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Die Geister die wir riefen...

von

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„Schneeflocken?“, Kenny rümpfte die Nase und schaute auf in den Himmel, als die erste Flocke langsam aus einer Wolke tänzelte und direkt auf seiner Brille platz nahm.

„Was ist das bloß für ein Tag?“

Er schüttelte sich, denn seit einpaar Stunden ging eine Kälte durch die Stadt, die man sich selbst in den Nachrichten nicht mehr erklären konnte. Es kam öfters Mal vor, dass der Wetterdfrosch sich um einpaar Grad vertat, heute war jedoch ein angenehm warmer Tag vorhergesagt worden. Vor einpaar Stunden hatte das Thermometer aber einen beispiellosen Absturz gemacht. Nun kamen die ersten Schneeflocken und das Ende Oktober. Kenny blinzelte auf seine Armbanduhr, stellte jedoch irritiert fest, dass es viel zu früh für die eintretende Dämmerung war. Dennoch wirkte die Sonne, als wolle sie bereits über den Horizont verschwinden. Der Tag wurde von Stunde zu Stunde seltsamer…
 

„Etwas vorsichtiger, verdammt noch mal!“

Kenny schüttelte sich und obwohl es ihm zuwider war, tat er den Rückweg zum Haus der Kinomiyas an, als er Hitoshis aggressive Stimme durch die Flure poltern hörte. Hätte er seine Jacke nicht zuhause vergessen, wäre er lieber stundenlang draußen gestanden, statt sich dieses Elend weiter mit anzusehen. Doch die Kälte war einfach nicht mehr auszuhalten und er konnte Hitoshi nicht mit den Ermittlern alleine lassen – nicht bei seiner erregten Verfassung.

Kurze Zeit später machte er den ältesten Spross der Kinomiyas im Flur kurz vor dem Badezimmer aus, wo er vor einer Vitrine stand und drohte mit einem der Ermittler in die Haare zu geraten.

„Sagen sie mir nicht wie ich meine Arbeit zu machen habe!“

„Das müsste ich nicht wenn sie… Finger weg!“, unwirsch riss Hitoshi dem Beamten eine altmodische japanische Porzellan Geisha aus den Händen. „Das ist ein Erbstück! Wenn mein Großvater sehen würde wie sie unser Haus auf den Kopf stellen, dann…“

„Mr. Kinomiya, bitte entfernen sie sich aus dem Haus. Sie stören unsere Ermittlungen.“

„Einen Scheißdreck tue ich!“

„Geben sie mir die Porzellanpuppe.“

„Die gehörte meiner Großmutter! Mein Großvater ist vollkommen vernarrt in dieses Stück. Sie hat einen großen Erinnerungswert für ihn. Was wollen sie überhaupt mit ihr? Sie ist viel zu klein, als das man irgendetwas darin verstecken könnte!“

Er zupfte der Geisha den roten Miniaturkimono, mit den feinen goldenen Stickereien darauf, zu Recht und stellte sie zurück in die Vitrine. Neben ihm sah Kenny hilflos dem Spektakel zu. Er konnte sich vorstellen, dass nicht nur Großvater Kinomiya sondern auch Tyson furchtbar wütend wäre, wenn sie von der Hausdurchsuchung Wind bekamen.

Zu allem Überfluss hatte sich eine schaulustige Meute vor dem Haus versammelt. Alles Nachbarn die herbeigeeilt waren, nachdem der erste Streifenwagen vor dem Anwesen der Kinomiyas hielt. Zu ihrem Glück, kannte Kenny einpaar von ihnen, die er höflichst darum bat, die Meute etwas im Zaum zu halten oder nachhause zu schicken.

Leider erwies sich dieses Vorhaben schwieriger, als einen eingesessenen Kaugummi vom Hosenboden einer Jeans zu rubbeln, obwohl sich die Helfer sichtlich Mühe gaben. Vor allem die älteren Tratschweiber waren eine menschlich gewordene Plage. Sie standen Grüppchenweise an der Absperrung und bekundeten lautstark ihre Vermutungen.

Selbst von der Türschwelle des Eingangs konnte Kenny die Unterhaltung verfolgen.

