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Echorausch

von

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Das miese Gefühl, welches mich den ganzen Tag schon verfolgt, erreicht seinen Höhepunkt, als ich meinen Schlüssel langsam in das Schloss stecke und ihn noch langsamer nach rechts drehe. Ich halte ihn noch einige Sekunden länger als nötig in der Hand und versuche das unangenehme Gefühl endlich abzuschütteln. Vergebens. Die letzten Monate waren anstrengend, das kann ich nicht abstreiten. Dennoch wird das Chaos in meinem sonst so präzise geordneten Kopf langsam unerträglich. Mein Gehirn müsste dringend einen Gang zurückschalten, am besten in den Leerlauf, um nach einer kurzen Pause der Ruhe wieder einen Neustart in den Wahnsinn zu wagen. Doch wird mir die Pause nicht gegönnt. Ich atme kurz durch und betrete nun endlich mein Appartement. Oh Gott.

Empfand ich das vorherige Chaos als belastend, so ist die nun eintretende, lähmende Stille in meinem Kopf umso schrecklicher. Gefühlte Stunden starre ich nur auf das sich mir bietende Szenario, unfähig, es zu realisieren. Mein Gefühl sagt mir, dass sich meine Welt abrupt aufgehört hat sich zu drehen, selbst das Atmen bleibt mir verwehrt.
 

Eine Person auf dem Boden – merkwürdig verrenkter Körper – weit geöffnete, goldene Augen -

zersplitterter Glastisch – Spritzen am Boden – überall leere Flaschen - vertraute rote Haare
 

Ich starre das bizarre Bild vor mir an, fühle mich dabei wie ein unbeteiligter Beobachter, unfähig auch nur einen Finger zu rühren. Alles verläuft in Zeitlupe und fühlt sich seltsam surreal an, selbst der Aufschlag meiner schweren Arbeitstasche auf dem Holzboden schallt unnatürlich laut in meinen Ohren wieder. Erst nach weiteren, quälend langsamen und doch so wichtigen Sekunden, die ich im Schock vergeudet habe, schafft es mein Gehirn endlich, die grausamen Eindrücke zu einem noch viel schlimmeren Puzzle zusammenzusetzen.

Ein Stromschlag geht durch meinen Körper und befreit mich schlagartig aus meiner Starre. Ich habe das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren, als ich mich nach drei großen Schritten neben Kid auf dem Boden wiederfinde. Der Arzt in mir hat die Kontrolle übernommen. Ich halte mein Ohr dicht über sein Gesicht, hoffe, ein Atmen zu hören. Mein Herz rast und das einzige, was ich höre, ist mein eigenes Blut, welches unangenehm laut in meinen Ohren rauscht. Ich taste mit zwei Fingern seine Halsschlagader ab und zwinge mich zur Ruhe und halte den Atem an, damit ich einen Puls feststellen kann. Nichts.

„Verdammt“, schreie ich auf und greife nach meinem Handy in der Hosentasche. Innerhalb von wenigen Momenten habe ich den Notruf verständigt und werfe mein Handy achtlos in eine Ecke. Ich drehe Kid auf den Rücken und über strecke dabei leicht seinen Nacken. Dass ich mitten in den Scherben knie, nehme ich nicht wahr. Selbst das meine Knie bereits bluten spielt in dem Moment keine Rolle. Ich agiere wie ein Roboter, lege dabei meine rechte Hand über die Linke und beginne mir der Herz-Lungen-Wiederbelebung. Ich zähle laut bis dreißig und drücke bei jeder Zahl mit meinen Händen auf seinen unteren Brustkorb. Versuche so sein Herz wieder zum Schlagen zu animieren. Als ich bei der letzten Zahl angekommen bin, halte ich ihm die Nase zu, lege dabei meine Lippen auf seine und pumpe seine Lunge so mit lebenswichtigem Sauerstoff voll. Das ganze wiederhole ich drei mal, ehe ich wieder nach seinem Puls fühle. Unweigerlich steigt die Panik in mir auf und meine Stimme hört sich seltsam an, als ich mich seinen Namen schreien höre. Blind mache ich mit der Herzmassage weiter.
 

