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In my Time of Dying

Teil III: Am Ufer des dunklen Wassers
von

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Speak

Ich ... ich ... ich ...
 

Das Wort hallte in seinem Kopf wieder. Den Jungen mit dem Handtuch in seinen Händen war aus seinen Gedanken komplett entschwunden, als er sich dem vorrangigsten Problem widmete.
 

...
 

Wer war ‚Ich’?
 

-
 

Ein Gefühl des Fallens ... der Schwerelosigkeit. Der unaufhörliche Weg nach unten.
 

Weiter ... weiter ... immer weiter ... in die Tiefe.
 


 

Blaue Farbe.
 

Es ist die See. Das Meer.
 


 

Das Meer das immer näher kommt.
 

Aber ich kann mich nicht bewegen. Ich kann ... meine Flügel nicht ausbreiten.
 

Ich werde aufschlagen. Die See wird mich verschlingen.
 

Salz brennt auf meiner Haut.
 

Doch ... da ist noch etwas ...
 

Ga...!
 

Ich höre eine Stimme.
 

... da ist noch etwas ... etwas, dass ich nicht vergessen darf ... ich weiß, dass es wichtig ist ... aber ich weiß nicht, was es ist.
 

Ga... rie...!
 

Ich höre die Stimme immer noch. Die Stimme, die mir eindringlich etwas zu sagen versucht.
 

Na ... me ...
 

... dein Name ...
 


 

Name? Mein Name?
 


 

... ist ...
 


 

Wie lautet mein Name?
 


 

Dein Name ist ...
 


 

-
 

Mit einem Blinzeln befand er sich wieder in dem abgedunkelten Raum in der menschlichen Behausung. Der Junge stand weiterhin vor ihm, aber starrte ihn merkwürdig an. Er starrte zurück und für einen Moment war sein Kopf wie leer gefegt, ehe er wusste, was er sagen musste.
 

„Gabriel...“, würgte er den Namen heraus, als würde er daran ersticken, wenn er ihn nicht bald aussprach. Ein weiteres Mal blinzelte er und hielt sich an der Sofalehne neben ihm fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
 

Das Aussprechen des vertrauten und zugleich fremden Klangs, weil er ihn so lange nicht von sich gegeben hatte, brachte eine Erkenntnis zurück und glättete die Wogen in seiner aufgewühlten Seele.
 

„Mein Name ist Gabriel!“
 

-
 

Mit einem Klacken schloss Sarah die Badezimmertür und drehte das Schloss herum. Es war nur eine minimale Verteidigung, aber eine Barriere zwischen sich und dem Wesen in ihrem Wohnzimmer zu haben beruhigte sie zumindest ein wenig. Dennoch zitterten ihre Beine so sehr, dass Sarah nicht anders konnte, als sich auf die kalten Fliesen sinken zu lassen und sich mit dem Rücken gegen die Tür zu lehnen. Sie schloss ihre Augen und verharrte so, in der Hoffnung, dass die Panik verebben würde, die durch ihre Adern gepumpt wurde. Denn ihr Herz schlug so heftig, dass sie ihr eigenes Blut in den Ohren rauschen hören konnte.
 

Den Grund kannte sie nicht, aber alles in ihr weigerte sich, wieder hinaus zu gehen und dem Mann gegenüber zu treten, den Setsuna mitgebracht hatte. Tief bohrten sich ihre Fingernägel in den Stoff ihres Rockes, als sie an die blauen, viel zu blauen Augen dachte, die sich nur wegen ihr geöffnet hatten. Wäre sie nicht hinausgegangen, wären sie vielleicht für immer geschlossen geblieben.
 

Damit hätte ich leben können, dachte Sarah. Ich hatte nie vor ihm zu begegnen.
 

Sie wusste, dass dieser Gedanke nicht ganz logisch war, denn sie hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen, aber sie kannte ... sie erkannte diese Präsenz. Es war fast unmöglich dem tiefen Rhythmus zu entgehen, der wie Wellen an der Küste gegen ihren Geist schlug. Jedes Mal lief ein neues Zittern durch sie hindurch, wenn ein kalter nasser Luftzug sie streifte. Sarah kam sich entsetzlich nackt und entblößt vor, also griff sie sich eines der Badehandtücher, das neben ihr an einem Hacken hing, wickelte es um ihre Schultern und rollte sich so dicht zusammen, wie es ihr möglich war.
 

Ich ... ich will nicht, klagte sie in ihrem Geist. Ich will dort nicht hinausgehen müssen...
 

... und sich dem anmutsvollen Engel stellen, den sie vor ihrem inneren Auge vor sich sah, gleich ob sie die Lider schloss oder nicht, und der umgeben von der Glorie des Himmels und auf sie herabstarrte.
 

Urteilend.
 

Genauso wie die Engel vor denen sie sich durch den Religionsunterricht immer gefürchtete hatte. So wie die Engel, die sie in dem Gericht des Himmels angesehen hatten und wussten, dass sie eine Sünderin war. Sünderin und Hure hatte man ihr nachgeschrieben, als man sie in den Gerichtssaal auf die Anklagebank gebracht hatte und trotz aller Ereignisse war diese Anklage nie aufgehoben worden. Dies zählte, ähnlich wie Setsuna der Fahnung nach ihm wegen Katos Tod nicht entkam. Denn ein Verbrechen war ein Verbrechen ...
 

„...und eine unterbrochene Gerichtsverhandlung kein Freispruch“, wisperte eine helle Kinderstimme in ihr Ohr.
 

„Nein!“, presste Sarah heraus und hielt sich die Ohren zu, während sie zeitgleich die Augen so fest zusammen kniff wie es ihr möglich war. „Nicht du, nicht heute. Nein.“
 

„Aber ich bin doch gekommen, um zu sehen, ob dir auch nichts wehtut, Sarah!“, sprach die Kinderstimme weiter.
 