„Das ist doch wirklich nicht mehr normal. Irgendetwas stimmt da nicht! Gestern der Krankenwagen und heute eine Hausdurchsuchung…“

„Da fällt mir ein, heute morgen hat ein Inspektor bei mir geklingelt und mich zu den Kinomiyas befragt…“

„Nein! Bei dir auch?“

„Bei mir auch!“

„Also so etwas…“

Haltloses Geschnatter entstand, bei der jede dramatisch über ihre Befragung berichtete. Der Anblick ließ Kenny seufzen und er wandte den Blick wieder zu Hitoshi, der ebenfalls in eine aufgebrachte Debatte verwickelt war. Er versuchte verzweifelt die Ehre seiner Familie aus dem Schmutz zu ziehen, was aber zur Folge hatte, dass er den Leuten von der Spurensicherung, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, auf die Finger klopfte und somit natürlich für Unmut sorgte. Als Kenny sich kurz vor einem Rausschmiss sah, kämpfte er sich durch die Gruppen aus uniformierten Männern, die sich im engen Flur versammelt hatten, zu Hitoshi.

„Was wollen sie denn mit dem Schwamm?!“, blaffte der gerade einen Mann an, welcher im Badezimmer alle Schränke durchwühlte. „Mein Großvater wurde bestimmt nicht tot geschrubbt! Sind sie jetzt total blöde im Kopf?!“

„Hey Hiro, lass uns rausgehen.“, Kenny legte seine Hände auf die Schultern des erregten Enkels und drehte ihn zu sich. „Das hat doch keinen Zweck.“

„Die demolieren unser Haus! Opa wird durchdrehen wenn er davon erfährt. Ich kann da doch nicht herumstehen und…“

„Wir haben keine andere Wahl! Die sitzen am längeren Hebel. Mach es nicht schlimmer, komm stattdessen raus und lass die Leute ihre Arbeit machen. Desto schneller die arbeiten, desto eher sind sie weg.“

„Da spricht jemand ein wahres Wort…“, murmelte der Mann der die Schränke durchsuchte.

Hitoshi schenkte ihm einen vernichtenden Blick und zog sein Handy aus der Hosentasche. Mit Kenny im Schlepptau, machte er sich auf den Weg nach draußen, tippte aber mit tief zusammengezogenen Brauen eine Nummer ein.

„Wen rufst du an?“

„Meinen Vater.“

Kenny unterdrückte ein Kommentar, ahnte aber das Hitoshi keinen Erfolg haben würde. Seit Beginn der Hausdurchsuchung hatte er mehrere Male versucht seinen Vater zu erreichen, doch ein positives Ergebnis blieb aus. Laut Hitoshi war er gerade auf einer Expedition in Peru, was die Sache natürlich erschwerte. Kenny wusste zwar nicht viel über dieses Land, konnte sich aber vorstellen, dass dort die Telefonverbindungen samt Handynetze miserabel waren. Er meinte sogar mal gehört zu haben, dass in diesen Ländern Telefonkabel geklaut wurden, um an das Kupfer zu kommen, welches darin verarbeitet lag.

Wie nicht anders zu erwarten, klappte Hitoshi nach einpaar Sekunden das Handy wieder zu und murmelte: „Mailbox.“

Kenny antwortete nicht. Er war mit seinem Latein einfach am Ende. Alle seine Freunde waren verschwunden und seine geliebte Dizzy scheinbar mit ihnen. Zu gerne hätte er sie um Rat gebeten, stattdessen blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit Hitoshi auf die Veranda zu stellen und missmutig den ein und ausgehenden Leuten Todesblicke zuzuwerfen.

Keiner der beiden getraute sich zu der Menge vor dem Haus zu gehen. Die neugierigen Blicke der Meute waren kaum zu übersehen, bis eine der Personen Hitoshis Aufmerksamkeit erregte.

Ein ergrauter Mann stieg vor dem Haus aus einem alten Mitsubishi Lancer und steuerte zielsicher den Kiesweg zum Anwesen an auf den Eingang zu. Kenny wollte dem Mann eigentlich keine Beachtung schenken, doch er erkannte, wie Hitoshi seine Brauen tief zusammenzog und die Mundwinkel steil hinab glitten. Der pure Zorn sprach aus seinem Blick und Kenny musste zugeben, dass er Tysons älteren Bruder noch nie so wütend erlebt hatte.

Schließlich stützte sich Hitoshi von der Häuserwand ab und kam dem Mann mit geladenen Schritten entgegen: „Erklären sie mir das. Sofort!“

„Alles zu seiner Zeit…“

„Oh nein! Ich will auf der Stelle wissen was dieser…“ Hitoshi schien nach den richtigen Worten zu suchen, „…Überfall auf meine Familie zu bedeuten hat!“

Der ältere Herr lachte amüsiert und Kenny trat vorsichtig an die beiden Personen heran.

