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Blue Mazda Christmas

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Blue Mazda Christmas


 

- 1 -

Im Gegensatz zu dem beißenden Wind, der die dicken Schneeflocken umherwirbelte, begrüßte das Wohnhaus Mark Oliver mit einer stickigen Wärme. Er schüttelte sich den Schnee aus den braunen Haaren, die mit Grau durchzogen waren, und aus dem Kragen seiner verschlissenen Jeansjacke. Ein Zittern ging durch seinen Körper, als er die Stufen des Wohnhauses hochstieg.

Es war leicht zu vergessen, wie kalt es werden konnte, wo doch der Winter in Fairburrow sonst recht milde blieb. Nur alle paar Jahre sanken die Temperaturen tief unter den Nullpunkt, so dass die Schneedecke liegen blieb, während noch mehr von der weißen Masse vom Himmel segelte. Unaufhörlich, wie es schien.

Zudem rief es Erinnerungen wach. Das letzte Mal, als Fairburrow im Schnee versunken war, hatte es seine Rückkehr nach Georgia eingeläutet und er wäre beinahe in der eisigen Kälte ausgeblutet und erfroren. In Momenten wie diesen wäre ihm das sogar lieber gewesen; es hätte ihm Arbeit erspart.

Sich an den vergoldeten und teilweise rostigen Ziffern an den Haustüren orientierend folgte Mark dem Gang im ersten Stockwerk bis zu seinem Ende. Doch bevor er die Klingel betätigte, holte er ein zerknittertes Papier aus der Hosentasche. Darauf abgebildet war das ausgedruckte Bild eines alten Mannes, mit einem schwarzen Schnurrbart und ungewaschenen Haaren. Der finstere Gesichtsausdruck ähnelte seiner Haustür, welche die einzige war, an der kein Weihnachtskranz oder eine andere Dekoration hing. Sie war kahl und lieblos.

Hinter dieser wurden nun geräuschvoll die Riegel und Schlösser geöffnet, Mark zählte insgesamt vier, als er das Bild wieder wegsteckte.

Das gleiche zerfurchte Gesicht zeigte sich auf der anderen Seite des Türrahmens und musterte Mark von seinen Haarspitzen bis zu seinen Stiefeln. „Was wollen Sie? Ich kaufe nichts.“

„Alexey schickt mich“, erwiderte Mark. Noch im selben Moment schob er den Fuß in die Tür, hielt sie somit offen, als sein Gegenüber sie zuschmeißen wollte. Sie wussten offensichtlich beide, warum Mark hier war. Mit seinem gesamten Gewicht stemmte er sich gegen das Holz. Sie rangelten miteinander, bis Mark die Tür weit genug aufgedrückt hatte, um sich durch den Spalt zu schieben. Sie krachte hinter ihm zu, der alte Mann keuchend und mit aufgerissenen Augen dagegen lehnend, während Mark die Taurus hinten aus dem Bund seiner Jeans zog. Der Daumen zog den Hammer der silbernen Pistole zurück, als er den Lauf auf die Brust des Alten richtete. „Ab ins Wohnzimmer, Shane“, murmelte Mark mit einer Stimme, die ihn stets heiser erscheinen ließ. Er machte einen Schlenker mit der Pistole und Shane drückte sich an der Wand entlang, um seiner Aufforderung Folge zu leisten. Gemeinsam traten sie von dem dunklen Flur in das beleuchtete Wohnzimmer, das aus verschiedenfarbigen Möbeln bestand. Ein brauner Tisch stand vor einem dunkelgrünen Sofa und auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein schwarzer Schubfachschrank, auf dem ein Fernseher stand. Auf dem Bildschirm lief eine Pokerrunde, in der niemand ein Wort von sich gab, sondern lediglich Karten gelegt und Chips hin und her geschoben wurden. Eine halbleere Bierflasche stand auf dem Tisch und der bläuliche Dunst in der Luft und der volle Aschenbecher kategorisierten Shane als Kettenraucher.

