Zum Inhalt der Seite

Auf den zweiten Blick

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Peter Mertens

Luca stand schon seit einer geschlagenen halben Stunde am Straßenrand und starrte auf die Einfahrt, die zum Haus seines leiblichen Vaters führte. Obwohl er die Bezeichnung ‚Haus‘ etwas untertrieben fand. ‚Villa‘ traf es schon eher. Die Einfahrt mündete in einen gut gepflegten Vorgarten, in dem im Frühling und Sommer sicher viele Blumen blühten. Doch so spät im Herbst war davon nichts mehr zu sehen. Außer den Beeten. Sie waren unförmig und unregelmäßig angeordnet und zwischen ihnen verliefen Wege aus weißem Kies.

Vor dem Haus befand ich ein kleiner Parkplatz, auf dem zwei Autos standen und locker Platz für noch drei weitere war. Beide Autos sahen sehr neu aus und waren bestimmt extrem teuer gewesen. wie der Rest wohl auch. Das Haus war in einem dunklen Rotton gestrichen, vier Etagen hoch und hatte eine beeindruckende Grundfläche. In der Ecke hinter den Autos konnte er eine Art Schuppen oder Garage sehen.

Sein Vater musste wirklich reicht sein, wenn er sich das alles leisten konnte. Kein Wunder, dass es ihn nicht störte, monatlich die Dreitausend Euro zu überweisen.

Das Haus zu finden, war leichter gewesen, als er gedacht hatte. Er hatte nur im Telefonbuch nachschlagen müssen. Es gab nur einen Peter Mertens in der Stadt. Dort hatte auch eine Telefonnummer gestanden, die er sich neben der Adresse in sein Handy gespeichert hatte, nur für alle Fälle. Vielleicht brauchte er sie mal.

Der Blondhaarige warf einen Blick auf den Briefkasten, der an dem prunkvollen Zaun, der das Grundstück umgab, angebracht war. Das dazugehörige Tor vor der Einfahrt war verschlossen und ließ sich auch nicht öffnen. Dafür war eine Klingel neben dem Briefkasten angebracht. Über ihr befand sich eine Sprachanlage und eine kleine Lise, die wohl zu einer Kamera gehörte.

Auf dem Klingelschild und dem Briefkasten stand der Name seines Vaters, daneben der einer Frau: ‚Nina Wagner‘. Sie war wohl die Freundin oder Lebensgefährtin seines Vaters.

Die Nachbarhäuser sahen ähnlich prachtvoll aus. Luca vermutete in einer Art Villenviertel gelandet zu sein, obwohl er noch nie davon gehört hatte. Und noch eine Sache hatte er festgestellt: Nicholas wohnte nur zwei Straßen weiter. Da waren die Häuser und Gärten immer noch gut gepflegt, aber nicht mehr so prunkvoll. Trotzdem war es wohl eine Gegend für Reiche.

Ganz anders, als die Gegend, in der Luca wohnte. Die meisten Häuser dort konnten einen neuen Anstrich vertragen oder waren sogar baufällig und die Garten waren meist eine einfache Grünfläche.

Luca gehörte nicht hier her, das wusste er. Er wollte es aber auch gar nicht. In dieser verkorksten Welt der reichen Leute würde er sich niemals wohlfühlen können. Er wollte nur, dass sein Vater ihm half. Wie genau, wusste er nicht. Es war ihm auch egal. Er wollte nur weg von dem Ort, den er sein Zuhause schimpfte, weg von Jochen und weg von Sonja. Etwas anderes interessierte ihn nicht.

Es begann zu dämmern und Luca stand immer noch, wie bestellt und nicht abgeholt vor dem Grundstück. Er konnte nicht den Mut aufbringen, auf die Klinge zu drücken. Was, wenn sein Vater ihm nicht half? Wenn er ihn wieder fortschickte? Oder wenn er gar leugnete, mit ihm verwandt zu sein? Dann wäre alles vorbei. Er hatte kein Einkommen und die paar Euros, die er gespart hatte, würden weder reichen, um ihn zu ernähren, bis er das Abitur beendet hatte, noch konnte er sich davon Kleidung oder ein Dach über dem Kopf leisten. Selbst wenn er in allen verbleibenden Ferien jobbte, würde er nicht genug Geld aufbringen können.

