wütend. Es griff nach einem Stein und warf ihn Richtung Ray, der gekonnt auswich.

„Natürlich bin ich der König, du Erbsenhirn!“, und wie nicht anders zu erwarten, begann der Affe sich die Uhr um sein rechtes Handgelenk zu binden.

Jedenfalls versuchte er es…

Seine Finger waren allerdings so unförmig, dass es ihm große Schwierigkeiten bereitete, die Schnalle zu befestigen. Zu allem Überfluss, war ihm Allegro immer im Weg. Jedes Mal wenn Galman sein Handgelenk etwas in die Höhe hielt, baumelte ihm der Mäuserich vor der Schnalle herum. Bei diesem Anblick wurde Max bewusst, warum Ray darauf bestanden hatte, dem Bit Beast die Uhr zu geben. Scheinbar hatte er bereits im Vorfeld geahnt, das Galman Probleme haben würde. Schließlich wurde es dem Affen zu bunt.

Mit einem wütenden Aufschrei, riss er Allegro von sich und warf ihn achtlos weg.

Somit war ihre Chance endlich gekommen…

Zunächst einmal warfen sich die beiden Jungs vielsagende Blicke zu.

Dann, langsam, um die Aufmerksamkeit des Bit Beast nicht auf sich zu lenken, huschten sie immer weiter in den Hintergrund, in Richtung Allegro. Als Max sich zu ihm hinabbeugte und ihm die Hand entgegenstreckte, flüsterte er: „Komm schnell.“

Es bedurfte keiner weiteren Aufforderung, da humpelte das malträtierte Bit Beast auf seine Handfläche. Dann machten sich die beiden Jungen daran, so leise wie möglich durch die umliegenden Büsche zu verschwinden. Als Ray einen letzten Blick auf Galman warf, saß das Bit Beast ihnen den Rücken zugewandt, an der Feuerstelle und versuchte immer noch hochkonzentriert, die Schnalle zu befestigen. Für einen flüchtigen Moment, sah er dabei richtig arglos aus…

Dann begann er frustriert die Armbanduhr auf einen Felsen zu schlagen und zu toben. Galman raufte sich die Haare, schlug mit den Fäusten um sich und schrie wie am Spieß. Das Bild reichte, um das letzte bisschen Mitleid aus Ray zu verbannen. So kehrte die Gruppe, dem cholerischen Bit Beast den Rücken zu und suchte das Weite…

Ohne zu ahnen, dass Galman die nächsten hundert Jahre seines ewigen Lebens, hartnäckig damit verbringen würde, sich eine kaputte Armbanduhr um sein Handgelenk zu schnallen.
 


 

*
 

Als Tyson und Kai wieder zurück in Wolborgs Hütte gingen, waren sie ausgelaugt, müde aber auch entspannt. Trotz der Kälte waren sie während der Schneeballschlacht ins Schwitzen geraten und ihre Wangen brannten wie Feuer auf ihrem Gesicht.

Insgeheim war Tyson aber sehr zufrieden mit seiner Leistung. Nachdem er Kai aus der Reserve gelockt hatte, konnte er erkennen, wie er von Minute zu Minute, ausgelassener wurde. Eigentlich war sein Freund doch wie jedes andere Kind, nur eben in einer unterkühlten Familie aufgewachsen.

In der Hütte suchte Tyson erst einmal nach einem Tuch und rubbelte anschließend Kais Haare trocken. Und genau da passierte es…

Er empfand etwas Ähnliches wie Wehmut.

Vollkommen unerwartet, überkam ihn das mefrkwürdige Bedürfnis, einen kleinen Bruder zu haben. Da seine Mutter früh verstorben war und sein Vater seitdem nicht mehr geheiratet hatte, war ihm dieses Glück ausgeblieben.

Eigentlich hätte er gerne so etwas Kleines wie Kai im Haus gehabt, dem er seine Erfahrungen weiterreichen konnte. Jemanden, dem er von seinen eigenen Jugendsünden erzählte, bei den Hausaufgaben half und vielleicht solche Sachen wie Fahrrad fahren beibrachte.

Autofahren kam ja nicht unbedingt in Frage – Max war der Ansicht dass sein Fahrstil gemeingefährlich war. Aber alles andere…

Tyson strich dem Kind vor sich eine Strähne aus dem Gesicht und dachte daran, das Kai womöglich deshalb so sehr an seiner Schwester hing.

