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Winterfreude - Winterschmerz

[RotG] Adventskalendertürchen 3
von

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Wintereinbruch

Es gibt diese Zeit im Jahr, wenn der Herbst sich dem Ende zuneigt, diese Zeit, in der die Nächte immer kühler werden und zu der des Morgens Eisblumen an den Fensterscheiben wachsen. Und jedes Jahr zu dieser Zeit sehen viele Kinder jeden Tag, sollten sie Zeit entbehren können, zum Himmel hinauf und fragen sich sehnsüchtig, wann es denn nun endlich schneit.

Denn selbst, als man die unbarmherzige Kälte des Winters noch fürchtete, hatte der Schnee doch diese besondere Faszination, wenn er durch eine dichte Decke Dörfer, Wiesen und Wälder in ein Märchenland verwandelte.

Und fraglos gab es viel Spaß, den man – gerade als Kind – in diesem Märchenland erleben konnte.

Genau für diesen Spaß stand er – Jack Frost. Denn seine Aufgabe war all das, was man als Kind im Schnee machen konnte. Er stand für wilde Schneeballschlachten, Schneeengel, Schneemänner und für wilde Schlittenfahrten. Genau so, wie er vielleicht auch dafür stand, wenn ein Erwachsener vollkommen unfreiwillig auf dem glatten Eis ausrutschte und unsanft landete.

Nun, vielleicht hat es früher auch noch andere Scherzbolde gegeben, die dasselbe verkörpert hatten, doch zumindest solange Jack sich erinnern konnte, war all dies das einzige, was er je gemacht hatte. Was er gemacht hatte, seit er vor beinahe hundert Jahren an jenem See erwacht war.

So war nun wieder jene Zeit des Jahres gekommen und wenn Jack vollkommen ziellos und unsichtbar für die Augen der Menschen durch die Lüfte flog sah er immer wieder Kinder, die zum Himmel hinauf sahen und auf den Schnee warteten. Kinder im Norden von Europa, genau so wie im Norden Amerikas und manchen Regionen von Ländern wie China und Russland. Und ab und an, wenn ihm danach war, tat er ihnen den Gefallen und sorgte dafür, dass weiße Flocken von den Wolken hinabrieselten. Manchmal waren es dicke und flauschige Flocken, manchmal feine Flöckchen, doch immer sahen ihnen die Kinder mit leuchtenden Augen entgegen.

Jack mochte das Lachen der Kinder, wenn sie versuchten die Flocken mit ihren Händen zu fangen, auch wenn diese sofort schmolzen. Er mochte es, sie beim Schneemannbauen und bei ihren Schneeballschlachten zu beobachten, doch er konnte nicht umher immer diesen bitteren Geschmack dabei auf seiner Zunge zu spüren.

Niemand konnte ihn sehen. Er konnte Schneebälle werfen, Schneemänner bauen und mit seinem Wind die Schlitten an Fahrt gewinnen lassen, doch niemand sah ihn dabei. Er war wirklich vollkommen unsichtbar – weil niemand an ihn glaubte.

Ja, er hatte Geschichten gehört. Geschichten, in denen jemand wie er vorkam. Ein Vater Frost, von denen sie in Russland erzählten. Doch es waren bloß Märchen. Märchen, die selbst für Kinder nur eine geringe Bedeutung hatten. Auch von einem Jokul Frosti hatte er gehört, doch auch dieser war kaum mehr als eine halb vergessene Legende.

Wie konnte er überhaupt jemanden dazu bringen, an ihn zu glauben, wenn doch niemand auch nur seinen Namen kannte?

Doch diese Gedanken ließ Jack sich nicht anmerken, wenn er Kindern Schneespaß gönnte und Erwachsene die Winterkälte verfluchen ließ.

„Es schneit! Es schneit!“, jubelten zwei junge Mädchen und rannten hinaus, kaum hatten ihnen ihre Mütter ihre groben Wintermäntel übergezogen. Eines der beiden hatte nicht einmal an ihre Handschuhe gedacht, ehe sie losgelaufen war.

Auch andere Kinder des Dorfes liefen in den Schnee heraus, auch wenn einige Eltern protestierten.

„Du wolltest mir doch mit dem Feuerholz helfen, Archie!“

„Bleib drin, Mary-Anne, du erkältest dich noch.“

Doch wenn die Eltern nicht selbst kamen um ihre Kinder zurück ins Haus zu holen, waren alle Rufe vergeblich, sobald die Kinder die Schneeflocken sahen.

