Zum Inhalt der Seite

Wenn ich einen Bruder hätte

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

POV I

„Wenn ich einen Bruder hätte?“, wiederholt er deine Frage und schaut aus großen Augen zu dir auf. Du hast ihn an seinem Lieblingsplatz gefunden; dort am See auf einer der Holzbänke in den Schatten eines Baumes, wo er sich mit seiner traditionellen Gitarre niedergelassen hatte, um seelenruhig darauf zu spielen. Eigentlich hattest du ihn nicht dabei stören wollen, doch während du so dastandest und ihm gelauscht hattest, war er auf dich aufmerksam geworden und hatte dich sofort zu sich gewunken. Daraufhin hattest du dich zu ihm gesetzt und ihm schließlich, da es nun ohnehin zu spät gewesen war, jene Frage gestellt, die dich seit geraumer Zeit gequält und wegen der du ihn extra aufgesucht hattest.

Du nickst, ohne etwas zu sagen. Neugierig schaust du ihm in sein Gesicht und beobachtest aufmerksam jede noch so kleine Regung an ihm.

Er überlegt für einen Moment und schaut dabei in die Baumkrone über euch auf. Als er wieder zu dir sieht, lächelt er schief und wirkt schüchtern.

„Naja, an sich habe ich ja gleich mehrere Brüder und Schwestern. Wir sind vielleicht nicht blutsverwandt, ich weiß, aber für mich macht das keinen Unterschied. Sie sind meine Geschwister und ich bin ihr großer Bruder.“ Er lacht verlegen und ergänzt: „Ihr berühmter großer Bruder.“

Auch du lächelst, obwohl du dir lieber die Hand gegen die Stirn schlagen und laut aufstöhnen würdest. Dir war von vornherein klar gewesen, dass es schwierig werden würde, ihn auf dem rechten Fuß zu erwischen. Darauf hattest du dich tagelang eingestellt und dir geschworen, dich von seinem Lächeln nicht kleinkriegen zu lassen und am Ball zu bleiben – koste es, was es wolle.

„Ja“, lenkst du ein, „ich weiß. Aber darauf will ich eigentlich nicht hinaus. Ich meine, wenn du einen richtigen Bruder hättest.“

Sein Lächeln schwindet und er sieht dich an, als hättest du eine fremde Sprache gesprochen. Du atmest innerlich tief durch und beschwörst dich, Ruhe zu bewahren, bis er dir die Antwort gegeben hat, die du von ihm hören willst.

Er sieht von dir weg und auf seine Gitarre, die ruhig auf seinem Schoß liegt. Seine Finger zupfen nervös an den Saiten herum, ohne den leisesten Ton zu erzeugen. Jetzt endlich scheint er deine Frage ernsthaft zu überdenken.

„Wenn ich einen Bruder hätte“, spricht er leise vor sich hin, seinen Blick weiter auf sein Instrument gerichtet. Es vergeht einige Zeit, bis sich ein verträumtes Lächeln auf seine Gesichtszüge legt. „Wenn ich einen Bruder hätte, also einen richtigen… ich denke, das wäre toll. Ich mag Kinder. Also ich meine, ich weiß jetzt nicht, wie alt mein Bruder dann wäre. Vielleicht wäre er sogar älter als ich. Aber ich denke, wenn ich die Wahl hätte, dann würde ich mir einen kleinen Bruder wünschen.“ Daraufhin muss er selbst lachen. „Ich weiß nicht, ich kann einfach nicht anders, schätze ich. Was meinst du? Was würde besser zu mir passen?“

Erwartungsvoll sieht er dich an, seine rubinroten Augen strahlen regelrecht. Was er nicht weiß, ist, dass es einen bestimmten Grund hat, wieso du ihm ausgerechnet diese Frage gestellt hattest.

Wissend nickst du, lächelst und bestätigst schließlich seine Worte: „Ja, einen kleinen Bruder fände ich auch sehr passend für dich.“

Sein Gesicht hellt sich daraufhin auf und sein Lächeln wandelt sich in ein breites, schelmisches Grinsen. Ausgiebig streckt er sich, rekelt sich in den durchschimmernden warmen Sonnenstrahlen an diesem schönen Nachmittag, bevor er die Arme im Nacken verschränkt und sich gegen die Banklehne zurücklehnt. „Ich frage mich, wie er wohl wäre. Vielleicht ein wenig wie ich? Was meinst du? Bestimmt würde er die Musik auch lieben.“

Ohne dass du es verhindern kannst, lachst du auf. Die Bilder, die sich bei seinen Worten in deinem Kopf festsetzen, sind einfach zu herrlich.