eins – zwei – drei – vier – fünf

Eustass Kid, was hast du gottverdammt gemacht?!
 

sechs – sieben – acht – neun – zehn

Wie lange liegt er schon hier? Ohne ein schlagendes Herz, das sein Gehirn mit Blut und Sauerstoff versorgt?
 

elf – zwölf – dreizehn – vierzehn – fünfzehn

Bleib ruhig! Panik kannst du nicht gebrauchen, Panik macht dich leichtsinnig. Es wäre das schlimmste, was nun passieren könnte. Bleib ruhig, bleib ruhig, bleib ruhig.
 

sechzehn – siebzehn – achtzehn – neunzehn – zwanzig

Wann kommt der verdammte Notarzt? Ich brauch einen Defibrillator, dringend!
 

einundzwanzig – zweiundzwanzig – dreiundzwanzig – vierundzwanzig – fünfundzwanzig

Schon zu lange. Atme Kid, atme endlich. Mach schon! Atme! Atme! Atme!
 

sechsundzwanzig – siebenundzwanzig – achtundzwanzig – neunundzwanzig – dreißig

Bitte Eustass Kid, bitte...
 

Wieder lege ich meine Lippen auf seine, versuche ihm Leben einzuhauchen und muss mit ansehen, wie seine Lunge es gleich wieder entlässt.

Ich mache weiter . dreißig mal drücken. Die Zeit steht still. zwei mal beatmen. Einfach immer weiter. dreißig mal drücken. Alles andere blende ich aus. zwei mal beatmen

Den eingetroffenen Notarzt bemerke ich erst, als er mich grob zur Seite drängt und nach einem Puls sucht und dann selbst die Wiederbelebungsmaßnahme fortführt. Ich sitze wie paralysiert daneben. Komme mir dabei vor, als würde ich mir einen Horrorfilm anschauen, ohne Fernbedienung. Betäubt sehe ich mit an, wie Kid intubiert wird. Mit einer fast schon morbiden Faszination beobachte ich, wie der Tubus Zentimeter für Zentimeter in seiner Luftröhre verschwindet und sich durch das Drücken des Ballons sein Brustkorb hebt und senkt. Erst jetzt dringen die Fragen des Notarztes zu mir hindurch. Warum klingt es, als würde er durch einen dicken Vorhang mit mir reden? Ohne meinen Blick von dem leblosen Körper zu nehmen, beantworte ich die gestellten Fragen zu Kid wie in Trance. Anscheinend funktioniert der Arzt in mir noch weitestgehend Fehlerfrei, auch wenn der Rest gerade am zerfallen war.

Als die Ärzte ihm die Elektroden auf die nackte Brust kleben, verschwimmt mir die Sicht. Schon wieder Zeitlupe. Ein tonnenschweres Gewicht legt sich auf mich und droht mich zu erdrücken. Der Druck in meinem Oberkörper wird unerträglich, mein Herz hämmert hart gegen meine Brust und sorgt dafür, dass das Rauschen in meinen Ohren alles andere übertönt. Meine Atmung gleicht der eines Spitzensportlers, der gerade einen Marathon in Rekordzeit gelaufen ist und doch spüre ich den Schmerz kaum. Auch das mittlerweile meine verkrampften Hände, die ich zu Fäusten geballt habe, von den Scherben des Tisches zerschnitten sind, bekomme ich nicht mit. Erst als ein Sanitäter sich in mein Blickfeld drängt und fragt, ob alles in Ordnung sei, durchbreche ich meine Starre und schiebe ihn zur Seite. Einzelne Schweißperlen bahnen sich den Weg an meinen Wangen herunter. Es ist doch Schweiß, oder? „Weg von dem Patienten!“, schallt die laute Stimme des Notarztes durch den Raum, droht mein Trommelfell zu zerreißen.

Habe ich bis eben geglaubt, dass ich das Bild beim Betreten meiner Wohnung niemals vergessen werde, so weiß ich nun, dass ich mit absoluter Sicherheit ein anderes Bild ewig vor Augen haben werde. Nämlich wie sich der Körper von Kid unter elektrischen Stößen unkontrolliert aufbäumt und danach wieder hart auf den Boden zurück schlägt. Immer wieder. Und immer wieder ertönt ein lang gezogenes, schrilles Piepen, welches von einem nicht vorhandenen Sinusrhythmus zeugt. Wieder klatscht sein Körper auf dem Boden auf. Sein Herz hüpft immer kurz, nur um danach abermals stehen zu bleiben. Während den einzelnen Ladungen werden ihm immer wieder Medikamente verabreicht und Infusionen gelegt.