„Ich bitte sie Mr. Kinomiya. Das ist keineswegs ein Überfall.“

„Warum haben sie sich dann nicht angekündigt?“

„Eine Hausdurchsuchung wird niemals angekündigt. Warum auch? Wo kämen wir denn hin, wenn wir alle Verbrecher darauf hinweisen, dass demnächst ihre Wohnung gefilzt wird.“

„In diesem Haus lebt aber kein Verbrecher!“

„Das wird sich nach der Durchsuchung zeigen.“

„Das darf doch nicht wahr sein...“, Hitoshi fasste sich an die Stirn als stünde er kurz vor einem gewaltigen Wutausbruch. Er musste vollkommen überfordert mit dieser Situation sei. Tysons Bruder war stets für seine ruhige und souveräne Art bekannt gewesen, doch dieses Spektakel war eindeutig eine Spur zu hoch für ihn. Um die Wogen etwas zu glätten fragte Kenny: „Verzeihung, aber sind sie der Inspektor?“

Zum ersten Mal schenkte ihm der Mann einen Blick. Er taxierte ihn von oben bis unten und reichte ihm schließlich die Hand. „Der bin ich. Kato mein Name. Ich mag mich irren aber kann es sein, dass es sich bei ihnen um Kyouju handelt?“

„Nennen sie mich einfach nur Kenny. Meinen echten Namen benutzen meine Freunde kaum.“

„Kenny? Gut, gut… Fester Händedruck, gefällt mir!“

„Ähm… danke.“

„Ich wollte sie vor kurzem aufsuchen. Nun ist mir allerdings klar, weshalb ich sie nicht finden konnte. Sie scheinen der Familie mit aller Kraft beizustehen. Lobenswert. Wirklich lobenswert! Ich würde sie trotzdem noch gerne befragen.“

„Worüber?“

Misstrauisch zog Kenny die Hand zurück.

„Zum Beispiel wann sie ihre Freunde zuletzt gesehen haben.“

„Freitagabend. Wir haben Max und Ray vom Flughafen abgeholt und sind dann in ein Restaurant um einen weiteren Freund zu holen. Wir haben dort gegessen und sind dann bis in die frühen Morgenstunden um die Häuser gezogen.“

„Interessant. Und weiter?“

„Nichts, das war es auch schon.“

„Hmm…“, der Inspektor warf einen flüchtigen Blick auf Hitoshi, der genauso interessiert den Erzählungen lauschte. „Kenny, mein guter Junge. Könnten wir unter vier Augen miteinander sprechen?“

Etwas unschlüssig druckste Kenny herum. Er konnte sich denken dass Inspektor Kato nur gute Miene zum Spiel machte, deshalb traute er ihm nicht und schickte einen verunsicherten Blick Richtung Hitoshi. Der verschränkte die Arme und meinte:

„Lass dich bloß nicht täuschen! Der Kerl ist ein Mistkerl wie er im Buche steht. Erst gaukelt er dir den verständnisvollen Mann vor, zwei Stunden später stehen seine Affen mit einem Durchsuchungsbefehl vor deiner Tür.“

„Es gibt so etwas wie Beamtenbeleidigung, Mr. Kinomiya.“

„Mir Scheißegal! Ich gebe ihnen nur eine Sache mit auf den Weg... Wenn sie damit fertig sind, unser Haus auf den Kopf zu stellen und dann bedauerlicherweise erkennen müssen, dass sie die ganze Nachbarschaft umsonst angelockt haben, damit diese sensationsgeile Meute unser Haus belagern kann, werde ich ihnen, und jedem einzelnen dieser Idioten da drinnen, drei Anwälte pro Kopf auf den Hals hetzen!“

Inspektor Kato sah über diesen impulsiven jugendlichen Ausbruch hinweg und schenkte Hitoshi ein nachsichtiges Lächeln.

„Na, na, na, junger Mann… Ich kann verstehen dass sie aufgebracht sind. Diese Meute war nicht meine Absicht. Allerdings muss ich zu meiner Verteidigung sagen, dass die nicht von meinen Leuten angelockt wurde. Unsere Autos parken drei Straßen weiter, aus Diskretion vor ihrer Familie. Es ist die Presse die mal wieder für Aufregung sorgt.“

Augenblicklich schnellten die Blicke der beiden Männer zum Eingangstor. Erst jetzt fiel ihnen auf, dass von den Streifenwagen tatsächlich jede Spur fehlte.

„Welche Presse?“

„Eine wirklich penetrante Journalistin. Ich habe sie vorhin schon mehrmals gebeten zu verschw-… Mr. Kinomiya, halt!“

Noch ehe die Gruppe blinzeln konnte, war Hitoshi an ihnen vorbei gerauscht zum Eingangstor. Die Beschreibung hatte perfekt zu Ming-Ming gepasst und er konnte sich gut vorstellen, dass sie Blut witterte. Und tatsächlich…

Als Hitoshi den ersten Schritt aus dem Tor hinaus tat und von Zurufen der Schaulustigen bombardiert wurde, machte er hinter der Menge, auf der anderen Seite der Straße, einen blauen Haarschopf aus, der ungeduldig darauf wartete, dass der Kameramann sein Equipment aus einem schwarzen Minivan holte, der neben der Einfahrt einer kleinen Doppelhaushälfte parkte.