Zufrieden betrachtete Jack die Kinder, die nun versuchten seine Schneeflocken zu fangen oder versuchten das Eis in einer Pferdetränke zu brechen. Noch reichte die dünne Schneedecke nicht für Schneebälle oder anderes, doch auch das würde sich spätestens am nächsten Tag geändert haben.

„Jetzt pass doch auf, Gus“, meinte ein bereits etwas älteres Mädchen, als ein Junge, der vielleicht ihr kleinerer Bruder war, auf einer gefrorenen Pfütze ausrutschte.

„Nichts passiert“, grinste der Junge ihr entgegen und sah gleich wieder aufgeregt den Schneeflocken entgegen. „Wenn es schneit kommt der Nikolaus bald! Nicht wahr, Lis?“

Seine Schwester schüttelte den Kopf. „So ein Blödsinn. Bis Weihnachten ist es noch lang. Und wenn du nicht brav bist...“ Sie brach ab, denn ihr Bruder hatte einige andere Kinder seines Alters gesehen und lief nun zu ihnen hinüber.

Die Lippen zu einem Schmollmund verzogen nickte Jack, der auf einem der mit groben Tafeln bedeckten Dächer. „Bis Weihnachten ist es noch ewig“, meinte er empört. „Und der Weihnachtsmann bringt nur einmal im Jahr Geschenke!“ Er ließ sich nach hinten fallen und rutschte das Dach hinunter, ehe er sich vom eisigen Nordwind fangen ließ und empor gen Himmel flog.

Was war eigentlich so toll an Weihnachten oder St. North? Ein paar Geschenke einmal im Jahr... Als ob daran etwas besonderes war!
 

Doch unabhängig davon, wenn Jack den ersten Schnee brachte – ja, selbst wenn er sich schon im September dazu entschloss – so redeten vielerorts die Kinder schon von Weihnachten und dem Nikolaus. Eine Gelegenheit die Eltern, Tanten und Großeltern nutzten um sie zu ermahnen, brav und artig zu sein.

Und kaum wäre Weihnachten vorbei, würden sie vom Osterhasen reden...

Auch in den nächsten Tagen ließ Jack es in einigen Regionen Russlands, in Frankreich und Britannien, in Schweden, Norwegen und auch in Kanada, sowie im Norden der eigentlich noch recht neuen vereinigten Staaten von Amerika schneien und sah ab und an, wenn ihm danach war, den Kindern beim Spielen zu.

Manchmal blieb er dort, auf einem Dach oder im Geäst eines Baumes, bis die Eltern ihre Kinder zum Essen hineinriefen und es langsam dunkel wurde.

Und während langsam ein halbvoller Mond am Himmel erschien, lehnte sich Jack gegen den Stamm eines Baumes und sah zu dem silbrig glitzernden Himmelskörper hinauf.

Wie beinahe jede Nacht sah er zum Himmel hinauf, sah zum Mond und fragte ihn, warum er hier war. Denn er war sich sicher, dass der Mond – oder besser gesagt der Mann im Mond – die Antwort wusste. Ja, er war sich sogar ziemlich sicher, dass er überhaupt wegen ihm hier war. Doch warum? Er wartete schon so lang, so viele Jahre schon, und hatte nie eine Antwort bekommen. Nur eins hatte der Mann im Mond ihm gesagt: Dass sein Name Jack Frost sei.

Jack hätte nicht sagen können, wie viel Zeit verging, während er zum Mond hinaufblickte, zumal Zeit für ihn keine all zu große Rolle spielte, doch es war letzten Endes eine besorgte Stimme, die ihn aus diesen Gedanken riss.

„Jerry? Jeremiah?“ Es war die Stimme einer Frau, die einsam durch das nächtliche Dorf halte.

Nun hörte Jack einen jungen Mann: „Wo steckt der Bengel schon wieder?“

Die Stimmen kamen von einem der größeren Häuser, vor dem Jack, nun, da er sich umsah, zwei Gestalten mit einer Laterne sehen konnte.

„Jeremiah!“, rief die Frau, offenbar eine Magd, erneut, ehe sie sich dem Mann zuwandte. „Ich habe ihn seit dem Mittagessen nicht mehr gesehen.“

Leise fluchte der Mann. „Schon wieder...“

Für einen Moment schwiegen sie beide, doch dann griff die etwas rundliche Magd das Tuch um ihren Kopf, dass bis über ihre Schultern fiel, enger. „Es wird kalt werden, heute Nacht. Wenn er noch lange da draußen bleibt, holt er sich den Tod.“ Sie warf dem jungen Mann neben sich, der vielleicht gerade zwanzig Winter alt war, einen Blick zu. „Wir sollten ihn suchen gehen.“

Der Mann jedoch legte ihr eine Hand auf die Schulter. Schweigend schüttelte er den Kopf. „Warten wir noch etwas“, sagte er dann. „Bevor wir uns selbst in die Kälte begeben...“

„Aber, junger Herr“, wollte die Frau protestieren, doch der Blick ließ ihn verstummen.

