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Ivan Zarewitsch

von

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Kapitel I-III.1

Zu einer Zeit, an die nicht einmal ich altes Mütterchen mich mehr erinnern kann, so lange ist es her, lebte ein Zar. Er war Herr über prächtige Ländereien: große Wälder, fruchtbare Felder und die klarsten Seen. Sein Schloss war prunkvoll und wunderschön, und seinen Untertanen fehlte es an nichts.

Dieser Zar hatte einen Sohn, der war ihm sehr teuer. Man nannte ihn Ivan Zarewitsch. Er sollte einmal Herr über alles Land des Zaren werden und die lieblichste Prinzessin zur Frau bekommen.

Doch Ivan Zarewitsch war sehr klein und, mit Verlaub, ein wenig hässlich.
 

I
 

„Gurkennase? Sie hat dich Gurkennase genannt?!“ Boris brach in schallendes Gelächter aus, „Das ist ja noch besser als dieser Drosselbart letztes Jahr, wisst ihr noch? Gurkennase!“

Ivan war nicht zum Lachen zumute. Seufzend setzte er sich auf einen Schemel und blickte auf seine Hände, die gefaltet im Schoß lagen. Boris hatte gut lachen: Er war ein junger, gutaussehender Edelmann, groß und stark, und seine Augen glänzten immer voller Tatendrang. Eine der Prinzessinnen, denen Ivan seine Aufwartung gemacht hatte, hatte sie sogar verwechselt und angenommen, Boris wäre der Zarewitsch.

Und jetzt das. Gurkennase. Der ganze Hof hatte über ihn gelacht. Der einzige, der nicht mit in das Gelächter eingestimmt war, war Sergeij, der ihn an Boris‘ statt begleitet hatte. Sergeij der Bärentöter, wie sie ihn nannten. Einzig und allein seine bedrohliche Präsenz hatte die Welle der Belustigung schnell über ihn hinwegschwappen lassen.

„Das ist nicht witzig!“, fuhr Ivan Boris an, der daraufhin tatsächlich den Mund hielt. Er stand mit einem kleinen Hüpfer vom Schemel auf und begann, mit hinterm Rücken verschränkten Händen im Zimmer auf und ab zu gehen. „Vater ist es langsam leid, mich ohne Frau zu sehen. Und er hat Recht: Wenn ich kinderlos Zar werde, bin ich angreifbar. Und außerdem…außerdem redet man im ganzen Land schon darüber, dass Ivan Zarewitsch keine Prinzessin findet!“ Vor dem Fenster hielt er inne und blickte nach draußen. Der Zarenpalast stand auf einer kleinen Anhöhe, und so konnte man nicht nur die kleine Stadt, sondern auch die Felder mit den winzigen Dörfern zwischen ihnen überblicken.

Auf einmal stand Boris neben ihm. „Dort gibt es so viele Mädchen, schön wie junge Birken“, seufzte er, „Doch sie können dir nicht helfen, denn du brauchst eine von Stand.“

„Aber woher? Woher?“, rief Ivan mit einer großen Geste der Ratlosigkeit aus und wandte sich ab. „Ich habe alle edlen Damen und Prinzessinnen gesehen, die es in unmittelbarer Nachbarschaft gibt! Es ist keine mehr übrig! Und ich kann mir wohl schlecht eine aus Brot backen!“

„Was ist mit der schönen Wassilissa?“

Ivan und Boris drehten sich zu Sergeij um, überrascht, dass dieser das Wort ergriffen hatte. Der Hüne stand sonst die meiste Zeit nur wachsam in der Nähe der Tür und ließ sich kaum jemals anmerken, dass er an einem Gespräch teilhatte. Doch wenn er sein Schweigen brach, wogen seine Worte wie Gold.

„Wassilissa?“, fragte Boris zweifelnd, „Wassilissa, die Wunderschöne? Ich hörte, sie sei eine Feengestalt. Nicht zu finden, wenn sie nicht gefunden werden will. Nicht zu reden von heiraten.“ Doch Sergeij verzog keine Miene, sondern setzte sich an den Runden Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand und wies sie an, es ihm gleich zu tun. Boris griff nach einem Krug und goss ihnen Kvas ein. Dann saßen sie und steckten die Köpfe zusammen wie Verschwörer.