Bevor ihn die Stimmen von Inspektor Kato und Kenny erreichten, kämpfte er sich durch die Leute Richtung Fernsehteam. Einige der Menschen wollten ihn aufhalten, mit ihm sprechen, fragen ob es ihm gut ging, darunter waren auch Nachbarn die er seit Ewigkeiten kannte, doch Hitoshi hatte keine Nerven dafür, stattdessen schüttelte er die zerrenden Hände ab. Für ihn wirkten alle diese Leute, ob gut oder böse gesinnt, irgendwie bedrohlich.

Als er über die Straße laufen wollte, wäre er beinahe vor ein Auto geraten. Es bremste kurz bevor die Stoßstange seine Kniescheiben zertrümmern konnte. Der Fahrer kurbelte das Fenster hinunter und schrie ihm etwas mit hochrotem Gesicht entgegen, doch Hitoshi wandte sich ab und lief weiter zum Minivan. Sein Atem stieg in ungeduldigen Zügen vor ihm auf und er fror, doch selbst die Tatsache dass sich eine feine weiße Neuschneeschicht auf den Gehweg gelegt hatte, blieb Hitoshi in seiner Hast verborgen. Gerade als er den Van erreichte, kläffte Ming-Ming ihren Assistenten an, warum die Kamera noch nicht an sei.

„Ming!“

Sie drehte sich um und erstarrte.

„Oh! Ähm… Hi! Hiro? Mit dir habe ich ja überhaupt nicht gerechnet.“, sie gluckste verlegen und ihr Blick sprang aufgeregt in alle Richtungen. Ihm entging nicht, wie sie angespannt auf ihrer Unterlippe kaute, während sie sich selbst umschlang - vor Kälte bibbernd. Sie trug nur einen schwarzen Blazer, darunter entblößte ein weites Dekolleté ihre vom Sonnenstudio braungebrannte Haut, denn auch sie war wohl von dem Wetterumschwung überrascht worden.

„Du hast nicht mit mir gerechnet? Neben der Hausnummer steht ganz groß Kinomiya! Wie viele Leute kennst du mit diesem Nachnamen?“

„So selten ist der Name auch nicht…“, sie hauchte in ihre Hände.

„Ming. Ich will dass du verschwindest.“

„Warum?“

„Das fragst du noch? Ich will meine Familie beschützen. Es ist schon genug vor dem Haus los, da muss das Ganze nicht noch in der Presse platt getreten werden.“

„Seit wann kümmert dich deine Familie?“

Wieder dieser anklagende Satz.

„Das ist ein Extremfall. Es geht hier nicht um Kindereien, die sie eigentlich auch alleine geregelt bekommen. Sie brauchen mich jetzt wirklich!“

Als Ming-Ming trotzig den Kiefer vorschob, seufzte Hitoshi. Er wollte nicht mit ihr streiten. Eine zeitlang hatte er ihr Team trainiert, deshalb kannte er sie und ihre Macken recht gut. Sie war nicht seine Lieblingsschülerin gewesen, aber auch nicht seine Schlimmste.

Ihr Kollege Brooklyn hatte viel mehr Ärger bereitet. Ming-Ming war dagegen nur Mediengeil. Es war recht anstrengend gewesen mit anzusehen, wie sie bei jeder Kamera ihr zuckersüßes, aber auch recht kindisches Lächeln aufsetzte, ihre Stimme piepsig und hoch wurde und sie ihre Lolita Allüren anstimmte. Dabei stellte sie sich stets in ihren Rüschen besetzten Kleidern in Pose und tanzte mit großen Kulleraugen und einem ständigen Kichern auf den Lippen durch die Fotografen. Ming-Ming hatte das Rampenlicht gebraucht wie die Luft zum Atmen. Ohne die Kamera fühlte sie sich bedeutungslos und uninteressant. Erst später wurde Hitoshi klar, das die junge Frau eigentlich unter gewaltigen Minderwertigkeitskomplexen litt, da sie sich nur als Star geliebt fühlte.

Sich dieser Marotte bewusst, sprach Hitoshi deshalb in versöhnlichem Ton:

„Bitte Ming. Geh einfach. Mach es der alten Zeiten willen.“

Sie stöhnte genervt und schüttelte energisch den Kopf.