Der funktionierende Teil meines Gehirns weiß, dass jeder Schock verbrennungsähnliche Gewebeschäden hinterlässt. Auch ist mir in diesem Moment mehr als deutlich bewusst, dass die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Reanimation massiv sinkt, wenn bereits mehrfach erfolglos defibrilliert wurde. Ein eindeutiges Anzeichen für eine zu lange Reanimationsdauer. All das schlägt in diesem Moment wie eine Bombe ein und lässt nur einen Trümmerhaufen anstelle meines Kopf zurück. Und da kommt die Gewissheit. Die Gewissheit versagt zu haben. In meinem Kopf hat die Gedankenflut eine kritische Masse überschritten. Das nächste, was ich bewusst wahrnehme, ist ein Perspektivenwechsel meinerseits. Ich sehe nicht mehr auf Kid herab sondern liege neben ihm, kann ihm dabei ins Gesicht sehen und schaue in gebrochene Augen. Ich habe keine Kraft mehr, meine Lungen wollen keine Luft mehr in sich aufnehmen, verweigern ihren Dienst. Und dennoch muss ich weiterhin mit ansehen, wie Eustass Kid wieder mit einer ungeheuren Wucht auf den Boden aufkommt. Die hektischen Ärzte, die medizinischen Befehle und den Sanitäter, der sich dreisterweise wieder vor mich schiebt, nehme ich nicht mehr wahr. Nichts zählt mehr. Nichts hat mehr Gewicht. Ich habe versagt. Ich habe das verloren, für das ich am meisten gekämpft habe. Der tiefe, melancholische Schmerz der Trauer baut sich wie eine unüberwindbare Mauer vor mir auf und schließt mich in der Dunkelheit ein, in die ich nun dankbar sinke. Ich will nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen, nichts mehr hören. Und doch verfolgt mich das durchgehende Piepen bis in die Schwärze hinein.
 


 

Ein lautes Klirren schreckt mich aus meinem Tagtraum auf und lässt mich zusammen zucken. Ein kurzer Blick nach rechts bestätigt meine Vermutung. Die Kellnerin hat zum zweiten Mal an diesem Abend ein volles Tablett zu Boden gehen lassen. Ich wende mich ab und schenke dem Bourbon vor mir wieder meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Meine verkrampften Finger und die bereits weiß verfärbten Fingerknöchel fallen mir jetzt erst auf und nur unter großer Anstrengung gelingt es mir, diese von dem Glas zu lösen. Missmutig strecke ich einmal alle Finger ab. Mir kommt es vor, als würde man das Knacken dieser in der ganzen Bar hören. Doch scheint dies nicht so zu sein, keiner schenkt dem Geräusch Beachtung. Ich halte inne und mein Blick fällt auf die fast vollständig verheilten Wunden an meinen Händen. Viele Schnitte sind nur noch als blass-rosa Streifen zu erahnen. Nur an der tiefsten und zugleich größten Wunde kann man noch die Reste der Entzündung erkennen. Ich musste mit jeweils acht und elf Stichen an den Händen genäht werden und auch die Haut an meinen Knien musste neu zusammen genäht werden. Gute Arbeit von dem Arzt, in ein paar Monaten wird man davon wahrscheinlich nicht mehr viel erkennen können.

Etwas zu lange für meinen Geschmack starre ich nun schon an meinen Händen vorbei und fixiere wieder den Drink und muss feststellen, dass die Farbe von genau diesem mich an etwas erinnert. Noch als ich weiter darüber nachdenke, zieht sich etwas in meiner Brust schmerzhaft zusammen. Somit habe ich auch schon eine Antwort gefunden. Warum ist mir vorher noch nie aufgefallen, dass dieses alkoholische Getränk die gleiche klare und intensive Farbe vorweisen kann, wie in mir vertrautes Paar Augen? Goldene Augen. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten zucke ich zusammen, diesmal nur auffälliger als beim letzten Mal. Mit einer erstaunlich flüssigen Bewegung führe ich das Glas zu meinem Mund und leere es in einem Zug. Wenige Sekunden später setzt auch das vertraute Brennen ein, was sich jedoch gleich darauf in eine wohltuende Wärme verwandelt. Liegt wohl an der Farbe..

