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Portrait der Sünde

Eine Geschichte aus Mr. Crawfords Haus im Nebel
von

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08. September

Ich kann kaum glauben, was ich mit eigenen Augen sah. Sie ist fort! Cherubinas Bilderrahmen war leer, als ich heute Morgen aufstand und noch schnell einen Blick auf sie werfen wollte, bevor ich aufbreche um Mrs. Finley zu besuchen. Nichts als weisse, unberührte Leinwand blickte mir entgegen. Wie kann das sein?

Ich weiss nicht, ob ich in der Lage sein werde, Mrs. Finleys Wunsch nach einem Portrait ihrer selbst für ihren wohl oft abwesenden Ehemann zu erfüllen.
 

An dieser Stelle kehrte die zittrige Schrift zu den für Lawrence üblichen, wohlgeordneten Buchstabenfolgen zurück. Vermutlich hatte er den Eintrag zu einem späteren, ruhigeren Zeitpunkt fortgeführt.
 

Ach, Mr. Finley ist gewiss ein glücklicher Mann, hat er doch eine solch liebevolle Gattin voller Verständnis. Schon als sie mich empfing, bemerkte sie mein aufgewühltes Gemüt.

“Aber mein guter Mr. Sterling!“, rief sie aus. “Sie sind ja so blass heute. Ist Ihnen nicht gut? Ich kann unseren Termin gerne verschieben, wenn Sie sich nicht wohl fühlen.“

Natürlich lehnte ich diesen Gedanken mit aller Höflichkeit ab: “Aber nein, Mrs. Finley, nicht doch! Ja, es ist wahr, mir ist heute nicht ganz wohl, aber bitte, lassen Sie mich meine Arbeit tun, damit ich meinen Schrecken für ein paar gnädige Stunden vergessen darf.“

Wohl von meinem Pflichtbewusstsein beeindruckt, führte Mrs. Finley mich in den Salon, wo ich wirken sollte.

“Aber sagen Sie, lieber Mr. Sterling, was war es denn, das Sie so erschreckt hat?“

Ach, unmöglich hätte ich ihr die Wahrheit berichten können. Ein Bild verschwindet über Nacht ohne jede Spur von der Leinwand... Ha! Hat man je etwas Absurderes gehört?

“Offenbar wurde eines meiner Bilder gestohlen“, sagte ich ihr deshalb, um der Wahrheit wenigstens nahe zu kommen.

Mrs. Finley war entsetzt. “Nein! Wirklich? Das ist ja schrecklich! Waren Sie bereits bei der Polizei, mein Lieber?“ Und nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: “Die Zeitung sollten Sie auch informieren. Wer weiss, vielleicht wird ihre wunderbare Kunst so auch unter ehrbaren Leuten begehrter.“

Ich versprach ihr, die Polizei zu benachrichtigen, sobald es mir möglich sei, und machte mich ans Werk.
 

Tatsächlich vermochte die Arbeit, mich zu zerstreuen und ich fühlte mich etwas beruhigt, als ich Mrs. Finley wieder verliess, doch schon auf dem Heimweg kehrten meine Gedanken zurück zu der leeren Leinwand, auf der gestern noch Cherubinas Bildnis zu sehen war.

In der Hoffnung, meine geschundenen Nerven so erneut beruhigen zu können, nahm ich mich in dem kleinen Teehaus in der Holy Well Street Platz und beschloss, meine Gedanken nieder zu schreiben. Glücklicherweise trage ich ja mein Tagebuch stets bei mir. Und tatsächlich tun bereits die duftende Tasse chinesischen Tees und der Teller mit süssem Gebäck ihre Wirkung: Der Gedanke an den leeren Rahmen erscheint mir weniger unerträglich als noch zuvor; die anklagende Nuance, die das unberührte Weiss der Leinwand in meiner Erinnerung angenommen hatte, als wäre es in irgendeiner Weise mein Vergehen, dass die Schönheit Cherubinas mit einem Mal verschwunden ist, scheint wieder zu verblassen.

Dennoch, diese ganze Angelegenheit ist so kurios, so irreal, als finde sie in einem Traum statt.

Doch es ist wohl Zeit, darüber nachzudenken, was als Nächstes zu tun ist und ich bin doch recht ratlos. Wer würde mir diese Geschichte schon glauben? Wen könnte ich in einer solch seltsamen Angelegenheit schon um Hilfe oder wenigstens Beistand bitten, ohne dass man glaubt, ich hätte den Verstand verloren?

Dies ist doch sicherlich nicht der Fall. Ach, ich zweifle an meinen eigenen Worten. Habe ich wirklich gesehen, was ich glaube, gesehen zu haben? Kann das sein?

Besser ist es wohl, nichts zu überstürzen und die Dinge noch einmal genau zu prüfen. Vielleicht spielte mir das Morgenlicht einen scheusslichen Streich. Wenn die Hitze der Wüste Reisenden Oasen vorgaukeln können, wo keine sind, so kann ein trüber Oxforder Morgen möglicherweise auch einem schlaftrunkenen Maler weismachen, dass kein Bild da ist, wo eines sein sollte.

Aber sollte es wirklich so sein, sollte ich den Rahmen verlassen vorfinden, so werde ich wohl Viktor um Rat fragen. Beschäftigt sich nicht der alte Crawford mit übernatürlichem Firlefanz? Mit etwas Glück ist das genug um ihn zu überzeugen, dass ich das Portrait nicht selbst gegen eine weisse Leinwand ausgetauscht habe, um einen dummen Scherz mit ihm zu treiben.
 