„Och menno, Hirolein! Das kann nicht dein Ernst sein! Weißt du wie herrlich diese Geschichte ist? Du musst doch auch erkennen, dass das Ganze etwas mit dem Brand bei Kai zu tun haben muss. Überall wo dein Bruder samt Anhang auftaucht, ist etwas Schlimmes passiert. Wusstest du dass diese Nacht eine Krankenschwester im Hospital angegriffen wurde? Es ist bestialisch! Die Frau ist taub, blind und hat keine Zunge mehr! Die haben mich rausgeschmissen als wir sie filmen wollten, dabei musste ich durch ein offenes Fenster einsteigen - wie ein Einbrecher!“

„Das wundert dich?“

„Ich zeige nur Initiativbereitschaft.“

„Das ist skrupellos!“

Ein verständnisloser Blick traf ihn und es hätte Hitoshi nicht gewundert, wenn sie tatsächlich nichts verwerfliches in ihrer Handlung sah. In der Zwischenzeit hatten es Kenny und der Inspektor durch die Menge zu ihnen geschafft. Kato stellte sich neben Hitoshi auf und pflichtete ihm bei:

„Sie werden jetzt wirklich gehen! Ich kann Mr. Kinomiyas Standpunkt nur zu gut verstehen. Sie müssen auch seine Sicht der Dinge berücksichtigen. Noch suchen wir nur eventuelle Zeugen, allerhöchstens kann man von möglichen Verdächtigen sprechen. Eine Hetzkampagne gegen noch nicht überführte Täter wird die Polizei nicht unterstützen.“

„Na toll! Ich habe gerade die Kamera angemacht und die Verbindung zum Sender steht auch…“, stöhnte Ming-Mings Assistent. Er wollte das besagte Stück bereits wieder abstellen, da schnatterte sie:

„Die bleibt an, Shouta! Mein Gott, sei ein Mann und beweis endlich das du zwei Eier in der Hose hast!“, herrisch wandte sie sich wieder Hitoshi zu und meinte, „Wenn du willst, lasse ich deinen Namen aus dem Spiel, aber den Bericht werde ich trotzdem senden. Übrigens verstoße ich gegen kein Gesetz, so lange ich nicht die Ermittlungen behindere, geschätzter Inspektor!“

Ehe Kato etwas erwidern konnte, stieß Hitoshi hervor:

„Ich will dass du Tyson in Ruhe lässt! Er ist kein wahnsinniger Brandstifter!“

„Tja, da sagen die Beweise wohl was anderes.“ trällerte Ming-Ming, in einem Ton, der gekonnt provozierte. „Dein kleiner Saubermann scheint wohl doch nicht so ein unbeschriebenes Blatt zu sein. Was dem Ganzen hier etwas Ironisches verleiht, findest du nicht auch? Früher war er der Unbestechliche, der absolute Superheld, und jetzt ist er ein kleiner bekloppter Irrer, der Häuser in Brand steckt und Krankenschwestern die Zunge abschneidet. Würde mich nicht wundern, wenn der Rest der Truppe genauso Irre ist. Max ist doch vom Charakter her fast vom selben Schlag wie Tyson…“

Kenny zog die Brauen ins Gesicht als er begriff. Diese ganze Aktion war also nicht gegen die Kinomiyas gerichtet, sondern war Ming-Mings persönlicher Rachefeldzug gegen Max. Natürlich war ihr nicht entgangen wie nah sich die Gruppe stand, wie hätte sie Max also besser bestrafen können, als seine besten Freunde zu ruinieren und ihn vielleicht auch noch mit ins Verderben zu ziehen?

Kenny wusste wie verletzt Ming-Ming gewesen war, als sie nach dem One-Night-Stand wie eine heiße Kartoffel von Max fallen gelassen wurde – immerhin hatte er die Hassmails selber zu Gesicht bekommen, mit denen sie dessen Handy bombardierte– doch eine ganze Gruppe, wegen einer alten Liebschaft als gewalttätige Verbrecher darzustellen?

Hitoshi hielt inzwischen geschockt den Atem an.

„Welche Abgründe sich hinter der netten Fassade doch auftun, oder?“, trällerte Ming-Ming inzwischen fröhlich. Es verschlug der Gruppe für eine Sekunde die Sprache. Mit einem feixenden Gesicht drehte sich Ming-Ming zu ihrem Assistenten und fügte unbekümmert hinzu:

„Also wenn du jetzt - der alten Zeiten willen - nicht erwähnt werden willst, geh lieber aus dem Bild, Hiro. Shouta, wir fangen an. Stell die Kamera auf Play, wir senden live.“

