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Paranoia

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Paranoia

Der Albtraum reißt Toris aus dem Schlaf. Er kauert sich im Sitzen auf seinem Bett zusammen, nimmt seinen Kopf in beide Hände und hält ihn fest. Seine Atmung ist kurz, abgehackt, ein gieriges Luftschnappen, als sei er ein Dieb, der sich etwas aneignet, das ihm nicht zusteht. Er fühlt sich ausgelaugt, wie verbraucht und weggeworfen. Sein Kopf pocht dumpf, seine Haare fühlen sich steif und fettig an, das T-shirt klebt vor Schweiß, ein zweckentfremdetes Basketballtrikot, dunkelgrün, gelber und roter Streifen an der Seite herunter. Er möchte es ausziehen, den synthetischen Stoff einfach herunter reißen, aber er hat Angst. Ein unangenehmes Kribbeln erfüllt die alten Narben auf seinem Rücken. Wenn er sich auszieht, wird er die Haut gleich mit abschälen, in großen Fetzen, und darunter wird er nichts anderes mehr sein als er selbst.
 

Der Morgen dämmert hinter grauen Wolken herauf. Toris kocht einen ordentlich starken Kaffee, um wach zu werden. Als er beinahe fertig ist, steht Alfred in der Tür zur Küche.

„Morgen.“

„Guten Morgen“, erwidert Toris und lächelt ihn an. Alfred sieht müde aus. Er trägt dieselbe Jeans, dasselbe Hemd und dieselbe braune Lederjacke wie gestern, seine Kleider sind zerknittert, seine Haare zerzaust. Er rückt die Brille zurecht und grinst schief.

„Gibt's Kaffee?“

„Ist sofort fertig.“

Alfred nickt und grinst weiter, aber es ist anders als früher. Seine alte Zuversicht und seine Selbstsicherheit, die sein Grinsen immer so unverwechselbar gemacht haben, sind verschwunden. Nicht spurlos, das wäre zu viel gesagt – aber das andere ist mittlerweile viel stärker. Das andere, das ihn jetzt dazu bringt, zum Fenster zu gehen und hinaus zu sehen, gespielt beiläufig, in Wahrheit angespannt. Er untersucht die Rosenbüsche im Vorgarten, examiniert den kleinen Pflaumenbaum neben dem Gartentor, zuckt kaum merklich zusammen, als eine Meise auf dem Vogelhäuschen vor dem Fenster landet.

„Hast du wieder nicht geschlafen?“, fragt Toris leise.

„Scheint alles ruhig zu sein“, sagt Alfred und ignoriert die Frage. Früher hätte er das nicht getan. Er hat schon immer das ignoriert, was ihn verängstigt oder traurig gemacht hat, aber für die Sorgen der anderen, für Toris' Sorgen hat er immer ein offenes Ohr gehabt. Neuerdings hat sich diese Einstellung, die Alfreds gesamte Persönlichkeit geprägt hat, ins Gegenteil verkehrt.

„Der Kaffee ist fertig.“

Die Meise beäugt Alfred hinter der Scheibe, schnappt sich verstohlen einen Sonnenblumenkern und flattert davon. Alfred verharrt einen Moment, wo er ist, dreht sich dann um und setzt sich auf seinen Platz am Küchentisch.

„Möchtest du Toast?“

„Nein, danke. Keinen Hunger.“

„Du musst etwas essen!“, rutscht es Toris heraus, der sich nicht beherrschen kann. „Sieh dir an, wie du abgenommen hast! Das kann doch nicht gut sein!“

„Toris“, sagt Alfred überrascht und hebt beschwichtigend die Hände. „Keine Panik, okay? Ich habe einfach keinen Appetit.“

Toris beißt sich auf die Lippe. „Versuche es“, sagt er störrisch und schiebt zwei Scheiben Brot in den Toaster. „Bitte, Alfred, mir zuliebe. Es wird dir gut tun.“