Jack schwebte zu ihnen hinüber und sah durch die Fenster in das Haus hinein. Er konnte ein Wohnzimmer sehen, in dem das Feuer in einem Kamin hell loderte und zusammen mit einigen Kerzen Licht spendete. In diesem saßen zwei weitere Mägde, die beide mit Näharbeiten beschäftigt waren, so wie zwei Burschen, von denen einer etwas in der Nähe des Feuers schnitzte. Auch sie schienen für die Herren dieses Hauses zu arbeiten, doch konnte Jack niemanden, bis auf den jungen Mann, der nun mit der dritten Magd wieder hinein kam, und ein junges Mädchen, dass neben dem Kamin las, erkennen, der zur Herrenfamilie gehörte.

Das Mädchen sah nun von ihrem Buch aus. „Ist Jerry schon wieder draußen geblieben?“, fragte sie in besorgtem Ton.

Der junge Mann nickte nur schweigend.

Daraufhin drückte das Mädchen ihre Lippen zusammen und sah zu ihm auf. „Darf ich ihn suchen gehen, Zach?“

Der Mann zog seine Augenbrauen zusammen. „Natürlich nicht. Du gehörst langsam ins Bett.“

„Aber ich weiß glaub ich, wo er ist“, meinte das Mädchen, deren braune Locken von einer Schleife zurück gehalten wurden, zurückhaltend.

„Dann sag es mir und ich werde ihn holen“, erwiderte der Mann.

Das Mädchen wich ihrem Blick aus, während nun alle fünf Bediensteten zu ihnen sahen.

„Was ist los, Maggy?“, fragte nun die Magd und sah sie besorgt an.

Heftig schüttelte das Mädchen den Kopf. „Ich darf es nicht sagen.“

Die Erwachsenen tauschten vielsagende Blicke und Jack, der noch immer vor dem teilweise beschlagenem Fenster stand, fragte sich, worum es ging.

Er fragte sich, wo die Eltern der Kinder waren, denn er ging davon aus, dass der junge Mann wohl eher der ältere Bruder des Mädchens war, das er auf vielleicht elf oder zwölf Jahre schätzte. Doch das Haus schien kein einfaches Bauernhaus zu sein, vielleicht arbeitete der Vater anderswo oder hatte noch andere Häuser. So etwas schien es nicht selten zu geben.

Schließlich wandte er sich ab. Letzten Endes ging es ihn nichts an. Er schüttelte den Kopf und schwebte in die Luft empor, hörte den Wind in seinen Ohren rauschen. Doch gerade, als er einige Meter über den Bäumen schwebte, die das kleine Dorf umgaben, fiel sein Blick auf etwas anderes.

Da waren Spuren im Schnee, die vom Dorf hinweg und zum Wald hin führten, der zur westlichen Seite des Dorfes lag. Und ohne genau zu wissen, warum er es tat, folgte er diesen Spuren und flog schließlich tiefer, als sie in den Wald hinein führten, der zwar groß, am Rand jedoch licht genug war, als dass genug Schnee lag, in denen weiterhin Spuren zu sehen blieben.

Die Gegend war Hügelig und auch im Wald hob und senkte sich der Boden, fiel an einigen Stellen sogar für zehn, elf Fuß steil genug ab, dass dort weder Bäume noch Büsche wuchsen.

Die Spuren, die die von recht kleinen Stiefeln und die eines Schlittens waren, führten an eine dieser Stellen, an der ein besonders großer und alter Baum stand, dessen kahle Äste beinahe skelettartig in den Nachthimmel ragten.

Der Schlitten, dessen Spuren Jack gefolgt war, war an einen Ast gebunden. Es war ein schöner, flacher Schlitten aus Holz, wie man sie aus Europa hinüber gebracht hatte. Doch auch die Fußspuren fanden ihr Ende an diesem Baum.

Jack brauchte nicht lang, um ihren Besitzer zu finden, da die Gestalt des Kindes gut im Licht des Mondes zu erkennen war. Die blasse Haut des Jungen schimmerte weiß, während er auf einem der breiteren Äste weiter oben im Baum saß, die Beine an sich gezogen, und den Blick gen Himmel gerichtet.