Der Assistent werkelte an dem schweren Gerät auf seiner Schulter herum, während die Journalistin sich voll Freude über Gesicht und Frisur fuhr, gleichzeitig ihre Position einnahm. Sie zwirbelte an einer Locke, um ihr die nötige Geschmeidigkeit zu verleihen und gab Shouta mit einem Nicken zu verstehen, dass sie bereit war. Er drückte gerade einen Knopf, sie öffnete mit einem koketten Lächeln den Mund zur Einleitung, als Hitoshi aus seiner Starre aufwachte und mit vor Zorn bebender Stimme sprach:

„Du kleine Bordsteinschwalbe hältst mir eine Predigt über Abgründe? Was ist denn mit dir?! Jeder weiß das du dich bei deinem Sender nur hoch gevögelt hast!“

Anstatt dass Ming-Ming in die Kamera sprach, wurde ihr Gesicht aschfahl. Der Bericht, der wie eine kreative Quelle darauf wartete, aus ihr hervor zu sprudeln, ging in einem leisen Fiepen unter. Zur Salzsäure erstarrt blickte sie einige Sekunden ungläubig in das Objektiv, bis sie sich mit zitternder Lippe zu Hitoshi umwandte und ihn aus tellergroßen Augen anstarrte.

Der grinste sie nur siegessicher an. Ein wunder Punkt war gefunden…

„Oh ja Ming, “ feixte er spöttisch und seine Braue schoss in die Höhe. „Es spricht sich allerhand herum bei deinem Sender. Falls du mir nicht glaubst, ich habe diese Info aus einer zuverlässigen Quelle. Meinem Schwiegervater gehört der Sender und meine Verlobte arbeitet dort ebenfalls als Redakteurin. Du bist ihnen ein gewaltiger Dorn im Auge, weil sie Angst haben das der Sender zu einem Freudenhaus verkommt.“

„Ähm… Ming? Wir sind live, nur zur Info…“

„Schalt ab!“ krächzte sie und ihre Augen begannen in Tränen zu schwimmen.

Doch Hitoshi kannte keine Gnade mehr. Weshalb sollte er Skrupel zeigen, wo Ming-Ming seinen Bruder für ein Verbrechen beschuldigte, dass noch gar nicht erwiesen war? Er sah vollkommen rot, obwohl er doch eigentlich hätte wissen müssen, dass seine Worte auch seinen zukünftigen Schwiegereltern schadeten. Stattdessen höhnte er:

„Ich bin letztes Jahr mit meiner Verlobten und einpaar Kollegen von ihr was trinken gewesen. Einer deiner Redakteure hat sich dabei so abgeschossen, dass er uns alles im Suff erzählt hat. Er hat gemeint du hättest dich ihm angeboten wie eine läufige Hündin. Was für Abgründe, nicht wahr, Frau Saubermann?!“

„SCHALT AB!“, kreischte die schrille Stimme über die Menge. Zum ersten Mal galt die Aufmerksamkeit nicht mehr dem Kinomiya Anwesen und einige der Leute drehten sich neugierig nach der Ursache des Schreis um. Durch ihren panischen Ausruf wurde Shouta total hektisch. Mit zittrigen Fingern versuchte er die Kamera abzustellen und die Verbindung zum Sender zu kappen, doch da liefen bereits die ersten Tränen der Scham über Ming-Mings Gesicht.

Gedemütigt hielt sie ihre Hand vor die Augen und rote Flecken brannten auf ihren Wangen. In etwa genauso hysterisch rief Shouta: „Es ist zu spät! Es ist schon im Kasten! Verdammt, sorry!“

„Du scheiß Idiot!“

Total perplex beobachtete die Gruppe, wie Ming-Ming wutschnaubend einen Satz nach vorne machte und ihrem Kameramann mit dem Mikrofon eine überzog. Als sie ihm noch einen heftigen Stoß verpasste, ließ er vor Schreck das Gerät fallen, das scheppernd zu Boden fiel, jedoch deuteten die blinkenden Lämpchen darauf an, dass es noch nicht abgeschaltet war.

„Alles Live! Ich bin gedemütigt! Du Idiot!“ Ihre Stimme überschlug sich förmlich.

Der Inspektor ging dazwischen. Er trennte die aufgebrachte Furie von ihrem Opfer, doch bevor er ein Machtwort sprechen konnte, stieß sie sich alsbald wieder weg und schrie Hitoshi an: „Du Arschloch! Ganz Tokio hat das mitbekommen! Was soll das verdammt, willst du mich fertigmachen?! Ich bringe dich vor Gericht wegen Rufmord! Ich mache dich fertig, du Scheißkerl!“

