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Das Märchen vom kleinen Tod

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Das Märchen vom kleinen Tod

Seufzend lässt Dr. phil. Gasser das strahlend weiße DIN A4 Blatt sinken, die in sauberer und strukturierter Schrift geschriebenen Worte immer noch drückend vor dem inneren Auge.

„Und?“

Stumm schüttelt er den Kopf. Mit schwerer Hand greift er nach dem randlosen Brillengestell und reibt sich die müden Augen.

Sein Gegenüber, sozialpädagogische Angestellte und gute Freundin Clara schweigt abwartend.

„Ich wusste, ich hätte ihr nichts von dem Phasenmodell erzählen sollen.“
 

Er denkt an die vorrangegangene Therapieeinheit mit Johanna Sanktensen, einer 23 jähren tetraplegischen Patientin. Vielversprechende Kandidatin auf irgendeinen Spitzentitel im Eiskunstlauf. Keine Ahnung, einer ihrer Angehörigen hat es dem Pfleger erzählt. In den Akten steht es auch. Aber wer kann schon etwas damit anfangen, wenn man nicht in der Materie steckt. Ist wohl auch egal. Jedenfalls hat es Johanna die Welt bedeutet.
 

Johanna selbst spricht kaum. Schon gar nicht über sich selbst. Schon gar nicht über Dinge, die ihr die Welt bedeuten. Sie ist verschlossen und stumm. Tief vergraben in einer tiefen, reaktiven Depression, so hatte er den Zustand in der letzten Teambesprechung geschildert. Zustimmung von den meisten Seiten.
 

„Überrascht es dich?“

Gasser überlegt.

Überraschte es ihn?

Depressionen bei Menschen, die so konsequent und plötzlich vor eine komplette Veränderung ihres gesamten Lebens gestellt werden, sind für ihn de facto nichts Ungewöhnliches. Normal in der Tat. Schlimme Schicksale sind hier wahrlich keine Seltenheit.

Dennoch.

Für gewöhnlich reden die Menschen. Sie verleugnen die Verletzung, sie verspotten sie, sie sind wütend, sie schreien, sie sind niedergeschlagen, ja, sie sind zuweilen depressiv, bis sie am Ende meist akzeptieren.

Johanna jedoch...

Johanna steht still. Johanna verarbeitet nicht. Johanna redet nicht, sie weint nicht, zeigt keinerlei Emotionen oder Reaktionen. Sie antwortet auf Fragen, sie sagt höflich hallo, guten Morgen und guten Abend, danke, bitte und auf Wiedersehen. Sie isst, sie trinkt, sie arbeitet mit. Mehr oder weniger. Ein klassisches Motivationsproblem sei eben nicht das Problem, berichten die Physiotherapeuten. Es gäbe ganz andere Fälle, oh ja!

Aber dennoch.

Irgendwie spüren es alle. Irgendwie ist da etwas mit Johanna, das alle grübeln lässt. Das allen nahe geht.

Allein deswegen hatte er dem Mädchen in der letzten Therapiesitzung von dem Phasenmodell Elisabeth Kübler-Ross‘ erzählt, demnach Sterbende vor der Akzeptanz ihres nahenden Todes verschiedene Phasen durchlaufen, natürlich in psychischer Hinsicht. Derweilen wird ein so einschneidendes Ereignis in das Leben eines Menschen, ein solches Ereignis wie eine Querschnittslähmung eben, als „kleiner Tod“ bezeichnet. Die Erfahrung zeigt, die Verarbeitung der neuen Situation ähnelt derer Sterbepatienten. Natürlich will man dabei niemanden in eine Nische drängen, in die derjenige nicht hinein gehört. Nur reine Erfahrung.

Aber die Verarbeitung ist wichtig. Stillstand schädlich. Die tiefe Verzweiflung, die Johanna zweifelsohne in sich trägt muss hinaus. Nur deswegen hatte er davon erzählt.

Also nein. Eigentlich überraschte es ihn keineswegs.
 

„Nein. Ich weiß nur nicht, was ich davon halten soll.“

„Vielleicht fängt sie an zu verarbeiten?", beginnt Clara. ,,Sie stellt Anklagen. Man hätte ihr Leben nach dem Unfall nicht retten sollen. Das steht doch da, oder? Quantität vor Qualität, darum geht es ihr. Das Märchen vom kleinen Tod. Für sie bedeutet es nicht nur das Sterben des alten Lebens, aber nicht die Geburt eines Neuen." Eine kurze Gedankenpause, in der die Empathie emotionsreich in Claras offenem Gesicht zu sehen ist.

"Aber damit können wir umgehen. Viel besser als mit diesem schweigenden, passiv verzweifelten Mädchen.“
 

In dem Moment fliegt die Tür auf. Beide zucken zusammen, die Köpfe drehen sich rasch zu dem Geräusch hin.
 

„Da ist irgendwas passiert. Ich glaub jemand hat sich was angetan.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  konohayuki
2017-03-07T18:13:10+00:00 07.03.2017 19:13
Hallo,

da hast du dir ja ein Thema ausgesucht. Ich habe das Krankheitsbild erstmal nachgeschlagen. Ein schwieriges Thema.

Ich finde deine Art, hier zu schreiben, sehr eindringlich. Und was du sagst, ist sehr wahr.

Den Einstieg fand ich in jedem Fall schon einmal sehr eindringlich.

Und das Fallbeispiel geht einem doch irgendwo nahe.
Am Anfang hat man das Gefühl, dass Johanna eine Patientin ist wie alle anderen auch, der Doktor hat nicht wirklich eine Ahnung von ihr, mal abgesehen von dem, was er irgendwo aufgeschnappt hat oder was in ihrer Akte steht.
Und dann stellst du heraus, was sie doch irgendwo unterscheidet von den anderen Patienten. Sehr eindringlich fand ich hier die Passage, die mit "Johanna steht still. Johanna verarbeitet nicht." eingeleitet wird.
Bezeichnend für das, was du im ersten Teil herausgestellt hast, finde ich dann diese Passage:

>"Aber damit können wir umgehen. Viel besser als mit diesem schweigenden, passiv verzweifelten Mädchen.“
Vor allem dann, wenn der letzte Satz einen dann auf den Boden der Tatsachen zurückholt, und irgendwo einen bitteren Geschmack hinterlässt, weil man doch irgendwo die Hoffnung hat, dass alles gut wird. Aber die Frage ist dann, was ist denn "gut" in dieser Situation für den Betroffenen? Wenn alles, was man vorher gekannt und gekonnt hat auf einmal wegbricht?

Eine kleine Anmerkung hätte ich schreibtechnisch noch zu machen:
>[...] einer 23 jähren tetraplegischen Patientin.
Hier müsste es "23-jährigen" heißen.

Alles in Allem: Ein sehr eindrücklicher Text, der in jedem Fall zum Nachdenken anregt. Und einen auch erstmal nicht aus dem Kopf geht.

Liebe Grüße,

konohayuki


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