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Vor dem Schnee

von

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"Drrr, cholodno, bljat'!"

Ankunft
 

Es gibt viel mehr alte Frauen als Männer. Eine Frau lenkt die Tram durch das Verkehrschaos und eine Frau kassiert die zwölf Rubel für die Fahrt von mir. Um mich herum sitzen Großmütterchen auf dem Weg zum Rynok. Es ist kalt, doch ich sitze über der Heizung, also verbrenne ich mir fast die Waden. Noch ist kein Schnee gefallen.

Die Tram bleibt mit einem Ruck stehen, alles quietscht und wackelt. Kurz darauf klingelt die Fahrerin aggressiv und lange. Hier benutzt man die Schienen gern als dritte Fahrspur. Ich drücke meine Wange gegen das Fenster und versuche im Gewimmel aus Fahrzeugen und Menschen etwas zu erkennen. Auf der anderen Seite der großen Kreuzung ist der Rynok. Vor und neben der Tram reihen sich weiße Marschrutkas ein, also müssen wir kurz vor der Haltestelle sein.

Ein paar Minuten später trete ich wieder an die frostige Luft, schiebe Menschen zur Seite –und dann ist der Weg frei, so plötzlich, wie er voll gewesen ist. Die Masse verläuft sich zwischen Plattenbauten. Ich rücke den Gurt meiner Tasche zurecht und gehe eine kleine Fußgängerzone entlang. Es wird immer ruhiger. Vor den grauen Gebäuden sitzen Babuschkas auf Bänken zusammen und halten das Gesicht in die letzten Sonnenstrahlen. Jungen in Einheits-Trainingsanzügen stolpern an mir vorbei, dicht gefolgt von einem verspielten streunenden Hund. Als ich wieder aufblicke, kann ich schon den Panzer sehen. Er steht auf einem künstlichen Hügel, das Rohr schräg in den Himmel gerichtet. Hinter ihm ein paar leere Fahnenmasten und einer der hässlichsten Plattenbauten, die ich kenne.

Yuriy sitzt auf dem Panzer. Seine Beine baumeln links und rechts des Rohres herunter. Ich lasse meine Tasche in den Staub fallen und sehe zu ihm auf. „Dobry den!“

„Da bist du ja endlich“, sagt Yuriy. Er greift mit beiden Händen nach dem Rohr und schwingt sich herunter. Sofort stürzen ein paar Kinder, die irgendwo gelauert haben müssen, an uns vorbei und nehmen das Denkmal in Besitz. „Warum hat das so lange gedauert?“

„In Berlin war Sturm“, antworte ich und ernte einen milde verwunderten Blick. „Was machst du in Berlin?“

„Ich habe ein paar Wochen bei den Majestics verbracht.“

„Ach was?! Seit wann verstehst du dich so gut mit den Spießern?“

Ich wende mich demonstrativ ab und mustere die Häuser, die uns umgeben. Zu meiner Linken steht ein flacher Anbau mit großen Fenstern. Darin stemmen breite Männer in Unterhemden primitiv anmutende Gewichte. Ich deute auf das Gebäude, das sich dahinter erhebt und von einem Baugerüst umgeben ist. „Ist das das Wohnheim?“ Yuriy nickt und ich kann mir ein Seufzen nicht verkneifen. „Und du bist sicher, dass bei euch kein Platz ist?“

„Ganz sicher. Boris schläft im Wohnzimmer, ich habe das Schlafzimmer und Sergeij das ehemalige Kinderzimmer. Du müsstest in der Küche schlafen.“

Wenn ich ehrlich bin, so klingt der Vorschlag mit der Küche besser als das Wohnheim, wo ich mich an Sperrstunden, Besucherzeiten und die Wachtiory im Flur gewöhnen muss. Scheiß internationale Etage. Und das alles nur, weil ich keine russische Staatsbürgerschaft habe.

„Sag mir noch mal, warum ich hier bin“, murmele ich.