„Jeder wie er es verdient. Du bist selbst für deine Abgründe verantwortlich!“

„Mistkerl!“

Sie warf ihr Mikrofon nach ihm, Hitoshi wich aus. Doch sie stürmte bereits auf ihn zu und trommelte ihm wütend auf die Brust, dass sich ihre Frisur an etlichen Stellen lockerte. Mit gefletschten Zähnen holte sie immer wieder aus. Kenny trat geschockt einpaar Schritte von dem Szenario zurück. So hatte er den Kinderstar noch nie erlebt. Sie lief zu Hochtouren auf, wie in völliger Raserei. Es brach ein heilloses Chaos aus. Die Stimme des Inspektors donnerte über den Platz und rief zur Ordnung auf, doch Ming-Ming hörte nicht auf, Hitoshi mit Flüchen und Tritten zu drangsalieren. Schaulustige wichen von den beiden weg. Schließlich packte Hitoshi sie mit einem schraubstockartigen Griff an den Handgelenken, kam ihrem Gesicht ganz nah und zischte voller Genugtuung: „Es reicht, du bekloppte Irre!“

Dann stieß er sie weg – und in seiner Wut mit zu viel Kraft.
 

Es war gewiss nicht Hitoshis Absicht gewesen Ming-Ming zu verletzten. Doch wenn es etwas Berechenbares an der Zukunft gab, dann war es, dass sie unberechenbar war, vor allem wenn etwas so schnell passierte, wie in diesem Moment. Anders hätte man es sich sonst nicht erklären können, dass ausgerechnet in jener Sekunde, Ming-Ming auf der schmierigen Schneeschicht ausrutschte und mit den Armen wild flatternd, geradewegs mit dem Rücken voraus auf den Gehweg stürzte. Mit einem schmerzvollen Ausruf landete die Journalistin mitten in einer Einfahrt, blieb dort stöhnend liegen….

Und erkannte genau wie alle anderen zu spät den Wagen, der Rückwärts aus der Einfahrt heraus fuhr. Genauso wenig sah der Inhaber des Wagens, die auf dem Boden liegende Frau im Rückspiegel. Er bemerkte sie erst, als ein Holpern das Auto durchfuhr, in jenem Moment als er sie überrollte…
 

Es wurde still auf dem Platz.

Der Fall einer Stechnadel wäre laut hörbar gewesen.

Dann begann ein Kind auf den Armen seiner Mutter zu weinen und schrie: „Die schöne Fernsehfrau ist platt!“ Die Frau verdeckte ihrem Sohn die Augen und kämpfte sich durch die Menge zurück in ihr Haus. Dann schwoll der Lärm um das Geschehen an.

Der Inspektor, genauso entsetzt wie alle anderen, löste sich aus seiner Starre und eilte zum Auto, aus dem der junge Inhaber stieg. Als er die regungslosen Beine unter seinem Wagen bemerkte, schlug er sich die Hände vors Gesicht und fluchte lauthals: „Wo kommt denn die her?! Die Einfahrt war frei! Sie war frei, verdammt!“

Hitoshi blickte ebenfalls erstarrt auf den Körper unter dem Wagen.

Aus dem dazugehörigen Haus zur Einfahrt, kam ein älteres Ehepaar herausgestürmt, angelockt von den Rufen ihres Sohnes. Der schwang den Kopf zur Gruppe und er deutete fahrig auf den leblosen Körper.

„Das muss Absicht gewesen sein! Ihr müsst das doch gesehen haben! Die Alte hat sich doch vor die Karre geworfen!“

„Ruhig. Komm erst mal runter…“

„Fass mich nicht an du alter Sack!“, unwirsch riss sich der junge Mann los, doch erbleichte augenblicklich als Inspektor Kato seine Dienstmarke hervorzog und ihm unter die Nase hielt. Als seine Eltern mit sorgenvollen Mienen das Geschehen erreichten, war es vorbei mit seiner Selbstbeherrschung. Seine Augen begannen in Tränen zu schwimmen, als er sich zu ihnen wandte und wimmerte: „Ich habe sie wirklich nicht gesehen, Vater! Was mache ich denn jetzt? Ich habe den Führerschein erst seit drei Monaten!“

„Sag nichts!“, zischte der Vater bang und wandte sich zu seiner Frau, mit der Aufforderung ihren Anwalt anzurufen. Inspektor Kato beugte sich mittlerweile unter den Wagen und zog eine kleine Taschenlampe aus seinem Mantel hervor. Der Mangel an Tageslicht erschwerte die Sicht, doch als er mit dem Lichtkegel den Körper entlangfuhr, wurde ihm klar, dass hier nichts mehr zu retten war. Noch ein flüchtiger Blick Richtung Kopf und er entschied, dass der Anblick zu grausam war, um ihn der Öffentlichkeit zuzumuten. Er würde den Platz räumen lassen.

Währenddessen blickte Hitoshi noch immer regungslos auf den Leichnam. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er musste erst begreifen was passiert war.

