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Kira gegen den Rest der Welt

von

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Prolog

Hallo! Mein Name ist… Naja, das ist etwas schwierig. Also momentan heiße ich Akio. Akio Noteshitsu. Wenn ich richtig gerechnet habe, müsste ich so um die neunzehn Jahre alt sein. Meine Geschichte ist etwas kompliziert, aber seht lieber selbst…
 

Ich stöhnte kurz auf. Mein Kopf dröhnte wie verrückt und der Boden unter mir fühlte sich hart an. Ich hatte das Gefühl, als ob das Dröhnen mal lauter, mal leiser wurde. Ich stutzte. Lauter und leiser? Nein, es war nicht mein Kopf, der so brummte. Es war etwas vollkommen anderes. Kurzerhand öffnete ich die Augen. Das Licht war grell, aber ich konnte dennoch gut die schnell vorbeifahrenden Autos erkennen. Deswegen war es also so laut. Ich hielt mir die Ohren leicht zu. Es war sogar zu laut. Während ich mich aufrichtete hielt ich sie mir weiter zu, bevor ich den Druck stetig verringerte. Irgendwann gelang es mir, meine Hände ganz wegzunehmen. In Ruhe schaute ich mich um. Am Rande eines Gehweges hatte ich gelegen. Warum wohl?, fragte ich mich selbst. Aber das war nicht das, was plötzlich meine ganze Aufmerksamkeit verlangte, sondern die hohen Gebäude, die sich scheinbar gegenseitig die Sonne wegnehmen wollten. Wolkenkratzer wohin man auch schaute. An nicht gerade wenigen waren riesige Bildschirme angebracht, auf welchen fast überall durchgehend Werbung lief. Die vielen Leuchtschriften an den restlichen Wänden unterstrichen das Gesamtbild noch einmal ausdrücklich. So etwas Atemberaubendes hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ich kannte diese Welt bisher nur aus Animes. Befand ich mich etwa in Japan? Das konnte unmöglich stimmen, immerhin war ich doch Deutsche…?! Aus diesem Grund war ich ziemlich überrascht, denn egal welche Schrift über den Bildschirm huschte, ich verstand sie. Die Zeichen waren nicht deutsch. Ich musste mich wohl wirklich in Japan befinden. Doch wie genau war ich hierher gekommen?

Ich beschloss, mich einfach ein wenig umzusehen. Das war das Einzige, was ich in der momentanen Situation tun konnte. Müde stand ich auf und klopfte mir den Dreck von der Hose, bevor ich losging und ganz einfach umherschlenderte. Ich versuchte, mir nichts von meiner Nervosität anmerken zu lassen. Ich ging gerade über eine Straße, als der scheinbar größte Bildschirm meine Aufmerksamkeit erregte. Ungläubig riss ich meine Augen auf. Für einen Moment war auf dem weißen Bildschirm ein in der Mitte platziertes, schwarzes Symbol zu erkennen, ein verziertes L. Ich traute meinen Augen nicht. „Das ist doch?!“, murmelte ich vor mich hin. Direkt danach kam eine unüberhörbare Stimme aus den unzähligen Lautsprechern, welche überheblich erklärte: „Ich bin Justiz!“

Headquarter

Mit offenem Mund stand ich da. So viel zu Anime! Ich hatte dieses L eindeutig erkannt: Es war L’s L! Eine Weile später bemerkte ich, wie dumm dieser Gedanke gewesen war. Bevor ich endlich wieder klar bei Verstand war, verstrichen zwei bis drei Werbeanzeigen. Diese Stimme hätte ich niemals vergessen können, immerhin war L meine absolute Lieblingsfigur. Na ja, das heißt, seine richtige Stimme war ja nicht zu hören, sondern die abgewandelte, zwiespältige Form, die mir noch immer in den Ohren hallte.

Schockiert sank ich zu Boden. Eine Einbildung war es jedenfalls nicht. Und wäre es Werbung, dann hätte doch wenigstens der Name der Firma erwähnt werden müssen, auch wenn ich stark bezweifelte, dass man L für Werbezwecke gebrauchen konnte. Ich ließ mir sämtliche Ideen noch einmal durch den Kopf gehen, doch allesamt waren blanker Unsinn. Die absurdeste war jedoch, dass ich mich im Anime Death Note befand, was ja schon erst einmal völlig unmöglich war, auch wenn es schön gewesen wäre.

Hastig rappelte ich mich auf und ging zügig weiter. Es dauerte, aber letztendlich fand ich mich in einer Telefonzelle wieder. Ich schlug das Telefonbuch dort nervös auf und suchte fieberhaft nach einem Namen. Mein Finger zitterte, als er auf die gesuchte Person zeigte. Light Yagami. Ich ließ einen leisen Schreckensschrei heraus. Dieser Name war hundert Prozent ein verdammt seltener Name. Um mich nicht zu lange an einer Person aufzuhalten, suchte ich weiter. Ich war ein absoluter Death Note Freak, daher kannte ich alle Namen. Alle echten Namen. In diesem Anime hatten beinahe alle Figuren einen falschen Namen, um nicht von Kira umgebracht werden zu können.

Nach kurzer Zeit fand ich auch den anderen Namen, nach dem ich gesucht habe. Quillsh Wammy. Fassungslos starrte ich auf das zerfledderte Buch, in der Hoffnung, es würde einfach plötzlich verschwinden, sich in Luft auflösen, damit ich endlich aus diesem Traum aufwachen konnte, der zwar erstaunlich und wundeschön, aber gleichzeitig auch erschreckend und finster war. Wenn es einen L gab, dann gab es auch einen Kira. Einen Kira, der Leute umbrachte, Verbrecher. Und L ermittelte gegen ihn. Und würde dabei sterben. Ich erschrak bei dem Gedanken daran, was ich alles anrichten konnte. Mal angenommen, ich wäre wirklich in dem Anime ‚gefangen’, dann würde es als erstes Mal meine ganze Familie wahrscheinlich gar nicht geben. Zweitens konnte ich dann ins Geschehen eingreifen und den Lauf der Geschichte verändern. Ich konnte unter anderem L’s Tod verhindern. Gleichzeitig wurde mir bewusst, wie gefährlich meine ‚Reise’ werden konnte. Umgebracht werden war das Schlimmste, was mir zurzeit in den Sinn kam. Und was würde passieren, wenn ich tatsächlich etwas nicht Vorhergesehenes machte? Wenn L nicht starb, dann würde Near nicht auftauchen und auch Mello und Matt würden nicht sterben. Und was wäre mit Kiyomi Takada?

Während lauter Gedanken in meinem Kopf kreisten, ließ ich mich an der Innenwand der Telefonzelle nach unten sinken. Ahnungslos, was ich jetzt tun sollte, senkte ich den Blick. Hier kannte ich niemanden, keiner konnte mir helfen. Ich hielt inne. Doch, einer konnte mir helfen. Und dieser Jemand war niemand geringeres als L. Allerdings würde ich ihn nicht kontaktieren können. Selbst wenn ich persönlich mit ihm sprach, was würde mir das helfen? Wer würde denn schon einem Mädchen glauben, das erzählt, alles über Kira zu wissen? Ich seufzte. Der einzige Weg um Hilfe zu bekommen, war über Watari. Wenn ich Glück hatte – sehr, sehr, sehr viel Glück – dann konnte er mich vielleicht zu L führen. Und irgendwie würde ich L unter vier Augen meine Situation verklickern.

Sofort griff ich nach dem Telefon, um meinen Plan in die Wirklichkeit umzusetzen. In meiner Hosentasche wühlte ich nach Münzen, und fand auch tatsächlich welche. Genug für ein Zehn-Minuten-Gespräch. Meine Hände zitterten mal wieder, während ich die kleinen Geldstücke mit den Löchern in der Mitte in den Schlitz steckte. Das Geld wirkte mir völlig fremd, aber gleichzeitig auch vertraut. Ich wusste genau, was viel und was wenig wert war.

Die Tasten gaben ein ‚Piep!’ von sich, als ich auf die einzelnen drückte. Ich legte den Hörer vorsichtig an mein Ohr. Es ertönte einige Male ein Signalton. Im ersten Moment dachte ich, niemand würde abnehmen, doch da meldete sich auch schon eine Stimme am anderen Ende der Leitung. „Guten Tag! Quillsh Wammy am Aparat.“ Ich atmete erleichtert auf. „Hallo!“, rief ich. „Hallo, Watari! Bitte! Sie müssen mir helfen, bitte…“ Meine Stimme wurde während des letzten Satzes immer mehr zu einem verzweifelten Wimmern. Quillsh Wammy alias Watari schien darüber überrascht, dass ich seinen Decknamen kannte. „Wer ist da?“, fragte er in einem ernsten Ton. Ich zögerte. Ich war in Japan. Mein richtiger, deutscher Name wäre da völlig fehl am Platz. „Akio.“, antwortete ich. „Akio Noteshitsu.“ Das war der erste Name, der mir einfiel. Er war früher mein Nickname im Internet, doch nachdem mein PC schrott gegangen war benutzte ich ihn kaum noch. Wataris Stimme hörte sich keinen Deut freundlicher an. „Was wollen Sie?“ Ich bemerkte eine Träne, welche über meine Wange lief und wischte sie schnell weg. „Ich brauche Ihre Hilfe, Watari. Und L’s auch! Bitte! Sie müssen mir helfen!“ Ich war mir darüber im Klaren, dass man mir nicht einfach so helfen würde. Daher fügte ich noch schnell hinzu: „Als Gegenleistung kann ich Ihnen wichtige Fakten im Fall Kira geben.“ Dieses Angebot war zum einen das einzige, was mir einfiel und zum anderen das einzige, das ich besaß. Wenn es nicht funktionierte, war ich geliefert. Dann würde ich hier festsitzen.

Doch anscheinend wurde Watari ein wenig hellhöriger. „Warum sollte ich Ihnen glauben?“ Mit offenem Mund stand ich da. In diesem Punkt hatte er Recht. „Ich… weiß es nicht…! Aber bitte! Sie sind meine letzte Hoffnung! Ich… will doch einfach nur zurück nach Hause und… Ryusaki braucht auch meine Hilfe. Er weiß es nur noch nicht!“ Meine verzweifelte Stimmte verwandelte sich nach und nach in ein trauriges Geschluchze. Auch Watari wurde nun mitfühlender. „Sagen sie mal, wie alt sind Sie eigentlich?“ Ich erstarrte. Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, immerhin hatte ich auch schon bemerkt, wie seltsam verändert ich aussah. Normalerweise hatte ich stinknormale, straßenköterblonde Haare, doch die Haare, die jetzt beinahe vor meinen Augen hingen, hatten eine dunkelrote Farbe. So, wie ich es mir immer gewünscht hatte. „Ähm… Ich… bin neunzehn.“, antwortete ich ganz schlicht und einfach. War ich auch immer gewesen, aber sicher war ich mir dabei jetzt nicht mehr.

„Oh.“ Hörbar überrascht versuchte er mich beruhigen. „Hören Sie mir zu! Es wird wahrscheinlich jemand kommen, um Sie abzuholen. Bitte bleiben Sie da, wo Sie sind.“ Das war das Letzte, was ich hörte. Sofort danach hatte Watari aufgelegt. Seufzend hang ich den Hörer auf und wanderte nach draußen, wo ich mich wieder einmal auf den Boden setzte. Ich hoffte inständig, dass jemand kommen würde. Watari hatte nur wahrscheinlich gesagt.

Ich kauerte wie ein Häufchen Elend an der Telefonzelle, als es in Strömen zu regnen begann. Ich bemühte mich nicht darum, mich irgendwo unterzustellen oder mich in die Telefonzelle zu begeben. Es war mir egal, ob ich nass wurde.

Mein Warten wurde nach vielem Warten belohnt. Von Weitem sah ich bereits die hellen Scheinwerfer auf mich zukommen. Aus einer schwarzen Limousine stieg ein alter Mann aus, einen Regenschirm aufspannend. Er ging zu einer der hinteren Türen und öffnete sie, woraufhin ein Junge ausstieg. Er hatte eine krumme Haltung sah nicht gerade wach aus. Im Gegenteil: Dunkle Augenringe hoben seine sowieso schon schwarzen Augen besonders hervor.

Sofort sprang ich auf und murmelte verdattert seinen Namen. „L.“ Warum ich das tat wusste ich nicht. L schritt auf mich zu. Du sagtest, du wüsstest etwas über den Fall Kira. Wir haben das Gespräch verfolgt und diesen Platz orten lassen. Also, was weißt du über Kira?“ Er schien meine Gedanken gelesen zu haben, sonst hätte er mir nicht erklärt, woher er wusste wo genau ich war. Vorsichtig blickte ich umher, um festzustellen, dass niemand Unvorhergesehenes das Gespräch zwischen uns mitbekam. „Kira tötet Verbrecher. Scheinbar ist er größenwahnsinnig und hält sich für einen Gott. Er kann die Todesursache und Details vor dem Tod bestimmen. Mehr kann ich zurzeit nicht sagen.“ Hoffentlich hatte ich nicht schon zu viele Informationen preisgegeben. „Zu diesen Ergebnissen sind wir selbst bereits gekommen.“ Ich nickte. War irgendwie klar gewesen. „Trotzdem… Mehr kann ich jetzt nicht sagen, aber… Ich brauche deine Hilfe, L.“ Verdutzt schaute er mich an, damit hatte er auf jeden Fall nicht gerechnet. „Ich wüsste nicht, wie wir dir helfen könnten.“ Energisch schüttelte ich den Kopf. „Nicht ihr. Nur du kannst mir helfen…! Ich weiß es und… Als Gegenleistung werde ich auch dir helfen.“

L wandte sich wieder der Limousine zu. „Tut mir Leid, wir können nichts für dich tun.“ Mit diesen Worten setzte er sich in den Wagen. Watari stand schweigend daneben und hielt die Tür offen. Ich konnte die Tränen nicht unterdrücken. „Bitte!“, flehte ich. „Ich flehe dich an! Ich werde alles tun dafür! Ich würde mein Leben dafür aufs Spiel setzen, Kira zu schnappen…“ Hoffnungslos sackte ich zu Boden. Dort saß ich nun. Verzweifelt, traurig, wütend, am Ende meiner Kräfte und Nerven.

Auf einmal sah ich, wie L wieder ausstieg und zu mir kam. Er blickte ernst zu mir hinunter, es sah beinahe abfällig aus. „Wie war das? Leben aufs Spiel setzten? Heißt das, es würde dir auch nichts ausmachen, für diesen Fall zu sterben?“ Ich nickte, noch immer im Kampf gegen die Tränen. Helfend bot mir L seine Hand an. Mir war klar, dass das nicht sein Typ war, nahm die Hand dennoch dankend an. „Willkommen in der Sonderkommission für den Fall Kira.“ Anschließend schlurfte er zurück in den Wagen, wo er sich auf dem hinteren Sitz niederließ.

Erwartungsvoll schaute mich Watari an. Ich zögerte. War das eine Aufforderung, mich ebenfalls hineinzusetzen? Als hätte ich ihm laut eine Frage gestellt, nickte er und deutete auf den Sitz links von L. Hastig rannte ich auf die andere Autoseite. Ich hatte keine Ahnung, wie Watari es so schnell geschafft hatte, aber auf jeden Fall stand er dort und hielt mir die Tür auf. Nervös nahm ich ebenfalls im Wagen platz. In einem teuren Wagen. Sogar einem sehr, sehr teuren Wagen!

Ich erschrak fürchterlich, als ich L plötzlich einige Zentimeter vor meinem Gesicht wiederfand. Beinahe hätte ich aufgeschrien vor Schreck. „Watari. Bitte legen sie ihr die Augenbinde an.“ Zuerst blickte ich etwas ratlos drein, bis ich begriff, dass ich ja nicht mitbekommen durfte, wo das Hauptquartier lag. Bereitwillig ließ ich mir die Augenbinde anlegen. Als Nächstes hörte ich ein metallenes ‚Klack!’ und fuhr erschrocken zusammen. Man hatte mir Handschellen angelegt. Noch bevor ich fragen konnte, wofür die gut waren, setzte man mir Kopfhörer auf. Blind, taub und gefesselt saß ich auf der Rückbank, als der Wagen losfuhr.

Während der Fahrt sprach ich kein Wort mit L oder Watari. Ich hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren, als der Wagen anhielt. Ich spürte wegen des kleinen Rucks, wie die Autotür neben mir geöffnet wurde. Endlich wurden mir die Kopfhörer wieder abgenommen. Es war schon furchtbar, blind zu sein, aber dann auch noch nichts zu hören stieß an meine Grenzen. „Bleib ruhig sitzen!“, befahl mir L’s Stimme. Ich hörte das Knallen einer weiteren Autotür und danach hörte ich L nicht mehr rechts, sondern links von mir. Allerdings konnte ich nun nicht mehr sitzenbleiben, denn jemand zog mich am Arm aus dem Wagen. Ich kam ein wenig ins Stolpern, schaffte es jedoch ohne große Probleme anschließend wieder sicher zu stehen. Man zog mich weiter am Ärmel. An den Schritten und Autos hörte ich, dass wir wohl zu Anfang noch draußen waren. Dann gingen wir scheinbar in ein großes Gebäude. Ich hatte keine Ahnung, wer mich da überhaupt führte. Dennoch stellte ich keine unnützen Fragen. Nach einer Weile wurde mir die Augenbinde abgenommen. Ich spürte wie der Fahrstuhl sich in Gang setzte. Ich war tatsächlich in einem Fahrstuhl, allerdings war er eindeutig größer als ich es erwartet hätte.

Schnell stillte ich meine Neugierde, indem ich meinen Führer anstarrte. Es wunderte mich ehrlich gesagt kaum zu sehen, wer es war. „Mogi…“, murmelte ich. Aus den Augenwinkeln beäugte dieser mich misstrauisch, als hätte ich seinen Namen nicht wissen dürfen. Womit er eigentlich Recht hatte. Ich lachte innerlich, wobei mir dennoch meine recht verzweifelte Situation bewusst blieb.

Ich seufzte, als Mogi mir die Augenbinde wieder anlegte und der Aufzug nur kurze Zeit später anhielt. „Warum haben Sie mir die Augenbinde erst abgenommen?“ Mogi schwieg zunächst, antwortete mir dann jedoch. „Du hast eben stark gewankt.“ Verwundert über eine solch banale Begründung ließ ich mich weiterziehen und zerren. Mir kam es so vor, als würde Mogi absichtlich Schlenker und Kurven mit einbauen, damit ich mir den Weg nicht einprägen konnte. Rechts – Links – Haarnadelkurve – Rechts – Rechts – Stopp. Beinahe wäre ich voll hingeflogen, weil mich Mogi so abrupt am Arm zurückgezogen hatte. Ich hörte ein Klacken, als würde ein Schlüssel in ein Schloss gesteckt werden. Meine Handschellen wurden zumindest nicht geöffnet, sie hingen noch immer schwer wie Blei an meinen Handgelenken. Nach einer wirklich nur kurzen Stehpause wurde ich wieder einmal in irgendeine Richtung gezerrt. Mittlerweile war ich das – zu meinem tiefsten Bedauern – schon gewohnt; und das allein wegen dem Hin- und Her Gerenne an diesem einen Tag. Erschreckend.

„Setz dich!“, befahl mir Mogis Stimme. Noch bevor ich abtasten konnte, ob sich unter mir ein Stuhl oder ähnliches befand, wurde mir ein sanfter Stoß nach hinten gegeben. Ich fiel und – landete tatsächlich auf etwas. Es war mehr oder weniger weich, das heißt, es war zwar nicht wirklich weich, aber es war auch nicht hart wie ein Stein.

Ich zuckte zusammen, als eine kalte Hand mein Fußgelenk berührte. Dann spürte ich, wie man mir eine Art Band um die Füße wickelte, sodass ich bei der nächsten Gelegenheit hätte springen müssen statt zu laufen. Endlich wurden meine Handschellen abgenommen, allerdings wurden diese sofort durch die gleiche Art Band ersetzt. Eingeschränkte Bewegungsfreiheit hoch drei. Dafür, dass ich nun so gut wie nichts mehr bewegen konnte, nahm man mir wieder die Augenbinde ab. Ich erschrak fürchterlich, als ich sah, wohin man mich gebracht hatte. Eisenstangen ersetzten die komplette eine Wand, welche sonst durch und durch dunkelgrau wie Beton war, was ich auch glaubte, aus dem sie war, und sonst gab es nur das komische, alte Bett auf dem ich saß und einen Stuhl. Außerdem stand in der Mitte eine Videokamera, sowie in allen Ecken welche befestigt waren. „W-Wo bin ich?“, stotterte ich. Auf dem Gesicht von Mogi konnte ich keinerlei Emotionen erkennen. „Wir müssen überprüfen, ob du Kira bist. Hören die Morde auf, bist du es und es ist geklärt, woher du so viel weißt.“ Mogi stand auf und ging durch die offen stehende Tür aus Metallstäben. Er schloss sie hinter sich und drehte den Schlüssel um, bevor er ihn in die Jackentasche steckte. „L wird alles erklären.“ Das waren seine letzten Worte, mit denen er verschwand. Ich blieb allein in meiner kahlen Zelle zurück. Ich hatte genau das Gegenteil von dem erreicht, was ich wollte. Statt bei den Ermittlungen zu helfen, saß ich unfähig etwas zu tun in Haft. Mist! Wie sollte ich denn so L helfen? Langsam riss ich meine Augen auf. Auch Light hatte sich einmal inhaftieren lassen. Was, wenn ich genau wie er ganze fünfzig Tage hier verbringen musste? Hoffentlich war dann nicht alles schon zu spät – und L tot.

Special Commission

Schweigend saß ich am Boden meiner Zelle. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Tage bereits vergangen waren, in denen ich in diesem fensterlosen Loch hockte. An die Videokameras hatte ich mich schon seit langem gewöhnt, schwieriger war es mit den Hand- und Fußschellen. Meine eingeschränkte Bewegungsfreiheit trieb mich oft an den Rand der Verzweiflung.

L und die anderen hatte ich nicht mehr gesehen, seit ich hierhin gebracht wurde. Ab und zu hörte ich L’s Stimme, scheinbar in regelmäßigen Abständen. Ob es wirklich er war wusste ich nicht, immerhin verstellte er seine Stimme elektronisch, obwohl ich ja schon längst wusste, wie sich seine Richtige anhörte.

„Ist noch alles in Ordnung bei dir?“ Inständig hoffte ich, dass es nicht Light war, der das fragte. Stumm nickte ich. Mir fielen die Worte von Light ein, was er in dieser Situation gesagt hatte. Unnötigen Stolz muss man ablegen. Ja, ablegen. Wegen diesem einen Wort musste L sozusagen sterben. Hätte Light nicht seine Erinnerungen verloren, hätte L womöglich niemals das Death Note bekommen, er hätte Misa nicht wieder verdächtigen können und Rem hätte keinen Grund gehabt ihn umzubringen. Vielleicht konnte ich irgendwie verhindern, dass Light inhaftiert wurde. Nur wie?

Ich seufzte, woraufhin gleich ein mehr oder weniger besorgter Kommentar andererseits kam. Auf die Frage, ob mir irgendetwas fehlte, schüttelte ich den Kopf. „Du sitzt schon seit anderthalb Wochen in dieser Zelle, Akio Noteshitsu. Das ist doch richtig?“

„Ja. Nenn mich ruhig nur Akio.“

„Gut, Akio. Hör zu. Seit deiner Inhaftierung hat Kira nicht aufgehört, Morde zu verüben. Daraus folgt zwar, dass du wahrscheinlich nicht Kira bist, allerdings besteht dennoch noch eine zweiprozentige Chance. Wir müssen dich leider noch eine Weile in der Zelle lassen.“ Erschüttert schaute ich zu Boden, während ich ein wenig nachhakte. „Wie lange?“

„Eine Woche, grob geschätzt.“ Ich schluckte. Die Zeit floss dahin und ich hatte keine Ahnung, an welcher Stelle des Animes ich mich befand. Moment mal…! Wer sprach überhaupt davon, dass es alles so lief wie im Anime? Na gut, anders konnte es eigentlich gar nicht laufen. Entweder Kira mordete und erschaffte seine ‚neue Welt’ oder er wurde geschnappt, beziehungsweise umgebracht. Da es normalerweise ein Happy End gab, musste Light sterben. Ich meine, man konnte schließlich nicht mit Massenmord durchkommen!?

Folglich lief doch alles so wie im Anime. Zeit, darüber nachzudenken, hatte ich genug. Ich überlegte. Vielleicht sollte mir erst einmal meine Situation richtig bewusst werden. Meine Familie existierte nicht. Dafür alle Personen aus dem Anime Death Note. Ich sollte den Lauf der Handlung nicht allzu sehr verändern, sonst ging später noch etwas schief und Light gelang sein Plan. L lebte noch. Near, Mello sowie Matt und Kiyomi Takada waren noch nicht in Aktion getreten.

Und das hieß was? Nachdenklich starrte ich an die Decke, während ich bemerkte, dass ich immer müder wurde. Es war wahrlich kein schlechter Gedanke, sich für eine Weile aufs Ohr zu hauen. Doch wie lange würde ich schlafen? Eine Woche musste ich noch durchhalten und das bestenfalls ohne das Zeitgefühl zu verlieren. Wenn ich es nicht schon getan hatte.