„Wie ihr wisst, ging ich vor kurzem auf eine Bärenjagd, die jedoch nicht von Erfolg gekrönt war“, erzählte Sergeij, „Nun, kurzgesagt, das stimmt nicht. Tatsächlich traf ich bald nach meinem Aufbruch auf den größten Bären, den ich je gesehen habe. Aber getötet habe ich ihn nicht. Also: Ich verfolgte ihn drei Tage und drei Nächte lang durch sein Revier. Ich kam so tief in den Wald hinein, dass ich beinahe das Reich der alten Baba Jaga betreten hätte, und dann wäre es mir schlecht ergangen. Aber die Menschenfresserin traf ich nicht, und am vierten Tage fand ich den Bären, wie er auf einer Lichtung auf mich wartete. Was ich euch jetzt erzähle, darüber habe ich nie ein Wort verloren: Der Bär sprach zu mir mit ganz menschlicher Stimme. Er sagte: Lass mich am Leben und ich werde dir ein Geschenk machen, das dir durch alle schweren Zeiten hilft. Ich antwortete, was ein Bär mir wohl für ein Geschenk machen könne und er fragte, ob nicht ein Bärenfell meinen Mantel säumte und mich warm hielt? Es war ein außerordentlich kluger Bär, meine ich. Also willigte ich ein und versprach, ihn nicht zu töten. Daraufhin schüttelte der Bär noch einmal heftig seinen Pelz, und heraus fiel dies“ Mit diesen Worten griff er unter sein Hemd und zog einen seltsam geformten Gegenstand hervor, den er auf den Tisch legte. Es handelte sich um eine Pfeife. Ihr Ende war wie ein Wolfskopf gestaltet.

„Eine Pfeife?“, sagte Boris zweifelnd.

„Mit ihr kannst du einen klugen Ratgeber und nützlichen Wegbegleiter herbeirufen, wann immer du willst“, erklärte Sergeij, „Das zumindest sagte der Bär.“

Ivan hob die Pfeife mit spitzen Fingern auf und betrachtete sie eingehend, bevor er Sergeij ansah. „Willst du damit andeuten, dass wir diesen ‚weisen Ratgeber‘ herbeirufen und er uns sagt, wo wir die Schöne Wassilissa finden, damit ich ihr einen Antrag machen kann?“

„So ungefähr.“

Ivan wechselte einen kurzen Blick mit Boris, der Sergeij daraufhin eine Hand auf die Stirn legte. „Hast du getrunken?“

„Nein!“, wehrte der Hüne brüsk ab. „Ich werde doch nicht vier Tage im Wald verschwinden und mir eine dumme Pfeife schnitzen, um dich damit aufs Korn zu nehmen, Ivan Zarewitsch! Du kennst mich. Ich will nur sagen, du brauchst nun jede Hilfe. Warum nicht das Unwahrscheinliche probieren?“

Ivan stand vom Tisch auf und ging nachdenklich erneut zum Fenster. Es wurde Abend und am Horizont sah man schon die blasse Mondscheibe hinter dem Dunst. „Erntemond“, murmelte er.

„Die letzte Chance vor dem Winter“, sagte Sergeij, „Und nicht die schlechteste Zeit für Unwahrscheinliches.“

Ivan knabberte noch eine ganze Weile auf seiner Unterlippe herum und starrte hinauf zum Mond. Hinter sich hörte er Boris ungeduldig mit dem Fuß über den Boden schlurfen.

„Nun gut“, sagte er schließlich, indem er sich umdrehte, „Ich habe nicht viel zu verlieren. Heute Nacht probieren wir die Wolfspfeife aus.“
 

II
 

Sie saßen am Feldrand unter einer Gruppe Birken, den Blick zum Wald gewandt, dessen Dunkelheit vor ihnen gähnte. Es war Nacht, doch der volle Mond stand hoch am Himmel und erhellte die nach der Ernte kahle Erde.

„Warum nochmal müssen wir in der Nacht losziehen?“, fragte Boris griesgrämig. „Ihr wisst genau, dass diese verflixten Waldkobolde meistens nachts unterwegs sind. Wenn wir nicht aufpassen, klauen sie uns die Kleidung vom Hintern ohne dass wir es merken!“ Tatsächlich war ab und an vom Wald her ein sehr leises, sehr feines Kichern und Niesen zu hören. Die Kobolde sorgten für reichlich Pilze.