Ich gebe der ungeschickten Kellnerin, die anscheinend auch noch Barkeeperin spielt, ein Zeichen und verlange somit noch einen. Wie zu erwarten hat sie es nicht verstanden und kommt mit meinem derart aufgesetzten Grinsen zu mir, dass es mich prompt an die Fratze eines Horror-Clowns aus einem schlechten Splatterfilm erinnert. „Nochmal das selbe“, murmle ich ihr tonlos entgegen, sehe sie dabei nicht einmal an. Aber wenigstens das scheint sie verstanden zu haben, denn wenige Minuten später steht ein weiterer Bourbon vor mir, der mich mit seiner goldenen Farbe verhöhnt.
 

Wie viel habe ich eigentlich schon getrunken? Ich kann es nicht sagen, jedoch hat das Chaoskarussell in meinem Kopf noch nicht an Geschwindigkeit verloren; kann also nicht viel gewesen sein. Ich fahre mir mit den Händen durchs Gesicht, unterdrücke somit ein Gähnen. Seit dem Vorfall vor einem Monat haben sich meine Schlafprobleme deutlich verschlimmert. Der Zustand wirkt sich auch auf meine Konzentrationsfähigkeit aus und das sorgt auf meiner Arbeit für Probleme, ernsthafte Probleme. Ich hatte die letzten vierundzwanzig Stunden Schicht in der Notaufnahme, das erste mal seit dem Vorfall. Es wurde ein Unfallopfer eingeliefert. Plötzlicher Herzstillstand während des Fahrens. Der Mann hatte schwere Verletzungen, angefangen von diversen Knochenbrüchen bis hin zu Verbrennungen dritten Grades. Den Notfallsanitäter war es auf der Fahrt ins Krankenhaus nicht gelungen, sein Herz zu stabilisieren. Als diensthabender Arzt leitete ich sofort die Wiederbelebungsmaßnahmen ein. Wie gewohnt bereitete ich den Patienten auf eine Defibrillation vor und klebte ihm die Elektroden auf die Brust. Doch ehe ich den Patienten auch nur ansatzweise mit den Paddels berühren konnte, flackerte das Bild von dem leblosen Kid vor meinem inneren Auge auf. Ich war wie gelähmt. Mir war, als würde das Geräusch, das sein Körper gemacht hatte, als er auf dem Boden aufschlug, in einer abartigen Lautstärke durch den Raum schallen. Unfähig mich zu bewegen und mit weit aufgerissenen Augen starrte ich den Patienten vor mir an. Der erste Schweiß hatte sich auf meiner Stirn bereits gebildet. „Dr. Trafalgar?!“, hörte ich die Krankenschwester neben mir fragen, konnte mich jedoch weder zu einer Reaktion, noch zu einer Aktion zwingen. „Dr. Trafalgar, der Patient!“, sagte sie nun schon energischer. Ob ihr das Zittern meiner Hände aufgefallen war? Ich zwang mich innerlich zur Ruhe und atmete gleichmäßig tief ein und aus. Gerade in dem Moment, als der Sanitäter mir die Paddels aus der Hand reißen wollte, konnte ich die Kontrolle über meinen Körper zurück gewinnen und die Mauer in meinem Kopf zerbrechen, schockte endlich den Mann vor mir. Wir versuchten es über zwanzig Minuten und ich erhöhte bis auf die maximal erlaubte Joule-Zahl und doch war es vergebens. Der Mann starb um 21:36 Uhr auf meinem Tisch. Frustriert warf ich die Paddels mit Wucht zu Boden und verließ mit eiligen Schritten den Schockraum. Ich riss mir auf den Weg in mein Bereitschaftszimmer den Mundschutz ab und schlug beim Öffnen der Tür diese so stark gegen die Wand, dass der Putz abbröckelte. Ich brauchte ein

Ventil für all das, für all die angestauten Gefühle, die Wut auf mich selbst und auf die Welt.
 