„Naja“, wagst du einen Versuch, ohne ihm zu viel verraten zu wollen, „ich denke da eher an jemanden, der sehr von sich überzeugt ist, aber trotzdem ein genauso gutmütiges Herz hat wie du. Er wäre in bestimmten Dingen ein sturer Kindskopf, den man erst von etwas überzeugen muss, bevor er beigibt.

Aber was die Musik anbelangt“, wieder musst du lachen, unterdrückst es jedoch zu einem amüsierten Kichern, „die würde er bestimmt lieben. Vergöttern, im wortwörtlichen Sinne.“

Du bemerkst, wie er dich daraufhin verwundert ansieht. Oh, verdammt, hast du etwa zu viele Hinweise gegeben?

Schnell winkst du ab und bemühst dich an einem überzeugenden Lächeln. „Aber im Großen und Ganzen wäre er wohl wie du. Ein wenig vorlauter zwar und dadurch etwas ungeschickt im Umgang mit anderen, schätze ich, aber ihr hättet dasselbe gütevolle Herz.“

Zum Glück ist Otoya niemand, der schnell Verdacht schöpft. Deine Worte haben ihn erfolgreich abgelenkt und nun lächelt er wieder verträumt zu dem blauen, wolkenfreien Himmel hinauf.

„Das wäre toll“, sagt er leise und du hast Mühe, nichts darauf zu erwidern. „Er wäre bestimmt ein toller kleiner Bruder. Wir würden uns bestimmt gut verstehen.“

Mit einem Lächeln, das du zwischen Trauer und Schelm nicht genau definieren kannst, sieht er zu dir. Seine anschließenden Worte fordern dir alle Selbstbeherrschung ab, die du aufbringen kannst, um das kleine Geheimnis nicht zu lüften:

„Schade irgendwie, dass es nicht an dem ist, nicht wahr?“

POV II

„Wenn ich einen Bruder hätte?“ Ein Gähnen folgt diesen Worten, mit denen er deine Frage wiederholt hat.

Sie geisterte dir nun schon seit Tagen durch den Kopf, und heute hattest du dich entschieden, ihn einmal ganz sporadisch darauf anzusprechen. Einfach so, ohne irgendwelche Hintergedanken, um zu sehen, wie er wohl darauf reagieren würde.

Du hattest nach ihm gesucht, aber ihn vielmehr durch Zufall gefunden. Dort oben auf einem Baum hättest du ihn nicht vermutet, auch wenn du dich jetzt im Nachhinein dafür tadelst, diesen Verdacht nicht als Erstes gehegt zu haben. Hier hat er es sich auf einem breiten Ast, mehrere Meter hoch über dem Erdboden, bequem gemacht und hätte er sich nicht in dem Moment, als du darunter entlanggelaufen warst, gestreckt und dadurch ein paar Zweige knacken lassen, hättest du ihn gar nicht bemerkt. Dabei ist sein grünes Gewand gar nicht so unauffällig, geht dir durch den Sinn, zumindest, solange er noch nicht in der Baumkrone sitzt.

‚Katze‘, schlussfolgerst du ganz unwillkürlich und schüttelst mit dem Kopf. Typisch, irgendwie.

Du nickst, ohne etwas zu sagen. Neugierig schaust du zu ihm hoch und beobachtest aufmerksam jede noch so kleine Regung an ihm.

„Weiß nicht“, grummelt er, noch müde von seinem späten Nachmittagsschläfchen, und schließt die Augen. „Das kommt darauf an, ob er der Jüngere oder Ältere von uns wäre.“

„Gehen wir einmal davon aus“, lenkst du ein, „er wäre der Ältere. Also wenn du einen großen Bruder hättest, wie wäre das für dich?“

„Hm.“ Er überlegt. Das vermutest du zumindest, denn er könnte genauso gut wieder eingeschlafen sein, was du ihm gut zutrauen würdest. Doch du bleibst standhaft und übst dich in Geduld, um ihn nicht unnötig zu bedrängen.

„Das wäre nicht gut“, gibt er dir wenig später seine Antwort, die dich überrascht blinzeln lässt. Noch ehe du nachhaken kannst, erklärt er sich von selbst: „Wenn er der Ältere von uns wäre, wäre er der rechtmäßige Thronfolger von Agnapolis. Ich wäre nur der zweite Prinz. … Hm, oder wäre das gut? Ich hätte dann vielleicht mehr Freiheiten und könnte tun und lassen, was ich will, ohne dass man mir ständig hinterherläuft. Ich könnte hingehen, wohin ich will, und tun, was mir gefällt. … Aber das wäre sehr ärgerlich, jetzt, nachdem ich mich bereits durchgesetzt habe. Mein großer Bruder käme zu spät. Ich würde ihn wohl als Erstes fragen, wo er sich die ganze Zeit versteckt hat und warum er sich vor seinen Pflichten als Prinz gedrückt hat. Das würde ich ihm nicht verzeihen.“