„Weil Vollmond das Unwahrscheinliche begünstigt“, brummte Sergiej. Ivan Zarewitsch schnaubte zweifelnd. Es gab ja Dinge in dieser Welt, dessen Existenz er durchaus akzeptieren konnte – zum Beispiel die Baba Jaga (denn wehe dem, der nicht wusste, dass sie im Wald auf Reisende lauerte!) oder die kleinen Kobolde (er war schon öfter beinahe auf einen getreten, weil er ihn für einen Stein oder Stock gehalten hatte). Doch das, was Sergeij ganz richtig als „Unwahrscheinliches“ bezeichnete, stimmte ihn mehr als skeptisch. Allerdings musste er sich eingestehen, dass er gerade deshalb froh war, mitten in der Nacht unterwegs zu sein. Er hätte nicht am helllichten Tage Sergeijs seltsame Pfeife ausprobieren wollen.

„Nun gut; lasst es uns hinter uns bringen“, beschloss er schließlich und streckte die Hand aus, um von dem Bärentöter die Pfeife entgegenzunehmen. Noch einmal betrachtete er sie von allen Seiten, dann setzte er sie an den Mund und spielte eine ungeschickte Melodie. Die Töne, die das Instrument von sich gab, waren dumpf und schienen irgendwie angeraut. Jedenfalls zeugte dies nicht gerade von handwerklicher Meisterlichkeit. Doch das geschäftige Treiben der Kobolde verstummte sofort. Ivan ließ die Hände sinken und sie alle lauschten in den Wald und das Feld hinein, doch alles blieb still. Nur der Wind rauschte leise in den Bäumen.

Sie tauschten untereinander Blicke aus. Boris wirkte nicht sonderlich überrascht. Er stand als erster auf, um langsam den Rückweg anzutreten. Sergeij schien tief in Gedanken versunken, stand jedoch nach einiger Zeit ebenfalls auf. Ivan erhob sich als letzter, um den anderen zu folgen. Er sah immer wieder über die Schulter zum Wald zurück. Es hatte ihn schon etwas enttäuscht, dass auf sein Pfeifen wirklich gar nichts passiert war. Er wollte auch nicht recht glauben, dass Sergeij sich die Geschichte mit dem Bären im Suff erträumt hatte.

Hinter ihm erklang, in einiger Entfernung, als trüge der Wind das Geräusch, ein Heulen.

Ivan hielt augenblicklich inne und wandte sich um, hörte, wie auch Boris und Sergeij zögerten und schließlich zu ihm zurückkamen. Also hatte er es sich nicht eingebildet. „War das ein Wolf?“, fragte Boris, sofort angespannt und mit Blicken die Nacht zu durchsieben versuchend. „Ja…“, murmelte Ivan.

Das Klügste wäre gewesen, den Weg fortzusetzen und schnellstmöglich zum Schloss zurückzukehren. Doch sie verblieben wie angewurzelt. Es war allzu kurios; seit Jahren gab es in dieser Gegend keine Wölfe mehr. Der Zar, Ivans Vater, hatte höchstpersönlich dafür gesorgt, indem er sie selbst bis zum letzten in wochenlangen Jagden verfolgt und erlegt hatte oder Teile seines ebenso jagdlustigen Hofes ausendete, um diese Aufgabe geflissentlich zu erledigen. Der einzige Wolf, den Ivan selbst gesehen hatte, war nur noch ein Fell: Es lag seit er denken konnte auf der Bank in seinem Gemach.

„Kommt“, sagte der Zarewitsch. Er ging erneut auf den Wald zu. „Bist du verrückt geworden?“, zischte Boris, der augenblicklich an seiner Seite war. Ivan beachtete ihn gar nicht, sondern setzte seinen Weg fort. Auf seiner anderen Seite tauchte Sergeij auf, eine weitaus beruhigendere Miene zur Schau tragend als Boris. Der Bärentöter schien sogar irgendwie in seinem Element zu sein. Jedenfalls waren nächtliche Jagden ihm nicht fremd.