Ich schloss die Augen und legte mich auf die Seite. Hoffentlich schlief ich bald ein und schlief nicht zu lange. Bitte, wenn es einen echten Gott gab, dann musste er mir helfen! Doch wie, zwischen all den Todesgöttern…?
 

Es dauerte nicht besonders lange, bis ich letztendlich einschlief. Gut schlafen tat ich nicht und an meinen Traum konnte ich mich hinterher nicht mehr erinnern. Das heißt, falls ich etwas geträumt haben sollte.

Ich ließ die Gedanken ans Schlafen hinter mir zurück und wandte mich der Gegenwart zu. Mogi hatte gesagt, dass L mir alles erklären würde. Was genau hatte er mir überhaupt schon gesagt? Ich dachte nach, bis ich zu einem Ergebnis kam: Rein gar nichts. „Hey, L!“ Ich wollte endlich Antworten auf meine Fragen bekommen.

Prompt antwortete mir über Lautsprecher die elektronische Stimme. „Was gibt’s?“ Ich schluckte, musste meine Gedanken noch in Worte fassen.

„Was passiert, wenn ich hier wieder raus bin?“ Nervös rutschte ich auf dem kalten Boden hin und her, ehe ich die Antwort zu hören bekam. „Das werden wir dann feststellen.“

Bamm. Damit hatte ich natürlich nicht gerechnet. „Aber…!“, warf ich ein, dann fehlten mir jedoch die Worte. Wie konnte man sich nur so unglaublich spontan verhalten?

Ich nahm meinen Mut zusammen und stellte die größte und wichtigste meiner Fragen: Ob ich der Sonderkommission wirklich beitreten konnte. L dachte deutlich länger nach als sonst, es war beinahe schon unheimlich. Normalerweise kam in wenigen Sekunden die genialste Antwort, die man erwarten konnte. Aber jetzt? Dabei hat er eigentlich doch schon zugestimmt.

„Sollte sich eindeutig herausstellen, dass du nicht Kira bist, dann werden wir deine Forderung akzeptieren. Falls du jedoch der Sonderkommission beitreten solltest, wirst du damit rechnen müssen, länger zu arbeiten und auch dein Leben dafür aufs Spiel setzen zu müssen.“ Ich nickte artig, während er mir weitere Gefahren nannte. Jedes Mal nickte ich. „L, ich werde vierundzwanzig Stunden am Tag für dich arbeiten, unter Einsatz meines Lebens, und ich werde dich tatkräftig dabei unterstützen, Kira zu schnappen.“ Die Worte gingen mir leichter über die Lippen als ich es anfangs erwartet hatte. Ich hatte damit gerechnet, dass ich zögern würde, weil ich wusste, wer wirklich Kira war. Und zwar Light. Konnte ich mir mein Wissen irgendwie zu Nutze machen, L zu helfen? Ich müsste L hintergehen und Light davon überzeugen, für Kira zu sein. Das würde hart werden. Oder sollte ich einfach wie jeder andere bei den Ermittlungen helfen?

Entschlossen starrte ich in die Kamera, als L mir einige Anweisungen gab, die ich zu befolgen hatte, wenn ich letztendlich der Sonderkommission beigetreten war. Da ich sowieso alles darüber wusste, hörte ich nur mit halbem Ohr zu. Ich machte mir eher darüber Gedanken, ob ich in dem Gebäude der Sonderkommission bleiben konnte. Schließlich hatte ich gar kein Zuhause. Um der Wahrheit mal ins Gesicht zu schauen: Ich hatte nur das, was ich am Körper trug.

„Ich würde dich darum bitten, wenn du der Sonderkommission beitrittst, hier in die Zentrale zu ziehen. Wir haben genug Apartments übrig.“ Leise lachte ich, weil ich mir darüber den Kopf zerbrochen hatte. „Ja, sicher. Allerdings wird es nicht nötig sein, irgendwelche Sachen zu holen.“ Deutlicher konnte ich es nicht ausdrücken, zumal mein es sich anfühlte, als hätte ich einen Frosch im Hals. Ich vermied es absichtlich, das Wort obdachlos zu benutzten, obwohl es ja im Moment definitiv auf mich zutraf. Was war bloß mit mir passiert? Und mit meinen Eltern? Was war i]überhaupt geschehen?!

Fluchend lehnte ich mich ans Bett an, in der Hoffnung, dass diese dämlichen Gedanken mich endlich irgendwann einmal in Ruhe lassen würden. Zwar hätte ich Lust dazu gehabt, alle Geschehnisse noch einmal zusammenzufassen, jedoch hatte ich gleichzeitig keine Lust, darüber nachzudenken. Welch eine Ironie…
 

Die nächsten Tage vergingen, mehr oder weniger, wie im Flug. Ganze drei Tage musste ich noch in meiner Zelle verbringen, bis ich endlich wieder frei gelassen wurde. Doch scheinbar lief alles ein wenig anders als geplant. Ich hatte mich bereits darauf eingestellt, noch ein Weilchen da zu bleiben. Umso mehr überraschte mich die Nachricht Ls, welche mich, nach Angaben Matsudas, am Freitag überrumpelte. Per Lautsprecher teilte er mir mit, dass in wenigen Augenblicken Mogi kommen müsste, um mich abzuholen. Eine Weile saß ich mit offenem Mund da, bis ich plötzlich im Hintergrund ein metallenes Klacken hörte. Augenblicklich riss ich die Augen auf, nur um mit anzusehen, wie Mogi sichtlich gelangweilt auf mich zuging. Derweil versuchte ich möglichst gelassen dazusitzen, obwohl ich es eigentlich gar nicht länger abwarten konnte, bis mir die Handschellen abgenommen wurden. Scheinbar fiel Mogi das nicht einmal auf, denn er bemühte sich nicht darum, meine Fußschellen schneller abzumachen. In dieser Zeit wechselten wir kein Wort miteinander. Ich wusste schließlich auch, dass Mogi nicht besonders redselig war.

Statt mir wie zu Anfang eine Augenbinde um zu machen, ließ er es dieses Mal sein. Ich konnte es mir so erklären, dass ich sowieso bald in diesem Gebäude wohnen würde.

Mogi führte mich in Windeseile zurück zum Fahrstuhl. Das lag vor allem daran, dass er eher rannte als zu gehen, folglich hatte ich Mühe mit ihm Schritt zu halten.

Ich versuchte mir den Weg möglichst gut einzuprägen. Warum wusste ich nicht wirklich. Es lag wohl daran, dass ich so viel wie nur möglich über diese Anime-Welt lernen wollte. Wer hatte schon die Gelegenheit dazu, wortwörtlich durch ihn durch zu spazieren?

Dieses Mal fühlte sich die Fahrt im Fahrstuhl deutlich länger an, was vermutlich auch daran lag, dass ich es kaum erwarten konnte L zu sehen. Am Liebsten wäre ich sofort aus dem Fahrstuhl gesprungen, allerdings hielt ich mich sehr zurück.

Teils aufgeregt, teils nervös stieg ich aus dem haltenden Fahrstuhl aus. Mogi führte mich durch einen kurzen Flur, bis wir in einen großen Raum kamen. Monitore pflasterten die komplette eine Wand, daneben stieg eine Treppe empor in den nächsten Stock. Vor einem der Monitore saß – oder vielmehr hockte – der Junge, den ich vor einigen Tagen getroffen hatte. L. Hinter ihm bildeten weitere Ermittler einen Halbkreis um ihn, unter anderem Light, wie ich feststellte. Augenblicklich war ich ziemlich angespannt, immerhin war der gutaussehende Junge, der mich mit seinen täuschend warm aussehenden anblickte, in Wirklichkeit Kira. Hätte ich es gekonnte, hätte ich ihm einen hasserfüllten Blick zugeworfen, doch daraus war vielmehr der Blick eines verschreckten Karnickels geworden, was ich zu meinem Bedauern feststellte. „Guten Tag.“ Höflich verbeugte ich mich, während ich Light am Liebsten keinen einzigen Moment aus den Augen gelassen hätte. Gleichzeitig kam mir in den Sinn, ob ich mich als Akio Noteshitsu vorstellen sollte. Vielleicht hatte sich mein Name zusammen mit meinem Aussehen verändert? Inständig hoffte ich auf ein sicheres Nein, was allerdings in meinen Gedanken ausblieb. Wer konnte schon sicher sein, was Realität und was Schein war?

Ich verfluchte mich selbst wegen meiner Gedanken. Anstatt einmal hundertprozentig von etwas überzeugt zu sein, zweifelte ich immer an mir selbst und wogte mehrere verschiedene Möglichkeiten an. Es war schlimm, so etwas. Eindeutig ein schlechter Charakterzug meinerseits.

Ohne aufzublicken forderte L mich auf, mich vorzustellen, was ich gleich daraufhin tat. „Mein Name ist Akio Noteshitsu. Ähm… Ich werde ab heute auch bei den Ermittlungen gegen Kira helfen.“ Überprüfend warf ich einen Blick auf L und da er keinen Anstand machte, zu protestieren, nahm ich an, nun offiziell in der Sonderkommission zu sein. Glück für mich, Pech für Light Yagami alias Kira. Ob ich ihn wohl schnappen konnte? Ich musste auf jeden Fall einen Plan aushecken, wie ich ihn davon überzeugen konnte, sein Death Note zu berühren. Denn dann würde auch der Rest meines Plans aufgehen, so viel stand fest. Aber wie konnte mir das nur gelingen?

Von meinen Sorgen und Befürchtungen ließ ich mir so gut es ging von außen nichts ansehen. Wäre ja noch schöner, wenn Light wüsste, was in meinem Kopf vorging. Scheinbar selbstbewusst ging ich auf die Ermittler zu, schenkte dem verdutzten Matsuda ein nettes Lächeln und suchte die Umgebung gewissenhaft nach Misa ab. Ich wusste nicht recht, ob ich es befürworten oder bedauern sollte, dass sie letztendlich nicht da war. Und ich schätzte, dass irgendwo im Raum Ryuk anwesend sein musste, was ich bei Rem nicht wirklich behaupten konnte. Rem war auf Misas Seite, warum sollte sie ihr also nicht aufgetragen haben, bei den Ermittlungen zuzuhören und ihr anschließend alles zu berichten, während sie sonst wo war? Möglich war alles. Vor allem jetzt, seit dem Erscheinen des Death Notes. Wenn es Shinigamis gab, dann höchst wahrscheinlich auch alles mögliche andere.

Innerlich lachte ich traurig, weil ich schon wieder mit mir selbst diskutierte. Ich sollte mir diese Angewohnheit schnellstmöglich abgewöhnen.

„Dann wollen wir mal auf die Probe stellen, wie schlau du bist.“ L’s Stimme riss mich aus den Gedanken. Auf die Probe stellen, klar doch. Wer würde das als Leiter eines Sonderkommandos nicht von einem verlangen. „Okay, sicher doch. Was soll ich tun?“ Während ich diese Frage stellte, dachte ich mir die verschiedensten Aufgaben aus. Vor allem Matheaufgaben kamen mir in den Sinn.

Es stellte sich jedoch heraus, dass es lediglich eine ziemlich einfache Aufgabe war, die mein Können nicht unter Beweis stellen konnte, sondern eher mein Wissen über Death Note ausfragte. „Was hältst du von der Nachricht Kiras?“ Zuerst war ich ein wenig schockiert, da ich mir sicher war, dass damit die Nachrichten von Misa gemeint waren und ich mich damit nur etwas mehr als zehn Folgen von L’s Tod in der Zeit entfernt war. Jedenfalls war ich mir damit sicher, jedoch beruhigte ich mich schnell wieder, da zehn Folgen ja nicht gleich zehn Tage bedeuteten. Wie viele Tage mir noch blieben, L’s Tod zu verhindern, wusste ich nicht, trotz meines riesigen Wissens über diesen Anime. Wenn man glaubt, man braucht diese Informationen nicht, dann braucht man sie. Zwar wusste ich, dass es völlig hirnrissig war, aber dennoch nahm ich mir vor, demnächst, wenn ich wieder ich selbst war und nicht Akio Noteshitsu, für die Schule jedes noch so kleinste Detail zu lernen. Und auch meine Death Note Folgen würde ich mir alle wieder reinziehen und die Mangareihe von vorne bis hinten zum tausendsten Mal durchblättern. Vielleicht lud ich ja meine Freundin ein, schaute mit ihr ebenfalls zum x-ten Mal die DVDs und erzählte ihr mein Abenteuer aus Death Note. Sie würde mir zwar sowieso kein Wort glauben, aber alleine die Spannung wäre faszinierend.

Auf einmal zögerte ich, musste meine Gedanken jedoch für einen Moment unterbrechen, da mir einfiel, dass ich noch antworten musste. Scheinbar hatte Light noch nicht als richtiger Kira geantwortet, daher wusste ich, was L von mir wollte. „Es gibt anscheinend einen zweiten Kira.“ Selbstverständlich lieferte ich ihm noch die dazugehörige Erklärung, dass Kira 2 andere Opfer hat und so weiter. Zufrieden nickte L, sagte jedoch nichts weiter dazu. Erleichtert atmete ich aus, kehrte dann wieder zu meinen Gedankengängen von vorhin zurück. Ich würde irgendwann logischerweise wieder in meine Welt zurückkehren. Ob ich dann L nie wieder sehen würde? Schnell wischte ich eine Träne, die mir fast aus dem Auge rollte, weg. Oder vielleicht blieb ich auch im Anime und sah meine Eltern nicht wieder. Wie ich es auch drehte und wendete, in jedem Fall würde ich um Personen trauern. Nicht nur L würde ich vermissen, auch Sayu mochte ich gerne und – ich gab es zwar nicht gerne zu – ich hatte selbst Matsuda bereits in mein Herz geschlossen. So wie ich auch Akio vermissen würde. Jahrelang hatte ich mir gewünscht, sie zu sein. Nun war ich es und das auch noch in der Nähe von L. Wie ein Traum, der in Erfüllung gegangen war, der aber bald zu platzen drohte.

Ich verwarf all meine Gedanken so schnell es ging und wandte mich der Gegenwart zu. Ich befand mich in der Zentrale der Sonderkommission, L hatte mich als Mitglied angenommen und ich konnte, wie ich es auch anstellen mochte, L retten. Oder zumindest würde ich alles dafür geben, sogar mein Leben. Und was jetzt?

Date

Es stellte sich heraus, dass das Leben unter ständiger Lebensgefahr gar nicht so schlecht war, wie es sich anhörte. Jedenfalls soweit ich es wusste. Ich hatte einen ganzen Stock für mich allein bekommen und es war immer wieder nett, morgens aufzustehen und zu wissen, dass man gleich echt super Gesellschaft bekam. Na gut, es waren erst vier Tage seit meiner Freilassung vergangen, also wirklich viel von diesem Leben in der Sonderkommission hatte ich noch nicht mitbekommen.

Gähnend stieg ich in den Fahrstuhl, welcher mich geschwind nach unten brachte. Unterwegs stieg auch Matsuda in den Fahrstuhl ein, welcher mich mit einem aufgeweckten „Schönen guten Morgen, Akio!“ begrüßte, während ich noch schläfrig irgendetwas Unverständliches daher murmelte. Zum Glück war Matsuda darüber nicht böse; er kannte mich mittlerweile relativ gut und wusste, wie ich morgens drauf war. Vor allem im Fahrstuhl. Sobald ich ausgestiegen war und L zu Gesicht bekam, hatte sich meine Laune bisher immer schlagartig verbessert. Seltsam, nicht?

Dieses Mal war es allerdings nicht so, da L nirgends in dem riesigen Raum aufzufinden war. Etwas verwundert fragte ich Watari darüber aus, welcher, zu meiner Überraschung, sich hier befand und nicht neben L. Freundlich lächelte er mich an, dann sagte er: „Keine Sorge, er schläft ausnahmsweise mal ein wenig länger.“ Oh mein Gott! L schlief…! Gut, jeder musste mal schlafen, aber bei L konnte man sich das echt verdammt schlecht vorstellen. Damit nicht jeder gleich auf die Idee kam, dass ich L besonders mochte, fügte ich noch eine Frage hinzu. „Und Light? Ah, wahrscheinlich ist er in der Uni, stimmt’s?“ Zufrieden nickte ich, weil ich ohne Hilfe diese Frage beantworten konnte. Ähm, na ja, war ja nicht besonders schwierig. Dennoch starrte mich Mogi ziemlich verdattert an und Aizawa riss die Augen auf. „Woher weißt du, dass Light ein Student ist?“

Ups. Geheime Information rausgerutscht? So ein Mist, Erklärung, wo bist du nur wenn man dich braucht? „Äh…“, stammelte ich. „Na, er… sieht halt danach aus…?“ Diese Antwort schien den Anderen zwar nicht zu genügen, dennoch fanden sie sich damit ab. Oje, wahrscheinlich würden sie es später L erzählen und dann gab’s Stress. Schlimmstenfalls wurde ich als Kira 2 verdächtigt. Verdammt! So klitzekleine Sachen konnten schon Verdacht erregen! Ich musste echt aufpassen, was ich sagte und was nicht. Ich war nur ein Mädchen, das sich einige Fakten über Kira zurecht gelegt hatte, mehr nicht. Ich kannte die Sonderkommission erst seit… Theoretisch erst seit vier Tagen.

Unschuldig lachte ich leise, bloß niemanden auf falsche Ideen kommen lassen! Still setzte ich mich auf einen freien Stuhl. Unbeabsichtigt setzte ich mich dabei wie L hin, das hatte ich schon öfters gemacht. Nach kurzer Zeit fiel es mir es auf und ich veränderte meine Haltung in der Hoffnung, dass wieder keiner etwas bemerkt hatte.

Innerlich lachte ich über mich selbst. Ich verhielt mich doch tatsächlich wie ein Verbrecher: Möglichst alles vertuschen. Schien so, als ob ich mir einige unnormale Verhaltensweisen und Ausdrücke abgewöhnen müsste. Dazu hatte ich ja mal gar keine Lust.

Hastig wandte ich mich wieder dem Bildschirm zu, auf dem Misas Nachrichten abgespielt wurden. Kassette drei, wenn ich mich recht entsann. So viel Lärm um nichts, weil sie sich ja sowieso bald das erste Mal mit Light treffen würde.

Ich hielt inne. Das erste Mal? Mal zusammengefasst hieß das, dass Light Rem kennenlernen würde, den Plan ausheckte und Misa und Light inhaftiert wurden, so wie ich. Aber… weil ich ja genauso schon gefangen genommen wurde, würde L es noch ein zweites und drittes Mal tun? Wie dem auch sei, am Besten ich verhinderte das Treffen zwischen den beiden. Das war doch zumindest ein Anfang. So weit, so gut. Wie machte ich das aber jetzt? Ich konnte Light ja schlecht den ganzen Abend überwachen. Mal überlegen… Er hatte Misa kurz vor seinem Haus auf dem Rückweg von der Uni getroffen. Und wo war er im Moment? Genau dort. Vielleicht konnte ich es so arrangieren, dass…

Sofort sprang ich von meinem Sitz auf und rannte – mehr oder weniger – zum Fahrstuhl. Wieder einmal starrten mich alle dämlich an, was ich denn jetzt schon wieder machte. Ob sie mittlerweile schon die Schnauze voll von mir hatten?

Während ich in meinem Zimmer hin und her lief, war ich mir sicher, dass die Kameras angeschaltet wurden und die anderen beobachteten, was ich so plötzlich tat. Viel zu sehen gab es jedoch nicht, nur dass ich einige wichtige Sachen zusammensuchte. Taschenlampe, Handy, Kopfhörer, Fotoapparat und noch ein paar andere nützliche Sachen. Inständig hoffte ich, dass ich die Kamera nicht benutzten musste. Reine Vorsichtsmaßnahme.

Ich stopfte die ganzen Dinge in einen hellblauen Rucksack, den ich sozusagen als Willkommensgeschenk von Matsuda bekommen hatte, als ich ihm erklärte, dass ich nichts holen musste, weil ich ganz schlicht und einfach nichts besaß. Äußerst praktisch diese Tasche und nett von ihm. Ich hängte sie mir um und machte mich auf den Weg nach draußen. War ich in den letzten Tagen nur ein einziges Mal. Und das nur, um in den Scanner am Eingang meine Daten einzulesen.

Unten wurde ich nun auch gefragt, wo ich denn hin wollte, worauf ich mit einem „kurzen Umsehen“ antwortete. Mein Verdacht, dass ich beim Einpacken überwacht wurde, hatte sich übrigens dadurch bestätigt, dass Aizawa noch hastig einen Knopf drückte, als ich rein kam und dann unschuldig die Hände von dem Steuerungscomputer für die Monitore ließ, als hätte ich nichts gesehen. Sollte mir doch egal sein. Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, lief ich aus dem Gebäude heraus und sah mich zu erst einmal um. Ich befand mich schier direkt an einer Hauptstraße, denn der Verkehr war wirklich obenbetäubend laut und ich hatte noch nie so viele Autos auf einmal gesehen. Eigentlich hatte ich immer in einem kleinen Kaff am Ende der Welt gelebt, weshalb ich Großstädte nicht wirklich kannte. Nur in Essen – Deutschland, versteht sich – war ich ab und an mal mit einigen Freunden. Folglich war das hier ein wahnsinniger Unterschied zu dem, was ich normalerweise gewohnt war.

Ich beeilte mich, über die Straße zu kommen. Unmengen Menschen gingen an mir vorbei, an meinem ersten Tag hier war es mir nicht so extrem aufgefallen. „Entschuldigen Sie bitte!“ Höflich und noch immer schnell verbeugte ich mich, die Frau tat es mir gleich. Sie hatte eine gut aussehende Bluse an und eine beige Jacke darüber, einen Sekretärinnenrock in der gleichen Farbe. Vermutlich war sie auch eine Bürofrau. „Wissen Sie, wie ich zur Touou Universität komme?“, fragte ich sie in perfekt klingendem Japanisch. Okay, ich hatte zwei Jahre einen Kurs dafür besucht, aber damit kam man nicht so weit und mein Wortschatz war sowieso verschwindend gering. Wie konnte so etwas nur sein?

„Aber sicher weiß ich das.“ Freundlich lächelte sie mich an. Anschließend beschrieb sie mir genauestens den Weg, den ich gehen musste. Zu erst mit der Straßenbahn drei Stationen, danach noch etwa zehn Minuten Fußweg. Nachdem ich mich – noch immer übertrieben höflich – von ihr verabschiedet hatte, wartete ich wie vorgeschlagen auf die Bahn. Ein Blick auf den Plan verriet mir, dass ich ganze achtzehn Minuten zu warten hatte. So was Blödes! Zum Glück hatte ich es nicht eilig, schließlich würde mein Plan auch noch zwanzig Minuten später gelingen, da war ich mir hundertprozentig sicher.

„Hey, Puppe!“ Ich erschrak. War damit ich gemeint? Vorsichtig drehte ich meinen Kopf nach oben und sah einen Angst einflößenden Mann, der selbstbewusst, oder mehr egoistisch und hochnäsig, auf mich hinunter schaute. Schluckend antwortete ich mit einem kurzen „Guten Tag“ und wollte mich von dem Kerl abwenden, doch auf einmal griff er nach meinem Handgelenk und hielt mich fest. Ich spürte, wie mir das Blut aus den Armen wich. „B-Bitte, lassen Sie mich los.“ Ein wenig versuchte ich mich loszureißen, allerdings ohne Erfolg. Hau ihm eine rein!, befohl ich mir in Gedanken, aber mein Körper gehorchte nicht. Der fremde Mann begann damit, mir den obersten Knopf der Bluse aufzuknöpfen, weshalb ich entsetzt anfing, meine Hände hin und her zu wedeln. „Lassen Sie mich auf der Stelle los!“ Der Mann lachte dreckig. „Ah ja, und wer wird mir weh tun, wenn nich?“ Eins zu Null für den Kerl, auch wenn ich es nur ungern zugab.

Auf einmal hörte ich eine vertraute Stimme, über die ich in dieser Situation sofort dankbar war. „Das werde ich dann übernehmen.“ Light! Noch nie war ich so glücklich, ihn zu sehen, aber gleichzeitig hatte ich auch Angst. Angst davor, dass der Mann vor mir plötzlich tot zusammensacken würde.

„Soso, du Knirps?“

„Nein, ich der Polizist.“ Gekonnt öffnete Light eine Dienstmarke. Anscheinend hatte auch er eine mit gefälschtem Namen bekommen. „Wenn Sie das Mädchen jetzt loslassen, kann ich noch einmal ein Auge zudrücken.“ Auf Kommando ließ der Kerl, wenn auch widerwillig, von mir ab. Mit einem Knurren verdrückte er sich und ich blieb mit einem Schrecken zurück. Kein Wunder, dass Light diese Menschen hasste.

[align type="left"]„Alles in Ordnung mit dir?“ Ich nickte. Gerade noch mal gut gegangen, und das nur dank Light. „Ja, danke.“ Aus unerfindlichen Gründen senkte ich den Blick und spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Im Hintergrund hörte ich Light lachen. Natürlich nicht seine Psycho-Lache, sondern eine nette, vielleicht sogar liebevolle. Ich hätte nur zu gern gewusst, was in diesem Moment in seinem Kopf vorging.