Dieser sackte auf das Sofa, als hätten seine Beine ihn keine Sekunde länger mehr halten können. Sein Blick wechselte zwischen Mark und dem Fernseher hin und her und Mark wollte am liebsten umdrehen und den Alten sein Pokerspiel zu Ende sehen lassen. Stattdessen sagte er: „Wer einmal mit Alexey Pawlow ins Geschäft kommt, sollte wissen, dass er es nicht mag, hinters Licht geführt zu werden.“

„I-Ich hatte keine Wahl. Entweder ich helfe ihnen oder sie stecken mich weg. Haben gesagt, dass ich in meinem Alter nie mehr das Tageslicht sehen werde.“ Mark nahm an, dass es stimmte, obwohl Shane nur ein Kleinkrimineller war, der unter dem Tisch hier und da ein bisschen Heroin verkaufte, meistens an Nachbarn und ein paar der Jugendlichen, die sich in diesem schäbigen Viertel herumtrieben.

„Man hat immer eine Wahl.“ Es war eine Tatsache, von der Mark wusste, aber die leichter gesagt als getan war. Wieso wäre er sonst auch hier? „Mit jedem Päckchen Heroin, das Alexey dir überlassen hat, hat er auch dein Schweigen gekauft. Er dachte wirklich, dass er sich richtig ausgedrückt hat.“

„Aber—“ Ein weiterer Pistolenschlenker ließ Shane innehalten, die Schultern angespannt und kerzengerade auf dem Sofa sitzend. Vielleicht war es aus der Angst heraus, womöglich wartete er aber auch nur auf den richtigen Moment, um aufzuspringen und die Pistole aus dem Schubladenschrank greifen zu können. Zu diesem zuckten seine Augen zumindest stets herüber; es war doch nicht das Pokerspiel, das ihn so beschäftigte.

„Mir brauchst du dich nicht zu erklären“, sagte Mark resignierend. Er holte den Schalldämpfer aus der Innentasche seiner Jacke und schraubte ihn auf den Lauf seiner Taurus, umständlicher mit den Handschuhen, die er trug. Die Nässe, die sich in seine Jacke gesogen hatte, ließ ihn trotz der Hitze hier drinnen frösteln, doch allzu lange wollte er sich nicht mehr aufwärmen. Egal, wie lange er es herauszögern würde, letztendlich konnte er sich vor der Arbeit nicht drücken. Er hatte es Alexey versprechen müssen, dass er sich darum kümmern würde. „Ich bin nur der Nachrichtenüberbringer. Vielleicht hätte dich Alexey sogar davonkommen lassen, aber dank deinen Falschinformationen ist einer seiner Männer von der Polizei aufgegriffen worden. Er hat den Platz eingenommen, der eigentlich für dich reserviert war. Im Gegensatz zu dir, war der ihm aber um einiges nützlicher und hat nicht versucht, ihn in eine Falle zu lotsen. Du verstehst, was ich damit sagen möchte?“

Shane erhob sich ruckartig. Marks Pistole folgte ihm in einer ermüdeten Geste, doch Shane nutzte sie nicht aus, um zum Schrank herüberzuhechten. Nein, er hob nur die Hände, als könnten sie ihm als Schilde fungieren. „W-Wenn du mich jetzt tötest, dann macht dich das zu einem Mörder. Die Polizei wird dich nie in Ruhe lassen u-und Gott wird dich für deine Sünden strafen.“

„Ich bin kein Mörder.“ Doch noch bevor Mark den Abzug mehrfach drückte und Shanes Körper zurück auf das Sofa fiel, wusste er, dass er gelogen hatte. Er hatte schon unzählige Leben zerstört, Shane war nur ein weiterer Mann auf einer scheinbar endlosen Liste. Mark fuhr sich mit einer behandschuhten Hand über das stoppelige Kinn, als er den sterbenden Mann röcheln und ächzen hörte. Drei rote Kreise breiteten sich weiter und weiter auf Shanes Hemd aus, Arme und Beine von sich gestreckt. Nur eine Hand wanderte in die Richtung des Tisches, zu dem Mobiltelefon herüber, welches Mark erst jetzt ins Auge fiel. Er steckte seine Taurus weg und schob das Handy außer Reichweite. „Tut mir leid, aber so ist das nicht vorgesehen“, entrann es Mark im gesenkten Ton, mied jedoch Shanes glasigen Blick.
 


 

- 2 -

Der Schneefall hatte zugenommen und schränkte die Sicht erheblich ein. Vor wenigen Sekunden war es noch ein Vorteil gewesen, als Mark die in Plastiktüten eingewickelte Leiche Shanes heruntergetragen und in den Kofferraum seines silbernen Audis verstaut hatte. Es war keine Menschenseele bei diesem Wetter anzutreffen. Zudem feierten normale Menschen an Heiligabend oder saßen wenigstens gemütlich mit der Familie zusammen, anstatt jemanden wie Mark bei seinem Tun zu beobachten.