Wie Jack zuvor sah der Junge zum Mond, ganz so, als wartete auch er darauf, dass er ihm eine Frage beantwortete. Doch wie auch Jack, schien er vergeblich zu warten.

Der Junge war nicht viel älter, als das Mädchen in dem Haus – Maggy – allerhöchstens dreizehn und in seinen Augen spiegelte sich Einsamkeit.

Vorsichtig landete Jack am Ende des Asts und ging in die Hocke. „Du bist Jerry, oder?“

Auf seine Frage bekam er keine Antwort. Natürlich nicht, denn auch dieser Junge konnte ihn nicht sehen. Er glaubte nicht an ihn und hatte wahrscheinlich nicht einmal von ihm gehört. Ja, er war wahrscheinlich sogar bald aus dem Alter aus, an dem er an North oder den Osterhasen glaubte und würde vielleicht schon bald seinen letzten Milchzahn verlieren.

Wie das Mädchen, das wahrscheinlich seine Schwester war, hatte der Junge braunes Haar, von denen jedoch nur wenig unter der dicken Fellmütze, die er trug, hervorlugte. Einzelne beinahe komplett verblasste Sommersprossen waren auf seinen Wangen zu erkennen. Er trug einen dicken umhangartigen Mantel und dicke Winterkleidung, die nicht annährend so fein wirkte, wie die Kleidung seiner Schwester, was nicht zuletzt an der dicken Dreckschicht lag, die Hose und Stiefel verkrustet hatte.

Jack seufzte und setzte sich hin. Er ließ seine Beine vom Ast baumeln und sah zu dem Jungen hinüber. Auch wenn dieser ihn nicht hören konnte, sprach er schließlich weiter: „Weißt du, deine Familie sucht nach dir. Ich würde langsam zurückgehen, sonst bekommst du noch Ärger. Außerdem wird es noch kälter werden, heute Nacht, weißt du?“

Der Junge ließ ein schweres Seufzen hören, wobei ein dichter Schwaden kondensierten Atems von seinem Mund aufstieg. Er wandte den Blick vom Himmel ab und sah in die Richtung des Dorfes hinüber. Noch einmal seufzte er und ließ seine Beine schließlich zu beiden Seiten des Baums hinabgleiten. Offenbar bemerkte er nun endlich, dass es spät wurde.

Er streckte sich und machte sich daran, den Baum hinab zu klettern.

„Du wirst vernünftig, nicht?“, meinte Jack und schwebte neben Jeremiah.

Der Junge schien vom langen Sitzen steif zu sein und rutschte mehrfach beinahe auf den teilweise mit einer dünnen Eisschicht überzogenen Ästen aus.

Jedes mal streckte Jack reflexartig seine Arme aus, um den Jungen zu fangen, nur um jedes Mal aufs neue zu merken, wie seine Finger einfach durch diesen hindurchglitten. Er konnte ihn nicht einmal berühren.

Gerade als der Junge nur noch etwas mehr als fünf Fuß vom Boden entfernt war, hörte Jack etwas in nicht all zu großer Ferne, dass ihn aufschrecken ließ. Es war ein tiefes Knurren.

Auch der Junge schien etwas gehört zu haben, schien dies jedoch nicht genau einordnen zu können. Zwar sah er sich kurz um, jedoch kletterte er dann weiter.

Jack hingegen schwebte etwas hinauf, um zu sehen, woher der Laut gekommen war. Sie waren noch am Rande des Waldes und da der Winter erst wenige Tage andauerte zweifelte er, dass in dieser Gegend Wölfe waren, da sich diese meist von Dörfern fernhielten. Doch gerade als er einige Fuß über den Baumgipfeln begann sich umzusehen, lenkte ein kurzer Aufschrei seinen Blick wieder zu dem Jungen, der nun unfreiwillig den kurzen Hang am Ende des Berges herunter schlitterte.

Offenbar war er nun doch gestürzt.

Obwohl er genau wusste, dass er nicht das geringste tun konnte, flog Jack zu dem Jungen hinunter, der sich gerade wieder aufrappelte. Da griff er auf einmal erschrocken an seinen Kragen, ehe er sich beinahe panisch umsah.

Für einen Moment sah Jack den Jungen fragend an, ehe ihm etwas dunkles, dass zu Wurzel des Baumes im Schnee lag, auffiel.