„Sag mal, Light, ich dachte, du müsstest in der Uni sein?“[/align]

„Ja, richtig. Allerdings ist der Professor heute nicht da, daher fallen zwei Kurse für mich aus.“ Ah, so ist das also. „Wohin warst du gerade unterwegs? Soweit ich weiß, bist du seit vier Tagen nicht draußen gewesen.“ Überrascht blickte ich ihn an. Okay, das war meine Chance! „Na ja, um ehrlich zu sein… Ich war gerade auf dem Weg zu dir.“ Light ließ sich von der Überraschung nichts anmerken, aber ich wusste, dass er damit nicht gerechnet hatte. „Also… Light, ich wollte dich fragen, ob du… Ob du heute Abend mit mir ausgehen möchtest.“ Ich senkte schon wieder den Blick. Man, war mir das peinlich! Fast schon ein indirektes Liebesgeständnis. Innerlich stutzte ich nach diesem Gedanken. Liebesgeständnis? Ich sollte nicht zu weit gehen, sonst… Haha, nein. Als ob sich Light in mich verlieben würde! Und ich mich schon gar nicht in ihn! Dafür hasste ich ihn einfach zu sehr. Oder besser gesagt den Kira in ihm.

„Klar. Warum nicht?“ Hoppla, hatte er wirklich gerade zugesagt? Ein Strahlen stahl sich auf mein Gesicht und ich versuchte so glücklich wie möglich zu klingen. Light sollte denken, dass ich voll in ihn verknallt war. So lautete mein Plan. „Wie wär’s mit sieben Uhr? Dann kann ich nach der Uni direkt dich abholen. Ähm, wo bist du dann?“ Als ich ein wenig dämlich dreinschaute, erübrigte sich die Frage von allein. „Ah, okay. Ich hol dich dann in der Zentrale ab. Ich muss noch mal nach Hause. Auf Wiedersehen!“ Mit diesen letzten Worten ließ nun auch er mich zurück. Theoretisch konnte ich ebenfalls gleich zurück gehen, immerhin war meine Aufgabe jetzt erfüllt. Aber nun war ich schon draußen, warum sollte ich das nicht ausnutzen?

Ich beschloss, noch wenigstens ein bisschen umher zu schlendern. Ein wenig umsehen, schließlich war man nicht jeden Tag urplötzlich in Japan.

Es stellte sich heraus, dass einen hinter jeder Ecke etwas Unterwartetes erwartete. Egal ob es ein riesiger Bildschirm oder ein komischer, wie ein Agent aussehender Mann war.

Seufzend setzte ich mich auf eine Bank. Japan war um einiges weniger spannend, als ich es gedacht hatte. Zwar waren da diese Sachen, aber dennoch war es nicht genug. Mit der Zeit hatte man sich daran gewöhnt. Wenn ich mir nichts wirklich Besonderes ansehen konnte, verzweifelte ich noch. Vielleicht sollte ich mal eine Sightseeing Tour machen.

Mir fiel auf, wie genial der Gedanke war. Wenn ich mich schon mit Light traf, warum ließ ich mich dann nicht gleich von ihm herumführen? Vor Vorfreude sprang ich von der Bank auf, auf die ich mich eben vor Erschöpfung gesetzt hatte, woraufhin mich die alte Frau neben mir entsetzt anstarrte. Verlegen lachte ich und entschuldigte mich wie es so üblich war.

Ich ging nach dieser kurzen Ruhepause erneut los. Diesmal auf den Weg nach Hause.

Moment mal…! Nannte ich die Zentrale jetzt etwa schon Zuhause?! Das wurde ja immer schlimmer. Schien, als würde ich mich immer mehr an das Leben hier gewöhnen, und das nach der kurzen Zeit, die ich bisher hier verbracht hatte.

Seufzend drückte ich meinen Rucksack enger an mich heran. Heute hatte er sich für mich als nutzlos erwiesen. Während ich über eine, die geschätzte Zehnte heute, Ampel schlurfte, beobachtete ich die anderen Menschen. Die meisten sahen bedrückt aus oder hatten ein Pokerface, wenn sie nicht sogar entsetzte Augen machten. Andere wiederum lächelten jeden weiteren Passanten an. Deren Optimismus wollte ich haben! Schließlich hatte ich keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen würde, nachdem all meine Planungen über den Haufen geworfen wurden. Blöder Light! Ich wollte ihn doch heimlich von dem Treffen mit Misa abbringen und nicht gleich in ihre Rolle springen. Mal hoffen, dass trotzdem alles so verläuft, dass mein Hauptziel erreicht wird. Ich rette L!

Worlds

„Hallo.“ Anschließend schweigend nahm Light auf einem der freien Schreibtischstühle Platz.

Als ich nachmittags zurück gekommen war, war L längst wieder fit und begutachtete ein Video. Nicht irgendein Video: Das Video eines sterbenden FBI-Agenten. Raye Penber…!

Seufzend schloss ich die Augen. Die Couch, auf der ich saß, war bequem, dennoch stand ich missmutig auf. Light war jetzt hier statt zu Hause, also würde Misa ihn nicht dort antreffen. So weit war mein Plan perfekt. Aber… Ich hatte wohl vergessen, dass ich nun einen ganzen Abend mit Light verbringen musste.

Bei diesem Gedanken lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Wie sollte ich denn bitteschön diesen Abend überleben, wenn ich Kira abgrundtief hasste!?

Die anderen fassten meinen erneuten Seufzer wohl als Langeweile auf. „Tut mir Leid, ich bin gleich fertig.“, kam es von Light. Am Liebsten hätte ich ihm an dieser Stelle eine reingehauen. Blöder Weiberheld!

Langsam schlich ich zu ihm rüber, um wenigstens ein wenig zu tun zu haben. Eine lange Liste erstreckte sich scheinbar über mehrere Seiten auf dem Computer. Hauptsächlich Männernamen fand ich dort vor. Ist wohl Zufall., dachte ich.

Hastig wurde die Liste durch einen kurzen Mausklick geschlossen. „Bin fertig.“ Stöhnend lehnte er sich zurück, worüber ich ehrlich gesagt grinsen musste. Als Light mich anschaute, verkniff ich es mir so gut es ging und wandelte es in ein Lächeln um. Was mussten andere bei dem Anblick von mir wohl denken? Moment mal…! Wussten die anderen Mitglieder der Sonderkommission eigentlich, dass Light und ich jetzt ein Date hatten? Selbst wenn, war ja nicht sonderlich wichtig. Einfach nur ein Kennenlerntreffen, redete ich mir ein. Oder vielleicht ein bisschen mehr. Aber nicht viel mehr. Nur ein Ticken.

Ach, verdammt! Worüber machte ich mir im Moment eigentlich Sorgen?!

Lächelnd trat ich einen Schritt zurück, um Light Platz zum Aufstehen zu machen. „Also, Ryuzaki. Wir sind dann beide weg.“, erklärte er dem nicht einmal aufsehenden L. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er ein Stückchen voraus, drehte sich dann um, um auf mich zu warten. „Kommst du?“ Hastig stolperte ich vorwärts, bis ich neben ihm in Richtung Ausgang zulief.

An der frischen Luft bogen wir gleich rechts ab. Auf den Straßen tummelten sich wieder einmal massig Leute. Ich fragte mich, ob das Tag und Nacht so war.

„Wie kommt es eigentlich, dass du keine Sachen hattest? Ich meine, du musst doch irgendwo gewohnt haben.“ Mhm, ja… Eigentlich hatte ich noch nicht darüber nachgedacht, was ich in so einer Situation sagen würde. Jetzt hatte ich den Salat!

„Na ja, ich habe schon Sachen, aber…“ Ich hatte die Idee! Damit wären zwei Probleme auf einmal aus der Welt geschafft. „Die sind alle bei meinem Freund. Wir haben uns zerstritten und ich wollte ihn dann nicht mehr sehen.“ Ich fand, das war eine ziemlich logische Lösung. Wer würde nicht so fühlen. „Oh, das tut mir Leid. Weshalb habt ihr euch den gestritten?“

…Okay, was nun? „Öhm…“, stotterte ich. Warum mussten andere Menschen immer so neugierig sein?

Verzweifelt senkte ich den Kopf – zu meinem Glück, denn Light fasste dies als eine Ich-will-nicht-darüber-reden-Bewegung auf.

„Schon gut. Sag mal, wo möchtest du eigentlich hin?“ Light war in letzter Zeit so beschäftigt gewesen, dass ich vergessen hatte, ihn darüber auszufragen. Mist, eigentlich wollte ich mir von ihm die Stadt zeigen lassen, aber nach meiner Notlüge war das wohl kaum noch möglich.

Ich zuckte mit den Achseln, während ich noch immer zu Boden schaute. Schade das L so ein Einzelgänger war, ich wäre viel lieber mit ihm ausgegangen. Trotzdem, es war ja alles nur für sein Wohl!

„Hey!“ Light blieb abrupt stehen, woraufhin ich mich irritiert zu ihm umdrehte. „Was…!?“ Er umklammerte mich, drückte mich an sich, und hielt verkrampft meinen Kopf nahe bei seinem. Entsetzt riss ich die Augen auf. Panisch stieß ich ihn von mir weg und verdeckte meinen Mund mit der Handfläche. Er… hat mich geküsst – einfach so…!

„Du liebst mich doch, oder?“ Ich lief rot an – nicht vor Peinlichkeit, sondern vor Wut. „Spinnst du!? Wie kommst du auf so einen absurden Gedanken!“ Light öffnete seine Augen aus Überraschung ebenfalls ein wenig. „…Nicht?“

Ich holte weit aus und klatschte ihm eine. Anschließend rannte ich los, teilweise um einfach der kommenden Situation zu entkommen. Ich hasse Light, ich hasse ihn!

Keuchend blieb ich nach einiger Zeit stehen. Als ich mich umdrehte, konnte ich ihn nirgendwo mehr entdecken. Schien, als hatte ich ihn abgehängt.

Völlig außer Atem ging ich die überfüllte Straße entlang. Irgendwie fühlte ich mich einsam, verlassen. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo genau ich mich befand. Ohne einen Partner war ich hier völlig aufgeschmissen.

„Entschuldigen Sie bitte!“ Wie schon einmal tippte ich einfach einem Passanten auf die Schulter und verbeugte mich höflich. Auf die Frage, wo ich mich befand und wo die nächste Bushaltestelle war, antwortete der Mann jedoch nicht. „すみません。 私はスペイン語を話すないです。“*

Eh? Was ist los? Okay, dass ‚Sumimasen’ Entschuldigung heißt, konnte selbst ich mit meinem Wissen zusammenkratzen. Aber… Warum zum Teufel verstand ich diesen dämlichen Kerl nicht?! Dieser ging einfach weiter und ließ mich kaltherzig zurück. „He!“, rief ich ihm hinterher, doch mein Rufen wurde durch die vorbeifahrenden Autos unachtsam übertönt. Was war das gerade bloß?

Neuer Versuch, neues Glück – so hieß es zumindest, aber ich würde es auch allein schaffen. Dann blieb mir wenigstens noch genug Zeit, über alles Mögliche nachzudenken und außerdem wollte ich kein zweites Mal so konfrontiert werden.

Tatsächlich fand ich nach einer Weile ziellosem Umherirrens eine Bushaltestelle. Dankbar darüber, dass der richtige Bus bereits dort stand, stieg ich ein. „Fahrkarte?“, begrüßte mich der unfreundliche Fahrer direkt. Zögernd zog ich ein Jahresticket aus der Hosentasche – Matsuda hatte es für mich besorgt.

Grimmig ließ mich der Mann passieren. Ich setzte mich auf einen freien Platz ziemlich weit hinten. Völlig geschockt saß ich plötzlich kerzengerade da, als mir ein bestimmter Punkt auffiel. I-Ich habe ihn verstanden…! Seufzend drückte ich mich weiter in den Sitz, als der Bus endlich begann loszufahren.

Die Busfahrt dauerte elendig lange, schon allein aus dem Grund, dass man draußen ständig nur das gleiche sehen konnte: Auto, Straße, Haus, Menschen. Zum zehntausendsten Mal an diesem Tag fragte ich mich, ob ich diese Szenerie ab nun für immer sehen würde. Oder konnte ich jemals zurück?

Lachend winkelte ich meine Beine an. Die einzelne Träne, die ich bemerkte, wischte ich mir schlicht und einfach weg. Weiter versuchte ich es gar nicht, denn dieser einen Träne folgten noch hundert weitere. Mit einem Lächeln im Gesicht flossen sie mir die Wangen hinunter, bis sie schließlich auf meine Jeans tropften. Werde ich sie je wiedersehen? Meine Familie…?

„Haltestelle…“, brüllte jemand ins Mikro. Den Rest des Satzes verstand ich nicht, ich wusste aber auch so, dass ich dort aussteigen musste. Gesenkten Blickes machte ich mich auf den Weg durch den Vordereingang, der blöde Busfahrer hatte die hintere Tür nicht aufgemacht.

Ich wollte gerade an ihm vorbeigehen, als er mir mit seinem Arm den Durchgang versperrte und mich besorgt anblickte. Er hielt mir ein frisches Taschentuch hin, welches ich dankbar annahm. „Alles in Ordnung?“ Ich nickte, gleichzeitig rutschte mir jedoch ein leiser Schluchzer raus. Reiß dich zusammen! Ich lächelte den Mann mit einem Strahlen an und erklärte mit einer Stimme, die sich nichts anmerken ließ: „Ja, danke für das Taschentuch.“ Langsam verbeugte ich mich, während das Lächeln aus meinem Gesicht verschwand. Ohne großartig aufzusehen sprang ich die letzten Stufen aus dem Bus. Emotionslos wischte ich mir den Wasserfall aus den Augen. Wie gut, dass ich Schminke hasste, jedes andere Mädchen wäre an meiner Stelle ein Panda gewesen.

Schweigend schlich ich die Straße entlang. Nur noch ein paar Meter bis zum Hauptquartier. Um die Zeit bis dahin noch ein wenig mehr hinauszuzögern, verlangsamte ich mein Schritttempo noch mehr, weshalb mich wahrscheinlich jede Schildkröte hätte überholen können.

Am Liebsten hätte ich mich in irgendeiner Ecke verkrochen, denn ich musste wirklich furchtbar aussehen. Bereits als ich durch die Tür hinein kam, stürmte Matsuda auf mich zu. Gut, wenn Matsuda überreagiert hat das nicht viel zu bedeuten, aber auch L starrte mich mit weit geöffneten Augen an. Irgendwie war es mir unangenehm, die Blicke so auf mich zu ziehen, also versuchte ich, so gut es ging ein Pokerface zu machen oder vielleicht sogar zu lachen. Erstaunlicherweise gelang mir ein erneutes exzellentes Lächeln. Meine Gefühle im Tiefsten Inneren verborgen, setzte ich mich auf die Couch. Ich starrte einfach nur den Tisch vor mir an, nicht mehr. Allerdings vertraute Watari meiner Freude nicht ganz über den Weg. Er stellte einen Tee vor mir auf den Tisch und setzte sich anschließend neben mich, wobei er mir die Hand auf die Schulter legte. Sofort brach ich wieder in Tränen aus und ließ mich auf Watari fallen. Ein Schluchzer nach dem nächsten entwich meinem Mund, ohne dass ich etwas dagegen hätte tun können.
 

Nach meinem kleinen Anfall bin ich zurück auf mein Zimmer gegangen. Explizit habe ich den anderen gesagt, nicht per Kamera beobachtet werden zu wollen, daher sollte ich relativ allein sein. Meine geröteten Wangen kühlte ich mit eiskaltem Wasser ab und meine Augen waren, wie ich leider feststellen musste, leicht geschwollen. Wieso musste ich auch plötzlich anfangen zu heulen? Und dann auch noch in der Öffentlichkeit und in Sonderkommission und – was noch viel schlimmer war – vor L. Wieso musste dieser verdammte Kerl mir eigentlich so wichtig sein?! Lieblingschara hin oder her, man sollte es nicht übertreiben. Das war wohl Regel Nummer Eins in der Animewelt. Regel Zwei lautete: Lass dir deine Gefühle nie von anderen anmerken, das würde auf Dauer peinlich sein.

Seufzend ließ ich mich auf mein Bett fallen. Kaum vorstellbar, dass ich in so dreckigen Verhältnissen so lange ausharren konnte. Wenn ich jetzt darüber nachdachte, konnte ich nicht mal einen Monat in diesem einen Stockwerk bleiben.

Ich drehte mich auf den Bauch und betrachtete schweigend die Bettdecke. Kein besonderes Muster, einfach nur weiß. Stinknormal. So würde ich auch gerne sein… Stattdessen war ich eher ‚das Mädchen mit den besonderen Kräften’ oder ‚Anime-Girl’ oder so etwas in der Richtung. Leider nur nicht freiwillig. Anfangs war es ja noch ganz nett, aber mittlerweile ging mir so einiges auf den Keks. Zum Beispiel würde ich echt gerne mal wieder etwas Deutsches hören.

Aufgrund meiner seltsamen Laune sprang ich auf und rannte zum Schreibtisch innerhalb meines Zimmers, auf welchem ein zusammengeklappter Laptop lag. Vorfreudig startete ich ihn und rief letztendlich im Internetbrowser YouTube auf. Gerade als ich etwas eintippen wollte, hielt ich inne. Dieses ‚etwas’ störte mich. Wo hörte man den viel Deutsch? Nach reichlicher Überlegung kam ich auf Animes, von denen ich jedoch nur allzu verständlich die Schnauze voll hatte.

Hastig tippte ich doch noch etwas ein, nämlich den Titel von meinem Lieblingsfilm. Nachdem ich noch ‚Hörspiel’ hinzugeschrieben hatte, hatte ich sofort einige Treffer. Gespannt wartete ich, während das Video für meinen Geschmack viel zu lange lud. Mit einem Klick startete ich das Video – und damit auch die Katastrophe. Zwar kam Ton aus dem Laptop und auch Bild war zu sehen, jedoch half mir beides nicht wirklich. Ich verstand nur Bahnhof von dem Gelaber.

Entsetzten breitete sich auf meinem Gesicht aus, bevor ich geschockt alles schloss und eine Weile einfach nur wie eine leblose Hülle auf dem Stuhl hing. Deutsch. Das Video war deutsch…! Trotzdem hatte ich kein Wort verstanden, es klang einfach nur fremd in meinen Ohren. Was zur Hölle war nur mit mir passiert?

Schon wieder seufzte ich, klappte dann den Laptop enttäuscht zu. Ich musste definitiv etwas an meiner jetzigen Situation ändern. Ich fragte mich, was wohl passieren würde, wenn ich einen Sprachkurs für Deutsch machen würde und letztendlich nicht mehr Akio sein würde. Eigentlich müsste ich dann Deutsch können, aber da es ja eigentlich meine Muttersprache war, musste ich es doch sowieso können!? Man, alles war plötzlich so verwirrend für mich.

Scheinbar befand ich mich weder in meinem Körper noch in meiner ‚Welt’. Welt war nicht gerade ein passendes Wort, aber fand mal ein besseres!

Du bist nicht mehr Michelle, du bist jetzt Akio…!, redete ich mir ein. Verzweifelt klang sie, meine Stimme, sogar in Gedanken.

Ein Klopfen schreckte mich aus meinen Gedanken. „Ja? Es ist offen.“ Die Tür öffnete sich langsam und ein Junge mit erstaunlich schlechter Haltung betrat den Raum. Hastig setzte ich mich normal aufs Bett, entschloss dann aber doch aufzustehen. „Ist etwas?“ L blickte mich müde an – jedenfalls sah es so aus – und vergrub abwesend die Hände in den Taschen. „Nein. Ich wollte nur gucken.“ Was bitteschön meinte er mit gucken?!

Lächelnd bot ich ihm an, sich hinzusetzen, was er sogleich tat. Ich nahm ihm gegenüber Platz. Natürlich wunderte es mich nicht, dass er so seltsam dort hockte, aber gewöhnungsbedürftig war es dennoch irgendwie. Nicht, dass ich es nur verdammt selten gemacht hatte, im Gegenteil. Jetzt wusste ich auch, warum sich meine Freundin immer so darüber aufgeregt hatte.

Schweigend verbrachten wir unsere Zeit. Keiner von uns machte Anstalten sich zu bewegen oder etwas zu sagen, weshalb ich nach kurzer Zeit mies gelaunt war. „Also…“, versuchte ich ein Gespräch anzufangen. „Warum genau bist du hier?“

„Hab ich dir doch gesagt.“ Gelangweilt kaute er auf seinem Finger herum. Ich hingegen blickte in ernst und mittlerweile etwas zornig an. „Watari macht sich Sorgen um dich.“ Er gähnte laut, weshalb ich darauf schloss, dass es ihn nicht im Geringsten interessierte, wie es mir ging. Seltsamerweise spürte ich nun etwas wie Trauer in mir. Unerklärlich für mich, weil ich genau das Gegenteil vorher verspürt hatte. Am Liebsten hätte ich es nicht geglaubt, aber es stand mir beinahe aufs Gesicht geschrieben. Du bist wohl tatsächlich in ihn verknallt…!
 


 

* Romaji: „Sumimasen. Watashi wa Supeingo o hanasu naidesu.“ Übersetzung: „Tut mir Leid. Ich spreche kein Spanisch.“ (Ich kann nicht garantieren, dass das richtig ist, da ich noch nicht so lange Japanisch mache. Danke für Verständnis ;))

Study

Der nächste Morgen war erstaunlich entspannt. Obwohl ich ausschlafen konnte, wachte ich bereits um zehn Uhr auf. Normalerweise war ich ein Langschläfer.

Ich drehte mich auf den Rücken und starrte gedankenverloren die Decke an. L war gestern fast sofort wieder abgehauen. Den Grund, den er mir genannt hatte, hatte ich ehrlich gesagt vergessen. Unwillkürlich musste ich darüber schmunzeln. Allgemein über den ganzen gestrigen Tag. Wo war ich bloß den ganzen Tag mit meinen Gedanken gewesen? Ehe ich mich versah, war es schon Abend.

Schwungvoll richtete ich mich auf und ließ meine Beine am Bettrand baumeln. Ich hatte Zeit – oder auch nicht. Schließlich hatte ich mein Hauptziel noch immer nicht erreicht. Stattdessen hatte ich mich an Light rangemacht.

Bei diesem Gedanken schüttelte ich mich. Er hatte mich tatsächlich geküsst…! Scheiße, ich war doch nicht Misa!? Oder hatte ich ihre Rolle etwa eingenommen…?

Meine Beine hörten auf zu wackeln, mein Blick war starr geradeaus gerichtet. Theoretisch konnte Light Misa nicht treffen, aber nun? Ich sollte mir wirklich angewöhnen, alle Möglichkeiten durchzugehen, bevor ich irgendetwas tat. So langsam ging mir das wirklich auf die Nerven.

Seufzend stand ich auf und zog mein weißes Nachthemd über den Kopf. Während ich mir frische Sachen aus dem Kleiderschrank anzog, überlegte ich, was mir der heutige Tag so alles bringen würde. Spaß? Angst? Trauer? Vielleicht sogar… Tod. Das war es, was ich am Liebsten nicht gedacht hätte, aber es stimmte. Ich war nicht nur durch die Ermittlungen, in die ich nun endgültig mit einbezogen worden war, gefährdet, sondern auch dadurch, dass ich wusste, wer Kira war und ihn sogar noch persönlich kannte.

Schweigend schlich ich die Treppe runter, heute hatte ich keine Lust, den Fahrstuhl zu benutzen. Wie hieß es so schön? Jeder Gang macht schlank. Während ich über die Fortsetzung dieses Spruchs ‚und jeder zweite in die Breite’ lachte, trat ich durch die Glastür in den Hauptraum. Links von mir führte die nächste und letzte Treppe hinab. Von meiner Position aus konnte man den ganzen Raum überblicken. Unter dem Gehweg vor mir befanden sich die Computer, am Fuß der Treppe befanden sich ein kleiner Glastisch und zwei Sofas. Nicht besonders viel, aber genug, um auf mich äußerst gemütlich zu wirken. Ich war noch nie besonders viel Luxus gewohnt gewesen.

„Guten Morgen!“ Mit meiner gutgelaunten, normalerweise nur abends angewandten Stimme ging ich die letzten Stufen hinunter. Erstaunlicherweise – oder auch nicht, immerhin war es erst Viertel nach zehn – war kaum jemand anwesend. L saß ausnahmsweise mal nicht vor dem Computer, sondern in der Ecke auf der Couch, Watari daneben. Außerdem saß ihm Herr Yagami gegenüber, aber das waren auch die einzigen. Watari und Herr Yagami unterhielten sich angeregt über etwas, was ich aus der Entfernung locker hätte verstehen können, wenn es mich interessiert hätte, während L nur da rumhockte und einen Stapel Papiere durchging, während er drei Kugeln Eis verdrückte.