„Es geht mir gut, Toris. Ich kann allein auf mich aufpassen.“

„Aber ich will dir helfen. Deswegen bist du doch hier, oder? Ich will dir helfen, und das werde ich tun.“

Alfred lächelt, sagt aber nichts. Sobald es fertig ist, nimmt er sein Toast entgegen und beißt eine winzige Ecke ab, ein Löffelchen für Toris, frisches, knuspriges Toast ohne Aufstrich, trocken ohne alles. Den Rest lässt er liegen, und als er kalt und pappig geworden ist, wirft Toris ihn weg.
 

„Was ist das?“

„Was?“ Alfred wendet sich vom Waschbecken im Badezimmer ab und lässt das Fläschchen unauffällig in seine Tasche rutschen. Er tut es nicht unauffällig genug, und seine Stimme klingt derart ertappt, dass er Toris nichts vormachen kann. Umso weniger, weil Toris schon seit Tagen diesen Verdacht hat.

„Was hast du da genommen?“

„Was? Oh, meinst du das hier?“ Er grinst und zieht das Fläschchen wieder hervor, kann aber nicht verbergen, wie widerwillig er es tut. „Ein paar Vitamine und so. Du weißt schon, ich bin nicht ganz auf der Höhe in letzter Zeit.“

Toris tritt näher und will das Fläschchen nehmen, aber da Alfred sich weigert, es loszulassen, greift er stattdessen nach Alfreds Unterarm und zieht seine Hand näher an sein Gesicht. Auf dem Glas klebt kein Etikett, aber dahinter erkennt er viele kleine Tabletten in verschiedenen Farben.

„Ein paar Vitamine also?“

„Hat mein Boss mir gegeben.“

„Gegeben?“

„Weil ich ihn darum gebeten habe.“

„Warum hast du ihn darum gebeten?“

„Weil ich mich nicht gut gefühlt habe, habe ich doch gesagt!“ Zum ersten Mal, seitdem Alfred hier ist, wirkt er wütend. „Hör auf, mich auszufragen, Toris! Was gibt dir das Recht dazu?“

Er reißt seinen Arm aus Toris' Griff, wendet sich ab und steckt seine Vitamine nachdrücklich weg. Toris bemerkt, dass sein Kopf schwirrt vor Sorge, vor Entrüstung, vielleicht auch vor Wut.

„Ich will dir helfen, Alfred, das gibt mir das Recht! Ich mache mir Sorgen um dich! Seitdem du hier bist, hast du kaum einen Bissen gegessen und nicht geschlafen, höchstens ein paar Minuten gedöst! Das kann doch nicht gesund sein, Alfred! Ein normaler Mensch hält so etwas gar nicht durch, ohne ...“

Er verstummt. Ohne? Es ist so offensichtlich, er hat es schon die ganze Zeit über gewusst, aber er wollte es nicht einsehen.

„Toris“, sagt Alfred, der ihm nach wie vor den Rücken zudreht. „Wir haben eine Vereinbarung getroffen, mit beidseitigem Einverständnis. Teil der Vereinbarung war, dass keine Fragen gestellt werden. Nicht nur keine indiskreten Fragen. Gar keine Fragen.“

„Aber ...“

„Hast du das verstanden, Toris?“, unterbricht Alfred ihn laut. Toris will widersprechen, aber anstatt es zu tun, senkt er den Blick auf den Boden. Alles in ihm sträubt sich gegen dieses eine, kleine Wort. Taip. Yes, right, everything you want. Taip.

„Ja.“

„Sehr gut. Was gibt es also noch zu diskutieren?“

Alfred verlässt an Toris vorbei das Bad, ohne ihn auch nur anzusehen.
 

„Es tut mir leid“, sagt Toris leise.