Er hob es auf und sah es an. Es war ein Medaillon, in dem ein seltsames Bild von dunklen Blumen zu sehen war. Er wusste nicht, was es darstellen sollte, doch es schien dem Jungen wichtig zu sein, weshalb er es nur zwei Fuß von Jeremiah entfernt in den Schnee fallen ließ. Zwar war die Kette, an die es wahrscheinlich gehörte, gerissen, doch dafür würde sich wahrscheinlich ein Ersatz auftreiben lassen.

Die steifen in Handschuhe gehüllten Hände des Jungen fanden schließlich den harten Gegenstand und schlossen sich fest um ihn.

Jerry hob das Medaillon auf und sah es erleichtert an, ehe sich jedoch wieder derselbe ernste Ausdruck auf seine Züge lehnte, mit dem er zuvor den Mond angesehen hatte. Er drückte es an seine Brust. „Mama“, flüsterte er leise und schloss für einen Moment die Augen, ehe er es in die Tasche seiner Weste gleiten ließ und sicher ging, dass es nicht hinaus fallen konnte.

Da begriff Jack langsam, dass offenbar die Mutter der Familie gestorben war. Hatte der Junge den Mond danach gefragt? Hatte er ihn gefragt, warum dies geschehen war?

Doch gerade als Jerry sich aufrichtete, konnten sie beide ein neues Knurren hören und dieses Mal war es viel näher.

Jack sah zu den Bäumen am unteren Ende des kleinen Abhangs und erkannte nun eine Bewegung im Schatten.

Er schwebte vor den Jungen, dessen Blick nun auch ängstlich zu den Bäumen glitt, und erkannte nun einen Bären, der auf sie zukam.

Vorsichtig streckte Jack die Hand aus. „Hey. Hey, mein großer. Was machst du denn hier? Solltest du nicht schlafen?“ Normal reagierten Tiere auf ihn, konnten ihn sehen – wahrscheinlich, weil sie ihre Umgebung gänzlich anders wahrnahmen, als die Menschen.

Tatsächlich schien ihn der Bär zu sehen, doch alles, was er hören ließ, war ein weiteres, warnendes Knurren, während er die Zähne bläkte und erst zu Jack und dann wieder zu Jeremiah sah, der auf allen Vieren rückwärts versuchte von dem wilden Tier fort zu kommen.

Sicher hatte man ihn gewarnt, dass Bären gefährlich waren, wenn man in ihr Gebiet eindrang. Sie fraßen Menschen vielleicht nicht, doch das hinderte sie nicht daran sie zu töten.

Nun richtete sich der Bär auf und ließ ein noch bedrohlicheres Brüllen hören, was jedoch wenig brachte, da der Junge immer wieder am glatten und recht steilen Hang abrutschte, und es nicht – vor allem nicht in seiner Panik – schaffte, wieder zum Baum hinauf zu klettern.

Jetzt hatte Jack beide Hände vor sich gestreckt, wobei er in einer seinen Stab hielt. „Zurück, zurück, Großer“, sagte er besänftigend. „Sei ruhig.“ Doch der Bär schien nicht im geringsten daran zu denken, ruhig zu werden.

Erneut brüllte er und ließ ließ sich dann wieder auf alle Viere fallen.

Nun erhob Jack seine Stimme. „Zurück“, rief er und ein starker, eisiger Wind kam auf und blies dem Bären ins Gesicht.

Dieser schien verwirrt, weigerte sich jedoch noch immer, zurück zu weichen.

Da fegte eine noch stärkere Böe über sie hinweg und der Schnee zu Füßen des Bären gefror gänzlich. Noch ehe das Wildtier wusste, wie ihm geschah, wurde es vom Wind über das glatte Eis zurück gedrängt, so dass es auf einmal gar nicht mehr so angriffslustig wirkte.

Der Bär ließ ein Wimmern hören und wandte sich dann vorsichtig ab.

„Geh wieder schlafen, hörst du?“, rief Jack ihm hinterher und fragte sich, ob sie ihn wohl aus Versehen aufgeweckt hatten. Dann drehte er sich zu Jeremiah um, der ungläubig auf die glatte Eisfläche vor ihm sah.

„Wahnsinn...“, murmelte er. Dabei schien er nicht ganz zu wissen, was er denken oder fühlen sollte, bis er schließlich die Stirn runzelte. „Was war das?“

Jack seufzte leise. „Das war ich“, antwortete er, sich dessen bewusst, dass er genau so gut mit dem Baum hätte sprechen können. Er wirbelte seinen Stab durch die Luft. „Und dich bringe ich jetzt nach Hause, bevor du dich noch weiter in Gefahr bringst.“ Mit diesen Worten schwebte er zum Baum hinauf und löste das Seil des Schlittens, um diesen den Berg gleiten zu lassen.