Nun war der Schnee jedoch ein Hindernis, als er den Wagen durch die engen Gassen lenkte und schließlich auf den Highway fuhr, der ihn wieder nach Fairburrow bringen würde. Der dichte aus Flocken gemachte Vorhang ließ sich auch nicht durch die Scheibenwischer vertreiben, die quietschend und ohne Unterlass arbeiteten. Obwohl die Heizung lief, war der Innenraum genauso kalt wie außerhalb und Marks Atem formte Wölkchen. Aber was hatte er erwartet? Schon im August hatte er gewusst, dass sein Audi ihn im Winter frieren lassen würde.

Mark fuhr unter dem Geschwindigkeitsminimum, ähnlich wie viele der anderen Autos um ihn herum. Keiner wollte auf der glatten Fahrbahn die Kontrolle verlieren und eine Massenkarambolage auslösen. Gerade hier unten in Georgia hatten die Autofahrer kaum Erfahrung mit diesen Wettereinflüssen. Lebte man jedoch einige Jahre in Kentucky, lernte man auch damit umzugehen. Marks Laune verbesserte es trotzdem nicht, als er angestrengt durch die Scheibe in die Finsternis starrte. Sie wurde durch seine Scheinwerfer und dem Schnee erleuchtet, der abgesehen von den Ränder zu unansehnlichem Matsch gefahren wurde. Die roten Rücklichter anderer Fahrzeuge rückten näher, als die vierspurige Straße vor ihm zu stauen begann. Mark war gezwungen auf die Bremse zu treten, eines der wenigen Sachen, die noch einwandfrei funktionierten. Gott sei Dank. Das letzte, was er gebrauchen konnte, war die durch einen Autounfall gerufene Polizei und einen eingebeulten Kofferraum, der urplötzlich von allein aufklappte. Das war einer der wiederkehrenden Alpträume, die ihn verfolgten, seit Alexey sich in diesem illegalen Geschäft bewegte.

Sich in der Autoschlange einreihend begannen Marks Finger auf dem Lenkrad herumzutrommeln, als er darauf wartete, dass sich etwas bewegte. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte weitere Autos, die hinter ihm zu einem langsamen Stopp kamen. Das einzige Geräusch stammte von seinem Motor, der ein kränkliches Brummen abgab, welches mal lauter, mal leiser zu werden schien. Es dauerte ein paar Minuten, bis Mark es bemerkte und seine Augenbrauen sich zusammenzogen. Der Audi war erst zwei Jahre in seinem Besitz, aber es fühlte sich an, als hätte er sein halbes Leben bereits auf diesem Sitz verbracht. Und dieser Laut war eindeutig neu. Seine Augen richteten sich auf das Armaturenbrett, an dem das Lämpchen leuchtete, welches eine Fehlermeldung ankündigte. Nur brannte dieses schon seit Monaten, eine stille Warnung, die man aufschob, weil für den Moment noch alles zu funktionieren schien.

„Das darf nicht wahr sein...“, flüsterte Mark mit einem Zittern in der Stimme in die eiskalte Luft hinein, die durch jede kleine Ritze des Wagen gedrungen war und ihm die Zehen und Finger abfrieren wollte.

Die Autokolonne bewegte sich vorwärts, nur einige Meter, aber genug, um ein Hupen zu provozieren, als Mark nicht losfuhr. Ein zweites Hupen folgte binnen weniger Sekunden, ein drittes wartete in der vorhersehbaren Zukunft.

Ein zorniger Blick ging in den Rückspiegel zu dem schwarzen Wagen, als er die Zähne aufeinander biss und der Motor jaulte. Sah der Kerl nicht, dass ihn dieses kleine Stück auch nicht schneller nach Hause bringen würde?