„Du willst Werbung fürs Beybladen machen. Geld verdienen und so.“

„Verdammt.“

Yuriy klopft mir mit einem schadenfrohen Grinsen auf die Schulter. „Willkommen in Kaliningrad, molodec.“
 

Training
 

Am nächsten Morgen gehe ich auf dem Rynok Lebensmittel einkaufen. Die Luft ist glasklar und sticht ein wenig in die Haut, doch unter dem hohen Dach der Markthalle ist es wärmer. Ich schlendere ein wenig durch die Reihen, wo sich Obst und Gemüse türmen. Immer wieder erklingt eine verzerrte männliche Stimme aus Lautsprechern und wirbt begeistert für die verschiedensten Dinge. In einer Ecke riecht es durchdringend nach Fisch. Um mich herum Menschen, die man schon wieder vergisst, bevor man sie richtig gesehen hat. Gebeugte Mütterchen und Alte, die ihnen die Beutel tragen. Junge, braungebrannte Männer mit Handy am Ohr, die Touristen und Mädchen ansprechen, von letzteren aber wie selbstverständlich ignoriert werden. Ich kaufe noch einen Fünfliterkanister Trinkwasser und mache mich auf den Rückweg.
 

Der Kaffee ist schlecht. Ich sitze auf meinem Bett neben dem Fenster, das ich geöffnet habe, um die feuchte Luft aus dem Zimmer zu lassen, und umklammere die Tasse. Sie gehört zu dem bunt zusammengewürfelten Geschirrset, das ich hier vorfand. Zu viele Teller für das Besteck, aber ich habe sowieso nicht vor, Gäste zu empfangen. Yuriy und die anderen würden mich rigoros auslachen.

Mein Mitbewohner müsste bald ankommen. Alleine wohnt hier niemand. Ein russisches Studentenwohnheim ist wie ein europäisches Hostel. Kein Ort, an dem man lange bleiben möchte.

Korrigiere. Eigentlich ist die ganze Oblast kein Ort, an dem man lange bleiben möchte. Ein Fitzelchen Russland, das, mit ein wenig Gutmütigkeit gesprochen, mitten in Europa liegt. Die Bahnhofsuhren gehen nach denen in Moskau und obwohl Polen nur einen verdammten Katzensprung entfernt liegt, beträgt die Zeitverschiebung im Winter zwei Stunden. Wieder ein Beweis dafür, dass Zeit eigentlich nur eine von Menschenhand geschaffene Konstante ist.

Und, mal ehrlich, wirklich schön ist es hier auch nicht. Die Stadt ist ein wildes Gemisch aus ein paar ansehnlichen und vielen sozialistischen Gebäuden, im Zentrum reihen sich die Einkaufspassagen aneinander, die in den letzten zehn Jahren für Gott weiß wen aus dem Boden gestampft wurden. Die Sehenswürdigkeiten können nur durch Spendengelder gerettet werden und der Himmel wird von Oberlandleitungen in geometrische Formen geschnitten. Auf dem Land ist es trist, es gibt Wiesen und spärliche Wäldchen. Die Dörfer sind keine Dörfer, sondern winzige Ansammlungen von Häusern, die aussehen, als wären sie aus mindestens vier verschiedenen Gebäuden zusammengeflickt worden. Riesige tote Industriegebiete. Und dann dieser kranke Wald auf der Kurischen Nehrung, wo die Bäume so verkrüppelt wachsen, dass ihre Stämme Schleifen schlagen. Die offizielle Erklärung ist, dass ein Insekt die Bäume schädigt, aber es ist ein mehr oder minder offenes Geheimnis, dass hier mit Chemikalien Schindluder getrieben wurde.

Die Tür wird geöffnet und die plötzliche Bewegung in meinem Sichtfeld reißt mich aus meinen Gedanken.

