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1 - Die Quelle der Kraft


 

1 – Das erste Leben: Unko (Gallopa)

Die Quelle der Kraft

Als Nil die Augen wieder öffnete, war ihr so übel, dass sie am ganzen Leib zitterte. Sie lag mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken, die wirren Haare in alle Richtungen verteilt. Ihr rasselnder Atem hallte ihr in den Ohren wider, die Morgensonne blendete sie und die Last ihres eigenen Körpers drückte die auf den feuchten Moosboden. Sie war frei.

Langsam rührte sie die langen, weißen Finger, als habe sie gerade erst das Licht der Welt erblickt. Vor Erleichterung entfuhr ihr ein Freudenschrei. Es kümmerte sie nicht, wie lange sie das Bewusstsein verloren hatte oder wohin der Fremde verschwunden war. Sie würde ihn aus ihrem Gedächtnis streichen wie all die Erinnerungen, die sie verloren hatte, und diesen Ort für immer verlassen. Nach sieben endlosen Jahren.

Der Geruch des nassen Grases, die einzige Spur, die der Sturm hinterlassen hatte, wirkte wie ein Lebenselixier auf sie, sodass sie einen Versuch wagte, sich aufzurichten. Ihre Hände übten Druck auf den Boden aus, aber sie spürte ihn wie durch die Glieder eines Fremden, fern und durch einen Schleier aus dicker, bedrückender Luft. Weder ihre Finger noch ihre Arme wollten ihr recht gehorchen. Die Last ihres Körpers war zu schwer und so sackte sie wieder auf dem Boden zusammen.

„Verdammt“, fluchte Nil in sich hinein und vergrub ihre zitternden Hände im Moos. Sie rupfte einige Büschel aus und setzte dann erneut an. Dieses Mal biss sie die Zähne so fest zusammen, dass ihr der Kopf schmerzte, und hievte sich in eine unbequeme Sitzposition.

Sie lachte und in ihrem Lachen klang all die Verzweiflung mit, die sie in ihrer Gefangenschaft in sich hinein fressen musste, bis sie schließlich schrie und weinte. Der Wald wurde von ihrem markerschütternden Jaulen erfüllt, bis ihr alles schmerzte. Erst als ihr die Stimme versagte und sie durch das Zittern ihrer Hände wieder ins Straucheln geriet, beruhigte sie sich. Ein Ausdruck des blanken Hasses blieb auf ihrem bleichen, verdreckten Gesicht zurück. Sie spürte, wie jede Faser ihres Körper auf Vergeltung sann.

Eine Weile starrte Nil einfach regungslos in den Himmel. Ihre wundgeschriene Kehle brannte entsetzlich. Sie wusste, dass in der Nähe Wasser floss, denn das ferne Rauschen des Flusses hatte sie lange genug begleitet, um sie in den Wahnsinn zu treiben. Obwohl er keine hundert Schritte entfernt war, hatte sie ihn nie gesehen, nie aus ihm kosten können. Sie wusste weder wie er aussah noch wohin er führte. Jetzt war es an der Zeit, dieser Frage auf den Grund zu gehen und ihrem Durst nachzugeben. Nil bemühte sich zwar nach Leibeskräften, auf die Beine zu kommen, doch nach mehreren erfolglosen Versuchen schleppte sie sich einfach auf allen Vieren über den Boden. Nur mühsam gelang es ihr, das Gewicht ihres eigenen Körpers über das feuchte Moos zu hieven. Mehrmals rutschte sie ab und musste sich mühevoll wieder auf die Arme stemmen, bis sie schließlich vollkommen erschöpft das Ufer des Flusses erreichte. Er war kaum fünf Meter breit und von Felsen durchsetzt, die der Strom über Jahre hinweg spiegelglatt geschliffen hatte. Nil nahm in einer Felskuhle Platz und beugte sich zum Wasser. Langsam floss es an ihr vorbei, sodass sie ohne Mühe hineinlangen konnte. Als ihre Finger jedoch die Wasseroberfläche berührten, zog sie die Hand unwillkürlich wieder zurück, ohne so recht zu wissen wieso. Es war das gleiche Gefühl, das sie empfunden hatte, als der Fremde in ihrem Rücken stand. Trotzdem tauchte Nil die Hand wieder ein und schöpfte eine handvoll der kühlen Flüssigkeit in ihren Mund. Es tat so gut, dass sie erleichtert aufatmete. Immer wieder füllte sie ihre leeren Handflächen, nicht aber ohne vorher zusammenzuzucken, wenn sie das Wasser berührten. Sie fragte sich, ob ihr Körper schon immer so reagiert hatte, denn sie wusste instinktiv, dass es kein natürliches Verhalten war. Etwas in ihr wollte sich ihr widersetzen. Etwas in ihr weigerte sich.