Den Blinker setzend riss Mark das Steuer herum, um den Audi an den Rand des Highways zu lenken, an dem der Schnee bisher unberührt lag. Als sein Fuß das Gaspedal fand, gab der Wagen ein Rucken ab, bevor der Motor mit einem letzten Ächzen erstarb. Er rollte einen halben Meter und kam zum Stehen, diagonal zu den restlichen Autos. Shanes Worte hallten durch Marks Kopf, als er dasaß und den Schneeflocken beim Fallen zusah. Wenn du mich jetzt tötest, macht dich das zum Mörder. Zum Mörder. Ein Mörder, der mitten im Stau auf einem Highway mit einer Leiche im Kofferraum festsaß. Mark schluckte. Finger, die trotz seiner Handschuhe, längst ihr Gefühl eingebüßt hatten, tasteten blind nach dem Zündschlüssel. „Komm schon, alter Junge“, murmelte er, als er ihn drehte. Der Motor gab ein klägliches Geräusch von sich, ein, zweimal, beim dritten und vierten Mal nur noch ein hilfloses Klicken, dem der Sicherung seiner Taurus nicht ganz unähnlich. Für einen Moment spürte Mark nicht einmal mehr die Kälte. Er war äußerlich wie innerlich taub, als es ihm dämmerte, dass er tatsächlich nirgendwo hingehen würde. Dass Danny Braselton umsonst diese Nacht im Krematorium seiner Familie warten würde. Dass Alexey den gierigen Glückspieler das Doppelte zahlen musste, damit sie Shanes Körper dort entsorgen konnten. Dass Mark – noch – Glück hatte, dass es Winter war und der Verwesungsprozess herausgezögert werden würde. Dass irgendetwas mit diesem verfluchten Wagen nicht stimmte und Mark selbst daran Schuld hatte.

Mark schloss die Augen und zwang sich den angehaltenen Atem auszustoßen, während sein Herz in seiner Brust einen Marathon hinlegte und er sein Handy herausholte. So wie es aussah, hatte er zwei Anrufe zu tätigen. Der erste ging an den Abschleppdienst, deren Karte stets im Handschuhfach ruhte und der eine Ewigkeit brauchen würde, um bei dieser Autokolonne zu ihm durchzukommen. Bis dahin war er wahrscheinlich erfroren, aber das schien ohnehin Marks ultimatives Schicksal zu sein. Wie sonst geschah es, dass er sich jeden Winter in einer verzwickten Lage befand? An so viele Zufälle konnte keiner glauben. Vielleicht war es seine Strafe, weil er jemanden an Heiligabend erschossen hatte.

Der andere Anruf ging hingegen an Alexey. Es tutete nur ein Mal, ehe er abnahm, als hätte der Geschäftsmann schon mit dem IPhone in der Hand gewartet.

„Ist es erledigt?“

„Ja, aber ich stecke mit einer leeren Batterie im Stau fest“, sagte Mark. „Irgendwas stimmt nicht mit dem Motor oder der Lichtmaschine oder – was weiß ich denn?“

Sekundenlange Stille folgte. „Aber du hast es unter Kontrolle, richtig?“

„Er hat mich einen Mörder genannt.“ Marks Augen wanderten zum Seitenspiegel, in dem die Autoschlange nur aus grellen Lichtern in der Dunkelheit bestand und sich endlos in die Ferne zog. „Warum hast du mir diesen Auftrag aufgeschwatzt?“

„Weil ich jemanden brauchte, der es klanglos über die Bühne bringt.“ Diese Antwort kam schneller, ohne ein Zögern, ohne ein Nachdenken. Es war einer der wenigen Momente, in denen man davon ausgehen konnte, dass Alexey die Wahrheit – und zwar die absolute Wahrheit – sagte. „Du kennst Brice und Leute seiner Art“, fuhr Alexey fort. „Die müssen erst mal wochenlang die Lage auskundschaften, sich den perfekten Ort und die perfekte Zeit aussuchen. Aber Shane... er musste sterben. Nicht morgen, nicht übermorden, sondern eigentlich gestern schon. Also reiß dich zusammen, Mark. In Selbstmitleid kannst du auch noch versinken, sobald du wieder hier bist.“ Als ein monotones Tuten daraufhin Marks Gehörgang hinaufhallte, steckte er das Handy weg. Aufschlussreich, aber was hatte er von Alexey auch erwartet?

Abermals trommelten Marks Finger einen wahllosen Takt auf dem Lenkrad. Seine Nase lief und er wischte sie an dem Ärmel seiner Jeansjacke ab. Morgen würde er mit einer Lungenentzündung im Bett liegen oder mit einer in der Zelle der nächsten Polizeiwache aufwachen.

Das Trommeln wurde schneller, unkoordinierter, bis Mark die Motorhaube, gefolgt von der Wagentür, öffnete und sich hinaus in die Kälte schob. Seine ohnehin bereits unterkühlte Haut schmerzte, als ihn der Wind erfasste. Er umrundete den Wagen, um sich den Motor anzuschauen, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. Das vor ihm war ein reiner Kabelsalat.