Außer L schauten alle – folglich zwei Leute – auf. „Akio, guten Morgen. Wir haben uns gerade über dich unterhalten.“ Verdattert zeigte ich auf meine Nase.* „Über mich…?“ Liebevoll nickte Watari, irgendwie konnte ich ihn verdammt gut leiden. „Wieso?“, hakte ich nach. Lights Vater tauschte mit Watari Blicke aus, woraufhin Herr Yagami aufstand und mir zu berichten anfing. „Du bist erst neunzehn, nicht wahr?“ Ich nickte zwar, aber er schien dies nicht mal wirklich zu beachten und sprach gleich weiter. „Wir können nicht verantworten, dass du deine Bildung abbrichst, nur um im Fall Kira zu ermitteln. Daher wollen wir dich mit deiner Einverständnis auf eine Uni schicken, damit du dein Wunschstudium absolvieren kannst.“

Okay, okay, okay. Immer mal langsam. Ich sollte studieren? Darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Gut, meine Noten waren noch nie schlecht gewesen, aber was sollte ich denn bitteschön studieren?!

„Äh... Und was genau sollte ich Ihrer Meinung nach studieren?“ Scheinbar hatten die beiden erwartet, dass ich eigentlich um jeden Preis hätte studieren wollen, aber Pech gehabt. Ich hatte diese Lebensplanung nicht einmal in Erwägung gezogen…!

„Nun“, begann Watari. „Einen Platz an der Touou Universität könnten wir sicherlich bekommen. Diese Uni ist die Beste in ganz Japan, was Jura angeht.“

Aha, mhm… Ich konnte also Jura studieren. Jura… So weit ich wusste, dauerte ein Jura-Studium so um die sechs Jahre. Und eigentlich war Jura nicht so mein Fall. Allerdings war ich jetzt schon mittendrin, also warum denn nicht? Ausprobieren konnte ja nicht schaden – hoffte ich jedenfalls…!

„Hört sich gut an.“ Ich stutzte. Warum redete ich eigentlich immer bevor ich nachdachte? Hirn an Realität, Hirn an Realität! Touou Uni! Das war die Universität, an der auch Light studierte! Folglich würde ich ihm verdammt oft begegnen und das Schlimmste daran war, dass dies in meiner Freizeit passieren würde.

Während mir all dies einfiel, überlegte ich, wie ich meine Aussage von vorhin wieder rückgängig machen konnte. „Äh, aber ist das nicht die Uni an der Light studiert? Bestimmt würde ich ihn nur verhindern.“ Kaum hatte ich zu Ende gesprochen, fing Herr Yagami herzhaft an zu lachen. „Du magst meinen Sohn, oder? Keine Sorge, er würde sich sicher freuen, dich jeden Tag sehen zu können.“ Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. „N-Nein! So meinte ich das nicht! Es ist nur… Ich würde auch gerne etwas machen, ohne dabei gleich an die Kira Mordfälle denken zu müssen.“ Peinlich berührt starrte ich zu Boden. Eigentlich stimmte es ja, was ich sagte, also warum zum Teufel wurde ich rot!?

Die beiden Erwachsenen sagten nichts, weshalb ich beschloss, mit der Wahrheit rauszurücken. „Eigentlich hab ich mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht. Um ehrlich zu sein ist es mir egal, was genau ich studiere.“ Ich gab’s ja zu, eine normale Antwort war das nicht. Jeden würde es interessieren, was er später mit seinem Leben anfing, aber mein Fall war ja so was von nicht normal! Es war wahrscheinlich sowieso egal, was ich tat. Später würde ich einfach wieder Michelle Hedley werden, oder? Immerhin konnte ich als Akio Noteshitsu nicht einmal mehr meine Muttersprache sprechen, von daher: Was würde es mir bringen, etwas zu studieren, woran ich mich später womöglich nicht einmal mehr erinnern kann?!

Seufzend ging ich die letzten Schritte auf die Couch zu, um mich anschließend auf die rechte Armlehne zu setzen. Nachdenklich starrte ich meine Beine an. Wollte ich wirklich an der gleichen Uni wie er studieren? Wenn ich mich recht entsandte, tauchte L insgesamt zwei Tage dort auf. Aber deswegen gleich sechs Jahre dort zu studieren war mehr als nur übertrieben.

„Wie hast du dich entschieden?“ Vorerst antwortete ich nicht, sondern blickte weiterhin auf meine tiefschwarze Hose. An einigen Stellen war sie ein wenig heller geworden, wahrscheinlich vom Waschen. Aber… Wurde diese Hose überhaupt schon mal gewaschen? Was war denn eigentlich mit Akio, bevor ich sie wurde? Und warum zum Teufel machte ich mir in dieser Situation um meine – nein, Akios – Hose Gedanken?! Ich war echt kein Stück mehr zu retten…

„Vielleicht… Ein Probetag wäre wahrscheinlich nicht schlecht. Obwohl… Weiß auch nicht so genau.“ Jurastudium – ja oder nein? Vielleicht gab es ja auch andere interessante Sachen. Ich konnte zum Beispiel eine Lehre bei der Polizei machen oder Lehramt studieren. Beides mochte ich echt gern. Oder ich fing gleich mit einer Anstellung hier in der Sonderkommission an. Zu verlieren hatte ich ja nichts und mein Leben würde ich auch behalten. Das heißt, normalerweise, wenn alles glatt läuft. Ein Fehler und ich könnte dran sein.

Ach, verdammt! Entscheide dich, zum Teufel! Warum hatte ich eigentlich so ein Entscheidungsdefizit? Musste wohl vererbt sein.

Red nicht um den heißen Brei herum! Ja oder [/style]nein! Zögerlich setzte ich zum Sprechen an. „J…“ Gut so, rede weiter. „…ura? Eigentlich interessiert mich Jura nicht.“ Bam, bam, bam, baaam! Entscheidende Aussage gemacht. Damit kein Jurastudium. Ich danke für ihr Verständnis…

Unschuldig lächelnd – oder besser mit einem extrem erzwungenen Lächeln – schaute ich L in die Augen, welcher das erste Mal seit dem Gespräch aufgeblickt hatte. „Aber wie gesagt, ein Probetag wäre bestimmt trotzdem nicht schlecht. Vor allem, bis ich mir was anderes überlegt habe.“ Das würde sich gut treffen. Dann wäre ich nämlich an dem Tag in der Uni, an dem L Misas Handy klaute und sie gleich danach verhaftet wurde. Hehe, geschah ihr Recht!

Apropos Misa… Light hatte sie doch gar nicht getroffen, also wie wollte L ihr da bitteschön das Telefon klauen?! Ich seufzte über diesen verflixten Gedankenknoten.

„Wann genau würde ich denn dann da anfangen?“ Ich zuckte zusammen, als kaum zwei Sekunden später eine selten gehörte Stimme die Antwort durch den Raum rief. „Wenn du willst, heute oder morgen. Du kannst natürlich auch erst nächste Woche beginnen.“ Nachdenklich blickte ich L an. Und schon hatte ich eine leider etwas weniger geniale Idee. Um genau zu sein war es mir im Nachhinein fast peinlich. „Allerdings… Die Uni ist bestimmt groß, oder? Wie finde ich denn da die richtigen Räume?“ Nervös spielte ich an einem losen Faden meiner dunkelblauen Strickjacke herum. Normalerweise hatte ich nicht einmal Abitur gemacht und schon sollte ich in einer Universität herumlaufen. Das Schicksal meinte es echt nicht gut mit mir.

Eine Weile sagte keiner etwas, dann warf Watari dem Jungen zu seiner Rechten einen vorwurfsvollen Blick zu. „Ryuzaki wird dich an deinem ersten Tag begleiten.“ Obwohl im gerade eine nervige Aufgabe aufgehetzt wurde, verzog L keine Miene. Er schien Wataris Aussage regelrecht zu ignorieren. „Watari.“, begann er nun. „Wir müssen ins Maruko Gefängnis.“

Stille. Eisige Stille. Alle waren so beschäftigt mit dem Studium gewesen, dass keiner auf die Papiere von L geachtet hatte. Scheinbar hatte er bereits den ganzen Stapel durchgeblättert. „Sehr wohl.“ Watari stand auf und begab sich zum Ausgang. Kurz vor dem Gang, der beinahe direkt rechts neben der Sitzecke war, blieb er stehen und öffnete einen metallenen Kasten. Daraus nahm er einen von vielen Schlüsseln heraus und drehte sich anschließend zu L um. „Soll Akio auch mitkommen?“ Springend stand L auf und krümmte sogleich wieder seinen Rücken. Die Hände vergrub er wie immer in den Hosentaschen. „Meinetwegen.“, meinte er trocken und verschwand durch den Gang. Ich selbst blieb einen Moment verdutzt sitzen, rappelte mich dann sofort auf.

Selbstverständlich war ich nach kurzer Zeit komplett fertig, immerhin musste ich an der Tür nur noch meine Jacke überziehen. L brauchte einen Tick länger, weil er noch keine Schuhe anhatte. Insgeheim dachte ich, dass es vielleicht besser ausgesehen hätte, wenn er sie nicht angezogen hätte, so abgelatscht sahen seine aus.

Als wir im Auto saßen, fragte ich L die grundlegendsten Dinge für unseren Ausflug. „Wie viele sind da gestorben?“ Gemeint waren Verbrecher. Das war zwar mein erstes Mal in einem Gefängnis, aber ich hatte schon mitbekommen, dass L und Watari vor allem dann Gefängnissen einen Besuch abstatteten, wenn dort besonders viele Verbrecher in den letzten Tagen oder Wochen gestorben waren. „Sechsunddreißig innerhalb von acht Tagen.“ Ich stutzte. Wie konnte Light nur so viele Verbreche innerhalb ungefähr einer Woche töten? Schließlich war es nur ein Gefängnis, überall auf der restlichen Welt starben ebenfalls Verbrecher durch seine Hand. Wie konnte man nur so grausam sein?

Die Fahrt dauerte nicht wesentlich länger als meine letzte und erste Fahrt in diesem Wagen. Die meiste Zeit hatte ich gedankenverloren aus dem Fenster geschaut. Zwischendurch hatte es einen Schauer gegeben, wie an meinem allerersten Tag hier. Wie lange war dieser jetzt schon her? Ich hatte nicht mitgezählt. War wahrscheinlich auch besser so, sonst hätte ich vermutlich noch Heimweh nach Deutschland bekommen. Und Sehnsucht nach mir selbst.

Seufzend stieg ich durch die von Watari aufgehaltene Tür aus. Lächelnd bedankte ich mich bei ihm dafür und schaute mir danach das riesige Gebäude vor mir an. Ein Zaun umrandete den gesamten Hof und am oberen Ende der unzähligen Stäbe prangte Stacheldraht. Achtung! Starkstrom! stand auf einem gelben Warnschild am Eingangstor. L hatte gemerkt, dass ich davon etwas verunsichert wurde. „Das hier ist ein Hochsicherheitsgefängnis.“ Unwillkürlich riss ich die Augen auf. Hochsicherheitsgefängnis!? „Was?“, keuchte ich. Ein normales Gefängnis mit kleineren Verbrechern wäre mir definitiv lieber gewesen.

Schweigend trat ich durch das Tor, welches von zwei Polizisten offen gehalten wurde. Auch hier merkte man, was für Leute in diesem Gebäude stecken mussten. Alle beide trugen einen schweren Motorradhelm, dicke Jacken, einen Knüppel am Gürtel und ich entdeckte sogar eine Luftpistole ebenfalls am Gurt. Schluckend ging ich an ihnen vorbei und wartete mitten auf dem Kiesweg auf Watari und L. Nachdem beide ebenfalls durchs Tor gegangen waren, liefen sie stumpf an mir vorbei. Zwar hatte ich keine Mühe mit ihnen mitzuhalten, aber dennoch watschelte ich vollkommen überflüssig hinter ihnen her.

An der Eingangstür erwartete uns bereits ein vornehm gekleideter Mann. „Willkommen, Herr Wateji. Wie ich sehe, haben Sie wieder Begleitung mit dabei. Bitte folgen Sie mir.“ Der Mann ging voraus, wir folgten ihm. Wir gingen durch eine weitere Tür auf den rechten Seite, auf welcher dick und fett ‚B-Trakt’ stand. Vorsichtshalber fragte ich lieber nicht nach der Bedeutung.

Auf beiden Seiten reihten sich Türen aneinander. In jeder einzelnen befand sich eine Sichtscheibe aus Panzerglas. Ab und zu stellte ich mich auf Zehenspitzen und lugte hindurch. Überall hockten verzweifelt aussehende Leute zusammengesackt am Boden. „Wir haben einen Versuch unternommen.“, erklärte der Mann, der sich letztendlich als Herr Takahito vorgestellt hatte. „Was für ein Versuch?“ Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen, während Watari und L schier mühelos ihr Pokerface bewahrten.

Plötzlich blieb Herr Takahito stehen. „Der Versuch dreht sich um diese Person hier.“ Er deutete halbherzig auf eine Tür links von uns. Wieder stellte ich mich auf Zehenspitzen, um etwas sehen zu können. Dass die Sichtfenster so weit oben lagen, lag schlicht und einfach daran, so hatte Herr Takahito es uns eben erklärt, dass die Verbrecher nicht dauernd rausgucken konnten, wenn ein Wärter vorbei ging. Ein wenig überflüssig, wie ich fand.

In der Zelle saß ein relativ junger Mann, ich schätzte ihn ungefähr auf fünfundzwanzig, also sechs Jahre älter als ich. Theoretisch sah er ganz gut aus; er war rasiert, mittellange, dunkelblonde Haare und hatte einen leicht traurigen Blick aufgesetzt, als er mich durch das Fenster hindurch bemerkte. Sofort stellte ich mich wieder normal hin. Das sollte ein schwerer Verbrecher sein?

„…sollte diesen Mann umbringen, darum hatten wir vor einigen Wochen öffentlich gebeten. Bisher ist jedoch noch nichts geschehen, weshalb der zweite Teil unseres Versuchs begann. Leider hatten wir noch keinen Erfolg damit, ihn zu befragen, da er sich strikt geweigert hatte, auf unsere Fragen bezüglich seines Befindens zu antworten. Andere Fragen die wir ihm stellten waren unter anderem, ob er noch einmal Verbrechen begehen würde oder ob er Kira für seine Taten hasst. Außerdem…“

Ich hielt es nicht mehr länger aus. Ich packte Herrn Takahito am Kragen, hob ihn ein Stückchen hoch und hätte ihm am Allerliebsten noch eine geklatscht. Voller Wut schrie ich ihn an. „Wie können Sie nur mit den Gefühlen anderer Menschen spielen! Sie gehören doch in die Psychiatrie! Egal ob Straftäter oder nicht, man kann doch nicht einfach…“ Behutsam legte mir Watari eine Hand auf die Schulter. Ich wollte sie abschütteln, gleich darauf stellte sich jedoch L zwischen mich und Herrn Takahito. „Lass gut sein.“ Langsam ließ ich meine Hand wieder sinken. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich Herrn Takahito gewürgt hatte, indem ich ihn ein Stück vom Boden gehoben hatte. Betreten schaute ich zur Seite. „Verzeihung.“ Noch immer war ich wütend auf den Mann, denn egal wie sehr ich es auch drehte und wendete, ich verabscheute Kira und konnte ihm nie verzeihen, was er den Menschen antat. Und dieser Mann hier nutzte dies aus und opferte dafür auch noch ein Menschenleben…!

„Dann… lasst mich mit ihm reden.“ Schüchtern blickte ich zu Boden, ich hatte keine Ahnung, wie ich in solch einer Situation reagieren sollte. „Das können wir nicht verantworten, Fräulein. Tut mir Leid.“ Zwar dachte ich in diesem Moment eigentlich an etwas anderes, aber dennoch schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass niemand heutzutage mehr Fräulein sagte. Dabei kam mir jedoch die Idee, wie ich mir diese Anrede zu Nutze machen konnte.

„Aber… ich bin mir sicher, er würde mir zuhören. Ich schätze, er ist nicht so viel älter als ich und jemandem im gleichen Alter hört man doch eher an, als jemanden, der das eigene Alter bei Weitem überschreitet.“ Inständig hoffte ich, dass das nicht zu persönlich oder gar beleidigend klang. „Bitte… Lassen Sie es mich wenigstens versuchen.“

Scheinbar ging es Herrn Takahito nur um die Verantwortung, die er trug, denn als Watari sich bereit erklärte, die volle Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen, stimmte er letztendlich doch zu. Glücklich stand ich vor der Tür. Ein Hauch von Angst und starke Nervosität überkam mich. Nach alledem war der Junge dort drin immer noch ein Verbrecher, und um in dieses Gefängnis gekommen zu sein, musste er ganz schön was angestellt haben.

Ein Schlüssel wurde drei Mal im Schloss gedreht, dann klackte es und mir wurde die Tür von einem Polizisten aufgehalten. Dieser wollte mir gerade in den Raum folgen, als ich ihn ein Stückchen zurückdrängte und die Tür vor seiner Nase zuschlug. Man musste mir wirklich nicht so extrem zuhören, oder?

Schweigend ging ich auf den Jungen zu; er hocke noch immer am anderen Ende der Zelle. „Hallo.“ Er antwortete mir nicht, schaute nicht einmal hoch. Die ganze Zeit, als wir vor der Tür gestanden hatten, hatte er mich nicht einmal eines Blickes gewürdigt. Nur dieses eine Mal, als ich mich aus Neugier auf Zehenspitzen gestellt hatte, hatte er mich angesehen. Warum jetzt nicht mehr?

„Wie heißt du?“ Ich setzte mich ebenfalls hin, direkt vor ihn. Ich nahm wahr, wie seine Hände, welche um seine Knie geschlungen waren, leicht zitterten. Erneut verspürte ich tiefes Mitleid mit diesem Jungen.

Behutsam legte ich meine Hand auf seine. Erschrocken blinzelte er mich an, ich versuchte zu lächeln. „Ich bin Akio. Nennst du mir auch deinen Namen?“ Er ließ sich leicht anmerken, wie unruhig und verwirrt er sich fühlte. „Sh-Shouta.“ Ich schenkte ihm wieder ein freundliches Lächeln. „Ich arbeite hier nicht, musst du wissen. Wenn du also nicht willst, dass ich etwas anderen nicht erzähle, dann musst du es mir sagen. Okay?“ Zaghaft nickte er. Ich rutschte um ihn herum, sodass ich zu seiner Rechten saß und mich wie er an die Wand anlehnte. „Darf ich fragen, weshalb du hier bist?“ Ich hatte mich ein wenig nach vorne gelehnt, damit ich ihm ins Gesicht blicken konnte. Seine Stimme bebte, als er mir antwortete. „Ich… habe zwei Mitschüler von mir umgebracht.“ Während ich leicht schockiert war, drehte er seinen Kopf weg. Klar, so etwas zu sagen war nicht einfach.

„Warum?“, hakte ich nach, bereute es aber sofort wieder. Shouta starrte seine Beine an, hatte seine Augen weit aufgerissen und ich sah eine Träne seine Wange hinunterlaufen. Mitfühlend griff ich nach seiner Hand und hielt sie fest, um ihn möglichst zu beruhigen. Scheinbar war ich gut darin. Hastig erklärte ich ihm, dass er mir nicht antworten musste, wenn er nicht wollte. Doch kaum hatte ich ihm dies gesagt, rückte er mit der Wahrheit raus. „Sie haben mich erpresst. Ich wurde in eine Prügelei verwickelt, als ich ihnen das Geld nicht geben wollte. Und dabei… hab ich… ihn aus Angst mit dem Kopf auf den Boden geschlagen… Er… war sofort tot. Danach ist der Zweite auf mich losgegangen…“ Bedrückt schaute ich zu Boden. Vielleicht wäre der Junge in einer Psychiatrie besser aufgehoben gewesen, als hier im Hochsicherheitsgefängnis. Shouta erzählte mir von den Verhältnissen, die bei ihm zu Hause herrschten. Sein betrunkener Vater, seine davongelaufene Mutter. Er zitterte am ganzen Leib, als er sich daran erinnerte, dass er auch einmal versucht hatte, Selbstmord zu begehen. Sein Kumpel hatte ihn in letzter Sekunde davon abgehalten, doch niemand sonst wusste bisher davon. Definitiv, er sollte mit einem Profi darüber reden können.

Nachdem wir uns eine ganze Weile unterhalten hatten und ich ihm mehrmals einreden musste, er hätte eine verminderte Strafe bekommen müssen und ich würde mit einem Anwalt darüber reden, schweiften meine Gedanken zurück zu dem Thema, weshalb ich überhaupt neben ihm saß. „Shouta, weißt du, was für ein Versuch mit dir unternommen wurde?“ Schweigend nickte er. „Ich kann dich solche Sachen einfach nicht fragen.“, stellte ich seufzend fest. „Wie du dich fühlst, okay. Aber nichts anderes.“

„Ich verstehe Kira.“ Erstaunt schaute ich ihn an. Ich murmelte ein leises „Was?“, weshalb er mir seine Gedankengänge offenlegte. „Ich bin ein Verbrecher, ich habe etwas Schlimmes getan. Wäre ich nicht da gewesen, hätten nicht zwei Leute sterben müssen.“ Ich war zutiefst erschüttert, solche Wörter aus seinem Mund zu hören. „Das stimmt nicht!“ Ich hatte mich zu ihm rüber gebeugt und funkelte ihn an. „Wenn einer der beiden nicht da gewesen wäre, hätte sich auch der Zweite anders entwickelt. Du warst das Opfer, du hast dich gewehrt. Es ist richtig, dass du bereust, sie umgebracht zu haben. Aber angenommen du hättest es nicht getan. Dann hätten sie dich noch in den Selbstmord getrieben und anschließend hätten sie sich jemand anders gesucht, den sie hätten erpressen können. Hättest du gewollt, dass noch jemand hätte leiden müssen? Dadurch, dass du dich zur Wehr gesetzt hast, wurde dein Leben und womöglich das von anderen gerettet.“

Während meines Vortrags hatte er mich erstaunt angesehen. Ich wollte den Mord von ihm nicht rechtfertigen, es war schließlich auch keine Notwehr gewesen, weil der Junge bereits bewusstlos gewesen war, als Shouta ihn erschlug.

Er wollte gerade etwas anmerken, als plötzlich mit einem Ruck die Tür aufsprang. „Akio, die Zeit ist um!“ Erschrocken sprang ich auf. Als ich die Situation realisiert hatte, wandte ich um, um mich zu verabschieden. „Auf Wiedersehen, Sho-… “ Ich taumelte nach hinten. Vor meinen Augen schlug sich Shouta plötzlich auf die Brust, fing fürchterlich an zu husten. Ich rannte nach einigen Sekunden auf ihn zu, um ihm zu helfen, da begann er schon, Blut zu spucken. Ich kniete mich vor ihn, rüttelte ihn an beiden Schultern. „Hey, Shouta!“ Sein Kopf wankte vor und zurück, seine Augen halb geschlossen. Ich konnte seine Iris nicht mehr sehen. „He! Nicht bewusstlos werden!“ Ich brüllte ihn förmlich an, half ihm beim Husten so gut es ging. Von Weitem hörte ich einen Arzt kommen, er setzte sich neben mich, versuchte mich von Shouta zu lösen. Das alles passierte nur weit von mir entfernt. Die Stimmen waren gedämpft, ich spürte die Berührung nicht, als L mich von hinten festhielt. Ich konnte Shouta nur noch verschwommen wahrnehmen, meine Hände waren nur noch warm. Als ich sie aus den Augenwinkeln beäugte, waren sie durch und durch mit einer roten Flüssigkeit verschmiert. „-io!“ Es kam mir vor, als würde jemand mich rufen, aber ich war nicht in der Lage zu antworten. Hätte ich einen klaren Gedanken fassen können, hätte ich es nicht für möglich gehalten, doch es kam mir vor, als würde ich den Tod hinter mir spüren. In seinem eiskalten, schwarzen Gewand. Wie er ein silbrig leuchtendes Licht in der Hand hielt, dann auf mich runterschaute. Wie in Trance wankte ich, hatte kein Gleichgewichtssinn mehr. Es machte kaum einen Unterschied, als ich dort hockte und anschließend benommen zusammensackte. Mir wurde schwarz vor Augen, als ich sah, wie Shouta mit einem weißen Laken überdeckt und auf eine Liege gelegt wurde.
 

* Bei den Japanern ist es üblich, auf seine Nase zu zeigen, wenn man das Ich betonen möchte. In Deutschland würde man stattdessen z.B. die flache Hand auf die Brust legen.

Reencounter

Langsam aber stetig erlangte ich mein Bewusstsein zurück. Im ersten Moment hegte ich den Gedanken, dass mein ganzes Abenteuer nur ein Traum gewesen sein könnte. Doch kaum schlug ich die Augen auf, wusste ich, dass es das nicht gewesen war. Rechts von mir saß eine Person auf einem Stuhl, der Körper war durch eine dunkle Decke verdeckt. Der Junge hatte pechschwarze Haare.

Ich richtete meinen Blick wieder geradeaus. Ein wenig entfernt stand ein weiteres Bett. Erst jetzt realisierte ich, wo ich mich befand. Am Fußende der Betten befanden sich Gitter, an der gegenüberliegenden Wand ein schwach rot leuchtender Knopf, daneben ein Nachttisch mit einem Telefon. Ich befinde mich in einem Krankenhaus., schoss mir der Gedanke durch den Kopf. Dann fiel mir alles auf einmal wieder ein, alles was passiert war. Das Gefängnis, der Versuch, Shouta. Beim Gedanken an den Jungen wurde mir das Herz schwer. Er war tot, ich wusste es. Hatte Kira ihn umgebracht?