„Bist du traurig?“

Aus seinen Gedanken gerissen, blinzelte Tyson perplex. Kurz darauf tat er eine wegwerfende Bewegung und lachte auf: „Ach Quatsch, wieso denn? Sehe ich traurig aus?“

Kai nickte.

„Das bildest du dir ein. Ich habe nur nachgedacht. So schaue ich dann immer.“

„Dann solltest du weniger denken.“

„Wieso?“

Das waren ja ganz neue Töne! Ausgerechnet von der Person, die ihm vorhielt Erwachsen zu werden. Kurz darauf legte das Kind aber seine kleinen Hände auf Tysons Gesicht und sah ihn nachdenklich an. Kai legte den Kopf auf die Seite und meinte schließlich:

„Ich mag dich nicht wenn du traurig bist. Das passt nicht zu dir...“

Und als Tyson keine Antwort gab, fragte Kai:

„Bin ich schuld? Habe ich etwas Falsches gesagt?“

Wie vom Donner gerührt starrte Tyson ihn an. In diesem Moment konnte er nicht anders…

Er zog Kai langsam in eine Umarmung. Zunächst verkrampfte sich der Junge in seinen Armen, wahrscheinlich weil er derlei Zärtlichkeiten nicht gewohnt war, doch als Tyson ihm über den Kopf strich, wurde er zunehmend ruhiger.

„Nein Kai“, versicherte er ihm und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Es liegt nicht an dir. Du hast überhaupt nichts falsch gemacht.“, und als er den Jungen mit einem Seufzen entließ, fügte er noch hinzu: „Eins sag ich dir, wenn ich wieder zuhause bin, suche ich mir eine hübsche Braut und mache mit ihr einen Haufen Babys, die hoffentlich genauso sind wie du. “, er zerzauste spielerisch die Haare seines Gegenübers. „Von wegen harter Kerl, du steckst voller Überraschungen. Weißt du das eigentlich du kleiner Herzensbrecher?“

Ein unwissendes Schulterzucken kam vom dem Kind. Dann dachte er nach und fragte:

„Warum willst du Babys?“

„Das will jeder Mann einmal.“

„Aber du bist doch gar kein Mann.“

Autsch! Das tat weh. Aber rein äußerlich betrachtet hatte Kai ja Recht. Er war aber wie immer zu ehrlich.

„Wie willst du eigentlich Babys machen?“

„OH VER-…“ Tyson fuchtelte wie wild mit den Armen. „Das erkläre ich dir wenn du wieder erwachsen bist!“

„Warum wieder erwachsen?“

„Ich meinte, wenn du erwachsen bist!“

„Ach so... Und warum kannst du mir nicht jetzt sagen, wo Babys herkommen?“

„Themawechsel! Hast du Hunger?“

„Nein. Warum antwortest du mir ni-…“

„Schalalala! Ich kann dich nicht hören! Schalalala!“, verbissen hielt sich Tyson die Ohren zu, während Kai ihn anstarrte als hätte er komplett den Verstand verloren. Es war nicht allein die Tatsache, dass er einem Kind erklären sollte, wofür Geschlechtsverkehr gut war, sondern dass es sich bei diesem Kind ausgerechnet um seinen besten Kumpel handelte!

Insgeheim verfluchte er Dranzer. Wenn Kai noch, wie der Rest der Gruppe, den Verstand eines dreiundzwanzigjährigen besitzen würde, wäre alles noch beim Alten – naja fast.
 

Eine kalte Brise tat sich plötzlich im Raum auf und lenkte ihre Aufmerksamkeit zum Eingang.

Die klapprige Schiebetür der Hütte ging auf und wieder zu und als Tyson aufsah, stand Kai nicht mehr neben ihm, sondern lief Wolborg entgegen.

„Haben sie die Dame Solowéj gefunden?“, fragte er geradeheraus. Das klang schon eher nach ihm, denn es hatte einen ungeduldigen Unterton. Zwar passte Tyson der Themenwechsel in diese Richtung auch nicht, aber immerhin gab es einen Wechsel. Doch wie nicht anders zu erwarten, hatte Wolborg keine Ahnung wovon das Kind sprach. Stattdessen strich sie ihm über den Haarschopf und sagte:

„Verzeih, aber eine Frau mit diesem Namen habe ich nicht gefunden.“

Eine gute Antwort. Es klang nicht so, als habe sie gar nicht nach der Dame Solowéj gesucht, was sich nicht mit Tysons Ausrede gedeckt hätte. Doch dann meinte Wolborg an ihn gerichtet: „Aber ich habe den Aufenthaltsort deiner Freunde ausgemacht.“

„Wirklich?“, euphorisch sprang Tyson auf. Seine Miene versteinerte sich aber, als Kai ihn misstrauisch anschaute.