Bevor Nil sich Gedanken darum machte, was mit ihr geschah, fiel ihr Blick auf die Gestalt, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelte. Es wurde durch die Bewegungen der Wellen verzerrt, aber war noch so klar zu erkennen, dass Nil erschrak. Ihr blickte eine junge Frau entgegen, deren weiße Haut zwischen Dreck und Matsch hervorblitzte, den selbst der Regen nicht hatte abspülen können. Gespenstisch leuchtende Perlen zierten ihre Kleidung, die zerfetzt und durchlöchert war. Das grüne Licht, das sie ausstrahlten, pulsierte mit ihrem Atem. Ihr langes, dunkles Haar stand in alle Richtungen ab und fiel ihr über die Augen, eines dunkel und schmutzig wie der Dreck in ihrem runden Gesicht, das andere weiß und tot. Sie blickte eine Fremde an, die jede ihrer Bewegung nachahmte. Sie wollte nicht begreifen, dass es ihr eigenes Spiegelbild war, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, wie sie vor ihrer Verbannung ausgesehen hatte. Aus den Worten ihres Retters schloss sie, dass diese Erscheinung das Endprodukt aus 108 Seelen war. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, wie diese Menschen alle in einen Körper passten und inwiefern sich dies zeigte. Für sie selbst war sie einfach Nil – das Mädchen, das sich an ihrem Peiniger rächen wollte. Auch wenn irgendwo in diesem Körper die Erinnerung an einen Menschen steckten, der einst nur sie selbst war, frei von den Einflüssen der Verbannung so vieler Seelen, wollte sie nichts davon wissen. Hier und jetzt war sie nur ein dreckiges Ungetüm, das man leicht für eine Waldhexe halten konnte, einen Dämon vielleicht oder eine wandelnde Leiche. Das ganze Ausmaß ihres Seins zu begreifen, war für Nil unmöglich. Der Gedanke daran, dass sie nie allein war, dass tief in ihr Kräfte miteinander rangen, die sie nicht kannte, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Ein Gefühl des Abscheus stieg in ihr auf, wenn sie ihr Abbild auf der Wasseroberfläche betrachtete und doch konnte sie die Neugier darauf, was sich wohl unter der Schicht aus Dreck verbarg, nicht kontrollieren. Sie gab schließlich dem Drang nach, ihr fremdes Gesicht zu ergründen und beschloss, sich zu waschen. Erneut beugte sie sich über die Felsen und tauchte diesmal ihren Kopf unter Wasser.

Sie bereute es sofort. Eiseskälte legte sich um ihre Wangen, füllte ihre Ohren, Nase und Lungen. Es war nicht das Wasser selbst, das sie erschaudern ließ, sondern das Gefühl der Ohnmacht und Abneigung, das ihr unter die Haut kroch. Sie versuchte sofort, sich wieder über die Oberfläche zu stemmen, doch ihr ganzer Körper hatte sich so stark verkrampft, dass sie sich nur unkontrolliert schüttelte und wand wie ein Fisch an der Leine. Strampelnd rang sie nach Luft.

„Hört auf!“, dröhnte es fern in ihr, „lasst mich in Ruhe!“

Verschwommene Bilder blitzen in ihrem Kopf auf. Die Stimme brannte zwischen dem Schmerz, der ihn an den Rand seiner Belastbarkeit trieb. Als Nil bereits glaubte, Verstand und Bewusstsein zu verlieren, spürte sie einen starken Ruck im Nacken und stolperte rücklings auf das Gras zurück. Hustend rang sie nach Atem, spuckte Wasserreste aus und bemühte sich, nicht wieder zusammenzusacken. Ihr war schwarz vor Augen, doch bevor sie sich nach ihrem Retter umschauen konnte, kehrten die Bilder in ihren Kopf zurück, jetzt deutlicher und nicht nur für einen Augenblick. Erst meinte sie zu sehen, wie sie selbst am Uferrand des Flusses kniete und beobachtete, wie die Wellen ihre Gesichtszüge verzerrten. Die Gestalt aber war kleiner und zierlicher als sie und strahlte so hell zwischen Gestrüpp und dunkler Erde hervor, dass sie ihrem Spiegelbild nicht unähnlicher hätte sein können. Das seine offenbarte das Gesicht eines schmächtigen, rothaarigen Jungen.