Bedrückt legte ich meinen Kopf zur Seite. Links von mir befand sich ein großes Fenster, durch welches ich den klaren Nachthimmel begutachten konnte. Millionen Sterne prangten dort, helle und dunklere. Dabei fiel mir eine Geschichte ein, die ich noch von meiner Oma kannte. Es lag schon Jahre zurück, seit sie gestorben war.
 

„Jeder Stern verkörpert die Seele eines gestorbenen Menschen.“, hatte sie mir damals erklärt.

„Das sind aber viele. Und was ist mit den Tieren? Kommen die auch in den Himmel?“ Ich schaute sie mit gespannten Augen an, während sie behutsam nickte. „Ja, mein Schatz. Auch die. Und siehst du den Stern da? Er ist ein wahrer Glücksbringer.“ Die kleine Michelle, die Ich damals war, war verwirrt. „Wovon?“
 

Ich starrte denselben Stern von damals an. Er war etwas Besonderes. Er leuchtete hell, aber fast rot, wie ich fand. Er war nur selten zu sehen, was seine Bedeutung unterstrich. Der Glücksbringer der Fantasie, auf dass sie niemals der Menschheit abhanden kommen würde.

Seufzend wandte ich meinen Blick von dem atemberaubenden Gestirn ab. Alles eine Lüge. Wäre Shoutas Seele wirklich in den Himmel gekommen, hätte Gott ihn wirklich genauso geliebt wie alle anderen Menschen, dann hätte er nicht zugelassen, dass es das Death Note auf die Erde geschafft hatte. Nie.

Und Shoutas Seele war nicht zum Stern geworden, er war womöglich zur Todeszeit des Wesens geworden, welches ich gesehen hatte. Ob es der Gevatter Tod gewesen war? Bekam er all die Lebenszeit von Menschen, die durch Menschenhand umgebracht worden waren?

Meine Augen schlossen sich, während mir diese eine Frage durch den Kopf schwebte. Lang, vernebelt, eiskalt.

Was ist nach dem Tod?

Schenkte man Ryuk Glauben, dann kam man wirklich in den Himmel oder die Hölle. Ich bezweifelte jedoch ernsthaft, dass er auch daran glaubte. Sonst würden die Todesgötter nicht die verbleibende Lebenszeit stehlen.

„Du bist wach.“ Erschrocken fuhr ich hoch. Der Junge neben mir war scheinbar wach geworden. …oder? Nein, ich sah den schmalen Lichtstreifen, der durch den Türspalt ins Zimmer leuchtete. „Watari.“, murmelte ich kaum hörbar. Der Mann kam näher, setzte sich schließlich auf die Bettkante. „Ryuzaki saß die ganze Zeit hier und hat gewartet, dass du aufwachst.“ Er warf einen liebevollen Blick auf L, woraufhin ich, in der Dunkelheit zum Glück nicht erkennbar, rot anlief. Hatte er das wirklich?

„Ich bin froh, dass es dir gut geht. Schlaf dich ruhig noch ein wenig aus, es ist genug passiert.“ Am Liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte ihn am Ärmel zerrend zurückgehalten, doch auch ich spürte, wie schwer meine Gliedmaßen sich anfühlten. Folglich nickte ich nur etwas zögerlich und Watari nahm dies als Zeichen, sich wieder auf den Weg zu machen. Er ist ja äußerst lange da gewesen., spottete ich in Gedanken, als er wieder die Tür passierte.

Was mich im Augenblick jedoch viel mehr interessierte, war die Tatsache, dass L da war. Warum war er geblieben? Oder überhaupt erst gekommen?

Im Hintergrund hörte ich mich selber Schreien, spürte seine Hände auf meinem Bauch, wie sie mich zurückhielten. Und die Hände der Ärzte, die mich zurückdrängten. Nicht liebevoll. Nein, brutal. Weg von dem Körper des Toten. Der Leiche. Des leblosen Objekts, welches er jetzt war.

Ich saß noch immer aufrecht in dem Bett und obwohl mir tausende traurige Fragen und Feststellungen durch den Kopf schossen, konnte ich keine Träne aufbringen. Nicht eine. In diesem Moment fühlte ich mich selbst wie Shouta im Augenblick seines Todes, wie ein lebloser, sterbender Körper. Ohne Geist, ohne Emotionen. Ein Häufchen Elend, ein Stück verbranntes Holz, wie Asche. Tiefschwarze Asche. Genauso wie der verkohlte Körper eines qualvoll Verbrannten.

Wieder starrte ich in Richtung Fenster, schob dabei all meine Überlegungen beiseite. Ich lebte jetzt. Die Vergangenheit war geschehen und ließ sich nicht zurückdrehen. Niemals.

Sanft drückte sich das Kissen gegen meinen Kopf, während ich in immer weiter in dieses hineindrückte. Geborgenheit. Konnte man dieses schöne Gefühl eigentlich verspüren, in einer Situation wie dieser? Und wenn es kein Unwohl gab, konnte das Gegenteil davon überhaupt existieren? Ohne Hass keine Liebe. Ohne Kälte keine Wärme. Nur wie wurde bestimmt, wer dazu verdammt war, das Schlimmere zu erfahren?

Vielleicht sah ich es auch alles falsch. Aus der falschen Perspektive. Light wollte so sein, wollte ein Gott werden. Nicht wie ein Gott, sondern komplett einer werden. Das war sein Ziel. Für sich selber musste es fantastisch klingen, nur aus der Sichtweise anderer Personen nicht.

Wer empfand alles anders herum? Wahrscheinlich war für Light das Negative in meinem Sinne positiv. Und umgekehrt. Das ‚Böse’ würde nie zugeben, schlecht zu sein. Es kämpft für sein eigenes Ziel, welches aus der Sicht der sogenannten ‚Guten’ eine Schande war. Aber wer bestimmte, was Gut und was Böse war? Vielleicht waren es eigentlich die Guten, die das Schlechte verbreiteten, und die Bösen hielten diese mit ihrem nur scheinbar fiesen Vorhaben davon ab.

Alles eine Frage der Veranschaulichung.

Ob es Gott war, der der Gute war? Oder war genau diese Überlegung falsch?

Richtig und falsch. Zwei Begriffe, zwei unterschiedliche Bedeutungen. Aber was, wenn wir genau diese beiden Bedeutungen genau dem falschen Wort zuordneten?

Zum etlichen Mal stelle ich mir eine Frage. Immer nachdem ich soweit gekommen war.

Warum bin ich hier?

Ein leises Regen neben mir verlangte nach meiner Aufmerksamkeit. Ich richtete meinen Blick in die entsprechende Richtung und sah, wie langsam aber stetig Leben in den verschlafenen Körper zurückkehrte.

Ironisch lachte ich auf, ausgerechnet so eine Formulierung traf den momentanen Zustand von L perfekt. Während ich in mich hinein grinste, kam ich mir vor wie eine Verrückte. Wer weiß, vielleicht war ich das ja schon? Mein Verlangen nach meiner Familie wuchs Tag für Tag, den ich hier verbrachte. Gleichzeitig wollte ich am Liebsten für immer hier bleiben, alles war so spannend und ich mochte die Leute hier. Wahrscheinlich war genau dies der Grund, warum ich Stück für Stück zerbröckelte. Meine Standhaftigkeit, die ich anfangs noch besessen hatte, ist dahin geschmolzen. Genauso wie meine Hoffnung, eine endgültige, zufriedenstellende Lösung für mein ernsthaft problematisches Problem zu finden.

Seufzend beobachtete ich L dabei, wie er sich streckte und mich mit zusammengekniffenen Augen ebenfalls begutachtete. Wie zwei Raubtiere, die abwarten, wer zuerst angriff.

„Was starrst du mich so an?“ Meine Genervtheit stieg auf ein Maximum des täglichen Bedarfs daran. „Das Gleiche könnte ich dich fragen.“

Warum zum Teufel war er nur immer so passiv? Wie konnte man verdammt noch mal immer mit einer Frage auf eine Frage antworten?!

Zwar hasste ich mich selbst dafür, aber was danach geschah konnte ich kaum länger zurückhalten. Ich holte weit mit der flachen Hand aus, um sie anschließend laut auf L’s Wange klatschen zu lassen.

Erschrocken legte dieser seine Hand auf die sich sofort rötlich färbende Stelle. Kurzerhand stand er auf und machte sich auf den Weg zur Tür. Davor blieb er noch einmal stehen, drehte sich nicht um, und erklärte mir mit einer leisen, sonst aber normal klingenden Stimme: „Ich trete keine Frauen.“

Am Liebsten hätte ich ihn dafür noch einmal geschlagen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich ihn beinahe ohne Grund geschlagen hatte. Gut, er hatte mich aufgeregt, weil er jedes Mal auf meine Fragen so seltsam konterte. Aber das war doch noch lange nicht Grund genug, um Gewalt zu rechtfertigen!?

Bestürzt vergrub ich meinen Kopf in den Händen. Was war bloß los mit mir? Nahm ich mir Shoutas Tod wirklich so zu Herzen? Ja, das tat ich wohl. Ein wenig zu viel für meinen Geschmack.

Ich hatte L eine geklatscht. Demjenigen, der mir ein Dach über den Kopf gegeben hat. Demjenigen, der mir ein ganzes Studium finanzieren wollte. Der so viel für mich in meiner Notlage getan hatte. Den ich so sehr mochte.

Okay, das klang kitschig. Dennoch, ohne L wäre ich wahrscheinlich nicht mehr hier. Ich wäre erfroren, oder spätestens verdurstet oder verhungert. Ob… ob ich dann wohl einfach wieder als Michelle aufgewacht wäre? Und gedacht hätte, es sei alles nur ein Traum?

Bemüht, leise zu sein, stand ich auf. Langsam schlich ich zur Balkontür, eine Glasscheibe. Konnte man sie öffnen? Leider hatte ich nicht das Glück, allerdings gab es mehr als nur eine Methode, eine Glastür zu öffnen. Ohne zu zögern holte ich mit dem Ellbogen aus, wie ich es vorher bei L mit der Handfläche getan hatte, zog ihn hinter mein linkes Ohr und schlug mit voller Wucht auf sie ein. Das Glas zersprang augenblicklich in tausende kleinste Teilchen und glänzte wunderschön im kalten Mondlicht vor sich hin.

Meine Haut begann sich rot zu färben, es störte mich nicht. Es kam mir vor, als hätte ich noch nie Schmerz gekannt. War das möglich?

Das Blut rann weiter, lief mir bis zur Hand hinunter und fing an, leise auf den Boden zu tropfen. Vorsichtig leckte ich ein wenig über die Fingerspitzen, schmeckte mein Blut auf den Lippen. Schmeckte so also der Tod?

Mittlerweile wusste ich genau, was ich zu tun hatte. Jeder, der mich hier gesehen hätte, hätte mich für verrückt erklärt und in die Psychiatrie gesteckt. Ich ging raus auf den Balkon, schaute in ein Meer von Lichtern. Japan bei Nacht. Es sah so wundervoll aus, dass mir der Atem wegblieb. Mal schauen, was jetzt passierte.

Ich trat weiter an das Geländer heran, blickte nach unten. Schwärze. Dunkelheit. Ob er kam?

Ich lehnte mich ein wenig über die Brüstung, atmete dabei die frische Nachtluft ein. Noch ein Stückchen, und noch ein wenig weiter. Meine Füße begannen, sich vom Boden zu heben. Ich hielt inne, ging anschließend einen Schritt zurück. Schließlich drückte ich mich an der Stange nach oben, stellte mich dann auf diese. Gehalten wurde ich nun nur noch von besagter halbdicken Eisenstange unter meinen Füßen und der Hauswand zu meiner linken. Tief sog ich die Luft ein, ehe ich sie gespannt anhielt.

Jetzt oder nie.

Ich nahm meinen Mut zusammen, brachte mich soweit, dass ich mich in Gedanken genug vorbereitet hatte.

Jetzt!
 

Es ging alles zu schnell. Beziehungsweise, das, was ich eigentlich vorhatte, geschah gar nicht.

„Sind sie wahnsinnig!?“ Die Krankenschwester kam in dem Moment angerannt, in welchem ich gerade fertig war. Hastig rannte sie auf mich zu, umklammerte von hinten meinen Bauch und ließ sich danach vollkommen nach hinten fallen. Jedenfalls reichte es aus, um mich von den Füßen zu reißen und anschließend hart auf den Boden zu knallen. Mein Arm lag auf ihren Hals und ich hätte ihn sehr wahrscheinlich so nach unten gedrückt, sodass sie gewürgt worden wäre, weil sie mich in meinem Vorhaben unterbrochen hatte, wenn ich ihn nicht gesehen hätte.

Mit weit aufgerissenen Augen rappelte ich mich auf, stürzte mich ungehalten wieder auf die Brüstung zu. In der Ferne sah ich noch, wie der schwarze Umhang sich mit der Dunkelheit der Nacht vermischte.

„Nein!“ Verzweifelt versuchte ich das Geländer ein zweites Mal zu überwinden, daraufhin hielt mich die Frau erschrocken an den Füßen fest. Am Boden löste ich ihre Hände ein Mal in dem entstandenen Gerangel, sofort hatte sie jedoch meine Handgelenke fest im Griff.

Ich schrie, spürte die Tränen meine Wange hinunterlaufen. Welch ein erbärmliches Bild ich wohl abgeben musste…!

Tapfer kämpfte ich weiter mit der Krankenschwester. Diese versuchte immer verzweifelter, mich am Boden zu halten. Mit Erfolg. Ich hätte es nie geglaubt, dass eine so zierliche Frau wie sie dazu im Stande war, was sie mir antat. Sie griff nach einer Flasche, die zufällig unten stand – sie kam daran an, da wir uns durch das mehrfache Gerolle mittlerweile fast innerhalb des Zimmers befanden – und zog sie mir unbarmherzig über den Schädel. Augenblicklich erschlafften meine Arme und ich lag bewusstlos da.

Procrastination

Brummen erfüllte meinen Schädel, wie an meinem ersten Tag. Meine anfängliche Orientierungslosigkeit ließ sofort nach, als ich die Augenlider aufschlug. Die Lage hatte sich nicht verändert, ich lag immer noch im Krankenhaus.

Ein Seufzen rutschte mir über die Lippen. Es war da gewesen. Dieses eigenartige Wesen. Die Vermutung lag nahe, dass es ein Shinigami war. Vielleicht sogar der Ranghöchste?

Im Hintergrund hörte ich ein leises Klicken, anschließend ging eine Tür nahe zu meinen Füßen auf. Der Raum war nicht derselbe wie vorher, ich musste während meiner Bewusstlosigkeit umgelegt worden sein.

Ein lächelndes Mädchen kam hereinspaziert – oder war sie schon erwachsen? Ohne zu fragen setzte sie sich neben mich aufs Bett, noch immer mit einem seligen Lächeln auf dem Gesicht. Die Unschuld in Person.

Ihre blonden Haare waren zu einem Zopf gebunden, jedoch ließ die Tatsache, dass es ein hübscher Pferdeschwanz war, ihn um einiges weniger streng erscheinen, als es vermutlich sollte. Über ihrem schwarzen T-Shirt oder was auch immer hatte sie einen langärmligen, weißen Kittel an, der ihre Haut noch blasser dastehen ließ, als sie für Japaner sowieso schon war.

„Schönen guten Morgen!“ Etwas irritiert blickte ich ihr in die strahlend blau-grauen Augen. Ich setzte mich auf, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. „Mein Name ist Yamada. Du kannst mich aber auch Kathrin nennen, wir sind etwa im selben Alter.“ Sie zwinkerte fröhlich, woraufhin ich meinerseits wieder verwirrt die Stirn runzelte. War das hier ein alberner Engelchen-Traum oder was?

„Freut mich. Ich heiße Akio.“

„Ich bin deine persönliche Ansprechpartnerin hier. Falls du also etwas brauchst oder vielleicht nur jemanden zum Reden brauchst, drück auf den Knopf da. Ich bin rund um die Uhr hier, gleich ein Zimmer weiter. Übrigens bin ich Deutsche, nur um die Fragerei zu sparen, das passiert nämlich öfters.“

Stumm nickend hörte ich zu. Aha, Deutsche also. Ich hatte mich von Anfang an gewundert.

„Ach ja, ich soll dir noch etwas ausrichten, von einem… Herrn…“ Nachdenklich legte sie den Finger an ihr Kinn. „Ah, ich weiß es wieder. Herr Ryuzaki war sein Name.“

Ich stürzte mich beinahe auf sie rauf. Vor Schock wich sie ein paar Zentimeter zurück, jedoch hielt ich sie an den Schultern fest. „Was hat er gesagt?! Sag es mir!“

„J-Ja doch. Er meinte, sie hätten eine K Zwei ausfindig gemacht und wollen sie heute Morgen noch überführen oder so.“

Fassungslos blieb mir der Mund offen stehen. Scheiße…!

Hastig schob ich meine Beine über den Bettrand und ruck zuck stand ich, zwar etwas wackelig, auf den kalten Fliesen.

„Verdammt…!“, murmelte ich auf ein Neues und hätte es am Liebsten immer und immer wieder wiederholt.

Eilig wie ich es hatte zog ich mir meine Hose, die ich im Schrank gefunden hatte, an, stopfte den unteren Teil vom Nachthemd in diese und zog mir eine schwarze Lederjacke drüber, die ich ebenfalls besaß und die am Kleiderhacken gehangen hatte.

Während meiner plötzlichen Aktion starrte mich Kathrin mit offenem Mund an, völlig damit überfordert.

„Wie weit ist es von hier bis zur Touou Uni?“ Hoffentlich nicht allzu weit. Innerlich betete ich dafür, dass es nicht mal den Bus benötigte, um dort hinzugelangen.

„Sie… Du… willst doch nicht allen Ernstes da jetzt hin?“ Genervt verdrehte ich die Augen, zog mit einem Ruck die Tür auf und wäre beinahe mit einem Mann in grüner Ausrüstung zusammengekracht. Ohne mich mit einem Wort der Entschuldigung weiter aufzuhalten, stürmte ich an ihm vorbei den Gang entlang. Ausgang, Ausgang…, murmelte ich in Gedanken, während ich nervös jedes Schild genauestens nach diesem absuchte. Einige Ärzte und Besucher schauten mich verdutzt, teilweise besorgt, an, wie ich dort in meinem Nachthemd lang lief. In der Hoffnung, es würde anschließend nicht mehr so besonders auffallen, zog ich den Reißverschluss meiner Jacke bis oben hin zu. Ein positiver Nebeneffekt war, dass mir langsam aber stetig wärmer wurde und ich war erleichtert darüber, dass ich, bevor ich zur Tür raus gerannt bin, noch in die Schuhe reingeschlüpft war.

Bereits nach kurzer Zeit kam mein Ziel in Sichtweite. Ohne das Rufen hinter mir zu beachten, steuerte ich auf den Ausgang zu. Langsam begannen sich die Automatiktüren zu öffnen. Mir ging das Ganze jedoch zu langsam, also stieß ich sie gehetzt mit einem Tritt auf.

Die frische Luft und ein Hauch von Freiheit schlugen mir entgegen. Zu meinem Bedauern hatte ich keine Zeit den Moment lange zu genießen. Ich musste weiter, sonst war L noch schneller als ich.

Ich lief zum nahegelegenen Bahnhof. Vielleicht einen Kilometer entfernt, schätzte ich. Jedenfalls nah genug, sodass ich schneller war, dort hinzurennen und mir ein Taxi zu nehmen, als länger als nötig auf den Bus zu warten, von dem ich ja nicht einmal wusste, wann und ob er überhaupt kommen würde.

Die Taxisuche dauerte wie erwartet nur einige Sekunden. Das erste Auto war zwar reserviert und im zweiten machte der Fahrer gerade Pause, aber das dritte Taxi war frei und der Mann hinterm Steuer verstand augenblicklich, wie eilig ich es hatte. War auch kaum übersehbar, wenn man mich die Straße hatte lang rennen sehen und zu allem Überfluss hatte ich die Beifahrertüren sofort und ohne Nachdenken aufgerissen, sodass sie beinahe aus den Angeln gefallen wären.

Hin und wieder hüpfte der Wagen bei einer kleinen Unebenheit in der Straße hoch und nach einem Schreckensschrei stellte ich fest, dass ich immer noch ganz ruhig in einem weichen Sitz eines gelben Mercedes saß, umschlungen von einem festen, schwarzen Gurt. Ich hatte den Fahrer schon so bestochen, dass er jegliche Geschwindigkeitsbegrenzung gekonnt ignorierte, folglich bretterten wir mit hundertachtzig über die Autobahn. Wo zum Teufel lag eigentlich dieses verdammte Krankenhaus!

Sichtlich genervt schloss ich die Augen. Nicht, dass es etwas Neues war, dennoch spürte ich den besorgten Blick von rechts* auf mir.

Warum passierte ausgerechnet mir so etwas?

Verzweifelt öffnete ich meine Augen wieder, senkte den Blick aber, bis ich nur noch meine Beine richtig wahrnehmen konnte.

„Ist was, Micha?“

Erschrocken wirbelte ich herum. Was in Herrgottsnamen…?!

Für einen winzigen Moment glaubte ich, statt eines Mannes mittleren Alters und schwarzen, teilweise ergrauten Haaren, eine junge Frau neben mir zu sehen. Sie hatte feine, schwarze Haare mit einem bläulichen Schimmer, die ihr vorne fast bis zur Schulter reichten und hinten um einiges kürzer wurden. Hübsche grüne Augen beobachteten gespannt die Straße und auch ohne hinzugucken wusste ich, dass ein brauner Kranz um die Pupille das Farbspektakel zierte.

Im nächsten Augenblick war das Bild verschwunden. Der Mann saß da, als wäre er nie weg gewesen. Fange ich jetzt an, mir Dinge einzubilden? Oder war das die Realität gewesen?

Oder… Vielleicht war ha das hier die Realität. Mein Leben als Michelle Hedley war nur geträumt. Ich könnte auch mein Gedächtnis verloren haben und dieser Traum war dann das einzige, an das ich mich erinnern konnte. Wäre theoretisch möglich.

Sofort hatte ich jedoch den Gedanken, der meine Theorie zunichte machte. Falls alles von Michelle nur ein Traum war und Death Note mein wirkliches Leben verkörperte, woher wusste ich dann all die Dinge über L und Light und die anderen, obwohl sie mich gar nicht kannten? Selbst als Stalker würde man nicht L’s Namen finden und auch Light als Kira zu überführen wurde dank Ryuk schier unmöglich.

… Wozu also solch verrückte Gedanken?

Abrupt bog das Auto um eine Ecke. Schon wieder zuckte ich dabei unwillkürlich zusammen. Hatte gar nicht bemerkt, dass wir von der Autobahn runter gefahren sind und uns nun in der Innenstadt befanden.

Gespannt drückte ich mein Gesicht gegen die Scheibe, wie ein Kind, das zum ersten Mal in seinem Leben eine Robbe im Zoo sah.

Ich vernahm kurz das leise Lachen meines Fahrers, bevor die Scheibe mit einem Ruck anging sich nach unten zu bewegen. Ein kleiner Schreckenslaut entwich meiner Kehle, wie schon so oft an diesem Tag. Man sollte ihn als „Tag des Schreckenschreis“ feiern…

Die Kulisse, die sich mir bot, war mal wieder atemberaubend. Diesmal waren es allerdings nicht hohe Gebäude und grelle Lichter, die mein wertvolles Gut klauten, sondern die verschiedenfarbigen Bäume links und rechts, die fern von jeder Hauptstraße hier gedeihen. Zwar herrschte keine absolute Stille, aber das war auch besser so, sonst wären die armen Studenten schon längst durchgedreht. Ich persönlich konnte es jedenfalls nicht sonderlich ab, wenn sich nichts um mich herum regte.

Vor dem riesigen Eingangstor vor uns fanden sich ein paar Jungen, die angeregt über eine anscheinend äußerst interessante Neuigkeit diskutierten.

Hastig stieg ich aus, um mehr zu erfahren, als mich der Fahrer nun doch scheinbar böse am Arm zurückhielt. Ihm einen entschuldigenden Blick zuwerfend, zückte ich ein paar Scheine aus meiner Hosentasche, murmelte ein halbwegs verständliches „Stimmt so“ und verdrückte mich, den verdutzt guckenden Fahrer hinter mir lassend.

Eilig wie ich es hatte trat ich näher an die Jungsgruppe heran und spitzte die Ohren.

„Ich frag mich, wieso.“

„Jop, passiert schließlich nicht jeden Tag, dass ein Star auftaucht, in den du auch noch verknallt bist.“

„Hör auf! Nur weil ich nicht gleich jedem Rock hinterher gucke…!“ In Gedanken fügte ich dem noch ein „…wie Light“ an.

„Aber schon krass… Was hat ein Sternchen wie Misa-Misa hier verloren?“

„Die Frage ist wohl eher, warum die Polizei hier war.“

Mit offenem Mund starrte ich die drei an. Ich brachte ein gekeuchtes „Was?“ hervor, ehe ich mich auf einen von ihnen stürzte und ihn am Kragen packte. „Was ist passiert? Rede!“

Der Angesprochene starrte mich verschreckt an, schließlich antwortete einer seiner Kumpels für ihn.