„Hiro“, flüsterte Kenny neben ihm totenblass. „Oh Gott, Hiro…Was hast du getan?“

Er schrak auf. Ming-Ming war tot.

Er hatte sie getötet. Er hatte einen Menschen getötet!

Die Worte wirbelten durch seinen Kopf, während ein Dialog darin entstand und er starrte apathisch auf seine bebenden Hände, die Ming-Ming so einfach in den Tod gestoßen hatten.

Die eine Stimme machte ihm Vorwürfe, beschuldigte ihn ein Mörder zu sein. Er hätte es doch besser wissen müssen, er hätte sich doch beherrschen sollen, anstatt sich provozieren zu lassen…

Die andere Stimme wehrte sich vehement gegen die Vorwürfe. Niemand hätte damit rechnen können! Das war Pech… Schicksal! Alles außer Mord! Wäre es einpaar Sekunden langsamer gegangen hätte Hiro doch selbst noch etwas unternommen. Er wollte sie doch nicht töten!

„Das wollte ich nicht…“, verteidigte sich Hitoshi gegenüber Kenny.

Doch dieser Blick der ihn stattdessen traf – voller Anklage.

„Inspektor!“, einer seiner Männer kam aus dem Haus geeilt. Er hielt etwas in der Hand, dass nach einem Reinigungsmittel aussah. Als er bei seinem Vorgesetzten ankam, erstarrte er für eine Sekunde. „Gütiger Himmel, was ist passiert?“

„Rufen sie einen Krankenwagen und sperren sie das Gebiet ab. Und sehen sie zu das diese blöden Gaffer endlich verschwinden! Ich will niemanden hier sehen, der nicht hierher gehört.“, bellte der Inspektor.

„Natürlich. Sofort.“, er wollte wieder ins Haus eilen, da hielt ihn Kato noch einmal zurück.

„Moment! Was haben sie da?“

Der Mann hielt dem Inspektor das Reinigungsmittel hin und deutete auf die Rückseite.

„Dieses Mittel enthält einen Wirkstoff, der bei versehentlicher Einnahme eine Zyanose auslöst. Es riecht zwar einwenig, aber gewiss nicht stark genug, um es nicht in die Mahlzeit des alten Mannes unterrühren zu können. Das könnte die Atemnot des alten Herren erklären – vielleicht war es ein Giftmordversuch. Ich dachte das sollten sie wissen.“

„Sehr gut. Und jetzt gehen sie.“

„Jawohl.“

Der Mann verschwand hinter dem Eingangstor zum Kinomiya Anwesen, um einige Helfer zusammenzutrommeln und der Inspektor erhob sich langsam. Er klopfte sich den Straßenstaub von der Hose, blickte zu Hitoshi und meinte nüchtern:

„Du hast ein Problem Junge…“



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Akikou_Tsukishima
2015-10-06T01:39:46+00:00 06.10.2015 03:39
Alter das wird ja immer krasser

Langsam geht mir dieser Inspektor auf den Keks ganz ehrlich...
Und ming ming auch
Beide machen ihren job, aber dass sie Tyson nen Mord unterstellen ist das letzte
Von:  Minerva_Noctua
2013-04-29T11:49:56+00:00 29.04.2013 13:49
Wow, ich bin sprachlos!
Am Anfang dachte ich, dass das Kapitel eher eine erklärende Funktion einnehmen würde, aber dann sowas.
Ming-Ming ist tot und es war wirklich nur ein Unfall.
Bei guter Argumentation könnte man vielleicht noch Notwehr rausholen, im schlimmsten Fall ein minder schwerer Fall des Totschlags oder fahrlässige Tötung. Die Frage ist, ob sein Wegstoßen wirklich so kausal für ihren Tod war. Man könnte es bejahen.
Dennoch würde ich für Straffreiheit plädieren.
Ich frage mich, wie diese Ereignisse sich auf die Haupthandlung auswirken wird.
Ich bin sehr gespannt auf das neue Kapitel!

Bye

Minerva
Von:  Zion108
2013-01-15T10:07:19+00:00 15.01.2013 11:07
BAAAAHHHMMM Gedisst Inspektor xD
Also das Hitoshi so gemein zu Ming Ming ist is zwar nicht ganz so nett aber die truller ging mir ja eh auf die Nerven von da her
GO HINTOSHI *fahne schwenk*
macht man nicht ich weiß <.<
Aber Kenny hats auch nicht so leicht oder??
Na egal >.> mir tut da glaube ich jeder 2. leid T^T ich bin zu nett q.q
Aber ist wie immer spaaanend û.û
Icvh freu mich aufs nächste chappiii


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