Alfred brummt etwas. „Braucht dir nicht leid zu tun.“

Damit ist die Sache erledigt. Alfred wird sich nicht entschuldigen, aber das ist okay, das hat er schließlich noch nie getan. Toris hat von Anfang an gewusst, worauf er sich einlässt, und hat sich dennoch dafür entschieden, Alfred rückhaltlos zu unterstützen. Seitdem verscheucht er hartnäckig die Zweifel, ob das die richtige Entscheidung war.

„Sollen wir rausgehen?“, fragt er, um sich abzulenken.

„Bei diesem Wetter?“

„Es sieht nicht nach Regen aus. Ich habe dieses Wetter eigentlich recht gern, weißt du? Trocken, ein wenig Wind, und ...“

Alfred zuckt so heftig zusammen, dass Toris sich ebenfalls erschreckt. „Was ist denn?“

„Da ist jemand an der Tür“, zischt Alfred.

„Was?“

„Hast du ihn nicht gehört?“

„Ich habe nichts gehört.“

„Da ist jemand“, flüstert Alfred. Er ist unheimlich blass, fahrig und zittrig. Das ist nicht der Alfred, den Toris kennt.

„Ich werde nachsehen, ob jemand da ist. Wenn ...“

Es klingelt an der Tür und Alfred zuckt erneut zusammen.

„Vielleicht die Post.“ Toris versucht, so munter wie möglich zu klingen. „Ich werde mal nachsehen.“

„Bist du sicher, dass es ungefährlich ist?“

„Natürlich ist es das. Was soll schon passieren?“

Er bemerkt, dass Alfred unter seiner Jacke nach seiner Pistole tastet. Das tut er viel zu oft in letzter Zeit, und Toris versucht, sich nicht von seiner Beklemmung anstecken zu lassen. Mit festen Schritten macht er sich auf den Weg zur Tür. Natürlich ist es nur die Post, wer sollte es sonst sein?

„Guten Tag“, sagt die Postbotin, als er die Tür öffnet, und hält ihm einen Brief hin. „Toris Lorinaitis, richtig? Sie müssen den Empfang bestätigen.“

Toris setzt seine Unterschrift auf das elektronische Gerät und nimmt den Briefumschlag entgegen. Er ist recht dick.

„Und dieser hier ist auch noch für sie“, erklärt die Frau und drückt ihm einen zweiten, dünneren Umschlag in die Hand.

„Vielen Dank.“

Langsam schließt er die Tür und macht sich auf den Weg zurück ins Haus. Schon im Flur erwartet Alfred ihn, der die Pistole langsam wieder unter seine Jacke schiebt.

„Die Post?“

Er klingt so irritiert, dass Toris lachen muss, obwohl er es eigentlich nicht zum Lachen findet. „Ja, Alfred. Die Terroristen klingeln immer nur dienstags.“

Alfred starrt ihn an, als sei Toris Ronald Reagan und habe gerade während einer Mikrofon-Probe im Radio verkündet, die Sowjetunion sei zum sofortigen Abschuss freigegeben. Toris windet sich unter seinem Blick und weiß, dass der Witz schlecht war. Er schüttelt den Kopf, als wolle er die Erinnerung daran vertreiben, und hält Alfred den dickeren der beiden Umschläge hin.

„Dieser ist sicher für dich.“

„Tatsächlich?“, fragt Alfred überrascht und greift danach.

„Niemand schreibt mir Briefe mit solchen Sicherheitsvorkehrungen. Sicher sind es Anweisungen von diversen Regierungsorganisationen.“ Diverse Regierungsorganisationen, ganz richtig, Toris hat Alfreds Euphemismus fraglos übernommen. Sie gehen zurück in die Küche, wo Alfred seinen Umschlag aufschlitzt und Toris den zweiten, weniger diskret behandelten Brief in Augenschein nimmt. Aus irgendeinem Grund gefällt er ihm nicht. Das Logo, das auf der Vorderseite zu sehen ist, ist ihm allzu bekannt.