Mortimer blickt von dem Text auf und sah seinen Sohn fragend an.

Viktor schüttelte den Kopf. “Ich habe nichts mehr von Lawrence gehört, seit ich ihn besuchte. Kein Sterbenswort.“

Sein Vater nahm die Worte schweigend zur Kenntnis, doch Viktor konnte förmlich sehen, wie sich seine Gedanken hinter der Fassade der Reserviertheit überschlugen. Dies war genau der “übernatürliche Firlefanz“, wie Lawrence es so despektierlich genannt hatte, für den sein Vater sich brennend interessierte. Besorgt stellte Viktor fest, dass die nächsten Zeilen wieder zittriger waren.
 

Wenn ich zuvor nicht an meinem Verstand zweifelte, so tue ich es ganz sicherlich jetzt.

Als ich das Teehaus verliess, war mir leichter zu Mute, so leicht sogar, dass ich beschloss, nicht sofort nach Hause zu eilen, sondern noch einen Spaziergang durch den Magdalen Grove zu unternehmen, obwohl es allmählich kühl wurde und der Mond bereits aufgegangen war.

Mir stockte der Atem, wie ich so, nichts Böses ahnend, um eine Ecke bog, denn dort, unter einer Gruppe dichter, dunkler Eiben stand sie. Das silberne Mondlicht hüllte ihre anmutige Silhouette in einen Glorienschein, liess die blassviolette Seide ihres weiten Krinolinenrockes und ihrer Pelerine sanft schimmern, tanzte auf dem goldenen, zum eleganten Chignon gesteckten Haar und spiegelte sich in den Peridoten ihres Schmuckes. Cherubina. Ach, meine wunderbare Cherubina war es, die dort stand, in der Hand eine Schwertlilie haltend, als sei sie wirklich und wahrhaftig ihrem Portrait entstiegen. Doch obgleich sie der betörende Duft nach Hyazinth, Flieder und Jasmin umwehte und sie in ihrer Anmut ganz und gar ein Bildnis perfekter Weiblichkeit repräsentierte, packte mich ein jähes, kaltes Grausen, als unsere Blicke sind trafen.

Nicht die Tatsache, dass es unmöglich Cherubina, die ich schuf und liebte, sein konnte, dass sicherlich nur ein Trugbild war, eine Täuschung meiner seltsam-geschundenen Nerven, war es, das mich plötzlich schaudern liess, denn solcherlei logische Gedanken kamen mir in diesem Moment der euphorischen Verzückung nicht in den Sinn. Nein, es war ihr Blick, der mich -mit einem Mal zitternd- zurückweichen liess.

Dies waren nicht die silbernen Augen, die ich Cherubina gab. Kalt wirkten sie, wie alte Asche im Kamin; leblos und seltsam leer, als fehlte dem Mädchen eine Seele. Und doch sprachen aus diesen Augen tiefe Gier und namenloses Grauen, strafte all die Schönheit, die das Mädchen umgab Lügen und Täuschung.

Kein Wort verliess ihre rosigen Lippen, doch breitete sie die Arme aus und schritt auf mich zu.

Mir hingegen entfuhr ein Schrei des kalten Entsetzens und ehe ich’s mich versah, hatte ich die Beine in die Hand genommen. An den Weg nach Hause erinnere ich mich kaum, zu tief sass mir der Schrecken in den Knochen.

Und dort sitzt er auch jetzt noch. Ich kann kaum ruhig atmen.

Habe ich diese Gestalt wirklich gesehen? Kann ich meinen eigenen Augen trauen? Oder werde ich etwa tatsächlich wahnsinnig?

Gütiger Gott, was geschieht mit mir?



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Procven
2013-08-23T22:04:25+00:00 24.08.2013 00:04
Wieder mal ein tolles Kapitel.

Ich mag die Art der Geschichte, dass du Tagebucheinträge verwendest, um Lawrence' Teil wiederzugeben. Das hat mich damals auch an Stokers "Dracula" fasziniert.

Was mich in diesem Kapitel allerdings ein wenig verwirrt hat, ist, dass du zwischen dem Eintrag und der "Gegenwart" eine Leerzeile eingefügt hast, zwischen der Gegenwart und dem weiteren Teil des Eintrages allerdings nicht. An dieser Stelle musste ich kurz überlegen, ob der Eintrag nun weiterging oder zu dem Teil mit Mortimer und Viktor gehört.

Sonst hab ich nichts weiter zu beanstanden. :)
Ich bin sehr neugierig, was es mit dem Gemälde und dessen Verschwinden auf sich hat. Nur Einbildung? Ist er überarbeitet? Oder ist ihr plötzliches Auftauchen irgendwo auch ein Wunschdenken seinerseits, da er seine Cherubina so vergöttert?

Leider werd ich mich noch gedulden müssen, bis ich wieder Zeit habe und das herausfinden kann.

Bis dahin wünsche ich dir noch ein schönes Wochenende.

Liebe Grüße,
Procven
Antwort von:  LauraAStern
24.08.2013 01:42
Hey Procven

Freut mich, dass dir der Teil gefallen hat ^^
"Dracula" war eine grosse Inspiration für die Form der Geschichte...
Aber ich gebe zu, es ist schwierig, zwischen Tagebuch und Rahmengeschichte zu unterscheiden... Vielleicht hätte ich die Rahmengeschichte kursiv machen sollen oder so...

Dir auch noch ein schönes Wochenende :)

Kokoro


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