Als du erkennst, in welche ungewollte Richtung das ausartet, versuchst du schnell, ihn zu beschwichtigen. „Aber wenn er davon genauso wenig gewusst hätte wie du? Dann hätte er’s nicht böse gemeint und ihr könntet vielleicht anders aufeinander zugehen. Ich meine, wenn es dein Bruder ist, kann er doch bestimmt kein schlechter Kerl sein, meinst du nicht auch?“

Er schlägt die Augen auf und sein fragender Blick trifft auf dich. Leise Panik steigt in dir auf, dass er dich und deine Worte durchschaut haben könnte, und du hoffst inständig, dass er jetzt nicht die falschen Fragen stellt, bei denen du dich verplappern könntest. Sofern du das nicht schon getan hast mit deinem letzten Wink. Ihm traust du es durchaus zu, dass er mehr in dir liest, als du eigentlich zeigen willst – ganz im Gegensatz zu gewissen anderen Personen, die sich leichter täuschen lassen.

„Würde er die Musik lieben?“, will er wissen.

„Bestimmt!“, entgegnest du überzeugt.

„Und die Muse verehren?“

„Sicherlich.“ Du gibst dir alle Mühe, es ebenso zuversichtlich klingen zu lassen.

„Er wäre dann auch ein Prinz von Agnapolis.“ Er lächelt besänftigt. „So würde es wohl sein. Vielleicht wäre er wirklich kein schlechter Mensch.“

„Ja“, bestätigst du und atmest innerlich erleichtert auf. Scheint, als hättest du noch einmal Glück gehabt. „Er wäre bestimmt ein warmherziger Mensch und großartiger Sänger.“

„Hm.“ Er lehnt sich weiter gegen den Baumstamm und bettet seinen Kopf zurück in seine Hände, die er hinter dem dunkelbraunen, beinah schwarzen Haar verschränkt hatte. Sein Blick verliert sich in dem leise raschelnden Blätterdach über ihm und während er sich in seine Gedanken vertieft, ziert ein Lächeln sein Gesicht. „Wenn das so ist“, spricht er dann, „würde ich ihn gern einmal kennenlernen. Meinen älteren Bruder.“

Du beißt dir mit den Backenzähnen sacht auf die Zunge, um dich daran zu hindern, einen unüberlegten Kommentar abzugeben. Die Ironie ist bitter, wenn man um sie weiß, aber dir ist bewusst, dass du nicht das Recht besitzt, es auszuplaudern. So gern du es auch würdest, aber du hast auch hierzu überlegt, was das für mögliche Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Nein, es ist besser, du mischst dich da nicht weiter ein. Nicht jetzt, nicht so.

Wie riskant es von dir war, ihm diese Frage zu stellen, wird dir erst jetzt so richtig bewusst. Und du bist froh, dass es Cecil ausnahmsweise nicht gelungen ist, dich mit einem einzigen Blick in deine Augen zu durchschauen. In Zukunft würdest du vorsichtiger sein.

Es kostet dich viel Mühe, deine Fassade in einem letzten überzeugenden Lächeln aufrechtzuerhalten, als er sich dir wieder zuwendet und mit sanfter Stimme spricht:

„Seltsam. Ich wünschte fast, es gäbe ihn wirklich.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Erenya
2014-03-05T21:52:24+00:00 05.03.2014 22:52
Hach die beiden sind schon knuffig. Eigentlich haben sie ja schon einander und wenn man es von der Serie betrachtet, benehmen sie sich auch wirklich wie Brüder, in gewisser Weise.
Der eine hat nur Flausen im kopf und der andere... mehr oder weniger auch. XDD
Ich mag deine beiden POVs zu diesem Thema.
Die Charaktere sind schön IC, und vorallem wenn man wirklich um die Ironie weiß, fühlt sich man sich perfekt in den RI rein. Man bekommt also wirklich das Gefühl, dass man selbst diese Fragen stellt. Und ehrlich, am liebsten hätte ich es beiden gesagt.
Hach~
Wirklich gut gemacht Shicchi~.
Eins Plus mit Szternchen und Cappucino
Antwort von:  Shizana
05.03.2014 23:02
Huch, gerade erst vom Spaziergang zurückgekommen.
Dankeschön, liebe Eri. Das freut mich sehr. *Stern an den Kragen kleb und am Cappu schlürf* ^^
Und P.S.: Ich hätte es ihnen vermutlich auch gesagt.


Zurück