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Die letzte Ehre

Wichtelgeschichte für Newt
von

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Die letzte Ehre

„Hey, Marco. Sag mir… Welche von diesen Knochen waren nochmal deine? Ich kann mich nicht mehr erinnern…“
 

Riesige Flammen loderten gespenstisch vor dem sternenklaren Nachthimmel, als tanzten sie ein böses Ritual und flüsterten unheilvolle Beschwörungen. Ihr grelles Licht brannte Jean in den Augen, doch er wusste, dass die Tränen auf seinem Gesicht einem anderen Grund geschuldet waren. Seit Stunden schon hatte sich niemand mehr bewegt. Durch das leise Knistern des Feuers und dem vereinzelten Knacken der Holzscheite hörte man hin und wieder Connies Schluchzen, ansonsten herrschte betretenes Schweigen. Jeder schien seinen eigenen Gedanken hinterher zu hängen, niemand sprechen zu wollen. Dichte Rauchschwaden brachten den Gestank nach verbranntem Fleisch und Verwesung mit sich und ließen Jean permanent gegen die Übelkeit ankämpfen. Es fröstelte ihn, obwohl er die Hitze der Scheiterhaufen sehr deutlich auf seinem Körper spürte. Wenn es Himmel und Hölle tatsächlich gab, so überlegte er, dann musste er im Fegefeuer gelandet sein und Marco ganz sicher im Paradies.
 

Die Trauer über den Verlust seines besten Freundes war schier unerträglich. Sie drückte Jean die Luft zum Atmen ab, stach schmerzhaft in seiner Brust und wurde begleitet von Wut und Verzweiflung. Warum hatte es ausgerechnet Marco getroffen? Wer würde der nächste sein und wann war er selbst an der Reihe? Wie würde das Leben nur einfach seinen gewohnten Gang gehen können, als ob nichts weiter passiert wäre? War ein endgültiger Frieden denn überhaupt noch möglich? Und… was hätte Marco auf all diese Fragen geantwortet?
 

Jean ballte die Hände zu Fäusten. Er würde ihn nicht mehr fragen können, nie mehr. Seine positiven Ansichten, seine intelligenten Ratschläge, sein ruhiges Wesen – alles an ihm, was Jean immer besonders gemocht hatte, weil es ihm selbst doch so offensichtlich fehlte – waren von einen Tag auf den nächsten wie ausradiert. Keiner wusste, ob es schnell oder langsam gegangen war und ob Marco gelitten hatte oder nicht, denn das einzige, was man mit Bestimmtheit sagen konnte, war, dass er im Augenblick seines Todes allein gewesen sein musste. Jean kannte niemanden, dem er ein derart grausames Schicksal weniger gewünscht hätte. Wäre er überhaupt Soldat geworden, wenn er bereits damals gewusst hätte, was ihn erwarten würde? Nein, niemals. Aber vor fünf Jahren, als er ein naives Kind mit dem Kopf voller unerfüllbarer Träume und Ideen gewesen war, hatte er gewiss anders gedacht. Vor fünf Jahren, als er Marco zum allerersten Mal begegnet war…
 


 

Der schmale Streifen Himmel, der zwischen den zwei hohen Hauswänden gerade noch zum Vorschein kam, leuchtete in strahlendem Blau. Ein paar weiße Bettlaken waren zwischen den oberen Fenstern aufgespannt und flatterten jetzt wie Fahnen im Wind. Jean schloss die Augen und lauschte den Geräuschen der fernen Marktstraße – einem geschäftigen Treiben aus Schlägen von Pferdehufen und lautstarkem Feilbieten von Waren durch die Händler. Dagegen war es in der kleinen, schmutzigen Seitengasse mit den quiekenden Ratten, die durch überquellende Mülltonnen raschelten, fast totenstill. Vorsichtig hob Jean seinen Arm, verzog das Gesicht, als der Schmerz dabei unkontrolliert durch seinen Körper jagte, und wischte sich mit dem Ärmel das Blut von den Lippen. Er musste zugeben: Diesmal hatten sie ihn eiskalt erwischt. Drei gegen einen – das würde später noch bittere Rache geben!
 

„Hey, geht’s dir gut?“

Erschrocken schlug Jean die Augen wieder auf und blickte in das besorgte Gesicht eines sommersprossigen Jungen mit dunklem Haar, kaum älter als er selbst, das verkehrtherum auf ihn hinabsah.

„Tut dir was weh? Kannst du aufstehen?“, fragte er und streckte vorsorglich seine Hand aus. Jean spürte, wie die Schamesröte ihm in die Wangen schoss und schlug die Hand zur Seite.

„Danke, aber ich komm schon allein klar“, fauchte er und rappelte sich mühsam vom harten Steinboden auf. Warmes Blut floss ihm noch immer über Mund und Nase und der andere musterte ihn mit skeptischer Miene, als möge er ebendies doch stark bezweifeln.
 

„Willst du wenigstens ein Taschentuch von mir annehmen?“, versuchte er es erneut und hielt Jean einen mit Blumenmuster verzierten Stoff entgegen. Wortlos griff Jean danach, drückte ihn aufs Gesicht und ließ sich dann auf einen abgestellten Pferdekarren sinken. Der fremde Junge setzte sich ein wenig zögerlich daneben, zückte ein zweites Tuch, als das erste bereits voll Blut gesogen war und platzte dann voll unverhohlener Neugier heraus: „Bist du überfallen worden?“

„Kannst du auch was anderes, als Fragen stellen?“, erwiderte Jean gereizt. „Wenn du’s unbedingt wissen willst: Ich hab mich geprügelt.“ Es war kaum abzustreiten, dass auch ein wenig Stolz in seiner Stimme mitschwang.