„Drrrr, cholodno, bljat‘! Mach das verdammte Fenster zu!“

Ich blinzele. „Ivan?“

Soweit ich weiß, ist er in Moskau geblieben. Er besucht die anderen wohl ziemlich oft hier, aber aus irgendeinem Grund will er nicht herziehen.

Mit einem Tritt befördert der Kleine seinen Koffer nach drinnen und wiederholt noch einmal gereizt, dass ich das Fenster schließen soll. „Was machst du auf der internationalen Etage?“, frage ich, als ich mich wieder setze.

„Hab gefragt“, sagt er, „Hab gesagt, wir arbeiten am gleichen Projekt und so. Und ich hatte Kaffee dabei. Richtigen, meine ich, nicht so ein…“ Er beäugt meine Tasse mitleidig, „…Instantzeug.“

„Warum verschenkst du das gute Zeug denn?“, murmele ich und versuche, einen verzweifelten Unterton zu unterdrücken. Mit dem Instantgebräu würde ich es keine drei Tage aushalten. Doch Ivan hebt die Schultern. „Hab noch ne Packung. Wenn du lieb auf den Knien rutschst und bettelst, geb ich dir vielleicht was ab.“

Ich hebe eine Augenbraue und werfe ihm einen eindeutigen Blick zu.

„Yuriy hat gesagt, ich soll dich briefen“, sagt er unbekümmert und fängt an, Bettdecke und Kopfkissen auszuschütteln, „Das neue BBA-Center ist irgendwo am Prospekt Mira, da kommen wir von hier also ganz leicht hin. Morgen Vormittag ist die Pressekonferenz, am Nachmittag dann die Eröffnung und am Abend die Party. Was man so Party nennt…“ Wir sehen uns wenig begeistert an: Zumindest in diesem Punkt sind wir uns mal einig. „Übermorgen fängt dann der normale Trainingsbetrieb an.“

„Und es bleibt dabei, dass wir diese kleine Show morgen liefern und dann den Rest der Woche jeweils eine Stunde lang Exklusivtraining machen?“, frage ich und Ivan nickt.

„Okay…“ Ich reibe mir die Stirn. Ganz ehrlich, wenn die BBA nicht so viel dafür zahlen würde, wäre ich zu Hause geblieben.
 

Wir treffen die anderen am Nachmittag zum Training. Boris und Sergeij lachen mich wegen meiner Unterkunft aus und Ivan, weil er freiwillig auf meine Etage gezogen ist. Yuriy raunt mir jedoch zu, dass es Ivan wahrscheinlich lieber gewesen ist, sich mit mir abzugeben, als mit einem völlig Fremden. Dann boxt er mir gegen den Arm und fordert mich zu einem Match heraus.

„Was macht ihr Neujahr?“, frage ich über die Bowl hinweg, wo sich unsere Blades lustlos umkreisen.

„Saufen“, sagt Boris hinter mir. Ich sehe Yuriy an und der hebt halb-bestätigend die Schultern.

„Wisst ihr, Robert plant eine ziemlich große Party“, fange ich an, werde aber wieder von Boris unterbrochen: „Halt bloß das Maul, Hiwatari!“

Ich wende mich zu ihm um. „Willst du mir damit sagen, dass ihr allen Ernstes zufrieden damit seid, wenn ihr eure Zeit auf diesem Fliegenschiss hier verbringt, dessen größter Erfolg in den letzten Jahren der kleine Grenzverkehr war? Das hier ist nicht Moskau.“ Wahrscheinlich bin ich nur gefrustet, weil ich weiß, dass ich mit meinem Visum nicht über die Grenzen der Oblast verreisen kann. Der Vorschlag mit der Party war auch weniger als Akt der Selbstlosigkeit gedacht, eher als ein Versuch, die Jungs ein bisschen aus der Reserve zu locken. Sie sind steif wie Bretter.