Und nun sitze ich seit Feierabend in einer Bar und trinke Bourbon. Nicht sehr klug, aber momentan das Beste, was mir einfällt. In meinem Appartement konnte ich mich seit dem Unfall nicht mehr lange aufhalten. Ich habe mal von Menschen gelesen, die die Ansicht vertreten, dass traumatische Erlebnisse nicht nur Spuren in der Psyche der Lebenden, sondern auch in der sie umgebenden toten Materie hinterlassen. Ähnlich wie ein unsichtbarer Fingerabdruck des Schmerzes, den man spürt, sobald man einen Ort betritt, an dem etwas Grauenhaftes passiert ist. Ein Abdruck, der etwas erzeugt, was die Esoteriker als Aura und Realisten als Atmosphäre bezeichnen. Und je nach der Empfindsamkeit des Betrachters kann dieser Abdruck etwas wie Furcht, Beklemmung oder gar Trauer auslösen. Genau dies geschieht in meinem Appartement. Ins Krankenhaus kann ich ebenfalls nicht. Meine Kollegen kannten bis eben nur den distanzierten, kühlen und ruhigen Dr. Trafalgar Law. Der schreiende und tobende war ihnen noch unbekannt, mir jedoch leider nicht mehr.

Kid hatte ihn geweckt, oder viel mehr erschaffen. Er hat meine Fassade mittlerweile völlig zum Einsturz gebracht und ergötzt sich wahrlich daran, meine Selbstbeherrschung wie ein Kartenhaus im Wind umzupusten.

Chaos. Mittlerweile bin ich auch Chaos. Wie er. Wir sind Chaos.

Während mein Eis immer weiter schmilzt, wird sein Feuer stetig heißer. Er verbrennt mich, bewusst, verbrennt mein Eis, fügt mir Schmerzen zu. Bin ich mittlerweile überhaupt noch Eis? Ich denke nicht, nein. Er hat mich vollständig zum schmelzen gebracht, mein Eis in Wasser verwandelt. Wasser, welches er nun stetig weiter zum kochen bringt.

In seinen Funken versunken, steh ich in Flammen und verbrenne in meinem Wasser. Traurig. Ich muss über meine Gedanken schmunzeln. Anscheinend habe ich den Zeitpunkt verpasst, an dem ich einen Hang zur dunkler Lyrik entwickelt habe.

Mein Schmunzeln vergeht jedoch gleich wieder. All das bringt mich nur wieder zurück in eine Sackgasse. Meine Sackgasse.
 

Ich hatte mir vorgenommen, ihn zu reparieren, zu heilen. Mit einer absurden Überzeugung und einer fast schon krankhaften Hoffnung wollte ich Kid stabilisieren, ihm Sicherheit bieten. Lächerlich. Im nachhinein ist es lächerlich. Wie kann man etwas stabilisieren, was einer Naturgewalt gleichkommt? Wie will man etwas reparieren, von dem man nicht einmal weiß, was daran überhaupt kaputt ist? Wobei ich hier denke, dass ich darauf bereits eine Antwort gefunden habe. Alles. Jedoch bleibt die Frage, was ich noch hätte tun können, um mein Ziel zu erreichen. Habe ich alles gegeben um ihn zu retten? War meine Hoffnung nicht ausreichend?

Im Rückblick sehe ich meine Hoffnung als eine Art Stiche an, mit denen ich seine Verletzungen, die ihm das Leben zugefügt hat, zusammen nähen wollte. Ich wünschte mir damals, dass seine Wunden dadurch verheilen würden und bestenfalls wären die Nähte nach einer gewissen Zeit einfach verblasst und dann wäre schnell vergessen gewesen, dass es nur meine verzweifelte Hoffnung war, die uns aufrecht erhalten hat. Doch wie auch in der Medizin müssen die Stiche fest genug sein, ansonsten öffnet sich die Naht wieder und man endet als zerrissenes Etwas, was keiner mehr haben möchte. Unbrauchbar. Manchmal reicht Hoffnung allein nicht aus, um einen Menschen zusammen zu halten.