Die behandschuhten Hände stützten sich am Rand ab, während die Schneeflocken auf ihn heruntersegelten und die Autofahrer ihn vermutlich bei diesem sinnlosen Unterfangen beobachteten, da der Stau nichts Interessanteres bot. Nur hin und wieder bewegte sich die Autoschlange wenige Zentimeter nach vorn.

Zu spät bemerkte Mark die Scheinwerfer, die über seine Gestalt wanderten, als ein weiteres Auto sich aus der Spur an den Rand vor seinen Audi schlängelte. Erst die helle Stimme zog seine Aufmerksamkeit auf sich, die beinahe von dem Krach der vielen Motoren und dem tosenden Wind verschluckt wurde. „Hallo, brauchen Sie vielleicht Hilfe?“

Mark zuckte zusammen und fuhr herum. Doch es war kein Polizeiwagen, sondern bloß ein blauer Mazda.
 


 

- 3 -

Die junge Frau stand an der offenen Wagentür und zupfte nervös an ihrem grauen Schal herum. „Also?“, fragte sie, als Mark nicht antwortete und eine weitere Brise sie erwischte. Ihr dunkelbraunes Haar wirbelte unordentlich umher und trotz ihrer angebotenen Hilfe wirkte ihr Blick unsicher.

Sie einen Moment länger anstarrend sah Mark auf seine Stiefel herunter. „Nur, wenn Sie eine Ersatzbatterie dabei haben oder wissen, wie man eine Autoheizung repariert“, rief er zurück. Doch diese Worte schienen genau die falschen zu sein, denn die Frau schlug die Wagentür zu und kam auf ihren Hackenschuhen zu ihm herüber geschlittert, wobei sie sich fast den Hals brach. „Sie haben keine Heizung? Bei diesem Wetter?“ Sie war einen Kopf kleiner als er und trug einen Stoffmantel, der ihr bis zu den Unterschenkeln herunterreichte. Ihre Augen hatten ihre Wachsamkeit eingebüßt, als sie in die offene Motorhaube spähte. Nun war Mark nicht mehr der mutmaßliche Mörder in ihren Augen, der er hätte bleiben sollen, sondern er war nur noch ein gestrandeter und bemitleidenswerter Kerl, der von allen anderen ignoriert wurde. Mark konnte es in ihrem Gesicht ablesen.

„Nein, aber ich habe den Abschleppdienst schon gerufen.“

Ihr skeptischer Blick bohrte sich daraufhin in Mark hinein. „Bei diesem Stau kommen die doch nie durch. Ich hab’s im Radio gehört. Ein Baum ist bei dem starken Wind umgefallen und direkt auf der Fahrbahn gelandet. Natürlich kommen die bei dem Wetter und dem Verkehr auch nicht schneller durch. Das gerade am Weihnachtsabend.“ Sie schüttelte den Kopf und blies warmen Atem in ihre Hände. „Und deswegen kann ich Sie wohl kaum hier in der Kälte stehen lassen. Sie können gern in meinem Wagen warten, bis der Abschleppdienst kommt.“

Marks Augen weiteten sich bei diesen Worten und er studierte die feinen, wenn auch rundlichen Züge der jungen Frau. „Außerdem habe ich noch Tee zum Aufwärmen dabei“, fügte sie hinzu, als Mark keine weitere Reaktion von sich gab. Anstatt auf eine Antwort zu warten, wandte sie sich ab und rutschte und strauchelte zurück zu ihrem Mazda.

Mark sah ihr nach, doch sie warf nur kurz einen Blick über ihre Schulter. „Kommen Sie, kommen Sie. Ich beiße auch nicht, versprochen.“

Seine Füße setzten sich in Bewegung, bevor es Mark beabsichtigt hatte. Seine Retterin war längst wieder in ihren Wagen gestiegen, als er sich auf den Beifahrersitz schob. Sogleich umfing ihn eine angenehme Wärme, die nach einer Mischung aus Früchtetee und Gebäck roch. Er zog seine Handschuhe aus und hielt seine Finger an den schmalen Schacht der Autoheizung, während im Radio eine Frauenstimme in leisen Tönen O Come All Ye Faithful sang.