„Es gibt einen Grund, warum wir jetzt hier wohnen“, sagt Yuriy und ich drehe mich wieder zu ihm. Dranzer gibt Wolborg einen herausfordernden Stoß. „Na welchen denn? Dass ihr jetzt Litauen und Weißrussland zwischen euch und Moskau habt und trotzdem noch auf russischer Erde steht? Reist doch einfach ganz aus…“ Ich kann gerade noch so ausweichen. Boris‘ Blade ist aus der Bowl gesprungen und zischt an meinem linken Ohr vorbei. Landet neben Wolborg und hilft diesem, auf Dranzer loszugehen. Ich nehme die Herausforderung gar nicht erst an, sondern lasse meinen Blade in meine Hand springen. Boris murmelt Beleidigungen, doch Yuriy sieht mich so ungerührt an, dass ich ihm Dranzer am liebsten ins Gesicht geworfen hätte. „Du kannst nicht leugnen, dass du das ausgeprägte Talent hast, die Leute binnen Sekunden auf die Palme zu bringen“, sagt er.
 

Park
 

Später gehen Yuriy, Ivan und ich am Oberen See spazieren. Es ist dunkel. Auf den Bänken sitzen Paare und Gruppen von Jugendlichen. Wir werden regelmäßig nach Zigaretten gefragt und Yuriy verteilt großzügig. Rauchen ist hier billig. Nur zu einem hübschen Mädchen sagt er, dass sie nicht rauchen sollte. Rauchen ist nichts für Mädchen. „Aber es ist in Ordnung, wenn du mit fünfzig an Lungenkrebs draufgehst, oder wie?!“, sage ich danach zu ihm, „Schon mal drüber nachgedacht, warum es hier so viele alte Frauen gibt, aber keine Männer?“ Er wirft mir einen seltsamen Blick zu. Scheinbar versteht er gar nicht, was ich meine –oder will es nicht verstehen.

„Du hast Boris heute ganz schön provoziert“, meint Ivan da.

„Na und?!“

„Oh, okay“, sagt er und schiebt die Hände in die Taschen, „Ich dachte nur, vielleicht könnte ich dich mal darüber aufklären, warum Boris dich beinahe mit Falborg enthauptet hätte.“

„Ich bitte dich, Vanja“, entgegne ich, „Nenne mir einen Zeitpunkt in unserem Leben, wo wir uns verstanden haben. Ich interessiere mich nicht für Boris.“ Und für eure kleinrussischen Probleme auch nicht, füge ich in Gedanken hinzu. „Ich will einfach nur so unkompliziert wie möglich diese Woche hinter mich bringen. Dann werde ich mein Geld nehmen, nach Japan fliegen und es für Dinge ausgeben, auf die ich schon seit Monaten spare.“

„Warum hast du nicht einfach einen anderen Job genommen?“, fragt Yuriy leise, „Die BBA hat ganz schön viele Stellen zu vergeben in letzter Zeit. Die meisten sind sogar besser bezahlt, als das hier.“ Ich sehe ihn an und wir messen uns eine Weile stumm. Von Yuriy habe ich erwartet, dass er versteht, warum ich hier bin. Ganz sicher nicht, weil ich Russland so vermisst habe. Ich war außerdem noch nie länger in Kaliningrad. Wollte nie hierher. Wir könnten an einem See irgendwo in Sibirien stehen, es hätte mich nicht weniger interessieren können.

-Um es kurz zu machen, es sind sehr wahrscheinlich irgendwelche nostalgischen Gefühle, die irgendetwas mit der Winterzeit zu tun haben. Sobald die Tage kürzer werden, fühle ich mich verpflichtet, nach den Blitzkrieg Boys zu sehen. Auch wenn sie mich nicht wirklich leiden können. Auch wenn ich sie nicht wirklich leiden kann. Wenn ich in meinem Leben etwas gelernt habe, dann, dass ein Team nicht einfach spurlos an einem vorrübergeht. Erst recht nicht, nachdem man die halbe Kindheit mit ihm verbracht hat.