Allein kam er nicht von Jochen weg, das wusste er. Er brauchte die Hilfe anderer Menschen. Zur Polizei konnte er nicht gehen. Jochen würde alles abstreiten, Sonja ihm zustimmen und Luca am Ende wie ein Lügner dastehen. So war es das letzte Mal gewesen, als er vor ein paar Jahren einer seiner Lehrerin von den Misshandlungen erzählt hatte. Sie hatte ihm danach kein Wort mehr geglaubt und Jochen hatte ihn krankenhausreif geprügelt. Seitdem hatte er mit keinem mehr darüber gesprochen und wenn er ehrlich war, wollte er das auch nicht mehr. Er wollte vor den anderen, vor seinen Freunden, nicht noch schwächer dastehen, als er ohnehin schon war. Wobei er wieder bei seinem Ausgangspunkt angekommen war: Er brauchte die Hilfe seines Vaters. Nur war der Blondhaarige sich nicht sicher, ob dieser ihm helfen würde. Denn obwohl sie miteinander verwandt waren, waren sie doch Fremde. Wenn Peter das, was er in seinen Briefen an Sonja geschrieben hatte, ernst gemeint hatte, würde er Luca die Tür vor der Nase zuschlagen und das wäre es gewesen. Aber er konnte inzwischen auch seine Meinung geändert haben, immerhin war das Ganze nun schon fast Siebzehn Jahre her.

Trotzdem fürchtete der Siebzahnjährige sich davor, was passieren würde, wenn er jetzt den Klingelknopf drücken würde. Es gab nur zwei Möglichkeiten: entweder sein Vater würde ihm helfen oder er warf ihn wieder raus und zerstörte damit alle seine Hoffnungen.

Ohne die Hoffnung, dass es vielleicht besser werden könnte, dass es vielleicht jemanden gab, der ihn da rausholte, würde Luca es nicht bis zu seinem Abitur dort aushalten, wahrscheinlich nicht einmal bis zu seinem Achtzehnten Geburtstag in knapp einem Jahr. Deshalb wollte er sich diese Hoffnung nicht zerstören. Er brauchte sie, um am Leben zu bleiben.

Natürlich gab es noch die Möglichkeit, dass Peter nicht zu hause war, doch dass würde die beiden Möglichkeiten nur zeitlich etwas weiter nach hinten verschieben und an der Situation nichts ändern.

Am liebsten hätte der Blondhaarige sich geohrfeigt. Warum war er überhaupt hergekommen, wenn er sich nicht mal traute, zu klingeln? Dann hätte er das Ganze auch sein lassen können. Er zog sich die Kapuze seines Sweatshirts, das er unter seiner Jacke trug, wieder ins Gesicht, um sicher zu gehen, dass niemand ihn erkannte. Wenn sie schon über ihn redeten, und das würden sie bestimmt, dann sollten sie wenigstens nicht wissen, wer er war. Er sah seinem Vater viel zu ähnlich, als dass sie die Verwandtschaft nicht bemerken würden und selbst wenn er behauptete, ein entfernter Cousin zu sein, konnte er es nicht ganz abstreiten.

Langsam wurde ihm kalt, was nicht weiter verwunderlich war, schließlich war es bereits Mitte November und dauerte sicher nicht mehr lange, bis es beginnen würde, zu schneien. Er vergrub seine Hände in den Jackentaschen, was allerdings nicht viel brachte, da sie schon durchgefroren waren. Es war wohl besser, wenn er ging und ein andermal wiederkam. Er würde es heute doch eh nicht mehr fertigbringen, auf die Klingel zu drücken.