Wieder ein Heulen, dieses Mal viel näher. Der Wolf musste ungewöhnlich schnell rennen können, wenn er ihnen in so kurzer Zeit so nah gekommen war. Als sie im Schatten der ersten Bäume standen, lief Ivan ein Schauer durch die Glieder. War das ein Hecheln, das er da, in einem aberwitzig geringen Abstand von sich, hörte? Oder waren doch noch Kobolde da, die Gelegenheit ergriffen, seine Sinne zu verwirren und ihn aufs Korn zu nehmen? Es wurde nun beinahe stockfinster. Ihre Kleider verfingen sich in dornigen Büschen und den Ästen von Setzlingen. Der Boden war aufgeweicht von den ersten Regenfällen des Herbstes und verströmte einen intensiven Geruch nach moderndem Laub. „Ivan Zarewitsch, wo hast du mich hier reingezogen?“, wisperte Boris neben ihm, während sie sich schrecklich langsam noch ein Stück in den Wald hineinwagten, bis Ivan kaum noch seine Schuhe erkennen konnte. Waren das Augen, die das letzte, spärliche Mondlicht reflektierten?

„Zeig dich, Wolf!“, forderte Ivan und ballte seine Hände, die zu zittern begonnen hatten, zu Fäusten. Mit seinen Worten verebbte die Brise, die ihnen die ganze Nacht über in die Kleider gefahren war und die Baumwipfel hoch über ihnen geschüttelt hatte. Es war nun so still, das man ein Blatt hätte hören können, das schwebend auf dem Waldboden aufkommt. Doch selbst ein solches Geräusch war nicht zu vernehmen.

„Ihr habt mich gerufen.“ Die Stimme schien keine Quelle zu haben; sie kam von den Bäumen, von dem Boden, tief und rau strich sie über Ivans Nacken, von dem aus sich eine Gänsehaut über seinem Körper ausbreitete. „Was wollt ihr?“

„Die…die Wassilissa!“, rief Ivan aus, dem beinahe schlagartig wieder eingefallen war, warum sie sich überhaupt in diese Gefahr begeben hatten. Er bemerkte, dass er seine Worte in einer ängstlichen, hohen Färbung hervorgebracht hatte, ärgerte sich augenblicklich über sich selbst und setzte hinzu: „Wassilissa die Wunderschöne. Wir müssen sie finden.“ Nun, das klang zumindest etwas sicherer.

„So so…“ Die Stimme war nun viel leiser und irdischer, als hätte sie ihren Weg zurück in den Körper des Tieres gefunden. Seine Gestalt schälte sich aus der absoluten Dunkelheit, die im Unterholz herrschte, und die drei Männer wagten es nicht, sich zu bewegen.

Der Wolf – es war tatsächlich ein Wolf ; und was solle es auch anderes sein, fragte sich Ivan schnell, natürlich war es ein Wolf…doch das machte den Anblick nicht erträglicher – war riesig, beinahe groß wie ein Bär, doch er bewegte sich so leise, dass nicht einmal Blätter unter seinen Pfoten knisterten. Die Stille um sie herum war noch immer vollkommen, doch die Dunkelheit lichtete sich zusehends, als sich die letzten winzigen Lichtstrahlen des Mondes im Fell des Wolfes verfingen. Er war nicht schwarz oder grau, wie Ivan angenommen, wie er es für normal gehalten hatte, sondern viel heller. Sein Fell war von einem silbrigen Weiß. Die Farbe der Augen blieb ihm unklar, denn ihre geweiteten Pupillen reflektierten nur das kalte Licht.

Der Wolf umkreiste sie mit langsamen, stolzen Schritten, schien die Männer von allen Seiten zu betrachten und …erschnuppern. Boris zuckte plötzlich zusammen, und als Ivan ruckartig den Kopf zu ihm wandte, sah er, wie die große Schnauze des Wolfes Boris‘ Tasche, in der er eine Ration Schinken aufbewahrte, gefährlich nahe kam.

„Die Wassilissa also, so so“, brummte das Tier noch einmal, „Wisst ihr denn, wo ihr nach ihr suchen müsst?“

„Wir, äh“, stotterte Ivan, „Wir dachten, du könntest uns den Weg verraten, guter Wolf:“ Er musste seine Furcht vor diesem Ungeheuer in Schach halten, wenn sie etwas erreichen wollten. So unglaublich es war, Sergeijs Pfeife hatte offensichtlich ihre Aufgabe erfüllt und das Unwahrscheinliche war geschehen. Er verstand es zwar nicht, aber jetzt, wo es passiert war, konnten sie auch weitermachen. Hauptsache, sie schlossen hier nicht gerade unwissentlich einen Pakt mit den Waldkobolden… Doch wie ein Trugbild sah ihr Gegenüber eigentlich nicht aus. Und Ivan hatte noch nie gehört, dass Waldkobolde eine so detaillierte Täuschung vollführen konnten, noch dazu an drei Männern. So war es also, Väterchen Wolf schien so wirklich wie sie selbst zu sein und musste mit aller Vorsicht und Höflichkeit behandelt werden.