Yuriy wendet den Blick ab. „Verstehe.“ Und Ivan sieht fragend zu uns auf.

„Wir könnten uns trotzdem eine nette Zeit machen, oder?!“, sagt Yuriy, „Kaliningrad ist nicht so schlecht, wie es aussieht.“

„Oh ja, es gibt gute Schawarma“, entgegne ich sarkastisch, „Und die Wachtiory im Wohnheim sind allesamt sexy Biester, ich sag dir…shit.“ Beim Gedanken an die Wachtiory muss ich stehenbleiben. Yuriy und Ivan gehen noch ein paar Schritte, bis sie sich verwundert zu mir umdrehen. „Egal, was wir vorhaben: Ivan und ich müssen bis zwölf im Wohnheim sein, sonst kommen wir vor sechs nicht mehr rein.“

„Bist du Cinderella, oder was?“, sagt Ivan, „Wir können einfach durchmachen.“

„Durchmachen? Hier?“ Ich breite kurz die Arme zu einer allumfassenden Geste aus und lege maximale Skepsis in meinen Blick. Doch Ivan und Yuriy grinsen mich nur an.

„Budet noch‘ dolgaya…“, sagt Ivan.
 

PartiZan
 

Es geht dann alles ganz schnell. Kurz vor zehn flitzen wir noch in einen Laden und kaufen Alkohol („Ivan, lass das Starkbier stehen, anderthalb Liter, spinnst du, wer soll das trinken?!“ – „Hiwatari, ich will ordentlichen Wodka, Pyat‘ Ozer, Pyat‘ Ozer! Genau!“) und nach einer kurzen Fahrt in einer Marschrutka, während der der Fahrer es unglaublicher weise schafft, zwei Zigaretten zu rauchen, sitzen wir in der Wohnung der Jungs in einem Plattenbauviertel am Stadtrand.

Verdammt, wie bin ich nochmal hierhergekommen?

Die Wohnung ist etwas altmodisch eingerichtet, aber die Elektrogeräte sind allesamt neu. Boris zockt irgendein Ballerspiel vor dem Fernseher und wir anderen sitzen auf dem Sofa. „Eure Küche ist allemal besser als das Wohnheim, ich will hier schlafen“, sage ich, „Wo habt ihr die jetzt noch mal her?“ Yuriy deutet auf Sergeij, der mir kurz irgendeine Erbschaftsgeschichte erzählt. Wir trinken auf alles Mögliche, bis ich mich irgendwann frage, wie zum Teufel wir morgen die Eröffnungsfeier hinter uns bringen sollen. Wir werden komplett im Arsch sein. Boris beendet das Spiel und fragt nur ein paar Minuten später, ob wir weggehen wollen. „Ins PartiZan, lasst uns ins PartiZan gehen.“

„Dann zieh dir ein Hemd an“, brummt Sergeij und zupft an Boris‘ ausgeblichenem Bandshirt.
 

Dann sind wir unterwegs, laufen zu Fuß zur nächsten Tramstation. Es ist nochmal kälter geworden und ein wenig feucht. Könnte sein, die Pfützen frieren heute das erste Mal zu.

„Ganz ehrlich, ich möchte hier einfach nicht wohnen“, stelle ich noch einmal fest und verschränke die Arme in dem Glauben, dass mir dann etwas wärmer wird. „Diese Stadt ist einfach nur ungemütlich…“

„Hey, wir haben Festtagsbeleuchtung, die bald angemacht wird“, sagt Ivan, „Und auf dem Hauptplatz ist es auch schön mit den Brunnen. Die sind aber schon abgedeckt…“

„Ja, und der Lenin ist auch weg“, fügt Yuriy hinzu, „Seit zwei Jahren oder so. Da geht er hin, der Sozialismus.“ Und grinst sein Wolfsgrinsen. Wir kommen aus einer Nebenstraße auf den Prospekt Mira und sehen schon von weitem die Tram. Yuriy dreht sich zu Boris und Sergeij um, die etwas hinter uns zurückgeblieben sind. „Rebyat, davayte! Macht schon!“
 

Im PartiZan bezahlen wir dreihundert Rubel Eintritt und bekommen ein Freigetränk. Ich muss feststellen, dass die Bar nur fünf Gehminuten vom Wohnheim entfernt ist und ärgere mich ein bisschen. Wozu dann diese Weltreise durch die halbe Stadt?