Eine weitere Windböe beförderte Jeremiah, der gerade erst aufstand und so gar nicht wusste, wie ihm geschah, auf den Schlitten hinauf, der sogleich Pfad aufnahm.

Der Boden unter den Kufen des Schlitten vereiste, während der Wind dafür sorgte, dass er genug Fahrt aufnahm.

Dem Jungen blieb nichts anderes übrig, als sich so gut es ging festzuhalten. Und auch, wenn er zuvor wahrscheinlich einige Zeit gebraucht hatte, um den Baum zu erreichen, so sausten Bäume und Winterlandschaft auf dem Rückweg nur so an ihm vorbei, während Jack über ihm flog und den Schlitten mithilfe des Windes lenkte.

Nach nur kurzer Zeit schlitterte das Holzgefährt auf den Platz in der Mitte des Dorfes, wo Jack das Eis verschwinden ließ, so dass der Schlitten schnell zum Halten kam.

Jeremiah blieb auf diesem sitzen und starrte noch für einige Momente in die Luft vor ihm. „Das...“, stotterte er und überlegte. Er sah sich um, fast so, als würde er etwas suchen, stand dann schließlich auf, um mehr zu erkennen. Sein Blick wanderte zur Eisspur, die sie hinterlassen hatten, und er runzelte die Stirn. „Wie...“

Genau in dem Moment öffnete sich die Tür zum nicht allzu weit entferntem Haus seiner Familie und der junge Mann, den das Mädchen vorher Zach genannt hatte, kam mit der Laterne in der Hand hinaus. „Jeremiah?“, rief er in die Nacht und erkannte den Jungen.

Dieser schluckte. „Zacherias?“, fragte er kleinlaut.

„Was glaubst du, was du so lange da draußen machst?“, schimpfte sein älterer Bruder nun auf einmal. „Du holst dir doch den Tod!“

„Ich weiß...“, murmelte der Junge, nahm die Kordel an seinem Schlitten und ging mit dieser in der Hand auf die offene Tür zu.

„Jetzt beeil dich“, drängte ihn der Ältere ungehalten. „Wie siehst du überhaupt aus?“ Er sah an der schmutzigen Kleidung hinab. „Damit wir uns verstehen: Du bleibst in den nächsten Tagen drinnen und hilft Dorothy beim Haushalt.“ Nun, wo der Junge in seiner Reichweite war, griff er ihn beim Handgelenk und zog ihn zum Haus.

Jack folgte ihnen und beobachtete sie erneut durch das Fenster, während er vor diesem schwebte.

„Oh, Jerry“, rief das Mädchen aus, das offenbar doch noch nicht im Bett war und umarmte ihren Bruder ungeachtet dessen, dass sie so ihr eigenes Kleid mit Schmutz bedreckte.

„Wir haben uns Sorgen gemacht“, meinte die Magd und bückte sich, um ihm den Mantel abzunehmen. „Du solltest wirklich damit aufhören.“

„Ich weiß“, murmelte Jeremiah nur, dessen Gesicht Jack nicht sehen konnte.

Auf diese vielleicht etwas unerwartete Einsicht hin, schwiegen die Erwachsenen im Raum nur und wechselten einige Blicke.

„Du solltest dich waschen und dann ins Bett“, meinte Zach schließlich ernst, ehe er zu dem Mädchen sah. „Und du auch.“ Er seufzte. „Ich habe eurem Vater doch versprochen auf euch aufzupassen, bis er wiederkommt...“

„Es tut mir leid, Zach“, murmelte der Junge nun mit gesenktem Kopf, während die Magd ihm die Mütze abgenommen hatte und durch sein Haar strich.

Der junge Mann, dessen Haar ebenso braun war, wie das seiner Geschwister, sah den Jungen für eine kurze Weile an. „Los, ab ins Bett“, sagte er dann sanft und ohne ein weiteres Wort verschwanden die beiden Kinder zusammen mit der Magd aus dem Zimmer, während der Mann sich seufzend auf einen Stuhl sinken ließ.

Jack sah noch einen Moment zu ihm, ehe er am Haus empor schwebte und dann auf dem Dach landete. Erneut sah er zum Mond und stellte ihm wieder dieselbe Frage: Wer war er? Wer war Jack Frost? Und was war seine Aufgabe in dieser Welt?