„Worüber beschweren sie sich wohl dieses Mal?“

Alfred reagiert nicht. Er hat mehrere Bögen Papier aus dem Umschlag gezogen und liest sie aufmerksam. Toris greift nach dem Streichmesser, das nun auf der Tischplatte liegt, und öffnet seinen Brief. Er besteht nur aus zwei Blättern, doch nachdem er Absender und Betreff auf dem ersten gelesen hat, lässt er beide fallen, als habe er sich verbrannt.

„Was ist los?“, fragt Alfred und sieht auf. Seine Wachsamkeit und sein alarmierter Ton entlocken Toris ein schiefes Lächeln.

„Ich bekomme Besuch.“

„Besuch?“

„Von der Vereinigung Guter Menschen.“

Mit leicht geöffnetem Mund sieht Alfred ihn an. „Wie haben die denn schon wieder Wind von der Sache bekommen?“

Toris schüttelt ratlos den Kopf und bemerkt, dass seine Hände zittern. Noch hat er nicht einmal realisiert, was das bedeutet. Wie durch einen Schleier nimmt er wahr, dass Alfred aufsteht und seine Schulter drückt.

„Davon geht die Welt nicht unter, Toris. Sicher ist es nur ein Routinebesuch, du wirst schon sehen. Sie werden dir überhaupt nichts beweisen können.“

Toris nickt, obwohl er sich nicht sicher ist.
 

Alfred wird noch sehr lange auf dem Sofa vor dem Fernseher sitzen bleiben, vermutlich bis zum nächsten Morgen, ohne zu schlafen. Toris hatte eigentlich vor, sich irgendwann zu verabschieden und ins Bett zu gehen, aber er bringt es nicht über sich. Alfred sieht so müde aus, so angespannt und bis aufs Äußerste gereizt. Dass das nichts Neues ist, macht es nicht einfacher.

„Was stand in dem Brief?“

„In welchem Brief?“, fragt Alfred geistesabwesend.

„Dem von diversen Regierungsorganisationen.“

„Ach, der. Ganz viel offizieller Kleinkram. Ich kann dir nicht alles sagen, fürchte ich. Sie sind manchmal ein bisschen geheimniskrämerisch.“

„Nun, das ist ihr Job, denke ich.“

Alfred lacht. „So gesehen ... Jedenfalls werde ich dir das, was dich betrifft, noch früh genug sagen. Vertrau mir einfach, okay?“

Toris nickt und fragt sich, ob Alfred nicht weiß, dass er ihm ohne Zögern sein Leben anvertrauen würde. Schon immer hat er sich auf Alfred verlassen, und vielleicht tut er es noch selbstverständlicher, seitdem sie ihre Vereinbarung getroffen haben. Aber all das bedeutet nicht, dass er sich keine Sorgen um ihn macht.

„Gefällt dein Zimmer dir eigentlich nicht?“

„Was?“

„Das Gästezimmer“, erklärt Toris geduldig. „Ich habe es dir doch gezeigt. Gefällt es dir nicht?“

Alfred sieht ihn von der Seite her an. „Das Zimmer ist absolut in Ordnung“, sagt er. Das weißt du doch, sagt sein Blick.

„Woran liegt es dann, dass du nicht dort schläfst?“

„Wie könnte ich denn? Da draußen sind unzählige Menschen, die mir Böses wollen, Toris. Die mich hassen bis aufs Blut. Wie könnte ich bei alledem ruhig schlafen?“

Toris kaut auf seiner Lippe herum.

„Alfred? Was sind das für Pillen, die du nimmst?“

Er hat halb erwartet, dass Alfred wieder eingeschnappt oder aggressiv reagiert, aber das tut er nicht. Stattdessen betrachtet er den flackernden Fernseher, der ohne Ton läuft, schließt kurz die Augen und seufzt.