Es war unglaublich!

Bis vor kurzem konnte er nichts von dessen erwachsenen Alter Ego wiedererkennen, doch wie der deutliche Argwohn in Kais Augen ihn anfunkelte, hätte er schwören können, alles wäre wieder wie früher! Es war der Todesblick den er seit seiner Jugend kannte.

„Welche Freunde?“, kam es selbst für ein Kind zu herrisch.

„Ähm… Das sind Freunde von der Dame Solowéj.“

„Aber was interessieren uns denn diese Leute? Ich dachte wir würden zu ihr gehen?“

„Das erklärt sich so… Ähm…“

„Weißt du etwa doch nicht wo die Dame Solowéj wohnt?“

„Den genauen Ort weiß ich nicht, aber ich weiß, dass meine Freunde wissen, wo sie lebt. Die fragen wir einfach und schon bist du bei deiner Liebsten…“

„Aber wenn du ein Freund von ihr bist, warum hat sie dir das nicht persönlich gesagt?“

„Na weil sie doch denkt, dass alle Menschen böse sind!“

„Denkt sie etwa auch dass du böse bist?“

„Ich? Nein! Sie ist nur unglaublich misstrauisch und wechselt deshalb ständig ihre Wohnung. Du müsstest mal ihre Alarmanlage sehen, da sind Laserschusswaffen eingebaut! Sie hat vierundzwanzig Schlösser an ihrer Tür befestigt und draußen stehen japanische Yakuzas vor dem Haus wache. Der Postbote muss zwei Wochen vorher eine schriftliche Anfrage ins Haus schicken, damit er einen Brief zustellen darf und selbst dann, muss er durch eine dieser Sicherheitskontrollen, wie am Flughafen. “, es war erstaunlich wie eine kleine Lüge, sich immer weiter ausweitete, wenn man erst einmal damit anfing. Tyson besaß die Fähigkeit ein gesamtes Paralleluniversum zu erschaffen - das allerdings nicht vor Logik strotzte.

Die Worte kamen aber so aus seinem Mund gesprudelt, dass Kai nicht mehr folgen konnte. Er schaute ihn nur aus großen Augen an und meinte schließlich verwirrt:

„O-kay.“

Innerlich rief eine kleine Stimme in Tysons Hinterkopf erleichtert „Puh“ und strich sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte es vollbracht Kai quasi mundtot zu lügen. Sein Glück war dabei, dass er die Lüge einem sechsjährigen Knirps auftischte. So ließ Tyson den durchgewirbelten Kopf des Kleinen, durchgewirbelt sein und wandte seine volle Aufmerksamkeit Wolborg zu.

„Also, du hast es gehört. Mein Kumpel hier will zu seiner Herzdame. Könnten wir also gleich los und meine Freunde abholen?“

Wolborg nickte langsam und schien es für besser zu halten, sich nicht einzumischen. Sie ging an eines der altmodischen Regale und zog zwei altertümliche Fellmäntel aus einer Reihe.

„Zieht euch das an. Ihr werdet sonst frieren.“, forderte sie leise. Tyson tat, wie ihm geheißen und packte zuerst Kai, dann sich selbst in die dicken Umhänge ein.

Sie sahen aus, als würden sie einen Poncho tragen, doch von Kälte war nichts mehr zu spüren.

Dann tat Wolborg eine ausladende Bewegung Richtung Tür.

„Kommt. Es wird Zeit.“, war alles was sie sagte.
 


 

*
 

Bitte schaut über die Rechtschreibfehler hinweg. Habe das Kapitel nicht mehr durchgelesen, weil ich es schon so oft geändert, gelöscht, geschnitten, gefilzt und wieder geändert habe, dass ich dieses blöde Teil einfach nur noch on sehen will X__x
 

Trotzdem wieder vielen Dank an die Kommischreiber vom letzten Kapitel. Hoffe auch dieses Kapitel gefällt euch ^_^



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Akikou_Tsukishima
2015-10-05T22:21:05+00:00 06.10.2015 00:21
Irgendwie rückt die story immer mehr an kai x tyson und ray x max ran

Das ist genau das was ich ja eigentlich nicht lesen will...

