Eskalation
Samuel öffnete die Tür. Zuerst schaute er den Blondhaarigen verwundert an, dann zeigte sich ein Lächeln in seinem Gesicht. „Nicholas ist oben“, sagte er freundlich, „Sheila macht ihm gerade die Haare.“ Er trat zur Seite und deutete Luca an, hereinzukommen.
Das tat Luca auch, denn er wollte nicht länger als nötig draußen in dem Schneesturm stehen bleiben.
Er zog seine Stiefel aus und stellte sie auf die dafür vorgesehenen Gummimatten im Flur, damit er nicht den Boden versaute. Seine Jacke hängte er an die Garderobe, Mütze und Handschuhe stopfte er, wie er es immer tat, in den Ärmel. Sie waren glücklicherweise nicht so durchnässt, dass er sie hätte auf eine Heizung legen müssen. Den Schal behielt er an, er war noch trocken und wärmte seinen halb durchgefrorenen Körper.
„Ist etwas passiert?“, fragte Samuel. Besorgt musterte er den Blondhaarigen. Er schien die Verletzungen bemerkt zu haben, denn er zog den Siebzehnjährigen in die Küche, wo er ihn auf einen Stuhl drückte. Wenig später kam er mit einem Erste-Hilfe-Set zurück.
„Das brennt ein bisschen“, meinte er, ehe er begann, Lucas aufgeplatzte Lippe zu desinfizieren. Dann lächelte er, scheinbar erleichtert. „Es sieht nicht so schlimm aus. In ein paar Tagen ist das wieder heil.“
Luca nickte, nicht wissend, was er sagen sollte. „Danke.“
„Nicholas ist im Bad“, meinte Samuel, während er den Verbandskasten wieder wegräumte, „die Treppe hoch die zweite Tür links.“
Dankbar nickte der Blondhaarige, ehe er zu besagter Tür lief. Leise klopfte er. Als sich drinnen nichts tat, öffnete er sie.
Zwei Augenpaare blickten ihn überrascht an und auch Luca war etwas überrascht von dem Abblick, der sich ihm bot.
Nicholas saß oben ohne auf einem Hocker in der Mitte des Raumes. Um seine Schultern hing ein altes Handtuch, das schon mehrere Farbflecke zu haben schien. Schräg hinter ihm stand Sheila. In der linken Hand hielt sie ein Fläschchen schwarze Haarfarbe, in der rechten einen Kamm.
„Hallo“, flüsterte Luca unsicher. Irgendwie kam er sich vor, als würde er stören.
Doch Sheila lächelte nur. „Geh doch schon einmal zu Nicholas ins Zimmer. Ich bin gleich mit ihm fertig.“
Da der Schwarzhaarige nichts dagegen sagte, tat Luca, was sie von ihm verlangte. Er wusste vom letzten Mal noch, wo sich das Zimmer seines Klassenkameraden befand und hatte es dementsprechend schnell gefunden. Erschöpft ließ er sich auf das dort stehende Doppelbett fallen. Nicholas würde schon nichts dagegen haben.
Er ließ seinen Blick durch das Zimmer wanderte. Es sah richtig gemütlich aus, fand er, auch wenn der grüne Teppich es etwas kalt wirken ließ. Dafür war er aber schön flauschig.
Obwohl sein Körper erschöpft war, konnte der Blondhaarige nicht zur Ruhe kommen, weshalb er sich wenig später wieder aus dem Bett erhob und unruhig im Zimmer auf und ab lief, hoffend, dass Nicholas bald kommen würde. Er musste mit seinem Freund sprechen, und das schnell, bevor er es sich noch anders überlegte. Aber konnte er das denn noch? Schließlich hatte er kein Zuhause mehr, wohin er zurückkehren konnte. Er musste mit Nicholas sprechen, eine andere Wahl hatte er nicht.
Irgendwann blieb Luca dann vor dem Schreibtisch stehen und besah ihn sich genauer. In der Ecke stand ein eingerahmtes Foto. Es zeigte eine Familie, die glücklich in die Kamera lächelte. Als Luca es näher betrachtete, fiel ihm auf, dass es Nicholas‘ Familie war. Er hatte seinen Klassenkameraden nicht sofort erkannt, da er auf diesem Foto noch keine schwarzen Haare hatte.
Vorsichtig nahm Luca das Foto in die Hand. Der Rahmen sah aus, als sei er teuer gewesen und er wollte ihn auf keinen Fall beschädigen. Mit dem Fingern strich er über Nicholas‘ Gesicht. So wie hier auf diesem Foto hatte er seinen Klassenkameraden noch nie lächeln sehen. Es war ein offenes, ehrliches Lächeln.
Als die Tür hinter ihm aufging und Nicholas hereintrat, drehte der Blondhaarige sich zu ihm um, das Bild noch immer in der Hand haltend. Jetzt fiel es auch dem Schwarzhaarigen auf. Sein Blick verfinsterte sich. In seinen Haaren befand sich die Farbe, die Sheila eben aufgetragen hatte und die jetzt wohl einwirken musste. Außerdem hatte die Frau ihm die Haare hochgesteckt. „Leg das weg!“, zischte er aufgebracht.