„Irgend so ein Zeug, das sie für das Militär entwickelt haben. Doping, wenn du so willst. Steigert die Konzentration und die allgemeine Leistungsfähigkeit ... natürlich nur für eine gewisse Zeit.“

Toris sagt nichts dazu. Die Nazis haben es getan, die Sowjets haben es getan. Die Idee ist nicht neu.

„Also kannst du es nicht ewig nehmen.“

„Ich kann schon“, widerspricht Alfred.

„Aber du wirst es nicht tun“, beharrt Toris. „Es ist nur für eine Weile, nicht wahr? Ich meine, solange du es nimmst, kommst du nicht zum Schlafen. Irgendwann musst du doch ...“

„Am elften September 2001“, unterbricht Alfred ihn, plötzlich aufgebracht, was Toris sich nicht erklären kann. „Wo warst du da?“

„Was hat das denn mit ...“

Wo warst du, Toris?“

„Hier, zu Hause. Ich weiß noch, wie ich es im Radio gehört habe.“

„Da! Fällt dir etwas auf? Jeder weiß, wo er gewesen ist. Jeder weiß es. Dieser Tag hat Geschichte geschrieben. Unglaublich, wie einfach man Geschichte schreiben kann, was? Zwei entführte Flugzeuge in zwei Hochhäuser, und schon wird kein Mensch den Tag jemals vergessen.“

Er schüttelt den Kopf, halb wütend, halb resigniert.

„Und wo warst du, Alfred?“, fragt Toris leise.

„Auch bei mir zu Hause. Auf dem Sofa.“ Alfred lacht verbittert. „Ich habe geschlafen.“
 

Vielleicht hätte er sitzen bleiben sollen, anstatt ins Bett zu gehen und allein im Dunkeln zu liegen, erschöpft, aber rastlos. Kaum sind ihm die Augen zugefallen, gleitet er wieder in seine Albträume ab, irrt durch Gänge aus Beton, reißt sich an verschlossenen Türen die Fingernägel blutig, sitzt in winzigen Räumen fest und ernährt sich von Lügen. Anfangs würgt er sie mühsam hinunter, zitternd vor Ekel, saure oder bittere oder künstlich süße Lügen. Später gewöhnt er sich an den Geschmack, freundet sich damit an. Und noch später werden die Lügen zur Wahrheit. Wenn man etwas nur lange genug durchkaut, ist es irgendwann die Wahrheit.
 

Der flimmernde Fernseher weist ihm den Weg durch den dunklen Flur ins Wohnzimmer. Wie üblich sitzt Alfred vollständig angezogen auf dem Sofa. Er bemerkt sofort, dass Toris in der Tür steht, wirkt aber nicht allzu erschrocken. Das beruhigt Toris, der sich die vom Schlaf verklebten Augen reibt und sein Trikot zurecht zupft.

„Was ist los, Toris? Kannst du nicht schlafen?“

„Ich bin aufgewacht.“

„Ich habe dich doch nicht geweckt, oder?“

Er will verneinen, aber vielleicht wäre das gelogen. Zögernd setzt Toris sich in einigem Abstand zu Alfred auf das Sofa und zieht die Knie an. Sie beben leicht.

„Ich habe wirres Zeug geträumt.“

„Und davon bist du aufgewacht?“

„Ich ... dachte, ich hätte komische Geräusche aus dem Keller gehört.“

Ein unangenehmes Schweigen legt sich zwischen sie, und Toris bereut schon, es ausgesprochen zu haben. Er will nicht, dass sich irgendetwas zwischen sie legt. Besonders nicht die Stille.

„Toris.“ Alfred räuspert sich. „Alles, was hier passiert, ist absolut notwendig.“

„Ich weiß.“

„Es gibt so viele Menschen da draußen, die mich hassen. Die alles tun würden, um mir oder meinen Kindern Schaden zuzufügen. Und ich muss mich gegen diese Menschen wehren, verstehst du? Das muss ich doch. Es ist meine Pflicht gegenüber meinen Kindern.“

Toris betrachtet seine nackten Zehen.