„Sie kennen nicht mal meinen Namen, teilen aber Ihr Auto mit mir“, sagte Mark, als die Frau die kleine Lampe über ihnen anschaltete. Sie verbog sich umständlich, um eine Thermoskanne und eine Plastikdose vom Rücksitz zu holen. „Ich könnte sonst jemand sein.“ Ein Mörder, zum Beispiel.

„Sie kennen meinen ja genauso wenig und sind trotzdem zu mir in den Wagen gestiegen“, antwortete sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie füllte den Deckel der Thermoskanne mit Tee und reichte ihn Mark. „Ich bin Vanessa.“

„Mark.“ Sie schüttelten einander die Hände, während Vanessa mit der anderen mit dem Verschluss der Dose kämpfte.

„Soll ich?“, warf Mark ein, doch da öffnete sie sich bereits ruckartig und ein paar Plätzchen segelten durch den Wagen, landeten zwischen den Sitzen und auf ihrem Schoß.

Mark biss sich auf die Unterlippe und Vanessa sammelte mit roten Wangen so viele wieder ein, wie sie im Halbdunkel finden konnte. „Eigentlich sind die für meine Neffen, aber wie sagt man so schön? Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß.“ Sie hielt Mark die Dose mit den restlichen Plätzchen unter die Nase, deren Teig man unter den bunten Sprenkeln kaum zu erkennen vermochte.

„Ich hab’ sogar noch Geschenke für sie im Kofferraum“, fuhr sie fort, als Mark sich einen nahm und sich beim ersten Bissen verschluckte. Vanessa schien es nicht zu bemerken. „Ich hoffe nur, dass sich der Stau bis morgen früh gelegt hat, sonst muss sich der Weihnachtsmann verspäten. Oder zumindest ein Teil seiner Geschenke.“ Sie lachte auf. „Sind Sie auch auf dem Weg zu Ihrer Familie, Mark?“

Dessen Blick lag auf dem Seitenspiegel, an dem sich die einsame und tote Gestalt seines Audis im Schnee abzeichnete. Vanessa hatte Geschenke im Kofferraum und er eine Leiche. Eine, die er kurzzeitig vergessen, aber wahrscheinlich viel eher verdrängt, hatte. Er war umringt von Toten. Und was machte er überhaupt hier drinnen mit Tee und Plätzchen? Vor allem aber mit einer Frau, die offensichtlich nicht wusste, von welcher Sorte Mensch sie sich fernhalten sollte?

„Mark?“, fragte Vanessa mit gesenkter Stimme. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“

„Was? Oh, natürlich.“ Er schenkte ihr ein Lächeln, welches von Vanessa sogleich erwidert wurde. Sie war das genaue Gegenteil von dem Tod, der ihm stets im Nacken zu sitzen schien, der einer konstanten Bewegung in den Augenwinkeln gleichkam, dessen Ausmaß er nie ganz zu fassen bekam. Sie war das Leben, das hier eine Verbindung, wie er sie schon lange nicht mehr erlebte hatte. Die letzte war schon vor Jahren gekappt worden; es war eine weitere Sache, die er zerstört hatte, der er ein Messer in den Rücken gerammt hatte, weil man erst etwas zu schätzen wusste, wenn man es nicht mehr besaß. Rebecca Turner.

„Ich bin auf dem Weg zu einem Freund. Es ist zu einer Art Tradition geworden, dass wir am Weihnachtsabend etwas trinken gehen.“ Dieses Weihnachten bildete jedoch die Ausnahme, nahm er an. Marks Blick ging an Vanessas Gesicht vorbei und aus dem Seitenfenster hinaus, denn dahinter löste sich langsam der Stau auf. Stückchen um Stückchen bewegte sich die Autokolonne hinter dem dichten Schleier aus fallendem Schnee vorwärts.