Mit gesenkten Schultern schwebte er schließlich gen Himmel und stellte noch eine Frage, dieses Mal jedoch nicht an den Mann im Mond: Wie war es wohl, wenn man wusste, dass es jemanden gab, der auf einen wartete und sich Sorgen machte? Wie war es wohl vermisst zu werden?

Würde jemals irgendjemand Jack Frost vermissen, wenn der Winter früher oder später doch auch ohne ihn kam?



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Kommentare zu diesem Kapitel (7)

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Von:  Merkur
2012-12-25T00:22:03+00:00 25.12.2012 01:22
Das ist eine wirklich wundervolle Geschichte. Ich liebe es ja immer wieder, wie du es stets schaffst, die richtige Stimmung einzufangen und auch hier hast du das wieder wunderbar gelöst. Die graue, melancholische und leicht düstere Winterstimmung kommt einfach super rüber. Ich bin wirklich begeistert.
Was mir außerdem wahnsinnig gefällt ist, wie gut du Jack Frost getroffen hast. Man erkennt einfach keinen Unterschied zwischen dem Jack aus dem Film und deiner Interpretation und ich hatte beim Lesen die ganze Zeit das Gefühl, dass er all das genau so tun bzw. sagen würde.
Danke für diese tolle Geschichte *w*
Von:  Shizana
2012-12-19T15:03:55+00:00 19.12.2012 16:03
Eine sehr melancholische Geschichte, irgendwie, aber deswegen nicht minder schön. Sie passt wunderbar in die Winterzeit und du gibst dieses winterliche Gefühl auch durchgehend sehr gut wieder.
Ich denke, ich muss nicht noch große Lobesreden bezüglich deines Schreibstiles etc. schwingen. Auch ich muss widersprechen, dass mich die ganzen Details und auch die teils etwas verflochtenen Sätze in keinster Weise gestört haben. Es war nicht zu viel, nicht störend, eher sehr angenehm und man hatte sowohl eine schöne Kulisse als auch einen guten Einblick in Jacks Gedankenwelt. Verstrickt hast du dich auch nicht, nur selten hätte man den einen oder anderen Satz noch etwas einfacher schreiben können.

Wogegen ich aussagen muss, ist die Hoffnung bis zum Ende, dass der Junge Jack noch sehen könnte. Das hätte nicht in die Art gepasst, wie du die Geschichte von Anfang an geschrieben und emotional geleitet hast. Und ich bin sogar froh darüber, dass man sich wieder auf deinen Realismus diesbezüglich verlassen konnte. Es war eine angenehme Abwechslung, einmal etwas weniger Fröhliches zu lesen.

Leider falle ich auch aus der Reihe, dass ich nicht sagen kann, dass die Geschichte "perfekt" war. Sie war wunderschön zu lesen, flüssig und man konnte sich alles wunderbar vorstellen, aber nicht ganz fehlerfrei. Dir sind einige Fehlerchen unterlaufen, die nicht hätten sein müssen - dabei ist von allem etwas mit dabei. Gerne hätte ich dir einige Stellen mit aufgelistet, was ich auch schon begonnen hatte, aber zum einen erschien mir die Liste dann zu lang, um sie hier zu posten (und ich fühlte mich schon unbehaglich deswegen, weil ich nicht pingelig rüberkommen wollte, obwohl es nur deine schlimmsten Verbrechen gewesen wären), zum anderen hattest du bisher erwähnte Fehler auch noch nicht korrigiert und daher erschien es mir etwas witzlos. Aber wenn du noch einmal selbst aufmerksam über deine Geschichte liest, wird dir das meiste auch ohne mein Zutun auffallen. Da bin ich mir absolut sicher.

Ja, leider kann ich auch nicht sehr viel mehr dazu sagen. Aber ich würde die Geschichte auf jeden Fall sehr gerne nochmal in aller Ruhe und Entspannung lesen, nachdem du dich auf hartnäckige Fehlersuche begeben hast. Leider weiß ich nicht, wie "streng" man diesbezüglich zu dir sein darf. ;)


Ich freue mich schon sehr darauf, sie demnächst noch einmal zu lesen.