„Es ist nichts Falsches daran, Toris. Die diversen Regierungsorganisationen wissen genau, was sie tun. Sie würden niemals jemanden verhaften, der unschuldig ist.“

„Ich weiß!“, sagt Toris so laut, dass es ihn selbst erschreckt. „Ich habe dir gesagt, ich helfe dir, Alfred. Ich habe dir gesagt, wenn du nicht weißt, wo du diese gefährlichen Leute unterbringen sollst, dann gib sie mir, ich kümmere mich schon darum. Ich tue alles, wenn es dir dabei hilft, dass du wieder ruhig schlafen kannst. Egal, was ... was das bedeutet.“

Er wünschte, es wäre wahr. Er wünschte, er könnte seine Skrupel schlucken und daran denken, dass der Zweck die Mittel heiligt, dass Alfred sein Freund ist und seine Hilfe braucht. Was ist verwerflich daran, einem Freund in einer Notlage zu helfen? Grundsätzlich nichts, aber es gibt immer Grenzen, wird die Vereinigung Guter Menschen sagen. Grenzen, die man nicht überschreiten darf. Auch nicht, wenn man es für einen Freund tut – für einen, der krankhaft paranoid ist seit diesem verfluchten Tag, der sein Weltbild zerstört hat. Seit dem Tag, an dem er geschlafen hat.

„Hast du Angst?“, fragt Alfred. „Dass sie es herausbekommen, meine ich. Bekommst du große Probleme, wenn die Sache auffliegt?“

„Das ist unwichtig, weil die Sache nicht auffliegen wird. Aber darum geht es überhaupt nicht, Alfred.“ Toris legt den Kopf in den Nacken und massiert sich die Schläfen. Die Kopfschmerzen lauern seit Wochen hinter seiner Stirn, ohne offen die Zähne zu zeigen.

„Ich frage mich die ganze Zeit, ob es richtig ist. Ich meine ... wie kann es richtig sein, einen Menschen ohne Gerichtsbeschluss einzusperren und zu ...“

Er spricht das böse Wort nicht aus, weil man nie wissen kann, wie Alfred darauf reagiert. Selbstverständlich kann Alfred sich das Wort auch so denken. Er legt die Stirn in Falten und seine Lippen werden zu einem kühlen, harten Strich.

„Folter ist ein dehnbarer Begriff.“

„Ist er nicht.“

Doch, Toris.“

Im bläulichen Licht des Fernsehers kann Toris Alfreds gehetzten und gleichzeitig grimmig entschlossenen Ausdruck erkennen.

„Ich werde alles tun, was in meinen Augen nötig ist, um meine Kinder vor dem Hass anderer zu beschützen. Mehr werde ich zu diesem Thema nicht sagen.“

Toris nickt langsam und senkt den Blick. Die Sache ist erledigt. Er muss allein mit seinen Skrupeln zurechtkommen – Alfred jedenfalls hat keine. Er hat immerhin einen guten Grund, zu tun, was er tut. War es egoistisch von ihm, dass er nach Toris' Hilfe gefragt hat, obwohl der gar nichts damit zu tun hat? Oder wäre es egoistisch von Toris, deshalb nicht zu helfen, weil Alfreds Kinder in Gefahr sind und nicht seine eigenen? Wenn es umgekehrt wäre, hätte Alfred ihm geholfen, überlegt er. Alfred hilft immer. Er ist immer der Gute, und alles, wofür er sich einsetzt, ist gut. Alles andere würde Toris' Weltbild zerstören, und sicher nicht nur seines.

Im Grunde, fällt ihm plötzlich ein, ist es doch die Sicherheit der Welt, die in Gefahr ist. Die Sicherheit ihrer aller Welt. Sollte er nicht stolz darauf sein, diese Sicherheit zu beschützen – mit welchen Mitteln auch immer?