Diese Erkenntnis quält mich nun seit dem Vorfall. Wie eine Fliege, die alle fünf Sekunden vergisst, dass sie schon zum hundertsten Male gegen die Scheibe geflogen ist, wiederholen sich diese Gedanken in meinem Kopf. Hämmern dabei mit einer Intensität gegen meine Schädeldecke, als wollten sie mich endgültig in den Wahnsinn treiben. Und das tun sie. Langsam und stetig.
 

Ich muss ein Auflachen unterdrücken, es ist so lächerlich. Würde ich mich selbst, meine Situation und die vergangen vier Jahre aus den Augen eines unbeteiligten Dritten anschauen, so würde ich wahrscheinlich nur lachend den Kopfschütteln.

Gescheiterte Existenz. Zwei schlichte, jedoch treffende Worte.

Ich, Trafalgar Law, meines Zeichens einer der besten Chirurgen des Landes, bin gescheitert. Ich konnte Kid nicht retten, niemals war ich dazu in der Lage. Nie hatte ich auch nur annähernd die Kraft für solch ein Unterfangen. Ich kann ihn nicht über Wasser halten, während er mich mit seinem Gewicht nach unten drückt. Mir fehlt die Luft. Es ist nicht so, als hätte Kid sich nicht helfen lassen wollen. Ich weiß, dass er nichts sehnlicher wollte, als eine Sicherheit zu haben. Auch wenn er sich dessen wahrscheinlich nie wirklich bewusst war. Aber er konnte mir nicht helfen. Er war in seiner eigenen Welt, nur er kannte die Regeln und Gesetzte, war sich dem Rahmen derer bewusst. Ich habe mich irgendwann rein gezwängt, ohne jedoch zu verstehen, was das für Konsequenzen für mich nachziehen würde. Abhängigkeit. Vor vier Jahren hätte ich im Traum nicht daran gedacht, dass ich mich jemals von einem Menschen so emotional abhängig machen würde.
 

Ich trinke meinen Bourbon, ich ertrage sein Gold nicht länger. Einen, für jede Seele die gescheitert ist, und ich würde wahrscheinlich nächtelang trinken.

Mein Kopfkarussell beginnt sich wieder zu drehen und stellt mich wieder einmal vor die ein und selbe Frage: Warum habe ich das Ganze auf mich genommen? Wieso habe ich mir selbst erlaubt, so etwas Selbstzerstörerisches wie Kid in mein Leben zu lassen?

Als Arzt wäre es meine Pflicht gewesen, ihn in einer passenden stationären Behandlung unterzubringen. Dafür zu sorgen, dass man seinem therapeutischen Bedarf gerecht wird. Vielleicht wäre er heute clean? Hätte auch sein angefangenes Studium beendet und hätte vielleicht sogar eine Familie? Warum tat ich es nicht? Das Wort 'Eigennutz' macht sich in meinen Gedanken breit. Wenn ich ihn nicht heilen konnte, sollten es andere auch nicht können. Ich wollte ihn besitzen, ihn behalten. Weil ich ihn brauchte.

Aber all das rechtfertigt nicht, dass ich über Jahre hinweg seinem selbstzerstörerischen Verhalten beigewohnt habe. Dabei zu sah, wie er mich damit ebenfalls von innen zerstörte.

Aber so wie ich ihn brauchte, so brauchte er auch stets mich. Ich war sein Ventil. Es ist schon ein komisches Gefühl, wenn das, was einen kaputt macht und in die Tiefe zieht, gleichzeitig das einzige ist, was einen am Leben hält. Und dennoch muss ich mir eingestehen, dass wir nie eine reale Chance hatten. Eis und Feuer kommen einfach nicht zusammen, man kann die beiden Elemente nicht binden, ohne dass sie sich gegenseitig zerstören. Sie sind nicht annähernd verwandt.

Wer bin ich, dass ich dachte, ich könne mich über die Naturgesetze hinweg setzen? Als könnte ich das Unmögliche schaffen. Solch eine maßlose Selbstüberschätzung grenzt an Wahnsinn.
 

Wieder lache ich trocken auf und bestelle mir einen weiteren Drink. Wofür sollte ich denn weitermachen? Damit ich noch weiter in eine Sackgasse gedrängt werde, in der außer Schmerzen, Selbstzweifel und Verlusten nichts auf mich wartet?