Alles Liebe
Shizana
Von:  Stubsii
2012-12-06T20:01:50+00:00 06.12.2012 21:01
Wow. Wirklich eine sehr schöne Geschichte und ich finde deinen Schreibstil wirklich sehr schön. Ich bins schon fast zu sehr gewohnt, dass in den Fanfictions die ich lese sehr viele fehler sind deshalb musste ich mich bei dir erst umgewöhnen. Alles so schön fehlerfrei. Und ich liebe traurige Geschichten. Gerade bei Jack. Man konnte sich richtig toll in ihn hineinfühlen. Ich hab zwar auch erwartet, dass der Junge ihn am Ende sehen kann, aber so ist es echt wunderbar. Vor Rise of the Guardians kannte ja eh keiner Jack Frost. Und selbst jetzt nicht.
Naja alles in allem wirklich wunder wunderschön. ♥

LG
Stubsii
Von:  Wolkenfee
2012-12-06T19:49:56+00:00 06.12.2012 20:49
Hallo!
Ich muss gerade mal sagen, dass es absolut passend ist, dass ich diese Geschichte gerade heute lese, denn hier hat es heut zum ersten Mal geschneit :)

Es war eine wirklich schöne Geschichte, sehr passend zum Winter. Hat mir wirklich gut gefallen, wie viele Details du beschrieben hast, und wie du Jacks Charakter ausgearbeitet hast. Seine Einsamkeit ist wirklich fühlbar und ich fand es sehr schön, wie er den Mond befragt.
Ich hätte übrigens auch damit gerechnet, dass ihn zumindest der Junge am Ende sehen kann, aber so gefällt es mir sogar besser. Es ist passender und ich mag einfach traurige Sachen.

LG, Fee
Re-✖✐✖
Von:  Kunoichi
2012-12-03T18:54:10+00:00 03.12.2012 19:54
Ich bin vollkommen begeistert! ^^ Ich finde, das ist eine Weihnachtsgeschichte, wie sie im Buche steht. Sowas würde ich abends meinen (nicht-vorhandenen) Kindern als Märchen vorlesen! xD
Dein Schreibstil ist klasse! Ich mag verschachtelte Sätze (mach ich ja selbst auch so xD") und die Art, wie du die Atmosphäre rüberbringst. Man war so richtig mittendrin! Fehler habe ich auch kaum welche gefunden.
Ich hatte zwar so gehofft, dass Jack zumindest am Ende einmal gesehen wird, was dann ja leider nicht so war, aber trotzdem war es eine wirklich ergreifende Geschichte! ^^
Lg, Kunoichi
Von: abgemeldet
2012-12-03T18:31:00+00:00 03.12.2012 19:31
Eine wirklich wundervolle Kurzgeschichte.
Ich bin auch begeistert von der Idee mit Jack Frost.
Im Gegensatz zu Lola finde ich es sehr gut, wenn man mehr Details erfährt. Natürlich sollte man dort dann aufpassen, dass es sich nicht zu sehr hinzieht, aber ich denke mal, dass es hier doch sehr gut angebracht war.

(Ein paar Tipps. Du hattest einmal im Satz "Erneut brüllte er und ließ ließ sich dann wieder auf alle Viere fallen." ein "ließ" zu viel.
Und dann noch im Satz "Du bleibst in den nächsten Tagen drinnen und hilft Dorothy beim Haushalt." beim Wort "hilfst" fehlte das "s". ;) nur mal kurz gesagt.)

Aber wie gesagt. Alles in allem war es wirklich wunderschön.
Zwar ein trauriges Ende (für Jack zumindest), aber dennoch sehr schön.

MfG
abgemeldet
✖✐✖
Von:  Lola
2012-12-03T12:05:10+00:00 03.12.2012 13:05
So, zu allererst muss ich sagen, dass ich mich an deinen Schreibstil erst gewöhnen musste. Teilweise waren die Sätze sehr verschachtelt, sodass man manchmal etwas durcheinander kam. Stellenweise waren mir die Beschreibungen auch etwas zu detailliert am Anfang. Es zog sich ein wenig.
Aber die Idee der Geschichte finde ich wirklich gut. Die Geschichte von Jack Frost kennen mit Sicherheit nur sehr wenige Leute. Seine Sicht der Dinge zu lesen und mit ihm zu fühlen, wie die Menschen ihn vergessen, bringst du gut rüber. Es was traurig zu lesen, wie er dem Junge zu Hilfe kam, aber dieser ihn nicht sehen konnte. Es ist sehr bewegen die Begegnung zwischen den beiden zu erleben. Das Ende war etwas überraschend für mich, da ich doch erwartet hatte, dass zumindest der Junge ihn sehen kann.
Ansonsten muss ich sagen, dass es eine sehr schöne Weihnachtskurzgeschichte ist.

Gruß
Lola ✖✐✖


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