„Misa-Misa war hier, nur um dann beim Gehen von Bullen abgeführt zu werden. Warum, keine Ahnung. Und jetzt verpiss dich und lass meinen Freund los!“ Dem giftigen Ton in seiner Stimme folgend ließ ich von den Jungs ab, nur um gehetzt auf den Campus zu stürmen. Hinter mir murmelte einer noch „Komisches Mädel…“, während der andere irritiert seine Kleidung richtete.

Wo?, fragte ich mich. Wo sind sie?

Als hätte jemand meine Frage gehört, erhaschte ich noch einen raschen Blick auf das Geschehen. Am anderen Ende Campus, wirklich unübertrieben, stand ein schwarzes Auto nach dem andern. Noch von Weitem erkannte ich die in den Wagen stolpernde Person mit langen blonden Haaren, wobei diese kurz durch ein schwarzes Tuch unterbrochen wurden. Die Männer rings um sie herum trugen Motorradhelme und drängten sie dort hinein, während sie ihr gleichzeitig Handschellen anlegten.

Misa!, schoss es mir durch den Kopf. Im selben Augenblick wusste ich, dass ich zu spät gekommen war. Verdammt!

Entmutigt sackte ich zu Boden. Verdammt, verdammt, verdammt! Was sollte ich jetzt nur tun?

Wie ein Häufchen Elend hockte ich dort am Boden. Einige Studenten warfen mir im Vorbeigehen einen tröstenden Blick zu, jedoch blieb keiner auch nur für eine Millisekunde stehen.

Nur einer.

Plötzlich stand er vor mir, hockte sich vor mich auf den Boden.

„Was ist?“

Verzweifelt schaute ich in das Gesicht Ls. Wie oft würde ich es jetzt noch sehen können?

„Ihr habt Misa verhaftet.“, brachte ich mit krächzender Stimme von mir. Nicht mehr lange und ich verlor die Selbstbeherrschung.

„Wir hielten es für besser, dir nichts zu sagen. Du lagst immerhin im Krankenhaus.“

Natürlich konnte ich seine Aussage verstehen, nur leider er meine nicht. Wer konnte auch schon wissen, dass eine ‚kleine’ Verhaftung zum eigenen Tod führen würde?

„Ich muss mich mit dir unterhalten. Unter vier Augen.“ Es kostete mich einiges an Überwindung, das auszusprechen. Nicht, weil ich so aufgeregt war, sondern wegen meiner Nervosität, was bald folgen würde.
 

Zusammen saßen wir in einem netten kleinen Café. „Light hat es mir empfohlen.“ Ach so, dieses Café war es also. Ja, wenn man es wusste, fiel es einem wie Schuppen vor die Augen.

[align type="left"]„Warum wolltest du mit mir sprechen?“

Ich zögerte. Sollte ich es ihm wirklich sagen? Seufzend machte ich mir klar, dass es ohnehin zu spät wäre, jetzt noch einen Rückzieher zu machen.[/align]

„Also… Ich…“

Zu meinem Glück unterbrach mich in diesem Moment die Kellnerin. „Bitte sehr, Ihren großen Eisbecher. Und Ihre Eisschokolade.“

Es war ja so klar, dass der große Eisbecher für L war. Aber wie groß er war, war mir bei seiner Bestellung nicht bewusst gewesen.

Gedankenverloren stocherte ich in der Sahne herum, in der Hoffnung, darin irgendwo einen Anfang für meinen Satz zu finden. Selbstverständlich fand ich keine Wörter aus Schokolade drin herumfliegen, weshalb ich etwas betrübt weiter herumstocherte.

„Also?“

„L, ich… ich bin in…“

Genervt verdrehte ich die Augen, als auf einmal eine bekannte Melodie in mein Ohr drang. The World von Nightmare, das Opening von Death Note. L wand seine Hand in die Hosentasche, fischte darin nach seinem Handy und hielt es sich in seiner üblichen Haltung ans Ohr.

„Entschuldige bitte.“ Ich nickte verstehend.

„Ja? … Ah, Herr Yagami. … Ja, gut. … Verstanden. Soll ich mich auf den Weg zu Ihnen machen? … Gut, auf Wiederhören.“

Er steckte das aufklappbare Handy zurück zu seinem Platz.

„Misa Amane wurde, wie du bereits erfahren hast, inhaftiert. Allerdings streitet sie absolut ab, Kira Zwei zu sein. Wir müssen uns auf den Weg dorthin machen.“

„Warte!“ Ich sprang auf und drückte ihn an der Schulter zurück in die Bank, als er Anstalten machte aufzustehen. Synchron nahmen wir wieder Platz, ehe ich meinen Satz von vorhin weiterführte.

„Hör zu, L, ich… In Wirklichkeit heiße ich nicht Akio Noteshitsu.“

L gab sich sichtlich unbeeindruckt von meinem Geständnis. „Das weiß ich.“

Verblüfft weitete ich meine Augen. „Wie? Was meinst du, du weißt es?“

„Dein Verhalten, als du Watari am Telefon deinen Namen nanntest. Er meinte, du hättest länger als normal überlegt und die Tatsache, dass du Krach mit deinem Freund hattest, klingt mehr als nur unglaubwürdig. Wer würde dann schon nicht einmal Kleidung aus der gemeinsamen Wohnung mitnehmen?“

Mein Mundwinkel zuckte nach oben. Ich hatte L eindeutig unterschätzt.

„Gut, okay. Du… weißt es also. Na dann.“ Irritiert lachend stand ich auf. Wollte weg. Es war teilweise echt peinlich, ich hatte die ganze Zeit nur die ahnungslose Akio gespielt und war dabei sofort aufgeflogen. Man, war das Pech oder meine Unfähigkeit zu lügen?

Ich setzte ein gespieltes Lächeln auf meine Lippen. „Dann gibt’s wohl nichts mehr zu sagen. Auf Wiedersehen.“

Zu meiner Überraschung sprang dieses Mal L auf und hielt krampfhaft meinen Ellbogen fest. Für seine Gehhaltung erstaunlich schnell, zog er mich in einen kleineren Flur, vermutlich der Gang zu den Toiletten. Er drückte mich schmerzhaft gegen die Wand und lugte von unten zu mir herauf. Ehrlich gesagt jagte mir sein Blick etwas Angst ein – oder Respekt, wie auch immer.

„Warum wolltest du zur Sonderkommission? Wolltest du uns ausspionieren? Für wen?“ Ich schluckte. Starrte ihn überrascht an. Wusste nicht, was ich sagen sollte. Jedes Wort wäre in diesem Moment überflüssig gewesen.

Verdattert sackte ich zusammen. L hatte mir also nie vertraut? Es war nicht seine Schuld, das wusste ich.

Innerlich schmerzte alles in mir, nach außen hin bewahrte ich mein Pokerface. Eine Sache, die ich niemals verlernen würde, beziehungsweise auf keinen Fall wollte.

„Es ist nicht so, wie du denkst. Ich spioniere euch nicht aus. Das ist nicht mein Ziel.“

„Was dann?“

Nun war ich es, die ihn von unten herauf anschaute. Er hatte Recht. Was war eigentlich mein Ziel? Die ganze Zeit wollte ich ihn nur vorm Tod bewahren, dabei gab es anscheinend gar keine Möglichkeit dazu, oder?

Statt zu antworten, schwieg ich. Dachte nach. Mal wieder.

Misa wurde verhaftet, aber eigentlich hatte sie Light doch gar nicht kennengelernt…? Dafür konnte es nur eine Erklärung geben. Leider.

Mühselig stand ich wieder auf, drängte mich beinahe mechanisch an L vorbei und bewegte mich auf den Ausgang zu. Er schaute mir nur hinterher, ließ mich einfach machen. Wo sollte ich jetzt hin? Außer der Zentrale hatte ich keinen Zufluchtsort. Mir blieb wohl gar nichts anderes übrig, als dorthin zu gehen.

Langsam schlich ich durch die Straßen. Erntete böse Blicke, als ich beinahe über die rote Ampel lief. Sollten sich mal nicht so aufregen, die Leute, war ja nicht ihr Leben.

Konnte das wirklich sein?

Wenn ja, wer sorgte eigentlich dafür, dass es so lief? Gab es wirklich jemanden, der es bestimmte? Dann war es die Schuld einer Person, dass ich hier gelandet war. Aber so viel Macht konnte nicht von einer Person ausgehen. Aber, warum eigentlich nicht? Immerhin gab es schon Todesgötter, also wäre das nur eine Kleinigkeit daneben. Wer war der ‚Anführer’ der Todesgötter? Wer hatte sie erschaffen? Wenn ich das herausfinden konnte, dann wäre meine Lebensfrage geklärt.

Warum passierte es so und nicht anders? Schicksal oder Zufall?

Meine Füße trugen mich schneller durch die Straßen als gewollt. Es dauerte zwar, jedoch nicht lange, bis ich das riesige Gebäude vor mir sah.

Vielleicht auch ein Fluch?

Apathisch trat ich durch die Eingangstür, ignorierte das freudige Rufen Matsudas, ging einfach an ihm vorbei Richtung Fahrstuhl. Erst einmal die Treppe hinauf.

Wie schön, weder Light noch L waren hier. Nicht einmal Watari war irgendwo in dem Raum aufzufinden. Vielleicht hatten sie sich abgesprochen?

Kaum befand ich mich in meinem Zimmer, brach ich vor der Tür zusammen. Meine Hände fingen urplötzlich an zu zittern, meinen Atem konnte ich nicht mehr ruhig halten, meinen Blick nicht mehr kontrollieren.

Eins rutschte mir jedoch nicht heraus. Kein einziger Schluchzer fand seinen Weg nach draußen. Ich weinte stumm in mich hinein.

Es ließ sich nicht aufhalten. Weder die Tränen noch die Ereignisse. Das war es, was mich so frustrierte. So aus der Fassung brachte.

Falls es Schicksal war, dann ein schreckliches. Für mich, sowie für L. Für Light, für Watari, Misa, Mello und all die anderen. Hatte überhaupt jemand seinen Nutzen aus der ganzen Sache gezogen?

Doch, einem hatten die ganzen Morde die Langeweile vertrieben. Ryuk. Zählte der überhaupt? Er starb nicht, wenn er es nicht wollte, für ihn machte es keinen Unterschied.

Aber all den anderen hatte ich Zeit verschafft. Nicht viel, aber etwas. Gab es dennoch eine Möglichkeit? Alle Fakten und Hinweise verneinten, das neueste Ereignis nicht außer Acht lassend. Bisher war es mir zwei Mal passiert: Lights Treffen mit Misa und ihre Verhaftung.

Ich konnte es nicht verhindern, egal was ich getan hatte. Nur aufschieben.

Mit Aufschieben konnte man den Tod nicht verhindern, nur hinauszögern, das Leben verlängern. Allerdings nur um ein wenig, vielleicht ein paar Tage, maximal zwei Wochen. Wie ging es jetzt nur weiter?

Gab es eventuell doch noch einen Weg, Dinge vollends zu verhindern?

Es konnte einfach noch nicht vorbei sein.
 

* In Japan gilt Linksverkehr, das heißt die Fahrerseite mit Lenkrad befindet sich auf der rechten Seite.

Faces

Still umklammerte ich meine Beine. Ich lehnte mit dem Rücken gegen irgendeine Wand in meinem Zimmer. Erst vor Kurzem war ich hier eingetreten und das Erste, was ich getan hatte, war aus einem Blatt Papier viele kleinere zu schnippeln, um diese anschließend mit einiges an Klebestreifen vorne an den Überwachungskameras zu fixieren. Zwar waren nicht alle Bildschirme verklebt, aber es reichte, um eine ganze Ecke unbeobachtet lassen zu können.

Ein Seufzer entwich meiner Kehle. Was jetzt tun? Ich konnte mich hier nicht ewig aufhalten – und würde es schon gar nicht tun dürfen. Spätestens wenn ich Hunger bekam musste ich raus.

In mein Verderben. Das traf doch auf meine Situation ganz gut zu.

L wusste, wer ich war, wieso ich hier war, wie ich hieß…

Moment mal. Tat er doch gar nicht! Er hatte mir nur erklärt, weshalb er wusste, dass ich nicht die war, die ich vorgab zu sein. Aber weder wusste er meinen wahren Namen noch irgendetwas anderes.

Mal ganz abgesehen davon, dass ich mich in einem von innen abgeriegelten Raum befand und am Liebsten im Erdboden versunken wäre, konnte ich nicht einfach auf ihn zugehen und sagen: „Hallo! Ich komme aus Deutschland und habe irgendwie ohne mein Zutun mein Aussehen verändert. Also nicht wundern, dass ich wie eine Japanerin aussehe und auch so spreche.“ Lächerlich.

Anfangs hatte ich mir das einfache Ziel gesetzt, ihm unter vier Augen alles ganz schnell und einfach zu verklickern. Aber mittlerweile war das alles andere als einfach. Würde mir überhaupt noch jemand glauben? Nach alledem, was ich erzählt, getan und erfunden hatte?

Vielleicht war es einen Versuch wert. Schließlich hatte ich noch immer keinen blassen Schimmer, wie ich diesem Dilemma entkommen konnte. Einerseits musste ich doch nach Hause zurück, oder? Zu meiner Familie, meinem Leben. Andererseits gefiel es mir hier auch recht gut, wenn man von der Tatsache absah, dass ich es mir mit einigen Leuten extrem versaut hatte.

Wahrscheinlich konnte selbst L mir nicht helfen, bestimmt konnte niemand das.

Ob es wohl irgendwo den Beleg gab, dass ich hier sein musste und warum? Sicher nicht in einer normalen Bibliothek, aber wer weiß, vielleicht in einem speziellen Labor, in welchem ich gerade ein paar Tests unterzogen wurde…?

… So ein Schwachsinn! Als ob so etwas möglich wäre…! Viel zu realistisch, es erschien ja alles ganz normal und wirklich. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber in diesem Fall war nicht einmal eines von beidem zu finden. Weder sah irgendetwas zu unrealistisch aus, noch war es stinknormaler Alltag. Wo verflucht noch mal bin ich da nur reingeraten!?
 

„Akio?“ Die hohe Stimme schreckte mich aus meinen verworrenen Gedanken. Ehe ich sie jemandem zuordnen konnte, stellte sich die gutmütige Frau ein zweites Mal vor. „Ich bin’s, Kathrin. Deine Psychotherapeutin.“

Ach ja, die. Brauchte ich doch überhaupt nicht. Jemanden, den ich wirklich gebrauchen konnte, war entweder eine Hexe oder ein allwissender Wissenschaftler.

Wie in Trance löste ich meine Arme aus der mittlerweile eigentlich unbequemen Haltung, drückte mich ohne zu Zögern vom Boden ab und trat wieder in den Schein der Überwachungskameras. Bildlich konnte ich mir vorstellen, wie Matsuda zu erst gelangweilt vor einem der Bildschirme saß, mich dann entdeckte und plötzlich aufgeregt den Stuhl gerade rückte, den anderen mit lauter Stimme „Sie ist wieder zu sehen!“ mitteilte und sich weit nach vorne über die Tastatur beugte, um jedes noch so winzige Detail des Geschehens auf keinen Fall zu übersehen.

Ohne ihn jedoch eines Blickes zu würdigen schritt ich auf die Tür zu, entriegelte mit einer Handgelenk verdrehenden Bewegung das erste Schloss. Die kurze Kette oberhalb der Türklinke war die zweite Hürde; das Metallstück um diese, welches ebenfalls mit einer Stahlkette an der Wand angekettet war, die dritte. Zusätzlich gab es noch zur Sicherheit einen Türspion, obwohl es sowieso niemand unbeobachtet so weit ins Gebäude geschafft hätte.

Zögernd hielt ich die Klinke in der Hand. Warum hatte ich überhaupt so reagiert?

Sanft drückte ich sie herunter, öffnete die Tür einen kleinen Spalt weit und lugte hindurch.

„Was?“ Meine Stimme klang mehr genervt als ich wollte. Innerlich brachte ich kaum einen Ton heraus vor Erleichterung, dass doch noch jemand auf meiner Seite war – wenn auch rein beruflich. Nur ihr Lächeln gab mir den Mut dazu, überhaupt etwas zu sagen.

„Darf ich reinkommen, Akio?“ Wieder zögerte ich, nickte dann aber schüchtern. Ich machte die Tür weiter auf, trat beiseite und ließ Kathrin passieren.

„Wow, du hast es aber schön hier.“

Keine Antwort meinerseits. Ich stand weiterhin einfach stumm an der gleichen Stelle, während Kathrin den Raum näher inspizierte. „Und du wohnst hier drin ganz alleine?“ Scheinbar wollte sie wieder keine Antwort haben, aber selbst wenn sie eine haben wollte, sie hätte sie nicht bekommen.

„Warum bist du hier?“ Das Einzige, was ich endlich schaffte zu sagen.

„Längere Geschichte.“

„Erzähl sie.“

„Setz dich zu erst hin.“

Mir schien, als wüsste sie von der ganzen Situation. Von all dem Leid, was mir in kürzester Zeit widerfahren war. Von meinem gebrochenen Inneren, das keine Ahnung hatte, was als Nächstes geschah.

„Nun“, begann sie. „Ich stelle dir jetzt eine Frage. Bitte beantworte sie ehrlich, ja?“

Ich nickte zaghaft.

„Erkennst du mich nicht wieder?“

Hö? Fassungslos starrte ich sie an. „Wie meinen?“

Seufzend ließ sie den Kopf hängen. „Schon okay, ich hab auch meine Zeit gebraucht, um mich an Gesichter zu erinnern.“

Um ehrlich zu sein verstand ich in diesem Augenblick nur Bahnhof. Was für Gesichter? War ich bei irgendeinem Mord anwesend und hab das Gesicht des Täters gesehen, aber jetzt vergessen, oder wie? Kopfschüttelnd verscheuchte ich die Gedanken.

„Versuch bitte, dich zu erinnern. Ich kann dir dabei nicht helfen, du musst es selbst schaffen. Was du nicht weißt, kann ich dir nicht erzählen. Aber ich habe was, um deiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.“ Sie griff zur Seite in eine Tasche, die erst vor Kurzem von ihr dort abgestellt wurde, und zog einen mickrigen Stapel Papier heraus. Auffordernd hielt sie ihn mir hin.

Auf den Blättern waren Zeichnungen zu sehen. Ein guter Zeichenstil, vielleicht an einigen Stellen verbesserbar. Ansonsten gefiel mir der Einsatz vom Kohlestift äußerst gut. Abgesehen davon konnte ich eigentlich nichts Außergewöhnliches daran feststellen. Außer vielleicht, dass jedes Bild entweder ein oder zwei Mädchen darstellte, es waren auf allen Bildern die gleichen beiden. Das eine hatte hübsche helle Haare, die seitlich zu einem Zopf geflochten waren und nach vorne über die Schulter hingen. Das andere Mädchen war wie ein Kontrast dazu. Relativ dunkle Haare – mit Farbe wären sie wahrscheinlich dunkelblond gewesen – und ihr Lächeln war nicht annähernd so bezaubernd wie das der anderen Person.

Es dauerte eine Weile, bis es Klick machte. Gerade in dem Moment, als ich auf dem letzten Bild noch eine dritte Person entdeckte, ebenfalls ein Mädchen, mit feinen schwarzen Haaren, die ihr vorne knapp bis zur Schulter reichten und hinten deutlich kürzer wurden. Stella, schoss es mir durch den Kopf. Verblüfft drehte ich mich zur Seite, bis ich in das strahlende Lächeln von Kathrin blickte. Trotz dieses Lächelns sah ihr Blick von Traurigkeit getrübt aus.

„Weißt du es wieder?“

„Du…“ Ich schluckte schwer. „Du lebst.“

„Oder du bist tot.“

„Warum hast du das damals getan?“

„Wir sollten dich irgendwie zurückbringen.“ Sie wich mir ganz klar aus. Versuchte es zumindest.

„Wieso hast du dich umgebracht, Kathrin?“

„Das tut nichts zur Sache.“

Wieso hast du mich im Stich gelassen?!“

Völlig außer Fassung starrte ich sie an. Einige Blätter rutschten mir aus der Hand, während mir Tränen aus den Augen flossen. „Sechs Jahre…! Weißt du eigentlich, was für ein Horror das für Stella und mich war?“ Das Lächeln auf ihrem Gesicht erstarb. Sie hatte es gewusst, natürlich hatte sie das. Wie gut musste ihr Grund gewesen sein, um trotz ihres Wissens so zu handeln?

„Sie ist beinahe daran kaputt gegangen! Stella hatte vor, sich auch das Leben zu nehmen. Sie wollte dir folgen…!“ Zwar dauerte es eine Weile, aber letztendlich bekam ich eine Antwort. Kathrins Kopf hing leblos nach unten, als sie sprach. „Ich weiß…“

Klatsch! Tränenüberströmt sprang ich auf, ihre Wange glühte sofort rot. „Wie konntest du nur?!“

Kathrin hielt sich zur Gegenwehr lediglich die Wange. Ihr Blick sah verstört aus, als hätten die Ereignisse von damals auch sie mitgenommen. Vielleicht konnte sie einfach gut schauspielern, aber ihre Emotionen sahen einfach zu real aus, als dass dies hätte wahr sein können.

„Lass mich dir erzählen“, bat sie mich. Stumm ließ ich mich von ihr am Ärmel runterziehen, bis wir uns schweigend gegenüber saßen und sie endlich anfing zu erzählen. Ich konnte es kaum abwarten, endlich den Grund zu erfahren, den sie der restlichen Welt verschwiegen hatte.

„Vor acht Jahren habe ich mich in einen Jungen verliebt. Er… kannte mich nicht, aber ich habe ihn oft beobachtet. Ein Jahr später hatte ich endlich den Mut gefunden, ihm meine Gefühle zu gestehen – auch dank der Hilfe von Stella. Aber als der Tag dann kam, hatte Stella plötzlich einen Unfall und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Du erinnerst dich bestimmt noch daran, als sie von dem schwarzen Auto angefahren wurde und der Fahrer dann Fahrerflucht begangen hatte?“

Zur Bestätigung nickte ich. Ich erinnerte mich nur zu gut. Damals war ich zwölf gewesen. Es war ein Schock zu erfahren, dass die eigene Schwester in Lebensgefahr auf der Intensivstation lag. Ich hatte erst wieder einen Fuß aus dem Krankenhaus gesetzt, als klar war, dass es Stella gut ging. Ob ich davon wohl die Angewohnheit hatte, mich in Zimmern einzuschließen?

„Deswegen konnte ich meinen Schwarm nicht treffen, obwohl ich ihn extra gebeten hatte zu kommen. Natürlich hat er auf mich gewartet, aber als ich nicht kam wurde er sauer. Als ich ihm am nächsten Tag die Situation erklären wollte, sah ich ihn zusammen mit einem anderen Mädchen wie sie Händchen haltend durch die Schule spazierten. Ich war am Boden zerstört und weinte jeden Tag in mich hinein. Ein ganzes Jahr ging das so. Dann habe ich es nicht mehr ausgehalten. Kurz vor meinem Vorhaben rief ich Stella an und habe ihr die ganze Geschichte erzählt. Und dass niemand sonst sie erfahren sollte. Als ich fertig war, legte ich einfach auf… und habe mich erhängt.“

Ihre Leidensgeschichte erzählte sie fast emotionslos. An einigen Stellen brauchte sie etwas länger oder legte Pausen ein, aber es kam mir dennoch nicht so vor, als würde sie ihre Tat bereuen.

„Es tut mir Leid, wirklich. Aber dem Ganzen verdanke ich auch meinen Neuanfang.“ Ich nickte. Hatte also Recht gehabt. Und nun? Dass ich Kathrin wieder traf hieß also, dass ich ebenfalls tot war? Ich brauchte noch immer Antworten. Antworten auf Fragen, von denen ich bis jetzt nicht wusste, wie ich sie formulieren sollte.

„Ich kenne den Grund, weshalb du hier bist nicht“, sagte sie. „Hast du dich umgebracht?“ Sie fügte ihre Frage leise hinzu, als hätte sie Angst vor einer Bestätigung. Für einen kurzen Moment überlegte ich, was ich als Michelle erlebt hatte, bevor ich Akio geworden war, aber mir fiel beim besten Willen nichts ein. Es war, als wären meine Erinnerungen gelöscht worden.

„Ich… habe keine Ahnung. Das einzige, was ich weiß, ist, wie ich von der Schule mit dem Fahrrad nach Hause fuhr.“ Um ehrlich zu sein fürchtete ich mich auch vor der Wahrheit. Es war auszuhalten, hier zu bleiben, aber die Sehnsucht nach meiner Heimat wuchs in jedem Moment, in dem ich mich hier befand.

Ich stand vor einem neuen Rätsel: Aus welchem Grund war Kathrin hier? Statt die Antworten zu finden, taten sich neue Abgründe von Fragen auf. Ob es wohl ewig so weitergehen würde? Saß ich hier fest?

Meine Gedanken bissen sich an den Fragen fest, während Kathrin ohne ein weiteres Wort aufstand und durch die Tür ins zukünftige Unbekannte trat.