„Wo die Wassillissa ist, weiß ich auch nicht“, sagte der Wolf und schnitt damit Ivans Überlegungen ab. Er legte sich hin und platzierte seinen Kopf auf den Vorderläufen. Nun war er mit dem Zarewitsch auf Augenhöhe.

„Du weißt es nicht?“, rief Boris aus, „Aber…die Pfeife…was hat es denn dann für einen Sinn, ihn gerufen zu haben?“, setzte er hinzu und blickte abwechselnd Sergeij und Ivan an.

„Der Bär sagt, du bist ein Ratgeber und Wegbegleiter“, wandte der Hüne sich an den Wolf. Dessen Pupillen wanderten zu ihm. „Das bin ich. Nicht mehr und nicht weniger. Ich kann euch auf dem Weg begleiten, aber allwissend bin ich nicht. Das sind andere.“

„Wer?“, fragte Ivan, bei dem diese rätselhaften Worte die gewünschte Neugier ausgelöst hatten. Beinahe meinte er, einen zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht des Wolfes zu erkennen, doch dieser hatte nicht einmal die Lefzen gehoben. „Oh, da gibt es viele“, antwortete das Tier verschmitzt. Wahrscheinlich machte ihm die ganze Sache immer mehr Spaß. „Den Mond vielleicht, die gute Sonne oder den schnellen Wind. Sie könnte man fragen. Den weisen Hirschen mit dem goldenen Geweih auch, aber der zeigt sich nur, wem er sich zeigen will.“

„Sollen wir also zum Mond gehen?“, fragte Ivan zweifelnd und der Wolf gab ein heiseres Schnauben von sich, das ihn sehr an ein Lachen erinnerte.

„Das könntet ihr natürlich“, sagte er, „Aber ihr wärt ergraut, bevor ihr ihm nahe genug gekommen wäret. Nein, es gibt eine andere Lösung, und diese ist viel einfacher zu bestellen: Ihr könnt die Wassilissa nicht ‚finden‘, wie ihr sagt, denn sie will nicht gefunden werden. Ihr könnt sie aber aus ihrem Versteck locken.“

„Wie sollen wir das machen?“

„Sie ist eine schöne Frau. Die schönste und klügste, sagt man. Ihr braucht eine besonders schöne und wertvolle Gabe, etwas, das sie nicht selbst erreichen kann und sich deshalb seit langem als Geschenk wünscht.“

„Wovon redet er?“, rief Boris zu Ivan gewandt aus. Der Zarewitsch leitete diese Frage mit einem hilflosen Blick weiter zum Wolf. Dieser erhob sich nun wieder gemächlich auf alle Viere und schüttelte sich Blätter und Tannennadeln aus dem Fell, bevor er sich ihnen erneut zuwandte.

„Ich rede von einem Feuervogel.“
 

III
 

Als Ivan erwachte, musste er einmal heftig niesen. Blinzelnd öffnete er die Augen und sah eine kleine, verschwommene Gestalt vor sich stehen. Sie hatte ein knorpliges grünes Gesichtchen, trug Kleidung aus Borkenstücken und eine Pilzkappe auf dem Kopf. Ihre braunen Knopfaugen waren starr auf ihn gerichtet, während sie ihn mit einem Grashalm an der Nase kitzelte. Mit einem Mal wurde der Zarewitsch wach, setzte sich ruckartig auf und verscheuchte den Kobold mit einer wilden Handbewegung. Erst dann fand er Zeit, sich darüber zu wundern, im Freien genächtigt zu haben. Er saß am Rand des Waldes, gerade unter den Zweigen der ersten Bäume. Seine Kleider waren klamm und etwas feucht vom Tau. Neben ihm lagen Sergeij und Boris, tief schlafend, eine Schicht winziger Wassertröpfchen überzog silbrig ihre Mäntel.

Warum waren sie nicht zum Schloss zurückgekehrt?