„Was läuft überhaupt?“

„Wo?“

„Im Fernsehen“, murmelt Alfred.

Toris zieht verblüfft die Augenbrauen hoch. „Basketball. Schon die ganze Zeit.“

„Deine Liga?“

„Deine.“

„Na so etwas.“

Es gibt in letzter Zeit so viele Dinge, die Alfred nicht mehr wahrnimmt, weil er anderes im Kopf hat.
 

Normalerweise lohnt es sich, über schwierige Entscheidungen eine Nacht zu schlafen, bevor man sie endgültig trifft. Da er nach ihrer Unterredung nicht mehr einschlafen konnte, hat er den Rest der Nacht wach gelegen. Hoffentlich zählt das auch.

„Du solltest abreisen.“

„Warum?“, fragt Alfred erschrocken.

„Und du solltest sie mitnehmen“, fährt Toris fort.

„Wen?“

Er deutet mit einer flüchtigen Handbewegung nach unten. Alfred betrachtet den Fußboden, obwohl Toris selbstverständlich das meint, was sich unter dem Boden abspielt.

„Mach dir keine Sorgen um irgendwelchen Papierkram, Visa und so weiter – das regle ich schon. Das Wichtigste ist, dass du und sie hier verschwinden.“

„Heißt das, du hilfst mir nicht weiter?“, fragt Alfred, aber Toris kann hören, dass er das nicht wirklich glaubt.

„Wenn du jetzt bei deinen Leuten anrufst, kannst du morgen schon wieder zu Hause sein – mit den anderen. Diverse Regierungsorganisationen werden dir ganz sicher helfen. Um Papiere musst du dir keine Sorgen machen, wie gesagt, das erledige ich. Hauptsache, alles geht schnell und unauffällig über die Bühne.“

„Sie werden es trotzdem herausfinden, Toris. Die Vereinigung Guter Menschen oder irgendjemand sonst, den sie dazu motivieren können, sich einzumischen. Du kannst die Spuren nicht restlos beseitigen.“

„Nein“, gibt Toris zu. „Aber darum geht es auch überhaupt nicht. Es geht darum, den Schaden zu begrenzen – weshalb du hier weg musst.“

„Du meinst, du hilfst mir weiterhin?“

„Ich würde alles tun, um dir zu helfen, Alfred. Und alles bedeutet alles.“

Alfred sieht ihn an und schüttelt leicht den Kopf. „In dir steckt so viel mehr, als alle sehen, Toris“, stellt er fest und lacht. „Ich weiß nicht, ob mir das vielleicht Angst machen sollte.“

Er drückt Toris kurz an sich, und Toris denkt, dass es zumindest ihm manchmal Angst macht. Halbherzig legt er die Arme um Alfred und reibt über seinen Rücken, ein ziemlich breiter Rücken, den Alfred da hat, sehr kräftige Schultern, obwohl er in letzter Zeit so beängstigend abgenommen hat und seine Bewegungen manchmal so fahrig und unkontrolliert wirken. Jetzt allerdings ist er weder zittrig noch angespannt, sondern ganz in seinem Element. Manchmal ist er eben doch noch der Alte. Etwas von dem alten Alfred wird immer da bleiben, und wenn es noch so tief verschüttet wird. Allem voran diese völlig grundlose Zuversicht, die alles an ihm durchdringt und die die schönste Art von Zuversicht ist, die Toris kennt.

„Sieht aus, als würden wir uns für eine Weile nicht sehen.“ Alfred lässt ihn los und grinst schief.

„Pass auf dich auf ...“

„Mache ich doch immer.“

„... aber nicht zu sehr, bitte.“

„Man kann nicht vorsichtig genug sein!“, erwidert Alfred überzeugt. Und dann erklingt irgendein harmloses Knacken im Garten und er fährt zusammen, weicht einen Schritt zurück in den Schatten und tastet nach seiner Waffe. Toris möchte weinen und lacht stattdessen, ein nervöses, gekünsteltes Lachen.
 