Betrayal

Unser Gespräch hatte mich noch lange danach beschäftigt. Es war wie ein Wunder, dass ich Kathrin nach so vielen Jahren wiedersehen durfte. Oder besser gesagt, es war eins.

Damals, vor sechs Jahren, waren wir drei noch die besten Freundinnen gewesen – und dass obwohl Stella und ich Schwestern waren. Die beiden anderen Mädchen kannten sich von klein auf und gingen später auch zusammen in eine Klasse aufs Gymnasium. Natürlich war ich drei Jahre jünger, aber Kathrin akzeptierte mich trotzdem. Hätte sie ja nicht tun müssen, darum war es umso schlimmer, von ihr Abschied zu nehmen.

Es war der sechsundzwanzigste Juni, kurz vor meinem vierzehnten Geburtstag, als wir und ihre Eltern sie erhängt in ihrem Zimmer auffanden. Der Strick war fest oben am Dachbalken verknotet, ihr Hals lag nach vorne geneigt in der Schlinge, während der Rest ihres Körpers völlig leblos da hing – wie ein Engel, den die Strafe seines Verrats eingeholt hatte.

Völlig verzweifelt war Stella zu Boden gesunken. Es war mehr als offensichtlich, dass sie etwas wusste. Aber sie war still geblieben, kein Wort kam über ihre Lippen, nicht einmal das leiseste Schluchzen. Es war, als hätte man ihr die Sprache geraubt. Tatsächlich hatte sie noch zwei Wochen danach ihren Mund nicht aufgetan. Als sie letztendlich wieder etwas anfing zu sagen, waren ihre ersten Worte, sie hätte es überwunden. Und obwohl so viel Kraft in ihrer Aussage mitzuschwingen schien, beobachtete ich sie noch jeden Abend, wie sie weinend in ihrem Zimmer hockte, ein Bild von sich und ihrer besten Freundin in den Händen haltend.

Bald danach hatte Stella ihre Sachen gepackt. Sie hatte sich extra eine Universität weit weg von zu Hause ausgesucht, dass wusste ich, auch ohne dass sie es uns sagte. Weit weg vom Grab ihrer Freundin.

Dennoch behielt sie dieses eine Foto bei sich. Das Foto, auf dem im Hintergrund das große Riesenrad des Freizeitparks zu sehen war. Auf dem sie Arm in Arm lachten, die Zuckerwatte an ihren Mundwinkel noch deutlich zu sehen war. Eine der schönsten Aufnahmen, die sie zusammen gemacht hatten.

Hastig griff ich nach den Zetteln auf dem Boden. Es waren die Skizzen, die Kathrin vergessen hatte mitzunehmen. …Oder war es Absicht gewesen?

Zielstrebig blätterte ich den überall verstreuten Stapel noch einmal durch. Hatte ich ein Blatt überprüft, warf ich es auf meine rechte Seite, bevor ich ein neues von meiner Linken nahm. Wieder warf ich eins nach dem Anderen zur Seite.

Plötzlich stockte ich. War das nicht…?

Rasch hielt ich die letzte Seite wieder in den Händen. Es war mit aller Wahrscheinlichkeit eines der besten Bilder und das scheinbar nicht ohne Grund: Es war die einzige Zeichnung, deren Striche absolut klar waren – so als ob Kathrin sie schon mehrmals angefertigt hatte. Sie stellte die zwei Mädchen dar, im Hintergrund befand sich ein Riesenrad.

Ungläubig zuckte mein Mundwinkel nach oben. „Das ist doch nicht wahr…!“ Völlig außer Fassung lehnte ich mich ans Bett an. Sowohl der Fußboden als auch die improvisierte Rückenlehne waren unbequem; beides Holz, glaubte ich.

Grübelnd schaute ich die Decke an – mittlerweile war es mir völlig egal, dass Matsuda und die Anderen mich wieder auf dem Schirm hatten. Das Einzige, was mich im Moment interessierte, war ihr Grund. Kathrins verdammter Grund. Wie schon so oft in letzter Zeit fragte ich mich wieso, ohne die Hoffnung auf eine Antwort.

Dass sie ausgerechnet dieses Foto nachgezeichnet hatte und dazu noch mehrmals, bewies, wie wichtig Stella für sie gewesen war. Zwei beste Freundinnen, mehr miteinander verbunden als alles Andere auf der Welt. Dennoch brachte sich eine von ihnen um. Da steckte doch mehr dahinter als reiner Liebeskummer!

…Ich musste es herausfinden; koste es, was es wolle.

Ich hatte das merkwürdige Gefühl, ich sei irgendwie verflucht. Die Anzahl meiner zu erreichenden Ziele stieg scheinbar mit jedem neuen Tag: L retten; Grund finden, weshalb ich hierher gekommen war; zurückgelangen und neuerdings auch herausfinden, was der wahre Grund für Kathrins Suizid war. Falls es ihn gab, diesen wahren Grund.

Seufzend drückte ich mich vom Laminat ab. Unschlüssig, was zu tun war, schlurfte ich auf die noch immer unverriegelte Tür zu, bis ich schlicht davor stehen blieb. Was jetzt? Ein Gespräch mit Kathrin war für mich im Moment psychisch unmöglich – mal ganz außer Acht gelassen, dass erst vor Kurzem eins stattgefunden hatte.

Ich trat einen Schritt vor die Tür, schloss ab und verstaute den Schlüssel gut in der Hosentasche. Im Flur war es kalt, das Fenster am Ende war verschlossen, die Klimaanlage summte laut und unaufhörlich. Ich zog meine frisch angezogene Lederjacke enger an mich. Ich wusste nicht warum, aber in diesem Moment waren mir die kommenden Reaktionen der Sonderkommission stärker bewusst als jemals zuvor. Mit meinem egoistischen Verhalten hatte ich mein Todesurteil bereits ausgesprochen. Jetzt konnte ich meinen Kopf nicht mehr aus der Schlinge ziehen.

Die Treppenstufen kamen mir höher und kürzer als normal vor. Jeden Schritt hatte ich das Gefühl, plötzlich in die unendliche Tiefe eines Abgrunds zu treten. Durch Fensterritzen hörte ich den unruhig vor sich her pfeifenden Wind, als ob es das letzte Mal wäre, dass er dies tun konnte. Meine Stimmung wechselte von gleichgültig zu nervös, obwohl mein Befinden sowieso schon im Keller war. Dass ich nur noch wenige Stufen vom Hauptraum entfernt war, änderte nicht viel an dieser Tatsache. Meine Füße trugen mich weiter nach unten, während sich meine Arme am Liebsten am Geländer festgekrallt hätten, um keinen einzigen weiteren Schritt zu tun.

Noch fünf Stück…

Immer langsamer bewegten sich meine Beine voreinander.

Noch vier…

Meine Hände wurden schwitziger, beinahe rutschten sie am Geländer ab.

Drei…

Langsam stieg Panik in mir auf.

Zwei…

Der weiße Boden erstreckte sich erbarmungslos vor mir, …

Und die letzte…

… als gäbe es kein Ende.
 

Schlagartig stieg mein Puls von Null auf Hundertachtzig, so hatte ich das beklemmende Gefühl. Aber was wollte ich überhaupt erreichen? Wer würde mir glauben? Die Sonderkommission wusste nicht einmal etwas vom Death Note, also warum sollten sie mir meine Geschichte abkaufen? Ein Mädchen aus Deutschland, das als Japanerin „wiedergeboren“ wurde. So was von lächerlich…! Ich konnte es gar nicht oft genug sagen. Aber dennoch entsprach diese Wahnsinnsgeschichte absolut der Wahrheit. Vielleicht war ich ja auch nicht die Einzige, der so etwas widerfahren war…? Irgendwo auf dieser scheiß gottverdammten Welt musste es doch noch jemanden geben!

Entschlossen strebte ich den Hauptraum an. Nur eine Glastür, die das Treppenhaus und den Rest in zwei Gebäudebereiche teilte, trennte mich noch von den Leuten. Meinen Leuten. Ich war doch schließlich eine von ihnen, oder etwa nicht?

Bestimmt trat ich durch das letzte Hindernis und blickte von oben auf die vielen Monitore herab, die mich jedes Mal aufs Neue faszinierten. Da saßen sie alle: L, Watari, Matsuda, Mori, Herr Yagami und Aizawa. Nur… wo genau war Light? Uni musste schon längst vorbei sein und sonst kam er doch auch direkt hierher…?! Fast hätte ich losgelacht bei dem Gedanken, Light würde sich mit seiner Freundin treffen. Wobei, so abwegig war das gar nicht. Allerdings würde er die Kommission niemals für irgendeine dahergelaufene Tante sitzen lassen. So etwas traute ich ihm einfach nicht zu und getan hatte er es bisher auch noch nicht. Warum sein Fehlen also auf die große Glocke schieben? Aber ich glaubte die Antwort dafür bereits zu kennen. Unbewusst hatte ich auf einen der Bildschirme gestarrte. Auf den ersten Blick nichts Besonderes, aber wenn man genauer hinschaute, erkannte man zum einen das – sagen wir gefesselte – Mädchen mit den knallblonden Haaren und zum anderen einen, ebenfalls mit auf dem Rücken verknoteten Handgelenken, braunhaarigen jungen Mann, der sich schließlich als Light Yagami entpuppte.

Sprachlos beobachtete ich das Geschehen von oben, bis ich endlich wieder die Fassung errang, mich letztendlich auch mal nach unten zu begeben. Anscheinend hatte niemand meine unerwartete Ankunft bemerkt, hätte mich auch ehrlich gesagt gewundert, bei den Neuigkeiten um den Bildschirm herum. Hatte ich etwa so viel Zeit in meinem Zimmer verbracht, dass Light mittlerweile sich auch hat inhaftieren lassen? Verdammt, mein gesamter Zeitplan geriet durcheinander! Wenn mir nicht schleunigst etwas einfiel, konnte Light nichts mehr nachgewiesen werden, weil er dann sein Gedächtnis verloren hatte. Denk nach, denk nach, denk nach…! Es musste doch einen Ausweg aus dieser verzwickten Lage geben!

Als Erstes beschloss ich, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Schon ein kurzes „Hallo“ genügte dafür völlig, auch wenn es zwei Anläufe brauchte, um mir zu gelingen. Es war ein ungewohntes Gefühl, plötzlich so viele Blicke gleichzeitig auf sich ruhen zu spüren. Es waren jedoch leider nicht gerade die erfreutesten Gesichter – welche mich anstarrten, als wäre ich ein Alien – was aber eher an der bereits angespannten Atmosphäre im Raum lag als an mir. Matsudas gerunzelte Stirn lockerte sich als einzige etwas, als er mich hinter der Gruppe von Menschen erblickte. „Akio!“, rief er, während er beim Aufstehen den Stuhl beinahe mit sich riss und dadurch extrem ins Stolpern geriet. Er wollte eigentlich wieder das Wort ergreifen, aber ich nutzte die Chance geschickt aus.

„Wo ist Lights Zelle? Bringt mich bitte sofort dahin!“ Verdutzt stolperte und fiel Matsuda nun doch, blieb vor Überraschung sogar gleich auf dem Boden liegen. „Was?“

„Bitte, es ist dringend! Führt mich bitte jemand hin?“ Gott – oder Todesgott? – sei Dank, dass meine Stimme nicht so erbärmlich klang wie so etliche Male davor. Aber obwohl dieser aus meiner Sicht gemeingefährliche Unterton nicht in meiner Stimme erklang, wuchs quasi mit jeder Sekunde das Misstrauen der Anderen, aber niemand wagte es, dieses in Worte zu packen. Erst nach einer Weile erhob L sich von seinem Thron, blickte sich nun auch endlich mal nach mir um und tat die Schritte, die getan werden musste, auf mich zu, bis er mir direkt gegenüber stand.

„Dann erzähl uns, was du weißt.“

Verdattert starrte ich ihn an. Es war ja irgendwie klar, dass er das fragte, aber dass das die einzige Bedingung war…? Jeder Andere hätte mich womöglich am Liebsten gleich geköpft. Aber L war halt nicht wer Anders. L war L, und das würde er auch immer bleiben. Hoffte ich doch…!

Als ich endlich meine Sprache wiedergefunden hatte, glaubte wohl jeder bereits, ich würde schweigen wollen. „Ihr würdet mir eh nicht glauben.“

„Dann beweise es, indem du es uns erzählst.“

Betreten schaute ich zu Boden. Sie verdächtigten Light ja jetzt sowieso, also was kümmerte es mich?

„Light ist Kira. Ich vermute es nicht nur, sondern ich weiß es. Er ist es! Aber wenn wir uns nicht beeilen, dann können wir ihm nichts mehr nachweisen. Das ist der Grund, weshalb ich zu ihm muss. Ich muss ihn dringend sprechen.“

L fing an, auf seiner Fingerkuppe herumzukauen. Stimmte er zu? Oder nicht? Jedenfalls schien er länger als sonst zu überlegen. Um ihm die Entscheidung noch schwieriger zu machen, fügte ich noch die letzte Bedingung hinzu.

„Und ihr dürft dabei nicht zusehen. Die Überwachungskameras müssen ausgeschaltet sein und bleiben. Mit einem Fluchtplan müsst ihr nicht rechnen, immerhin ist Light freiwillig da drin. Aber das weißt du ja sicher.“ Bei meinem letzten Satz musste ich unwillkürlich lächeln. Wahrscheinlich hatte er mit so etwas sogar gerechnet, sein Blick sah jedenfalls nicht großartig überrascht aus. Seine Augen waren träge halb zugeklappt und nicht aufgerissen wie sonst, wenn er überrascht oder sehr aufmerksam war. Zu meinem Verwundern stimmte er, nach dieser für Andere noch immer relativ kurzen Gedenkzeit, zu. Glücklich über das Ergebnis machte ich mich auf den Weg zurück in mein Zimmer. Eine Sache fehlte noch, damit mein Plan hinhaute. Zwar eine kleine, aber eine sehr wichtige.

Wieder ging ich hinauf, diesmal rannte ich jedoch – um nicht zu sagen, dass ich fast die Treppen hoch fiel. Beinahe fand ich den Schlüssel vor Aufregung nicht mehr und als ich in endlich herausgekramt hatte und in den Händen hielt, kam es mir beinahe so vor, als wäre das Schloss für ihn zu klein. Hastig hob ich in meinem Raum ein paar Oberteile und Hosen hoch; mein Zimmer war noch nie das ordentlichste. Ich bin nicht zu faul zum Aufräumen, Andere sind nur zu faul zum Suchen…

Irgendwann fand ich das Gesuchte unter einem dunkelblauen T-Shirt. Ich griff danach und verstaute es beim Rausgehen zusammen mit dem Schlüssel in der Hosentasche. Wie immer.

Während ich runter ging, hielt ich krampfhaft die Träger meines Rucksacks fest. Bis auf einen Liter Wasser, meinem Pass, einer Taschenlampe, einem Cappy, einem abgenutzten Haargummi, Fotoapparat und Kaugummi befand sich nichts darin. Höchstens der Boden war mit den Sachen belegt und dementsprechend leicht fühlte sich die Tasche auch an. Nervös nestelte ich am überstehenden Gurt, als ich schließlich Mori – warum wurde ich eigentlich immer ausgerechnet von ihm geführt? – durch die Gänge bis zu Lights Zelle folgte. Ich musste gestehen, dass er wirklich erbärmlich aussah, wie er da saß. Im Anime kam es zwar gut rüber, konnte aber nicht annähernd die gegebenen Zustände vermitteln. Wie ein Häufchen Elend war Light dort zusammengesackt, aber trotz dieser Körperhaltung schimmerte in seinen Augen noch ein Hauch Stolz.

„Wir geben dir genau sieben Minuten.“ Noch beim Nicken sah ich aus den Augenwinkeln sein Pokerface, welches seine wahren Gefühle verbargen. Hass. Verachtung. Triumph. Waren es noch mehr Worte, die seine Seele ausreichend widerspiegelten?

Mori ließ mich allein mit dem Zellschlüssel zurück. Wie abgemacht. Als Mori außer Sichtweite war, schloss ich langsam das Eisengitter auf, ohne Light dabei aus den Augen zu lassen. „Was willst du?“ Sein eiskalter Blick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ohne ihm eine Antwort zu geben, trat ich in sein momentanes Gefängnis ein. Ich hörte noch das Schloss hinter mir zufallen, ehe ich zwei Meter vor ihm stehen blieb. Zurzeit passte der Name Kira wirklich besser, immerhin glänzte in seinen Augen schier pure Mordlust. Aber trotz dieser Tatsache leuchteten sie in meinen Augen in einem wunderschönen Braun. Es war beinahe so, als ob sie immer wieder für ein paar Sekunden in einen blutroten Farbton übergingen, doch sofort danach war die Illusion auch wieder verschwunden.

Ich ging weiter auf Light zu, woraufhin er ein leises Knurren von sich gab. Natürlich war ich ihm weit überlegen, schließlich schränkten die Handschellen ihn mehr als nötig in seiner Bewegung ein. „Niemand beobachtet uns.“ Noch weiter ging ich auf ihn zu. Auf einmal riss er seine Augen ungläubig auf, sein Mund klappte ein wenig nach unten. „D-Du… Perversling!“ Ich taumelte ein Stückchen nach hinten. Wie bitte?! Ich glaube, er hatte da die Rollen ein wenig vertauscht! Wer hat sich denn zu erst an wen rangemacht?! …Wobei, diese Situation kam selbst mir ein wenig sadistisch vor. Light kniete mit Handschellen vor mir und ich redete auch noch so geschwollen. Wer käme da in seiner Lage nicht auf solch abwegige Gedanken?

Hastig holte ich das kleine Plastik aus meiner Hosentasche. Hinter meinem Rücken ließ ich es durch die Finger gleiten, dann drückte ich darauf. Es klackte einmal, dann war die Metallfolie durch und ich hielt das noch kleinere, weiße Etwas in der Hand. Den Rest ließ ich erneut in der Hosentasche verschwinden.

„Drei!“, hörte ich es von irgendwoher hallen. Drei Minuten, schätze ich mal, waren noch genügend Zeit. „Du hast es gehört, Light, noch drei Minuten. In dieser Zeit würde ich mich gerne noch etwas mit dir unterhalten, da ich aber nicht wüsste, worüber, fällt das wohl weg. Hier, trink!“ Ruckzuck hatte ich meine Literflasche rausgeholt und wartete auf eine Bewegung von Light, die ich als Zustimmung oder Ablehnung verstehen konnte. Tatsächlich beugte er sich ein wenig nach vorne, woraufhin ich ihm die Öffnung an den Mund hielt. Gierig trank er ein paar Schlucke, löste sich dann aber wieder von ihr. Nichts ahnend machte er den Mund auf, anscheinend um sich zu bedanken, aber ich kam ihm zuvor und schnitt ihm das Wort ab. „Schluck das!“ Ich streckte ihm meine offene linke Hand hin, in der sich mein kleiner Verbündetet befand. Misstrauisch beäugte Light es, presste die Lippen zusammen, sobald er erkannte, was es war. „Es ist kein Gift, das schwöre ich. Aber wenn du es nicht nimmst, stirbst du hier auf der Stelle. Los jetzt!“ Ich hielt ihm meine Hand auffordernd unter den Mund. Es dauerte noch einige Sekunden Gedenkzeit, dann nahm er es widerwillig in den Mund. „Runterschlucken!“, befahl ich ihm auf ein Neues. Er tat wie geheißen.

Anschließend gab ich ihm erneut ein wenig zu Trinken. Und wartete. Es dauerte keine Minute, bis die Wirkung einsetzte. Sofort fing Light an zu wanken, seine Augenlider fingen an zu flattern, dann sackte sein Kopf seitlich weg und er lehnte mit dem Rücken gegen die Wand. Gelassen stand ich auf, klopfte mir den imaginären Dreck von der Hose und trat meinen Rücktritt an. Noch bevor ich die Zelle ganz verlassen hatte, drehte ich mich noch einmal zu ihm um und sah gerade, wie seine Augen noch teilweise geöffnet waren.

„Bis später, Yagami Raito.“

Ripped Out

Nervös zog ich das Cappy weiter in mein Gesicht. Meine Haare hatte ich mit dem Gummi zusammengebunden und darunter gesteckt, die letzten Strähnen einfach nach oben geschoben. Meine Klamotten, die Gott sei Dank dieses Mal relativ männlich aussahen, verschleierten super meine mädchenhafte Figur. Hauptsache, mich erkannte keiner.

Ab und zu liefen mir ein paar zwielichtige Gestalten über den Weg und jedes Mal zuckte ich erschrocken zusammen, wegen dem unguten Gefühl, es könnten doch Polizisten sein. Tatsächlich wusste ich aber nicht einmal Bescheid, ob überhaupt Polizisten auf die Suche nach mir geschickt wurden. Aber Vorsicht ist ja bekanntermaßen die Mutter der Porzellankiste.

Folglich streifte ich durch die menschenüberfüllten Straßen – ohne Anhaltspunkte über mein Ziel. Besser gesagt, was ich suchte wusste ich, nur nicht, wo ich danach zu suchen hatte. Ein wenig fühlte ich mich wie auf der Suche nach der bekannten Nadel im Heuhaufen. Jedoch waren die Größenverhältnisse ein ganz klein wenig verschieden, denn meine Nadel war ein Einfamilienhaus und der Heuhaufen entsprach ganz Japan. …Na gut, ein bisschen genauer wusste ich schon Bescheid: Dieses Haus musste sich irgendwo in der Kantô-Region befinden. Aber dennoch war mein Suchen ein von vornherein aussichtloses Vorhaben. Schließlich wäre es wirklich viel zu großer Zufall, wenn plötzlich das Haus direkt vor mir stünd-…

…Hä?

Mittlerweile war ich schon ein paar Mal abgebogen und ohne es zu merken hatten sich die vollgestopften Wege in ein gemütliches Wohngebiet verwandelt. Drei Schritte weiter vor mir auf der rechten Seite erhob sich eine einfach gestaltete Wand mir orangem Anstrich. Ein schlichter Zaun umhab es und machte einen auf seltsame Weise neugierig über die dort lebenden Personen und ihre Lebensweise. Nicht, dass ich nicht schon längst wusste, wer dort wohnte: Frau und Herr Yagami, zusammen mit der Tochter Sayu Yagami und ihrem Sohn, den landesweit besten Schüler, Light Yagami. Durch die gegebenen Umstände sollten zurzeit allerdings nur Frau und Tochter daheim sein. Oder sagen wir so: Schlecht, wenn dem nicht so ist. Aber theoretisch – und eigentlich auch praktisch – war Light inhaftiert und sein Vater freiwillig ebenfalls in einer Zelle. Also beide zu meinem Vorteil handlungsunfähig.

Aufrechten Ganges trat ich durch das Tor. Ich schluckte. Jetzt durfte nichts mehr schief gehen…

Oh man! Ich war ja so was von blöd! Nichts durfte schief gehen und ich lief hier noch mit Cappy und als Junge verkleidet rum…! Schnell stopfte ich die Kopfbedeckung in die Tasche, knöpfte meine Jacke auf, richtete mein rotes Haar etwas und drückte auf den Klingelknopf. Glück war nicht genug, wenn das hier tatsächlich das Haus der Yagamis war.

In der Ferne hörte ich Schritte, die sich immer weiter auf mich zu bewegten. Als sie aufhörten, mischte sich ein anderes Geräusch in die Stille, als ob jemand mit allen Mitteln die Stille zu verhindern versuchte. Es war ein Klicken, gefolgt von noch einem weiteren, dann öffnete sich die Tür ruckartig ein kleines Stückchen. Eine Frau mit kinnlangem braunem Haar lugte durch den Spalt hindurch und wirkte scheinbar überrascht, dass ein junges Mädchen vor ihr stand. Kurz danach wurde die Sperre zwischen uns ganz aufgemacht und ich bekam so auch den Rest von der Person zu Gesicht. Sie war eine schon ältere Frau, passen zum Alter ihres Mannes und des Sohnes, deren Haare matt und strähnig nach unten hingen, als hätten sie schon seit Ewigkeiten kein Wasser mehr gesehen. Unter den Augen befanden sich dunkle Ringe, ihr ganzes Gesicht schien förmlich nach Erschöpfung zu schreien. Auch ihre Kleidung ließ darauf schließen, dass sie seit einer ganzen Weile nicht mehr ganz so viel Wert auf Aussehen und Hygiene legte: Knapp unterhalb des Kragens prangte ein dicker Kaffeefleck.

Tortz dieser fürchterlichen Erscheinung bemühte Frau Yagami sich zu einem Lächeln, dass besser zu einem unschuldigen kleinen Grundschulmädchen gepasst hätte, als zu er Gestalt vor mir.

„Ja bitte?“ Sie schien etwas zu zögern, entschied sich aber dann schließlich doch, mir höflich entgegenzukommen.

„Ähm… Light hatte sich ein Buch von mir ausgeliehen, er wollte es mir heute zurückgeben. Ist er da?“

Lights Mutter schüttelte den Kopf, sichtlich bemüht, noch immer freundlich zu bleiben. „Nein, tut mir Leid. Um welches Buch handelt es sich denn?“

Beinahe unterbrach ich sie mitten im Satz, so hastig wollte ich zum Ende kommen. Ich zwang mich zu einem Lächeln, ohne ihre Frage großartig weiter zu beachten. Meine Neugierde wurde geweckt und ich wollte unbedingt mehr über das „Wissen“ herausfinden, welches ihr zuteil wurde, selbst wenn es sich nur als eine Lüge entpuppen sollte. „Wo ist er denn? Kommt er heute noch wieder?“ Ich konnte ihr die Nervosität förmlich von der Stirn ablesen. Erneut zögerte sie bei ihrer Antwort, diesmal noch länger als zuvor.