Er kratzte sich am Kopf und stand taumelnd auf. An den Ästen der alten Eiche, unter der sie die Nacht verbracht hatten, hing das vergilbte Laub des Herbstes. Vom Boden stieg der süße Geruch von Eicheln und Erde auf. Vorsichtig bog Ivan einige Zweige zur Seite, ganz in der Erwartung, hinter ihnen das bekannte Feld zu sehen und dahinter den sanften Hügel, auf dem das Zarenschloss thronte. Doch dem war nicht so: Hier war ein anderes Feld, und ihm zur Seite ein weiteres, und ganz hinten stiegen dünne Rauchsäulen in den Himmel. Dort musste ein Dorf sein, aber ein Schloss war nicht zu sehen.

Wo waren sie gelandet?

„Guten Morgen!“ Erschrocken zuckte Ivan zusammen. Der Gruß war von hinten gekommen und sehr laut ausgesprochen worden. Augenblicklich rührten Boris und Sergeij sich und gaben, während Ivan sich umdrehte, die ersten überraschten Lautäußerungen von sich. Sie schienen ebenfalls ihre weichen Betten erwartet zu haben, keine Matratze aus nassen Blättern. Doch Ivan hatte keine Augen für sie, denn er hatte den Neuankömmling erblickt: Am Stamm der Eiche stand ein junger Mann, nicht älter als der Zarewitsch und seine Begleiter selbst. Er wirkte nicht gerade wie ein Edelmann, dafür waren seine Kleider zu schlicht, doch er trug einen offensichtlich sehr teuren Mantel aus einem weichen, weißen Pelz, der stark mit seinen roten Haaren kontrastierte. In den Händen hielt er einen großen Korb.

Boris war, sobald wachgeworden, sofort bereit, den Zarewitsch zu verteidigen: Plötzlich stand er zwischen Ivan und dem Fremden und hielt seinen Dolch in der Hand. Doch der Rothaarige quittierte dies nur mit einem begeisterten Ausruf: „Ein Messer, sehr gut! Kommt her und helft mir beim anrichten…hier, ich habe Schinken, Käse, Brot…“ Und ihre ungläubigen Blicke richteten sich auf den Inhalt des Korbes, der tatsächlich ein gutes Frühstück enthielt. Boris machte den Mund auf, um etwas zu sagen, wurde jedoch sofort von dem Fremden unterbrochen, der ihn und den jetzt auch vollständig erwachten Sergeij dazu anhielt, ihre Mäntel auszubreiten, damit sie das Essen darauf verteilen konnten. Ehe sie sich’s versahen hielten sie Brot und Käse in der Hand und durften, hungrig wie sie waren nach der seltsamen Nacht, davon kosten. Der Fremde selbst bediente sich ebenfalls großzügig, schien aber besonders den Schinken zu mögen, denn er aß ihn ganz ohne Beilage.

„Nun, Zarewitsch“, sagte er, „Ihr wollt also einen Feuervogel fangen. Zufälligerweise kenne ich mich damit ganz gut aus.“

Ivan runzelte misstrauisch die Stirn. „Und wer seid Ihr, wenn ich fragen darf?“

„Man nennt mich Yuriy Wolfskind“, entgegnete der Rothaarige und biss noch einmal in den Schinken. Erst jetzt, bei genauerer Betrachtung, ging Ivan auf, dass der Mantel, den Yuriy trug, aus einem Wolfspelz gefertigt worden war.

„Dann hat dich Väterchen Wolf geschickt? Letzte Nacht?“

„Nun, so kann man es nennen…“, meinte Yuriy gut gelaunt, „Aber unter uns gesagt: Einige Dinge solltet Ihr lieber nicht hinterfragen.“
 

Yuriy Wolfskind war ein seltsamer Geselle, soviel stand fest. Er war ziemlich lang und schmal, das heißt, größer als Boris, aber viel dünner, und Sergeij konnte auch er nicht überragen. Seine Haare waren beinahe unangenehm rot; nicht sosehr gegen die Farben des Herbstes, dafür aber gegen sein blasses Gesicht, das mit feinen Sommersprossen übersäht war. Er konnte ziemlich viel reden und lächelte ständig, doch Ivan spürte, wie etwas Kaltes, Bedrohliches von ihm ausging, als hätte Yuriy sich dieses Lächeln nur übergezogen wie seinen Mantel. Erst viel später konnte er sich erklären, woher diese Regung kam: Egal, wie heiter er schien, Yuriys helle Augen blieben immer hart wie die eines Raubtieres auf der Jagd.