Er hatte sich gerade zum Gehen umgewandt und war ein paar Schritte gegengen , als ein Auto die Straße entlangfuhr und vor dem Haus seines Vater hielt. Luca beobachtete, wie sich das Tor in der Einfahrt automatisch öffnete und das Auto auf den Parkplatz fuhr. Das Tor schloss sich wieder. Ein älterer Mann stieg aus, Luca stellte verwundert fest, dass das nicht sein Vater war. Doch dann öffnete der Mann die Hintertüren und verneigte sich etwas. Ein zweiter Mann stieg aus, gefolgt von einer Frau. Obwohl es schon relativ dunkel war, erkannte Luca den zweiten Mann als Peter Mertens, seinen Vater. Die Frau hinter ihm musste dann wohl diese Nina sein, vermutete er.

Sogar einen Chauffeur hatte sein Vater. Er musste wirklich sehr reich sein.

Der Blondhaarige musste sich ihnen unbewusst genähert haben, denn auf einmal stand er direkt in der Einfahrt. Sie schienen ihn ebenfalls bemerkt zu haben, denn plötzlich schauten sie ihn alle drei an. Der Chauffeur kam mit zügigen Schritten auf ihn zugelaufen.

Luca wich zurück, ehe er sich umwandte und wegrannte. Er rannte so schnell, wie ihn seine durchgefrorenen Beine trugen. Die kalte Luft brannte in seinen Lungen, doch er ignorierte sie. Er wusste nicht, warum er rannte, nur, dass er nicht von seinem Vater entdeckt werden wollte. Er wusste ja noch nicht einmal, wie er ihn ansprechen, oder gar gegenübertreten sollte.

Erst als er an der Bushaltestelle angekommen war, hielt er an. Erschöpft ließ er sich auf einen der dort angebrachten Sitze fallen, hoffend, dass der Bus bald einfuhr.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  chrono87
2014-03-07T21:01:22+00:00 07.03.2014 22:01
Ich hätte nicht vermutet, dass Luca allein gehen wird. Irgendwie habe ich angenommen, dass Nicholas ihn nicht alleine gehen lässt. Immerhin hat sonst auch immer alles gemacht, um Luca nicht allein zu lassen, selbst wenn er es subtil gemacht hat.
Nun gut, Luca geht also alleine und ich von der Umgebung völlig erschlagen. Kann ich sehr gut nachempfinden. So wie er gelebt hat und was er nun zu sehen bekommt sind zwei verschiedene paar Schuhe. Wahrscheinlich ist es gar nicht so schlecht, dass sein Vater nicht da gewesen ist. Es wäre sicher sehr peinlich geworden, wenn dieser ihm die Tür geöffnet und Luca dann die Flucht ergriffen hätte. Immerhin ist er am Ende doch davongelaufen.
Antwort von:  Seira-sempai
07.03.2014 23:51
Nicholas hat es nicht für nötig erachtet, Luca zu begleiten, weil Luca gesagt hat, dass er zu seinem Vater gehen möchte. Aus seiner Wortwahl lässt sich schließen, dass er nicht will, dass seine Freunde mitgehen. Außerdem hatten sie schon etwas anderes vor.
Ja, Luca ist weggerannt, aber ihn hat keiner erkannt, auch nicht sein Vater. Er hatte sein Gesicht aber auch unter einer Kapuze versteckt.
Von:  tenshi_90
2014-03-07T12:35:10+00:00 07.03.2014 13:35
Ich kann den inneren Kampf von Luca sehr gut nachvollziehen. Schließlich kennt er seinen Vater nicht und weiß auch nicht wie er reagieren wird. Er kennt ja nur die Briefe, die seine Mutter im Safe aufbewahrt...

Bin gespannt, wie es weitergehen wird...
Antwort von:  Seira-sempai
07.03.2014 13:47
Es blebt auf jeden Fall spannend und es dauert auch nicht mehr lange, bis Luca seinen Vater anspricht...


Zurück