„Hört auf! Ich habe euch doch nichts getan!“, bettelte er mit seiner hohen, kindlichen Stimme. Um ihn herum waren dunkle Gestalten aufgetaucht, die ihn umkreisten und einengten. Nil sah sie auf sich zukommen, sie sah es wie durch seine Augen, die griffen nach ihr, drängten sie zurück, Schritt für Schritt, bis dass sie ins Wasser stürzte. Als die Bilder verschwunden waren, verstand sie.

„Hey Kleiner, du kannst mich hören, oder?“, presste sie keuchend zwischen ihren kalten, grünen Lippen hervor. Das Wasser hatte den größten Teil des Schmutzes von ihrem Gesicht gewaschen, sodass sie noch boshafter wirkten, wenn sie grinste. Schlammreste tropften von ihrem Kinn. Es war ein Lächeln des Triumphes.

„Ja, dich mein ich. Du bist ich. Ich bin du. Du bist ein Teil von mir und ich ein Teil von dir. Wir sind eins, ist es nicht so? Du vertreibst dir irgendwo da in mir deine Zeit und ich müh mich hie rmit diesem verkrüppelten Körper ab. Wir sind eine Existenz. Also hör mir jetzt gut zu. Wenn das wirklich alles stimmt, dann wirst du mir jetzt helfen.“

Etwas in ihr schrie und wehrte sich; ein kleiner Junge, dem man nicht nur einmal übel mitgespielt hatte.

„Ich kenne deine ach so rührende und traurige Geschichte nicht“, sagte Nil, „und eigentlich interessiert sie mich auch nicht im geringsten. Aber wenn du mir hilfst, kann ich dir etwas versprechen. Ich werde dich rächen. Dich und mich und uns.“

Die Bilder kamen so schnell, als hätte man einen Film in ihrem Kopf mit hundertfacher Geschwindigkeit abgespielt. Lachen und Schreie mischten sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm, der Junge rannte und rannte. Ehe sie begriff, was an jenem Ort geschehen war, war aus ihm ein flammender Blitz geworden, der durch die Ödnis jagte. Erst als er stoppte, konnte sie kurz in sein wutverzerrtes, zu früh gealtertes Gesicht sehen. Es war schön und beängstigend zugleich, wie sein langes, rotes Haar in der Mittagssonne leuchtete wie Feuer und mit dem Blut, das ihm am ganzen Oberkörper klebte, verschmolz. Das letzte, was Nil sah, waren die Augen, die auf den Mann gerichtet waren, das Gesicht, das ihn strafend anblickte, bereit ihm alles zu nehmen. Wieder sah sie es aus seiner Sicht. Vor ihr stand Cival.

„Dein Name ist Unko aus der Familie Galoppa von den Windfeldern. Du wurdest in den Spiritkern gesperrt und musstest sieben Jahre mit ansehen, wie Sonne und Wind gehen. Wir sind eins. Willkommen und danke für die Kooperation, wenn man das so nennen kann.“

Nil lachte, denn sie wusste, dass ihr Körper ihr nun gehorchen wurde. Der Fremde hatte recht, es brauchte nur die Erinnerung und das Bewusstsein über jene, die in ihr wohnten, und sie konnte sich die Fähigkeiten der Seelen zu eigen machen. Vielmehr war es sie, die über diese Existenz herrschte und niemand sonst. Sie stemmte sich problemlos auf die Beine, die sich fremd, aber stark anfühlten, und rannte.

Den Schatten aber, der im Nebel zwischen den Bäumen verschwand, sah sie nicht mehr.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen, auch wenn es noch ein wenig  trocken ist. :> Bis zum nächsten Mal, eure Milu. Komplett anzeigen

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