Er führte sie auf schmalen Wegen durch den Wald, und sie, die sie auf seltsame Weise über Nacht verloren gegangen waren, hatten keine Wahl, als ihm zu folgen. Ivan bemerkte, dass Boris ständig die Hand an seine Waffen gelegt hatte und Sergeij sich aufmerksam nach allen Seiten umsah. Der Bärentöter suchte nach Anzeichen dafür, dass sie dem Reich der Baba Jaga näher kamen, denn wer wusste schon, ob Yuriy Wolfskind nicht einer ihrer Handlanger war? So hielt auch Ivan Augen und Ohren offen, achtete auf die kleinen Tiere, die durchs Geäst und durch das Unterholz huschten und auf eine verdächtige Anzahl von Fliegenpilzen. Doch nichts deutete darauf hin, dass sie sich auf dem Weg zur Hexe befanden.

Wo waren sie hier hineingeraten? Aus einer Brautschau war ganz offensichtlich eine Irrfahrt geworden. Wassilissa die Wunderschöne! Er hätte ein Bauernmädchen nehmen sollen. Etwas herausgeputzt hätte sie eine gute Prinzessin abgegeben. Vielleicht hätte es der Zar nicht einmal gemerkt, wenn man ihr Herkunftsland einfach erfunden hätte. Aber nun war es zu spät, sie befanden sich in den Händen eines Vertrauten eines durch eine Pfeife herbeigerufenen Wolfes.

„Wie fängt man einen Feuervogel?“, fragte Ivan irgendwann, als ihn die Stille zwischen ihnen zu sehr bedrückte.

„Oh, das ist nicht ganz so einfach“, sagte Yuriy und klang dabei schon wieder aufreizend munter, „Das Gefieder ist sehr heiß, also werden wir Handschuhe aus festem Leder brauchen. Dann müssen wir einen ihrer Nistplätze ausfindig machen. Und erst jetzt kommt der schwierigste Teil: Wir müssen die Vögel in eine Falle locken.“

„Und womit tun wir das?“, brummte Sergeij. Yuriy warf ihm über die Schulter einen verschmitzten Blick zu und zeigte ein wölfisches Grinsen. „Mit goldenen Äpfeln“, sagte er, „Und die finden wir im Garten des Zaren Fjodor.“ Tatsächlich befanden sich die Schlösser des Zaren, Ivans Vaters, und Fjodors nicht weit voneinander entfernt. Nun ging Ivan auf, dass sie wohl schon den ganzen Tag auf dem Weg zum anderen Hof waren. Von den goldenen Äpfeln hatte er natürlich auch schon gehört, doch genauso bekannt war eigentlich auch, dass Fjodor sie hütete wie seinen Augapfel. Sie schienen ihm sogar noch wichtiger zu sein als seine eigene Tochter, um deren Hand Ivan schon sehr früh angehalten hatte. Natalia Zarewna war ein dunkelhaariges Mädchen mit Puppengesicht und hübschen Rundungen hier und da. Doch leider war sie bei Ivans Anfrage gerade erst fünfzehn gewesen, noch dazu schwer verliebt in einen Stallknecht, und hatte deshalb sofort abgesagt.

„Wir werden bei Nacht über die Mauer klettern“, sagte Yuriy in diesem Augenblick, „Die Wachen umgehen, ein paar Äpfel holen und zurück. Es dürfte nicht schwerfallen.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Phase
2014-01-02T19:56:41+00:00 02.01.2014 20:56
Ich muss zugeben, dass ich es extrem Schade finde, dass du deine Geschichte nicht zum Wettbewerbsende fertig gestellt hast (weshalb sie leider nicht mit in die Auswertung kam), denn ich finde sie bisher wirklich richtig gut. Sie hat wahnsinnig viel Potenzial und bisher finde ich den Handlungsverlauf sehr spannend - ich fände es klasse, wenn es doch mal weiter ginge und wir erfahren könnten, was nun mit Ivan und der schönsten aller Frauen wird.
Die Idee, verschiedene Märchen zu vermischen (zumindest habe ich so deinen Beschreibungstext verstanden), finde ich ausgezeichnet umgesetzt. Es liest sich flüssig und alles passt gut zusammen. Wie geht es wohl weiter? Was für Abenteuer müssen sie bestehen?
Die verschiedenen Charaktere hast du in sich stimmig beschrieben und sie auch überzeugend rüber gebracht. Mir tut ja Ivan wahnsinnig Leid, dass er keine Frau findet... Aber zumindest hat er ja zwei skurile Typen an seiner Seite (bzw. später mit dem Wolf sogar drei...). Also ist er zumindest nicht ganz alleine. xD
Wenn du mal weiterschreibst, lese ich mit Begeisterung, was der Truppe passiert. :D
Ehrlicherweise frage ich mich ja wirklich, ob sich Wassilissa tatsächlich dazu herablässt zu erscheinen und ob Ivan und sie sich tatsächlich ineinander verlieben...