Nein. Dann versinke ich lieber weiter in den süßen Wahn, der mich gerade zu übermannen versucht. Meinen Gedanken lasse ich nun freie Bahn, sollen sie den Rest meines Hirns ruhig auch infizieren. Vielleicht werde ich davon ja taub, verliere jegliche Gefühle. So wie früher, als mich niemand berühren konnte. Ja, wie früher.
 

Ich bin so tief in meiner dunklen Spirale gefangen, dass ich nicht mitbekomme, wie sich jemand neben mich auf den freien Hocker setzt. Er gehört nicht zu meiner momentanen Welt und soll sich wagen, ungefragt in diese hinein zu platzen.

Erst als er seine Stimme erhebt und mir ein „Bourbon, he?“, entgegen grinst, durchbreche ich die Oberfläche zur Realität. Meine Gedanken klären sich mit einem enormen Tempo. Der Nebel verzieht sich. Mein Blick geht nach links und meine Mundwinkel gleichzeitig nach oben. „Ja, Bourbon“, flüstere ich, an Kid gerichtet. „Auch einen!“, höre ich ihn laut rufen, in der Hoffnung, die Barkeeperin würde es endlich verstehen.

Ich stattdessen schaue ihn einfach nur an. Schaue in sein Gesicht. Seine goldenen Augen. Die roten Haare mit dem schwarzen Stirnband, welches sie eigentlich bändigen sollte.

Perfekt. Alle Zweifel, Ängste und alles andere, was mich vor wenigen Sekunden noch in den Abgrund ziehen wollte, ist verschwunden. Stattdessen kommt wieder das ungeheuer befreiende Gefühl der maßlosen Erleichterung zurück, die ich empfand, als der leitende Arzt in der Klinik mir sagte, dass Kid's Herz wieder von alleine schlug. Diese wuchs schier ins unendliche als er mir auch sagte, dass sein Hirn keinerlei Schäden davon getragen hatte. Was bei einem mindestens 37 minütigen Herz- und Atemstillstand mehr als ein Wunder ist.

Als ich ihn dabei beobachte, wie er der Kellnerin bereits leicht gereizt klar machen will, was er möchte, habe ich plötzlich eine Antwort gefunden. Eine Antwort auf die Frage, warum ich das alles auf mich genommen habe. Warum ich ihn immer so dringend retten wollte. Eine Antwort, die ich schon lange kenne, welche aber oft durch die Mauer von Gedanken verschüttet wird.
 

Liebe
 

Ich mag das Wort 'Liebe' nicht, jedoch ähnelt diese, meines Erachtens, sehr dem Wahnsinn. Und nur der falsche Wahn bringt Unglück. Es ist mehr als Verlangen und deutlich stärker als jede bekannte Sucht. Wenn ich bei ihm bin, hat die negative Gedankenflut keine Chance. Sie kann mein Hirn nicht vergiften. Wenn ich in seiner Nähe bin, weiß ich, dass er lebt. Weiß ich, dass ich lebe. Meine Zweifel sind jedoch durchaus gerechtfertigt. Ich werde ihn nie stabilisieren können, aber die Zukunft interessiert mich gerade nicht. Die Gegenwart reicht mir vollkommen. In dieser lebt Kid, also habe ich nicht alles falsch gemacht. Er ist hier, lebendig.

Ich lächle als ich sehe, dass er nun ungeduldig meinen Bourbon in einem Zug leert und mich Schulter zuckend ansieht. „Du hast schon genug und die da-“, er nickt in Richtung der begriffsstutzigen Kellnerin „kriegt eh nichts auf die Reihe“ Ich schaue ihn weiterhin nur an, und bin plötzlich unheimlich glücklich, dass ich ihn in mein Leben gelassen habe.