„Tut mir furchtbar Leid. Er meinte, er hätte noch etwas sehr Wichtiges zu erledigen und ist gleich aus dem Haus.“ Gespielt enttäuscht fummelte ich an den Knöpfen meiner Jacke herum. Es dauerte zwar einen Moment, aber schließlich biss sie an. Weiter geht’s im Text!

„Ist es wichtig, dieses Buch? Wenn du möchtest, könntest du dich danach auch im Regal umgucken.“

„Ja, danke! Das wäre sehr nett.“ Erleichtert seufzte ich aus und trat einen Schritt in die Wohnung. Beinahe vergaß ich, mich meiner Schuhe zu entledigen, jedoch fiel es mir noch rechtzeitig ein, als ich die anderen Paare am Boden bemerkte.

Man konnte nicht direkt sagen, dass ein absolutes Chaos herrschte, für normale Verhältnisse jedoch konnte man ruhig die Beschreibung „Bombe eingeschlagen“ ohne weiteres Nachdenken durchlassen. Auf dem Tisch standen eine Menge gebrauchter Reisschalen und gebrauchter Stäbchen, allerdings konnte ich weit und breit nicht Zusätzliches erkennen, weshalb ich darauf schloss, dass Frau Yagami schlichtweg keine Lust und oder Zeit zum Kochen hatte – außer für Reis.

Schweigend führte mich die zweifache Mutter die Stufen herauf ins Zimmer ihres Sohnes – und mir fiel ein heftiger Kontrast zum Rest des Hauses ins Auge. Alles stand an seinem angemessenen Platz, der Schreibtisch war tip top aufgeräumt und sogar das Bett sah aus wie frisch gemacht. Als würde hier niemand wohnen und als hätte dies auch nie jemand zuvor getan. Ich begab mich direkt zum Bücherregal auf der linken Seite des Zimmers und war heilfroh, als mich Frau Yagami unter dem Vorwand, noch etwas Wichtiges zu tun zu haben, allein zurückließ. So konnte ich wenigstens ungestört suchen – selbstverständlich nicht nach meinem angeblich verliehenen Buch.

Schweigend untersuchte ich jedes einzelne Buch. Vor meinem inneren Auge lief eine Live Übertragung auf einem Monitor ab, auf welcher ich klar und deutlich zu sehen war: Von hinten, wie ich die gesamte Regallänge immer wieder ablief. Eine Person, die diese Übertragung sehen würde und ohne dabei mein Wissen besäße, hätte mich für vollkommen bekloppt abgestempelt. Immerhin würde ich das Death Note hier nicht finden…

Dieser Gedanke war mir häufig, ja sogar ununterbrochen präsent. Aber warum auch nicht? Schließlich war ich nicht auf der Suche nach diesem unscheinbaren, unheilbringenden Notizbuch – jedenfalls nicht direkt. Hoffentlich würde mein Plan aufgehen…!

Ich seufzte. Es war wirklich zum Verzweifeln! Schon zwei Drittel hatte ich abgesucht, aber nichts gefunden – irgendwie klar, wenn man Murphys Gesetz zur Hand nimmt. Voller äußerst großen Tatendrangs zog ich den nächsten Wälzer aus seinem Versteck. Es hatte einen gelben Einband, was mir sofort „Langenscheidt“ in Erinnerung rief. Und tatsächlich: Was ich da in den Händen hielt war nichts anderes als ein Wörterbuch. Zwar nicht Deutsch-Irgendwas, sondern Japanisch-Englisch, aber Mensch, wen juckt’s?! Endlich! Nach gefühlten dreizehn Stunden hielt ich das für mich im Moment am Wertvollste in den Händen – und wer hätte es gedacht, es war sogar ausnahmsweise mal ein Buch! Ungeduldig schlug ich den Einband auf und anschließend fing ich damit an, Seite für Seite durchzublättern, so, wie ich es auch bei all den anderen Schmökern getan hatte. Unterschied war nur, dass dies hundertprozentig das richtige Buch war und ich mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit noch etwas anderes darin finden würde als nur bedruckte Seiten. Einen Schnipsel. Das war alles, was ich brauchte.
 

„Vielen Dank noch mal!“ Ehrwürdig beugte ich mich hinunter, danach fiel direkt die Tür ins Schloss. Letztendlich hatte ich mir einfach irgendein Buch mit dem Titel „Tätern auf der Spur“ gekrallt und hatte es als meins ausgegeben – mal ganz davon abgesehen, dass ich kaum Auswahl hatte, weil alles andere entweder „Gericht“, „Gesetz“ oder „Lehr-“ im Namen beinhaltete, klang es noch am Interessantesten.

Kaum hatte ich einen Fuß vom Grundstück getan, ließ ich den Schmöker im Rucksack verschwinden und entnahm diesem stattdessen ein kleines Zettelchen. Glücklich starrte ich es an. Es sah wirklich nach nichts Besonderem aus: Ein linierter Zettel, der anscheinend aus einem Schulblock ausgerissen worden ist und auf dem auf der linken Seite ein paar Namen notiert worden sind. Nichts Unnormales, wenn da nicht noch die Tatsache bestehen würde, dass alle dieser Personen noch am selben Tag direkt nacheinander verstorben waren.

Ein Stück aus dem Death Note…

…und meine Rettung.

Zwei Dinge die man eigentlich nicht in einem Atemzug nennen kann und sollte. Dennoch blieb es wahr. Mithilfe dieses Stückchens könnte sich meine ganze Geschichte hoffentlich zum Guten wenden.

Während ich den Zettel noch in der Hosentasche verschwinden ließ, holte ich schon mein Cappy hervor, welches mir schon so viele Dienste geleistet hatte – Na gut, genau genommen hat es mir bisher nur als Verkleidung gedient und das auch nur ein einziges Mal: Heute. Und das sollte es jetzt auch mal wieder tun.

Mit vollendeter Verkleidung ließ ich mich im Stadtpark auf einer Bank nieder. Zufrieden betrachtete ich das Stückchen Papier in meiner Handfläche. An dieses heranzukommen war leider nur der leichteste Teil meines Gesamtplans. Okay, nicht ganz. Denn der zweite Teil war wirklich noch einfacher: Warten. Nicht mehr und nicht weniger. Angeblich hielten die Schlaftabletten für etwa fünf Stunden. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass seitdem etwa vier Stunden vergangen waren. Folglich hatte ich noch eine gute Stunde für mentale Vorbereitung – und ein klein wenig zu Essen.

Knurrend ging ich durch die mir nur zu gut bekannten Straßen des alltäglichen Leben Japans. An die Nahrung hatte ich mich schon vor meiner Ankunft gewöhnt. Höchstens mit Nori – den getrockneten Algenblättern – hatte ich meine Probleme gehabt. Die schmeckten einfach widerlich! Seit ich mich jedoch als Akio in Japan befand, hatte ich auch mit diesen keine Schwierigkeiten mehr. Jedoch schreckten mich meine Erinnerungen daran immer wieder ab, weshalb ich es möglichst vermied, Algen zu probieren.

Zur Feier des Tages gönnte ich mir eine leckere Nudelsuppe – ohne Nori. Die dünnen Nudeln schwammen in der Brühe herum und umhüllten das Gemüse wie die Gitterstäbe eines Käfigs. Statt dieses jedoch davon zu befreien, erstach ich es immer wieder gedankenverloren von Neuem. Mein Magen knurrte, aber irgendwie brachte ich keinen Bissen herunter. Mir war schlecht. Meine Zeit rann dahin wie Sand durch ein Sieb. Die nächste Erkundigung nach der Uhrzeit teilte mir einen Reststand von einer Viertelstunde mit. Als wäre es aus Feuer, brannte mir der Zettel die Hosentasche durch. Jedenfalls fühlte es sich so an. Wie schwere Tonnen drückte es mich herunter.

Ich wusste, was ich zu tun hatte. Mein Ziel hatte ich klar vor Augen. Den Gegenstand, mit dem ich es vollbringen würde, hatte ich in der Tasche. Fehlte etwas? Ach herrje, ich hab unterwegs meinen Mut verloren! Auf die Schnelle bekam ich dafür leider keinen Ersatz. Man, Akio! Augen zu und durch! Es würde ja nur dein gesamtes Leben und das danach verändern, mehr nicht.

Richtig gehört. Das Leben nach dem Tod - …oder was auch immer. Ich würde den Zettel aus dem Death Note benutzen, den Namen hineinschreiben von einer ganz bestimmten Person, und damit wäre ich so etwas ähnliches wie verflucht. Weder Himmel noch Hölle würde mich nach dem Tod erwarten. Mich würde nur von Herzen interessieren, was stattdessen. Jedenfalls eins stand fest: Ich war gerade auf dem gleichen Pfad wie Kira. Wenn mein Plan vollendet war, dann wäre ich ein Mörder. Nur ein mieser Mörder, der sich nicht einmal selbst die Hände schmutzig machen wollte.

War es überhaupt mein wahres Ziel, das alles durchzuziehen? Schließlich gab es auch noch Kathrin, die in diesem „Plan“ kein Stückchen Erwähnung findet. Sie musste doch ebenfalls irgendeine Rolle spielen. Wenn man es objektiv betrachtete, war Akio eine Mischung aus Kathrin und Kira. Na, passte doch; beides fing mit K an. Kathrin war auf irgendeine Art hierher geraten, möglicherweise dieselbe wie ich. Nur ich Idiot musste mir sofort einen Grund suchen, den ich mir kurzerhand als großes Ziel in den Kopf gehämmert hatte. Vielleicht war das gar nicht vorgesehen. Vielleicht sollte ich das Geschehen nicht verändern. Vielleicht sollte ich es wieder geradebiegen…

Guilty

Voller Erwartungen stand ich vor der Einfahrt irgendeines Hauses. Mittlerweile hatte ich mich zurück in die Innenstadt begeben, an den Ort, wo ich mein Opfer finden würde. Inzwischen musste Light schon aufgewacht sein – vor etwa einer Viertelstunde. Wenn ich richtig lag mit meinen Gedankenspielen, hatte er seine Besitzrechte direkt nach dem Aufwachen schon abgegeben. Gut so. Denn eigentlich waren die Schlaftabletten für nichts anderes als Zeit schinden gut gewesen. Lights Abtreten wurde nach hinten verschoben und die Sonderkommission war mit etwas anderem als der Jagd nach mir beschäftigt. Nebenbei hatte ich Light beinahe einen Gefallen getan: Durch mich hatte er noch so lange wie möglich mit seinen wahren Erinnerungen leben können. Wiederbekommen würde er sie, wenn es nach mir ginge – was es bisher Gott sei Dank tat – nämlich nicht. Nie mehr.

Ich lehnte an einer der beiden halbhohen Säulen, die das Tor an den Angeln festhielt. In meinen Ohren tickten die Sekunden. Das nervenaufreibende Geräusch schien immer schneller und schneller zu werden. Die Welt um mich herum verblasste, stattdessen sah ich nur noch eine weiße Uhr, die aus dem farblosen schwarzen Hintergrund heraus stach. Der Zeiger rannte weiter, ohne Unterbrechung. Würde er sich noch weiter drehen, würde er womöglich aus der Halterung fallen. Doch das tat er nicht. Stattdessen wurde er noch schneller und schneller. Dann, auf einmal, hielt er an. Kein Laut war mehr zu hören. Genau auf der Zwölf stehend verweilte das Bild vor mir. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann fing das Ticken wieder an. Doch der Zeiger bewegte sich nicht. Träumte ich etwa?

Ich schloss meine Augen und wunderte mich für einen Moment. Als ich sie wieder aufschlug, war meine seltsame Einbildung verschwunden. Trotzdem ging das Ticken weiter. So als ob es einfach nicht aufhören wollte, egal aus wie vielen Träumen ich aufzuwachen vermochte. Irritiert starrte ich den Boden an. Wie in Zeitlupe liefen ein paar Beine, mit dunklem Anzug bekleidet, an mir vorbei. Gleichzeitig hatte sich auch das Ticken verlangsamt. Lange Abstände prangten jetzt zwischen den einzelnen Lauten, die gemeinsam mit dem Auftreten der Füße ertönten. Direkt in meinem Blickfeld setzte die Person den Fuß auf. Und nach einem letzten ‚Klack’ lief die Zeit plötzlich normal weiter.

Erschrocken riss ich den Kopf hoch. Benommen ließ ich den Mann passieren, bis mir seine Ähnlichkeit mit meinem Opfer auffiel. Moment, dass war keine Ähnlichkeit…! Higuchi lief da gerade tatsächlich an mir vorbei!

Überstürzt und mit zittrigen Händen holte ich den Zettel aus der Hosentasche. Dabei riss er an der einen Seite leicht ein, so heftig hatte ich reagiert. Mit einem Stift aus meiner Jackentasche setzte ich auf das Papier auf. Tief durchatmen, ruhig bleiben. Du schaffst das, Akio!

Nun musste es schnell gehen. Mit viel Mühe kritzelte ich das erste der vier Zeichen aufs Papier. Higuchi war mittlerweile fast an der Ecke angekommen, bei der er auf dem Weg nach Hause in die rechte Seitenstraße einbog. Hastig schrieb ich auch noch die restlichen Zeichen aufs Papier. Ob das Death Note bei mir überhaupt funktionierte? Immerhin gehörte ich gar nicht in diese Geschichte. Was, wenn mein ganzer Plan deswegen nicht klappte? Saß ich dann hier auf ewig fest? Und warum zum Teufel hatte ich mir darum nicht schon früher Gedanken machen können?!

Die Sorge erwies sich allerdings als völlig unberechtigt. Ungeduldig wartete ich die schier ewig dauernden vierzig Sekunden ab, Higuchi bog schon fast um die Ecke. Noch ein paar Meter…

Auch mein Herz blieb für einen Moment stehen, als der habgierige Mann sich plötzlich an die Brust packte. Schockiert starrte ich ihn aus der Ferne an, obwohl ich ja längst gewusst hatte, dass es so kommen würde. Schlimmer noch, ich hatte es herbeigeführt.

„He, Sie da!“, rief ich eilig. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“ Selbstverständlich war die Frage vollkommen überflüssig. Für mich und für Higuchi, aber meine Umwelt schaute noch immer bei all meinen Taten zu. Das tat sie auch, als ich eilig auf den Zusammengebrochenen zu rannte: Ein paar Passanten schauten mich schief von der Seite an, wie ich dort auf dem Boden hockte und an dem schlaffen Körper herumrüttelte. Zwar wussten sie nicht, dass er schon längst tot und vor ihren Augen ermordet worden war, dennoch setzte sich keiner neben mich an den Wegrand um zu helfen. Oh Gott, gingen die etwa immer so mit ihren Mitmenschen um?!

Ich verstellte meine Mimik, so als ob ich voller Trauer um den Toten wäre. Panik musste ich nicht mit einbringen, die war schon von selbst vorhanden.

Mit zitternden Fingern tastete ich die Brust des Mannes ab. Flink stibitzte ich aus der Jackettinnentasche ein ganz gewöhnlich aussehendes, schwarzes Notizbuch und fischte anschließend im Rucksack herum, auf der vermeintlichen Suche nach einer Flasche Wasser, wobei ich das Buch unbemerkt in der Tasche verschwinden ließ. Nun griff ich nach der nebenbei gefundenen Flasche und zog sie aus der möglichst klein gelassenen Öffnung heraus. Nach dem zweiten Anlauf gelang es mir erst, den Schraubverschluss ab zu bekommen und tröpfelte etwas von der lauwarmen Flüssigkeit in Higuchis Mund. Trotz meiner schäbigen Bemühungen regte sich der Körper nicht. Oh, welch Wunder.

Endlich wagte ich es aufzustehen. Nun sollte auch für die Passanten um mich herum klar sein, dass der Mann dort am Boden tot war und man konnte mich nicht wegen unterlassener Hilfeleistung anklagen. Zumal ich ja sowieso schon auf der Flucht war und die Sache nur unnötig komplizierter gemacht hätte. Während ich mich ein Stückchen vom ‚Tatort’ entfernte, kramte ich mein Handy aus der Hosentasche. Mit einem kurzen Blick nach hinten vergewisserte ich mich, dass niemand plötzlich um die Ecke schießen würde, hinter der ich mich jetzt versteckte. Alibimäßig hielt ich mir das kalte Gerät ans Ohr. Im Notfall würde ich behaupten, die Polizei anrufen zu wollen, ohne dabei die Leiche anstarren zu müssen. Ein kleinen Moment der Angst verharrte ich an dieser Stelle, eine winzige Pause um mich zu beruhigen, dann noch ein weiteres Kopfdrehen und ich rannte los. Einfach weg, irgendwo hin. Dahin, wo man mich nicht direkt finden würde. Aber wo war das schon?
 

Letztendlich fand ich mich in einem kleinen Park wieder. Hinter den sattgrünen Bäumen prangten trotz Bemühungen und Anpflanzungen immer noch die Hochhäuser von der den Park umschließenden Stadt. Für meine innere Aufregung genau das Richtige. Womöglich wäre ich noch total depressiv geworden, wäre meine Umgebung nun zu ruhig gewesen. So schlenderte ich gerade zwischen den Bäumen, die in regelmäßigen Abständen auf beiden Seiten angepflanzt worden waren, über den hellbraunen Weg.

Ich hatte es tatsächlich getan. Einen Menschen umgebracht. Ich, Akio Noteshitsu, hatte einen Menschen umgebracht! Scheiße… Hatte ich wirklich so weit gehen wollen? …Jetzt war es zu spät.

Meine Situation verwirrte mich immer wieder aufs Neue. Mit einem meiner Sätze hatte ich nämlich voll ins Schwarze getroffen. Ich war Akio. Es jagte mir beinahe Angst ein, dass ich meine Rolle schon so sehr angenommen hatte. Trotzdem blieb es Akio, die einen Menschen umgebracht hatte. Und es war Akio, die weder Himmel noch Hölle betreten konnte. Galt das auch für Michelle? Waren Akio und Michelle ein und dieselbe Person? Ich verstand einfach gar nichts mehr. Je mehr ich unternahm, desto mehr Fragen taten sich auf. Wo war das Ende meiner Reise? Oder würde es erst mit meinem Tod zu Ende sein? Weder in Himmel noch Hölle – wo dann? Beide, und wirklich nur diese beiden Orte, bestimmten das richtige Ende, die Endgültigkeit. Doch kam der Schluss meiner Reise erst mit dem Tod, musste noch ein weiteres endgültiges Ende geben. Eines, das weder Himmel noch Hölle war. Eines, das man nur dann erlangte, wenn man einen Menschen mithilfe des Death Notes umgebracht hatte. Gab es neben den beiden noch einen weiteren Schluss? Ein richtiges Ende? Oder aber meine Reise würde noch vor meinem Tod enden.

Moment! Alles nacheinander. Higuchi war tot, also sollte das vorerst die gewöhnliche Reihenfolge etwas durcheinander bringen. Aber schließlich erfuhr Misa vom Death Note bei einem Vorstellungsgespräch von Higuchis Firma, Yotsuba. Wenn sie es dort nicht erfuhr, wo dann? Spätestens nach dem Ausgraben des Death Notes im Wald kämen ihre Erinnerungen zurück. Dann würde sie den Augenhandel noch ein weiteres Mal mit Ryuk machen und sofort L’s Namen eintragen, sobald sie ihn erfuhr. Da L kein Death Note bekommen hatte und würde, hatte Rem nie einen Grund ihn umzubringen. Also stellte nur noch das zweite Death Note eine Gefahr für ihn da… Ich musste es irgendwie in die Finger kriegen! Doch wo war es bloß vergraben? Im Anime war immer nur von einem Wald die Rede gewesen. Leider gab es in Japan mehr als nur einen Wald; immerhin waren etwa siebenundsechzig Prozent der Gesamtfläche Japans besiedelt von den dicht aneinanderliegenden Bäumen, Büschen und Sträuchern. Außerdem wurde nie genau erwähnt, wo Misa von Light hingeschickt worden ist. Wie kam ich nur an die richtige Stelle?

Hach, warum machte ich es mir nur immer wieder so schwer? Statt einfach mal ein bisschen nachzudenken und gleich die richtige Lösung zu finden… Selbst wenn ich den Ort nicht erfuhr, so musste sich Misa dort immer noch hin begeben. Einen Menschen hatte ich sowieso schon umgebracht, einmal noch Diebstahl mehr oder weniger machte auch keinen Unterschied mehr. Zumal es nicht einmal richtig gestohlen wäre, wenn sie sich nicht an das Gestohlene erinnert, oder?

Schreckliche Gedanken, die ich langsam entwickelte. Na ja, was hieß da langsam? Ich wurde mehr und mehr zu einem der Verbrecher, die Light so dringend eliminieren wollte. Ein Mörder, Dieb, Flüchtling und es würde mich nicht mal wundern wenn auch noch geistesgestört. Möglicherweise war all das ja nur meine Einbildung? Allein die Vorstellung, irgendwo in Deutschland in einer weißen Gummizelle zu sitzen und dass alles Geschehene nur Wahnvorstellungen gewesen waren, erschien mir angenehmer als die Tatsache, dass es real war. Allerdings war all dies zu detailliert, zu wirklich, als dass es nur Wahnvorstellungen sein könnten. Vielleicht eher ein Traum? Ein Albtraum, möchte man meinen. Eigentlich träumte ich nie etwas; also eine künstlich herbeigeführte Träumerei?

Nein. Wäre es nur Einbildung oder Traum, dann würde kein Blut an meinen Händen kleben. Es würde mir nicht dieser scheußliche Geruch von totem Fleisch in der Nase liegen. Mein Gewissen würde mich nicht so verschlingen wollen, mit spitzen Zähnen zerfleischen und qualvoll dahinvegetieren lassen. Dann wäre das alles nur ein vorübergehender Zustand, der ein Ende fand, sobald ich aufwachte. Aber ich würde nicht aufwachen. Und selbst wenn ich es letzten Endes doch tat, so würde sich der Traum mit grauenvoller Genauigkeit in meinem Gedächtnis festgebrannt haben – zusammen mit dem Fluch der Schuld, solche Dinge auch nur geträumt zu haben. Und umherlaufen könnte ich nur mit dem Angst einflößenden Hintergedanken, ob nicht doch eines der Ereignisse tatsächlich passiert war.

Viele Philosophen hatten früher behauptet, jedenfalls laut unserem Lehrer, dass man nichts wissen konnte, außer dass man selbst existierte. Denn wenn man nicht existieren würde, könnte man nicht darüber nachdenken, ob man es tat. Nun konnten die Augen uns täuschen, so wie auch alle anderen Sinne. Ohne diese blieben uns nur noch unser Inneres, unsere Gedanken und unsere Seele. Doch wurden nicht auch diese Dinge durch das Handeln und Denken von uns und anderen bestimmt? Schottete man sich von der Umwelt ab, blieb vermutlich nur noch Leere. Ein unbeschriebenes, weißes Blatt. Ein Leben ohne Vorgeschichte, Gegenwart und das stetige Wiederholen von Nichts.

In diesem Augenblick verstand ich exakt, was all diese Schüler quälenden Schwachköpfe aus der Vergangenheit damit gemeint hatten. Ich war die Person, die ich sein wollte. Entweder ich akzeptierte meine bisherigen Handlungen oder ich musste etwas durch weitere Handlungen ändern. Und wenn ich meine Taten, ob ich sie nun für gut oder schlecht hielt, als abgeschlossen betrachtete und nicht weiter daran rumrüttelte, hatte ich ein Teil von mir Selbst geformt.



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Chicha
2013-12-01T16:56:55+00:00 01.12.2013 17:56
Hallo :)

Mehr oder weniger zufällig bin ich gerade über dein Hörspiel und diese Geschichte hier gestolpert. Normalerweise bin ich sehr skeptisch, wenn man sich neue Figuren in eine Geschichte hinein denkt bzw. insbesondere dann, wenn man jemanden quasi in einen Anime hineinfallen lässt. Das artet leider häufig zu einer Mary Sue aus, aber bei dir finde ich die (wahrscheinliche) Hauptfigur in ihren Grundzügen bisher ziemlich realistisch.
Dein Stil ist außerdem sehr angenehm zu lesen. Besonders der Beginn deines Prologs ist wirklich klasse. Als Hörbuch kommt dieser Anfang natürlich noch besser zu Geltung. Allerdings hast du da manchmal ein bisschen zu schnell gesprochen. Aufgrund deiner natürlichen Sprachmelodie konnte man trotzdem gut folgen. :)
Liebe Grüße Franzi
Von:  Medusa90
2013-09-23T07:07:56+00:00 23.09.2013 09:07
Hey ich finde die FFecht cool und habe auch dein Annfang vom Hörspiel davon gehört. Mich würde es freuen, wenn du da weiter machen könntest. Du kannst das nämlich richtig gut und das macht das ganze noch spannender :-)
Gruß Medusa


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