Und damit die Botschaft auch wirklich ankommt, wiederhole ich sie nocheinmal: Schreib bitte weiter! D:
Antwort von:  lady_j
06.01.2014 15:32
Vielen Dank für deinen lieben Kommentar! Mir war eigentlich schon klar, dass ich es damit nicht in den WB schaffe, aber ich hatte einfach zu viel um die Ohren v.v Deswegen noch mal ein extra Danke dafür, dass du dir die Story trotzdem angesehen hast :D
Im Grunde sollte die Geschichte gar nicht allzu lang werden, dafür aber ordentlich skurril. Mal gucken, ob mir noch was schönes einfällt :D
Von:  KradNibeid
2013-12-11T20:49:25+00:00 11.12.2013 21:49
Hi,

Ich schreibe diesen Kommentar, während ich die FF lese. Wundere dich also nicht, wenn manchmal Fragen/Bemerkungen auftreten, die später noch aufgeklärt werden. =3


Der Anfang der Geschichte ist einfach genial, vor allem der letzte Satz der Einleitung - "Doch Ivan Zarewitsch war sehr klein und, mit Verlaub, ein wenig hässlich."
Ich habe mich weggeschmissen. xDDD Und in Verbindung mit dem nächsten Absatz ist das einfach genial.

Die Charakterisierungen der drei Jungs finde ich echt toll. Dass du jedem irgendwie seinen eigenen Kontext und einen Charakter gegeben hast, obwohl sie noch kaum auftauchen, macht die Geschichte sehr sympathisch. Und Ian tut mir Leid - es ist sicher nciht schön, das Gespött des Zarenhofes zu sein. )=


Das Gespräch mit Sergeij ist sehr toll; ich mag, wie du ihn als ruhigen Hünen beschreibst, und schon allein das erste Kapitel hat mich voll gefangen. Wirklich, einfach toll - wie du mit den Figuren umgehst, wie du langsam die Fäden der Geschichte spinnst und sie verwebst, wie du die Charaktere einbringst - einfach toll.

Die Begegnung mit dem Wolf im zweiten Kapitel ist einfach fantastisch geschrieben.
Ich war so gebannt, ich habe es gar nciht über mich gebracht, zwischendurch zu kommentieren.

Wie du die Figuren handeln lässt ist sehr überzeugend, und es ist toll, dass jeder seinen eigenen Charakter behält und anders auf die Situation reagiert. Auch den Wald und die Begegnung mit dem Wolf beschreibst du toll - die Geschichte ist unglaublich dicht, man wird richtig in einen Bann gezogen.

Der nächste Morgen ist sehr schön beschrieben, auch wie Yuriy zu ihnen stößt. Ich finde es interessant, wie du ihn charakterisiert hast, aber es wirkt sehr überzeugend. Ob er ihnen wohl Glück bringen wird? Momentan bin cih mir da nicht so sicher....



Es ist schade, dass die FF vor Wettbewerbsende nciht fertig geworden ist. )= ABer ich fände es toll, wenn du sie fortsetzen würdest - dein Schreibstil ist wirklich gut, es macht Spaß die Geschichte zu lesen und man wird richtig gefesselt. Einfach toll!
Von:  bloodydream
2013-11-06T22:48:50+00:00 06.11.2013 23:48
Hallo^^,
auch wenn ich die original Versionen nicht kenne, finde ich deine Version sehr interessant. Es lässt sich schön flüssig lesen und ich kann mich gut in die Geschichte einfinden.
Es ist wirklich schade das du nicht fertig geworden bist und ich hoffe doch sehr das du nach dem WB weiterschreibst. Ich würde mich sehr darüber freuen^^

bis hoffentlich bald^^
bloody


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