Erschrocken zuckte Luca zusammen. So hatte sein Klassenkamerad seit Beginn des Schuljahres nicht mehr mit ihm gesprochen. Er fühlte sich, als sei er geschlagen worden. „Entschuldige“, flüsterte er und legte das Foto schnell auf den Schreibtisch hinter sich. Er hätte es nicht anschauen sollen.
Nicholas‘ Gesicht zeigte keine Regung. Irgendwie war er anders als sonst, bemerkte Luca. Etwas stimmte nicht mit ihm, er verhielt sich seltsam. Das konnte doch nicht nur daran liegen, dass er sich das Foto angesehen hatte. Nicholas konnte unmöglich nur deswegen so wütend sein.
„Weshalb bist du hergekommen?“, verlangte der Schwarzhaarige zu wissen.
„Ich-“ Luca brach ab. Er konnte es nicht sagen, nicht, solange Nicholas ihn so ansah. In seinem Hals bildete sich ein unangenehmer Klos, den er auch nach mehrmaligem Schlucken nicht loswurde. Hätte er vielleicht besser bis morgen gewartet und seinen Freund dann in der Schule darauf angesprochen? Aber Nicholas hatte gesagt, er solle zu ihm kommen, egal wann. Trotzdem fühlte er sich, als störe er.
Verzweifelt schüttelte der Blondhaarige seinen Kopf und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Er würde jetzt nicht weinen!
Der Schwarzhaarige kam einige Schritte auf ihn zu. „Jetzt sag schon endlich, was du willst. Du bist doch nicht grundlos mitten in der Nacht hergekommen!“
Luca wich zurück. Nicholas machte ihm Angst. Dieser Blick, wie er ihn ansah, war der gleiche wie der von Jochen, bevor er ihn verprügelte. Als der Schwarzhaarige dann auch noch die Hand nach ihm ausstreckte, stieß Luca gegen den Schreibtisch. Mit den Händen hielt er sich an der Kante fest, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dabei stieß er mit einer Hand gegen den Bilderrahmen.
Dieser rutschte zur Seite, über die Tischkante hinaus und fiel auf den Boden. Mit einem leisen Klappern kam er auf dem Boden auf und zerbrach, trotz des flauschigen Teppichs.
Geschockt starrte Luca zuerst auf den Riss, der sich jetzt quer über das Foto zog, dann zu Nicholas. „Es tut mir leid“, schluchzte er. Das hatte er nicht gewollt.
„Verschwinde“, fauchte der Schwarzhaarige.
Ein stich zog sich durch Lucas Herz.
Als der Blondhaarige nicht sofort reagierte, packte er ihn an den Schultern und stieß ihn in Richtung der Tür. Den Rucksack warf er ihm hinterher. Dabei fiel sein Handy aus der Seitentasche, in der er es immer verstaute. Es landete direkt vor Nicholas‘ Füßen.
Mit zitternden Fingern griff Luca nach seinem Rücksack und hastete aus dem Zimmer. Das Handy ließ er liegen. Um es aufzuheben, hätte er Nicholas näher kommen müssen und das traute er sich im Moment nicht. Außerdem war es nicht weiter wichtig. Er hatte seit Monaten kein Geld mehr drauf und seine Nummer hatte auch keiner.
Der Blondhaarige rannte die Treppe hinunter, sprang in seine Stiefel, warf sich die Jacke um und stürmte aus dem Haus. Erst als er wieder draußen im Schneesturm stand, ließ er seine Tränen fallen. Ungehemmt flossen sie ihm über das Gesicht. Er zog Jacke, Mütze und Handschuhe wieder an und schloss den Reißverschluss seiner Jacke.
Noch immer begriff er nicht, was gerade passiert war. Nicholas hatte ihn rausgeworfen. Dabei hatte er es versprochen! Er hatte versprochen, für ihn da zu sein, ihn nicht allein zu lassen! Waren das nur leere Worte gewesen? Mit einem Schlag wurde ihm klar, dass er wieder allein war. Er hatte niemanden mehr, an den er sich wenden konnte. Nicholas wollte ihn nicht mehr. Keiner interessierte sich für ihn. Keiner wollte ihn. Es war wieder alles so, wie es gewesen war, bevor Nicholas die Hand nach ihm ausgestreckt hatte.
Doch warum tat es dann so weh? Warum zog sein Herz sich so schmerzhaft zusammen, dass er kaum noch Luft bekam? Er war es doch gewohnt, schließlich war er schon immer allein gewesen. Nicholas war der erste, der sich um ihn gekümmert hatte, der erste, der ihn menschliche Nähe hatte fühlen lassen. Der erste, der ihn getröstet hatte, wenn er geweint hatte, und umarmt hatte, wenn er Schutz suchte. Ohne ihn fühlte Luca sich seltsam leer. Als hätte man ein Stück aus ihm herausgerissen und ihn mit einer blutenden Wunde zurückgelassen.
Was stimmte mit ihm nicht, dass ihn keiner wollte? Was hatte er getan, um das zu verdienen? War sein Wunsch so unmöglich zu erfüllen? Er wollte doch nur, dass ihn jemand liebte!