Die Tanzfläche ist winzig, aber die Musik gut. Und es sind so viele Frauen da, dass niemand etwas gegen eine große Männertruppe, wie wir es sind, hat. Ivan ist schon betrunken genug, um zu tanzen, wir anderen landen an der Theke, was eigentlich ein Wunder ist, denn hier ist es chronisch voll. Yuriy raucht schon wieder.

„Kommt ihr oft hierher?“, frage ich und er nickt. „Hier ist es in Ordnung.“

„Und die Frauen sind schön“, fügt Boris hinzu, womit er nicht ganz Unrecht hat. Er rutscht von seinem Barhocker und geht in Richtung zweier Mädels, die auf einem niedrigen Tisch tanzen.

„Er wird eine Abfuhr bekommen“, sage ich.

„Wird er“, bestätigt Yuriy, ohne hinzusehen. Wir stoßen mit unseren Freigetränken an.

So vergeht die Zeit. Wir werden betrunkener und ich rauche die erste Zigarette seit langem. Die Musik wechselt von international zu russisch und Sergeij schlingt plötzlich rührselig den Arm um meine Schultern und singt mit. Die Leute auf der Tanzfläche auch. Dort ist Boris und umarmt eine schöne Frau, die ihn ansieht wie ein Raubtier seine Beute. Ein Stück weiter Ivan, der sich der singenden Menge angeschlossen hat. Yuriy verdreht die Augen und gibt dem Barmann ein paar Hundertrubelscheine.

Der Alkohol muss an den richtigen Stellen angekommen sein, denn ich finde es lustig. Es ist eine Mischung aus Ungläubigkeit und Wohlbefinden. Ungläubigkeit darüber, dass ich tatsächlich hier bin, auf diesem gottverlassenen Fleckchen Erde, zu einer Jahreszeit, in der man sich hier eigentlich nur noch erschießen kann. Wohlbefinden, weil das hier trotz allem ein stinknormaler Club ist, in dem man viel Geld lassen und seinen Spaß haben kann. Wie in Paris oder Rom oder London oder Berlin. Ich muss es wissen.

Mit einer kurzen Bewegung schüttle ich Sergeijs Arm ab. „Ich muss trinken.“
 

Platz
 

Auf der Tanzfläche entsteht plötzlich Unruhe. Irgendetwas geht zu Bruch und ein paar Mädchen schreien. Yuriy und ich drehen uns beinahe gleichzeitig um und bekommen noch gerade so mit, wie Boris von einem Zweimetermann eins auf die Fresse bekommt.

„Bozhe…“, seufzt Yuriy und steht auf, „Die Frau war also doch schon vergeben. Sergeij?!“ Ich rutsche ebenfalls von meinem Hocker und schließe mich den beiden an. Inzwischen sind auch die Türsteher auf der Tanzfläche. Sie zerren den Riesen von Boris weg und bugsieren beide zum Ausgang. Wir folgen ihnen, nachdem wir Ivan gefunden und erklärt haben, dass der Abend hier wohl gegessen ist. Beim Hinausgehen erhasche ich noch einen Blick auf die Uhr: Es ist gerademal drei.

„Großartig“, sage ich deswegen, als wir in der Kälte stehen. Ivan kommt mit unseren Jacken, die wir ihm schnell abnehmen. „Und jetzt?“, fragt er.

„Wir können ins Planeta…“, murmelt Boris, der eine Hand unter seine blutende Nase hält. Sein Vorschlag wird mit gehobenen Augenbrauen quittiert.