Seine Hand, die er mir plötzlich hin hält, irritiert mich kurz. Fragend treffen meine Augen seine goldenen Iriden und er schnaubt auf. „Wie viel hast du getrunken? Ach egal. Komm, mein Magen knurrt. Ich hab Hunger“, kommt über seine Lippen und er blickt gleichzeitig zur Tür, hat den Ausgang schon fest mit den Augen fixiert. Ich folge seiner Aufforderung, oder Einladung, und ergreife seine Hand, lasse mich von ihm hochziehen. Der Boden schwankt etwas unter mir, doch ich kann mein Gleichgewicht schnell wieder finden. Ich erwarte, dass er meine Hand loslässt, doch stattdessen zieht er mich an dieser hinaus und macht auch dort keine Anstalten, sie wieder los zulassen.

Vielleicht ist es so etwas wie Schicksal, schießt es mir durch den Kopf, als dieser von der nächtlichen, kalten Luft schlagartig klarer wird. Nichts passiert zufällig, da bin ich mir sicher. Daher war es auch kein Zufall, als er vor vier Jahren mit dem angebrochenen Arm, der Platzwunde und der beachtlichen Überdosis zu mir in die Notaufnahme eingeliefert wurde.
 

Und da ist sie. Die neue Gewissheit.

Die Gewissheit, dass ich mit ihm verbrennen oder ertrinken werde. Vielleicht sogar beides. Und es gesellt sich noch eine Gewissheit hinzu. Ich nehme es nur allzu gerne in Kauf.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Calypsan
2021-09-20T21:39:20+00:00 20.09.2021 23:39
Ich mochte den Titel sehr. Ich weiß nicht, was mir daran so gut gefällt - aber er spricht mich voll an.

Wie du Laws Panik beschrieben hast, seine Angst, während er zählt und zählt und zählt und Eustass
weder auf Herzdruckmassage noch die Beatmung reagiert und die Rettung einfach nicht kommt...Gänsehaut pur.
Gänsehaut am ganzen Körper, rauf und runter, ich hab fast meine arme Funkmaus zerquetscht, so fest hab
ich sie umklammert.

Und gerade, als man das Gefühl hat, dass Law endgültig abstürzt und sich dort in legalen Drogen ertänkt, wo
Eustass sich lieber alles illegale reingezogen hat...dreht der Wind. Und lässt hoffen, auf ein Happy End. Auch,
wenn solche Beziehungen meist in Feuer und Tränen enden. Weil keiner sich am anderen hochziehen kann, wenn
jeder den anderen nur runter zerrt.

Ich fand den Text unglaublich gelungen, sehr nahe an der Realität dran und echt ergreifend. Danke dafür. LG Calypsan
Von:  blackNunSadako
2016-05-26T16:33:33+00:00 26.05.2016 18:33
Awwww :3

Ein Happy End und ich hatte schon panisch mein Kopfkissen zerknüllt xD
Sehr schön, Respekt :)
Antwort von:  Ruubye
29.05.2016 13:56
Und nochmals Danke ;)
Und keine Sorge, so ging es mir während dem schreiben auch xD
Von:  Mizuki_97
2013-09-01T22:17:47+00:00 02.09.2013 00:17
Oha wow... :-D
ich find es super das du eine Fortsetzung geschrieben hast ,
sie ist echt gut gelungen... ;-D
Das Kid überlebt hat ist toll...
und das Ende ist echt genial geworden... :-)
Antwort von:  Ruubye
13.09.2013 13:59
Es freut mich wirklich, dass dir die Fortsetzung gefallen hat :)
Stell dir mal vor, Kid wäre gestorben... Das geht ja wohl gar nicht!
Vielen vielen Dank! :)
Antwort von:  Mizuki_97
15.09.2013 02:55
Stimmt Kid ist selbst fürs sterben zu Stur... :-P
und das ist Verdam** nochmal gut so... ;-P

und Bitte immer gerne doch..! :-)
Von:  Nara-san
2013-09-01T10:43:57+00:00 01.09.2013 12:43
TT_TT
OMG, ich hätte die ganze erste Zeit heulen können!
Und Gott sei Dank lebt Kid! Wah!
Tolle Fortsetzung! *Daumen hoch*
Antwort von:  Ruubye
13.09.2013 13:58
Haha, vielen Dank! :)
Soll jetzt nicht gemein klingen, aber es freut mich, dass dir die erste Zeit nahe gegangen ist. Dann hab ich anscheinend nicht so viel falsch gemacht.
Vielen Dank für dein Review ;)


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