Aber die story ist einfach zu geil dass ich nicht aufhören will

Da unterhalten sich ray und max erst mal über 1-kind-politik in china obwohl sie eigentlich andere sorgen hätten
Von:  Tokiogirl06
2012-10-31T17:24:42+00:00 31.10.2012 18:24
Hallöchen. ^^

Wolborg wirkt ja ganz nett, aber irgendwie macht mich das gerade misstrauisch. Bin gespannt was sie als Gegenleistung einfordert für ihre Hilfe.
Kai ist echt drollig.
Das gespann Tyson Kai passt wirklich gut zusammen, echt puztig. Ich fand die Szene toll als Tyson traurig schaute und Kai darauf reagiert hatte, echt niedlich.

Ich wusste nicht das Galman ein so nerviges Bit Beast ist.
Allegro hat mir echt leid getan.

Ich finde das Kappi ist quallitativ genau so gut wie die anderen. Auch wenn du es am Ende schon nicht mehr sehen konntest.^^

Bin gespannt wie es weiter geht. LG
Von:  Minerva_Noctua
2012-10-28T09:13:41+00:00 28.10.2012 10:13
Ich kenne das Gefühl, dass man ein Kapitel einfach nur noch los werden will.
Aber ich kann nicht erkennen, dass es in der Qualität den anderen Kapiteln hinterher hinkt.
Ein tolles Kapitel!
Mir ist beim Überfliegen aufgefallen, dass ich ein paar Sachen schon im vorherigen Kommentar geschrieben habe*sry*
Es passiert immer so schön viel, da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll und ob ich auch wirklich auf alles zu sprechen komme.

Kai und Tyson sind zusammen extrem süß. Ich liebe die Szenen mit ihnen.
Trotz aller Andeutungen klingt das für mich so, dass Tyson sich doch nicht mehr in Kai verlieben wird. Zumindest sollte es schwierig werden mit ihm viele kleine Babys zu kriegen:D
Tysons Gedanken lassen mich vermuten, dass er zu dem Typ Mensch gehört, der sich gerne kümmert und das Gefühl des Gebraucht werdens braucht. Eine gewisse Einsamkeit und Vernachlässigung in der Vergangenheit könnte der Grund dafür sein.
Seine Reaktion auf Kais Frage, wie man Babys macht, ist herrlichXD
Aber mir fällt auf, dass er Kai als seinen besten Kumpel bezeichnet hat. Das wäre mir neu.
Na, ich bin gespannt, wie sich ihr Verhältnis entwickelt. Vor allem, wenn Kai wieder erwachsen ist.
Es könnte in einer kleinen Katastrophe enden, wenn der Kleine mitkriegt, dass Tyson nicht nach seiner Dame sucht. Aber vielleicht können sie ihn bis in die Menschenwelt hinhalten.
Überhaupt Kais Verhalten ist zucker. Vor allem, als er Tysons Kopf umfasst und ihm sagt, dass er nicht traurig sein soll<3
Ach, ich liebe die Beiden^^!
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass vielleicht Dranzer Kai und Tyson beim Toben beobachtet hat.
Ich hoffe, Wolborg möchte nicht Kais Augen als etwas Seltenes.

Ray und Max haben eine gute Methode gefunden den dummen Affen los zu werden*cheers*
Ich finde es gut, dass du das ernste Thema Mädchenhandel angesprochen hast. China wird in Geschichten viel zu oft verherrlicht und das gefällt mir nicht.
Ich verstehe zwar nicht, wie Mariah sagen konnte, dass das Kind nicht von Ray ist, aber ich finde es gut, dass Max seine Meinung dazu sagt. Langsam sollte sich Ray dafür öffnen, dass Mariah einfach nur etwas sehr böses gesagt hat und es ihr leid tut.
Armer Allegro. Wird da von Galman malträtiert. Würde die Maus denn nicht auch als Bit-Beast reichen, um in die Menschenwelt zu gelangen?

Ich freue mich auf die Fortsetzung und bleibe wie immer gespannt, was du dir für die Protagonisten ausgedacht hast^^!

Bye

Minerva



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