„Mit dir werden wir heute in keinen Club mehr reinkommen“, sagt Yuriy und deutet auf die roten Flecken auf Boris‘ weißem Hemd. „Mach die Jacke zu. Wir könnten wieder zu uns gehen.“

Ivan verzieht das Gesicht. „Da müssten wir jetzt ein Taxi bestellen. Und was wollen wir dann machen? Boris beim Zocken zugucken? Wir haben nicht mal mehr Suff über…“

In diesem Moment fühle ich etwas Kaltes auf meiner Hand. Kurz darauf auf meinem Gesicht. Ich lege den Kopf in den Nacken und blicke in den Himmel. „Leute…es schneit.“

Daraufhin erklingen vier verschiedene Flüche.

„Lasst uns zu Mc’n gehen“, sagt Boris gereizt, „Da ist es warm. Da gibt’s was zum Essen. Und es ist in der Nähe. Ja was?“, fährt er uns an, als er unsere Mienen bemerkt, „Ich hab Hunger.“

„Uns bleibt wohl nix anderes übrig“, brummt Sergeij.

Wir machen uns auf den Weg. Die winzigen Flocken werden nicht wirklich zu Schnee, sondern wirbeln durch die Luft wie zu großer Staub. Die Pfützen sind tatsächlich gefroren, während wir in der Bar waren. Als hätte die Kälte etwas damit zu tun, ist es viel stiller, obwohl hier und da noch Gruppen junger Leute unterwegs sind.

Als wir am Hauptplatz ankommen, stößt Ivan mir in die Seite. „Wer kommt mit mir und geht noch ein Stück? Ich hab wirklich keine Lust, rumzusitzen.“ Ich nicke ganz automatisch und merke, dass Yuriy sich uns anschließt. Boris und Sergeij gehen weiter in Richtung des großen gelben Ms, das auf der anderen Seite der Kreuzung leuchtet.

Der Platz hat seine eigene Schönheit. An seiner Stirnseite steht die weiße Kirche mit goldenen Kuppeln, die man jetzt im Dunkeln nicht sehen kann. Gleich daneben ein noch höheres Einkaufszentrum mit einem markanten roten Schriftzug. In der Mitte erhebt sich eine mächtige Siegessäule, und überall gibt es Brunnen, die jetzt jedoch abgedeckt sind. Der ganze Platz ist übersät mit altmodischen Laternen, die runde Leuchten aus Milchglas tragen. Ein kleines Meer heller Kugeln.

Wir gehen über den Platz und reden kaum. Ich denke über die kommenden Tage nach und über mein verkorkstes Verhältnis zu Russland. Vielleicht werde ich es schaffen, bis zum Ende der Woche nicht komplett durchzuknallen. Aber ich werde froh sein, wieder wegzukönnen. Ich weiß nicht, warum die anderen gerade hierhergekommen sind. Und vor allem, warum sie hierbleiben.

Wir setzen uns auf eine kalte Marmorumrandung und ich frage sie einfach.

„Ich weiß nicht, ich mag Moskau, trotz allem“, sagt Ivan, „Dort kannst du untertauchen. Und noch mal neu anfangen. Und ganz ehrlich…ich habe noch nicht so viel anderes gesehen. Das Land ist so groß…ich dachte mir, vielleicht fange ich erstmal damit an, bevor ich über die Grenzen gehe.“ Er hebt zum Ende die Schultern, aber ich denke, dass ich verstanden hab.

Yuriy zündet sich eine Zigarette an. Er spricht lange nicht und ich erwarte schon keine Antwort mehr, als sie doch kommt.