Sarah wollte nicht hinsehen. Wenn sie die Augen öffnete, so wusste sie, würde sie das Kind sehen. Das Kind, welches Setsuna so ähnlich sah, wenn sie sich nicht darauf konzentrierte auf die Unterschiede zu achten. Nicht einmal hinsehen musste sie, um zu wissen, dass das Kind jetzt ihr gegenüber auf dem Klodeckel saß und geduldig lächelte. Möglich, weil es nichts Besseres zu tun hatte, als sie zu belästigen.
 

„Ach komm schon, Sarah“, bettelte das Kind in seiner besten weinerlichen Stimme, die fast so echt klang, dass sie bereit war es zu glauben. „Mach doch deine Augen auf. Du kannst dich nicht ewig hier im Badezimmer verstecken und wie willst du deinem schlimmsten Feind gegenübertreten, wenn du nicht einmal mir in die Augen sehen kannst?“
 

„Du bist nur eine Halluzination“, meinte Sarah bissig und öffnete widerwillig die Augen, weil sie erkannte, dass das Kind Recht hatte.
 

Wie sie vermutet hatte, saß es mit angezogenen Beinen auf dem Klodeckel, hatte seine Arme auf den Knie angelegt und sah viel zu amüsiert aus, als das sie dies beruhigen würde. Doch immerhin sah das Kind heute zu jung aus, als sie es mit Setsuna verwechseln könnte, so wie sie es schon einmal getan hatte.
 

„Ich mag vielleicht wirklich nur eine Halluzination sein“, sprach Sandalphon. „Aber ich bemerke, dass du den Punkt mit dem schlimmsten Feind nicht abstreitest. Eventuell weißt du ja doch mehr, als ich dachte?“
 

„Was willst du damit sagen?“, fragte Sarah scharf und fixierte den Kindesengel mit ihrem Blick, der sie ab und an belästigte, weil sie sich weigerte von ihm zu träumen. „Was weißt du über den Engel, den Setsuna mitgebracht hat?“
 

„Nicht viel, doch immerhin mehr als du. Auch wenn es nur das ist, was du von ihm geträumt hast.“
 

Irritiert blinzelte Sarah und setzte sich aufrecht hin, sodass das Badehandtuch von ihren Schultern rutschte. Das Kind sprach, wie auch sonst immer, in Rätseln.
 

„Ich habe nicht von ihm geträumt“, stritt sie ab.
 

Ihre bösen Vorahnungen in den letzten Tagen und ihr Unbehagen, jedes Mal wenn sie in den Regen hinaus musste, hatte sie zur Wachsamkeit gezwungen und sie abends todmüde ins Bett sinken lassen. Da war keine Zeit für erholsamen Schlaf gewesen, geschweige denn für Träume tagsüber.
 

Sandalphon zuckte mit den Schultern, als könnte er Sarahs Unverständnis nicht nachvollziehen und antwortete: „Nicht du direkt. Nur dein anderes Ich. Sie hat von ihm geträumt und das sogar recht regelmäßig, auch wenn ich zugeben muss, dass sie sich dessen vielleicht nicht bewusst war.“
 

Sarah atmete tief ein und aus und beschloss aufzustehen, um sich ein wenig Wasser ins Gesicht zu spritzen. Sie zog sich am Waschbecken hoch und drehte den Hahn auf, den neugierigen Blick des Kindes ignorierend. Besser sie würde alles ignorieren, was ihr derzeit zuviel wurde, denn dieser Tag schien zu einer der Schlimmsten in ihrem bisherigen Leben zu sein und es beruhigte sie keineswegs, dass er noch nicht zu Ende war.
 

„Jibril“, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu ihrem nicht ganz realen Gesprächspartner, aber Sandalphon fasste das anders auf.
 

„Weißt du Sarah, sie sind sich nie begegnet.“
 

„Wer?“, fragte Sarah abwesend, als sie den Wasserhahn wieder zu drehte und feststellte, dass er tropfte.
 

„Na, sie und er natürlich“, erklärte Sandalphon und deutete zuerst auf Sarahs Brust, dann auf die Tür des Badezimmers. „Es kann schließlich immer nur einen Wächter des Wassers geben.“
 

Das Handtuch mit dem sie sich die Hände abtrocknete spannte sich in der Mitte, als Sarah fester zu packte als nötig war. Nahezu bewusst langsam hängte sie es wieder an den Hacken, um eine Tätigkeit zu haben, die sie von dem Kind ablenkte, aber als sie beim nächsten Mal aufsah, war der Platz auf dem Klodeckel bereits leer.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  VonArrcross
2011-10-09T08:51:00+00:00 09.10.2011 10:51
Ich kopier jetzt mal meine Meinung. Kennst du ja schon.

An ein zwei Stellen musste ich erst überlegen, was genau nun los ist.
Einmal am Anfang, weil Gabriels Gedankengang etwas unerwartet kommt. Ich dachte erst du hättest mir versehentlich das falsche Kapitel gegeben.

Und einmal bei Sahras Selbstgespräch. Ich habe mich über dieses Verhalten gewundert. Ich dachte Metathron wäre bei ihr, aber Sandalphon (oder so) ist aufgrund der AS-Geschichte wesentlich nachvollziehbarer.

Ansonsten hat sich die FF sehr flüssig gelesen (von den kleinen Fehler abgesehen) so wie immer. Und das du aufs evtl. psychische Probleme Sahras zurückgreift ist auch sehr gut. Das zeigt wie immer, dass du auf so ziemlich jeden in der Geschichte vorkommenden Charakter zumindest einmal etwas tiefer eingehst. Ganz so wie man es eben von dir kennt. ;)


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