„Warum haben Sie angehalten?“, fragte er, nachdem er den Becher ausgetrunken hatte. Der Tee hinterließ eine feurige Spur in seinem Rachen, eine warme Quelle in seinem Magen. „Niemand sonst hat es getan.“

Ausnahmsweise nahm sich Vanessa Zeit mit dem Antworten und ihre Augen wanderten nach links und rechts, als würden die richtigen Worte hier irgendwo im Wagen herumliegen und sie müsste sie nur aufsammeln, wie sie es mit den heruntergefallenen Plätzchen getan hatte. „Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Es schien irgendwie das Richtige zu sein.“ Ihre schmalen Schultern zuckten und eine Strähne ihres wirren Haares rutschte ihr ins Gesicht. „Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, hätte ich mich gefreut, wenn mir jemand Hilfe angeboten hätte. Gerade bei diesem Wetter. Am Weihnachtsabend.“

Marks Mundwinkel hoben sich, eine ungewohnte Sportübung. „Danke dafür.“

Eine Stille folgte, angenehm und drückend zugleich, wie eine warme Decke, unter der sich die Hitze zu stauen begann. Vanessa füllte seinen Becher nach und schob sich immer mal wieder ein Plätzchen in den Mund, während sich Krümel auf ihrem Mantel sammelten und Mark hin- und hergerissen war, es ihr sagen zu wollen oder es zu verschweigen.

Der Abschleppdienst nahm ihm diese Entscheidung ab. Gelb blinkende Lichter blitzten über die Umgebung, über die letzten Autos auf dem Highway und die Schneedecke, die höher und höher wuchs, als wollte sie die gesamte Welt unter sich begraben. Ewiges Leben ohne den Tod, der sich in seinem Kofferraum versteckt hielt und nur darauf lauerte, entdeckt zu werden.

Die Anspannung kehrte in Marks Schultern zurück, als er den restlichen Tee seinen Rachen herunterkippte. Die Autotür war bereits geöffnet, so dass Mark die neben ihm sitzende Frau beinahe vergaß.

Vanessa packte seinen Jackenärmel und er hielt inne. „Ich weiß, im Grunde kennen wir uns nicht, aber...“ Sie beendete ihren Satz nicht, sondern beugte sich erneut zum Rücksitz herüber. Sie zog eine Aktentasche nach vorn, kramte darin herum, bevor sie Mark mit rosafarbenen Wangen ein Kärtchen entgegenhielt. „Vielleicht. Wenn Sie wollen, meine ich.“

Mark beäugte die Visitenkarte. Scheinbar steckten Frauen nicht nur dem Helden in Filmen die Telefonnummer zu. „Ja, ich will. Was ich meine ist, dass ich ganz sicher darauf zurückkommen werde, Vanessa Martin.“ Trotz der Kälte, die bereits durch seine Kleidung sickerte wie Wasser, war Mark warm, als Vanessa auflachte.

„Schöne Feiertage, Mark“, rief sie, bevor er die Tür schloss und zu seinem Audi zurückstapfte. Das Kärtchen wanderte in seine Hosentasche.

Nachdem der blaue Mazda auf dem nun geleerten Highway davon gefahren war, war es als ob Vanessa nie für ihn angehalten hätte. Mark nahm den Abschleppdienst in Empfang, mit einem Auge stets auf den Kofferraum gerichtet, als würde Shane jeden Moment daraus hervorspringen. Wenn du mich jetzt tötest, macht dich das zum Mörder. Ja, vielleicht war er ein Mörder und womöglich war an dem Sprichwort, dass es schlechten Menschen gut erging, sogar etwas dran. Wenn er an Vanessa Martin dachte, war sich Mark dessen sogar sicher. Und vielleicht machte es ihn zu etwas noch Schlimmeren, dass er sie anrufen wollte, dass es ihm egal war, ob er sie in diesen Leben hineinzog oder nicht. Er war wie Treibsand, der sie mit sich herunterziehen und verschlingen wollte, ähnlich wie es der Frau vor ihr ergangen war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Kunoichi
2013-12-10T21:16:43+00:00 10.12.2013 22:16
Aw, wie traurig der letzte Satz irgendwie ist. Einerseits wünscht man sich, dass Vanessa und Mark zueinander finden und andererseits wäre es für sie besser, wenn es nicht so kommt... Bester Satz in der ganzen Geschichte war übrigens: "Ich habe Geschenke im Kofferraum." XD Da musste ich echt kurz lachen. Welch Ironie. Aber ich weiß ja, dass das so gewollt ist. ;)
Ja, insgesamt wirklich eine sehr schöne Geschichte, die du da gezaubert hast. Sie hält die ganze Zeit die Spannung, vom Moment an, an dem Mark die Pistole zückt (ich dachte zuerst an der Haustür, sein Job ist Briefträger oder so XDDD), bis zum Abschleppdienst, wo man nicht weiß, ob jemand die Leiche findet. Gut gelungen, echt! Und besonders der Stil ist total mein Ding. :D
Lg, Kunoichi-X


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