„Es ist das Land, Kai“, sagt er, „Du weißt, es ist dir schlecht hier gegangen. Du bist dir sicher, dass du weg willst. Und dann gehst du weg und bist doch noch da.“ Er fährt mit der Hand durch die Luft, als wolle er die ganze Oblast mit einer Geste einschließen. „Es ist wahrscheinlich doch nicht so einfach, wie man es sich immer denkt.“

„Hm“, mache ich und lasse den Blick wandern. Überall roter, polierter Stein, in schönes kaltes Licht getaucht. Und Frost in der Luft.

„Bleib doch bis Neujahr, Kai“, sagt Ivan, halb ernst gemeint. Ich brumme noch einmal und ziehe den Kopf zwischen die Schultern. Es ist kalt.

Ich habe Angst, dass dieses Land mich doch noch verschlucken wird.
 


 

„Dobry den.“ – „Guten Tag.“

molodec – hier: Junge

„Drrr, cholodno, bljat!“ – „Brrr, verdammt, ist das kalt!“

„Budyet noch‘ dolgaya.“ – „Es wird eine lange Nacht.“

Pyat Ozer – eine Wodkamarke

rebyat – wörtl. „Kinder“, als Ansprache für eine Gruppe von guten Freunden

„Bozhe…“ – „Mein Gott…“



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  FreeWolf
2016-02-17T09:21:31+00:00 17.02.2016 10:21
Oh, ich habe nicht kommentiert? Dabei habe ich diese Geschichte mindestens schon dreimal gelesen.

Kais Perspektive auf die Sache erinnert mich stark an einen Reisebericht - nicht wie Karl Marx, sondern eher etwas, was man in der Geo lesen könnte. Kompliment also für die Gestaltung! Ich finde das Verhältnis, das du zwischen Kai und dem russischen Team beschreibst, und das sich so ambivalent anfühlt wie ich es mir vorstelle zwischen ihnen, sehr gut getroffen. Auch die Bande im Team. Es ist irgendwie nachvollziehbar, dass sie zusammenbleiben, zumindest fürs erste, und dass Sergej mit seiner Erbschaft urplötzlich ein Haus hat. :D
Ich empfand die Stichworte zu Anfang der Prosastellen - z.B. "Park" - eher unnötig. Zugleich haben sie mich aber ein wenig an CSI denken lassen. Es hat nur ein Datum und eine Uhrzeit gefehlt. ;)
Ehrlich gesagt hast du mich neugierig auf Kaliningrad gemacht. Warst du selbst mal da?

Lg
Wolfi
Von:  SunnyBunny
2014-05-10T08:29:24+00:00 10.05.2014 10:29
Ich finde, du hast eine gute Weise, Wörter einzusetzen.
Mir gefallen deinen Sätze und deine Gedankengänge.
Es passt alles zusammen. Obwohl es eine so triste Umgebung ist, die du beschreibst, wollte ich immer wissen, wie es weitergeht. Du kreierst die Stimmung sehr sehr gut. Ich konnte mir alles gut vorstellen. Ich war schon mal kurz in St. Petersburg und hab da die Plattenbauten gesehen... So konnte ich mir das auch richtig gut vorstellen.
Man kann dir sehr gut folgen und Kais Gedanken nachvollziehen.
Vielleicht hab ich persönlich ein anderes Bild von den Blitzkriegboys, aber du hast mir deines sehr gut vermittelt.
Sehr schön. :D
Von:  whitePhobia
2013-01-10T18:48:44+00:00 10.01.2013 19:48
Wunderschöne Geschichte. An machen stellen klingt sie fast wie ein Reisebericht und man Kann sich kaliningrad bildlich vorstellen. Warst du schon mal dort?
Die Stimmung die du erzeugst ich echt der Hammer.

Von:  Lady_Emily
2013-01-03T19:29:23+00:00 03.01.2013 20:29
Hey,
ich finde so eine gut geschriebene Geschichte hat einen Kommentar verdient :)
Du schreibst sehr flüssg und detailliert, ich hab die Stadt praktisch vor mir gesehen ;)
Auch das Verhältnis der Charaktere finde ich ziemlich spannend, also: mach weiter so! :)



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