Den Keller hat er nicht mehr betreten seit dem Tag, an dem Alfred vor seiner Tür stand, so nervös, dass Toris nur eins wollte: den selbstsicheren Alfred von vorher zurück. Der Gang ist leer und kalt, die Türen mit den vergitterten Fenstern stehen offen. Zögernd setzt er einen Fuß vor den anderen, den Eimer mit Wasser in der Hand. Er hat etwas zu erledigen.

Wahllos betritt er eine der Zellen und sieht Blut, teils rotes, teils fast schwarzes Blut, das an eine Wand gespritzt ist und als Schleifspur einen Schritt weit über den Boden führt. Wo kommt es her? Er weiß es nicht und verbietet sich, darüber zu grübeln. Er braucht nichts zu wissen, auch nicht über die stinkenden Flecken in der hinteren Ecke und die Kratzspuren an der Innenseite der Tür. Alles, was hier passiert ist, war notwendig.

Der Eimer Wasser in seiner Hand wird schwer. Er stellt ihn dicht bei dem Blutfleck ab, kniet sich daneben und greift nach dem Lappen, der träge in dem Eimer dümpelt. Das Wasser ist eiskalt. Mit einer kurzen Bewegung aus dem Handgelenk klatscht er den Lumpen auf die angetrocknete Blutlache. Er tut es wie im Traum, aber er versucht, es so deutlich wahrzunehmen wie möglich. Er will es begreifen.

Das hier war notwendig. Wir sind die Guten.

Normalerweise tun solche Sätze ihm gut, sie beruhigen und bestätigen ihn. Heute scheinen die Sätze ihn regelrecht zu verhöhnen. Dennoch wiederholt Toris sie beharrlich, kaum hörbar in der Stille. Er hat seine Erfahrungen mit Gehirnwäsche gemacht, meistens von der weniger wünschenswerten Seite aus, was in seinem speziellen Fall genau das Richtige ist. Wenn man etwas oft genug wiederholt, wird es irgendwann die Wahrheit.

Wir sind die Guten. Alles, was hier passiert ist, war notwendig. Du hast das Richtige getan.

Seine Knie schmerzen auf dem harten Boden, seine Finger tun jetzt schon weh, doch er wird weitermachen. So lange, bis alles Blut verschwunden ist, oder bis seine Haut vor Kälte und Feuchtigkeit aufreißt und neues Blut das alte überdeckt. Was davon zuerst passiert, ist Toris egal. Was die Vereinigung Guter Menschen zu alledem sagt, ist ihm egal. Im Grunde ist es ihm sogar egal, was Alfred oder diverse Regierungsorganisationen von ihm denken, denn sie alle ändern nichts an seinen Zweifeln. Die Zweifel sind da, und er ist fest entschlossen, sie auszumerzen.

Du hast es doch nur getan, weil du plötzlich den Nervenkitzel aus dem Kalten Krieg wieder gespürt hast, von dem du dachtest, du hättest ihn nie vermisst – aber genau das hast du. Und nun willst du dir einreden, dass es richtig war. Die Guten sind die Guten und die Bösen die Bösen. Mal die Welt wieder schwarzweiß, Toris, das macht das Leben doch so viel einfacher. Wir sind die Guten. Ich habe nichts falsch gemacht.

Er hört sein Schluchzen in dem leeren Raum widerhallen und sieht seine Tränen auf die heftig geröteten Hände und den zerlumpten Lappen fallen. Er nimmt es hin, ohne darauf zu reagieren. Wenn niemand es sieht, darf er weinen, solange er der Gute ist. Solange er die Lügen am Ende so oft durchgekaut hat, dass sie die Wahrheit geworden sind.



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