„Da hast du aber echt den Kürzeren gezogen“, bemerkte der Junge ehrlich.

„Sie waren zu dritt, kapiert? Sonst wäre die Sache ganz anders ausgegangen! Nächstes Mal bin ich vorbereitet und dann werden die ihr blaues Wunder erleben!“

„Hast du etwa öfter Ärger mit denen?“

„Naja, ab und zu halt. Ich kenne sie von der Schule und wir sind nicht immer einer Meinung.“
 

Jean ließ das blutige Taschentuch sinken und schaute den Jungen nun abschätzend an. „Du bist wohl niemand, der sich mit anderen schlägt, was?“

„Ich – also – nein“, gab dieser daraufhin kleinlaut zu. „In meinem Dorf gibt es keine Schule und meine Eltern unterrichten mich zuhause. Deshalb hab ich auch eigentlich keinen mit dem ich mich schlagen könnte.“

Er starrte peinlich berührt auf seine Knie und Jean verkniff sich die Bemerkung, dass es ihm nichts ausmachen solle, da er wohl ohnehin wenig für eine Prügelei tauge. Stattdessen fragte er: „Dann bist du also nicht von hier?“

„Ich komme aus Jinae. Das liegt fast direkt hinter der Mauer Rose, wenn du aus Trost rauskommst“, antwortete der Junge. „Ich hab für meinen Vater eine Taschenuhr vom Markt abgeholt, die er letzte Woche in Reparatur gegeben hat. Aber Trost ist so riesig und irgendwie finde ich den Weg zurück zum Tor nicht mehr.“
 

Bei diesen Worten wirkte er plötzlich so elend und verlassen, dass Jean gar nicht anders konnte, als ihn aus dieser Misere befreien zu wollen. „Komm mit!“, entschied er spontan und sprang vom Pferdekarren auf. „Ich schulde dir eh noch einen Gefallen – für die Tücher, die ich dir eingesaut hab – oder so ähnlich.“

„Du willst mir ehrlich helfen?“ Der fremde Junge wirkte milde überrascht, erhob sich aber dennoch und folge Jean langsam hinaus aus der stinkenden Gasse und hinein in den Trubel der Marktstraße. „Wie heißt du denn überhaupt?“

„Jean Kirschstein, und wie ist dein Name?“

„Marco. Marco Bodt.“
 


 

Ein unwillkürliches Lächeln huschte über Jeans Lippen und er verbarg das Gesicht in den zitternden Händen, als wolle er sich selbst ermahnen, dass eine Bestattung nicht der richtige Ort für diese Gemütsregung sei. Doch was war schon das Richtige in einem Moment wie diesem? Weder Lachen noch Weinen konnte die innere Leere füllen, die Jean allmählich und unaufhaltsam zu verschlingen drohte und keins von beidem würde ihm Marco je wieder zurückbringen. Warum gelang es ihm also nicht, dieses gottverdammte Grinsen endlich zu unterbinden? Warum war sein Gesicht dann noch immer so nass, dass er das Salz seiner Tränen auf der Zunge schmeckte?
 

Vielleicht wäre es ihm leichter gefallen, die Situation zu akzeptieren, hätte er vorher schon einmal über sie nachgedacht. Aber über den Tod sprach man nicht. Wenn ein Soldat furchtsam war und sich selbst nicht für unsterblich hielt, hatte er auch seine Moral verloren, in den Kampf zu ziehen. Ja, es war schon eine selten dumme Eigenschaft der Menschen, zu glauben, ein Unglück treffe nur jemand anderen. Auch Marco hatte dieses Thema immer gemieden, bis schließlich keine Zeit mehr übrig geblieben war, um darüber zu reden und Jean fiel nichts ein, was er gerade mehr bereute. Er erinnerte sich noch gut an einen bestimmten Tag vor fünf Jahren, an dem sie sich ihre Zukunft in den schillerndsten Farben ausgemalt und nicht einen Gedanken daran verschwendet hatten, dass aus Träumen auch Albträume werden konnten…
 


 

Die kaputte Mühle westlich von Jinae war geradezu perfekt, um den Pflichten des Alltags für eine Weile zu entfliehen. Ihr Besitzer, der alte Friedrich, hatte sie nach dem Ableben seinem einzigen Sohn vermacht, welcher zum Militär gegangen und von einer Expedition außerhalb der Mauern niemals zurückgekehrt war. Seitdem zählte die Mühle zum Eigentum der Stadt, doch weil sie defekt und baufällig war, hatte man sie nie mehr in Betrieb genommen. Viele Bewohner Jinaes glaubten sogar, sie sei verflucht, weil sie Friedrich Müller und seiner ganzen Familie nur Leid gebracht hatte, und machten einen großen Bogen um sie. Jean und Marco war das nur Recht. Ihnen diente die Mühle als Treffpunkt, Zufluchtsort und Spielplatz in einem. Über die letzten Monate hatten sich in ihr unzählige Dinge angesammelt, die von den beiden entweder gefunden oder gestohlen worden waren. Hätte ein Erwachsener die Mühle jemals durchsucht – sie hätten wohl die Prügel ihres Lebens bezogen. Doch es kam keiner – weder gestern, noch vorgestern und auch nicht an jenem Tag.
 

„Jean?“

Unsicher spähte Marco über den Rand seines Buches zu dem hellbraunen Haarschopf, der sich kaum von den hohen Grashalmen der Wiese abzeichnete. „Jean, schläfst du schon?“

Ein undeutliches Brummen signalisierte, dass dem nicht so war und Marco platzierte das Buch sorgsam auf der Holztreppe zur Mühle, legte sich bäuchlings auf die Erde und kroch dann wie ein pirschendes Tier auf seinen Freund zu. „Sag mal, hast du gehört, was da vor ein paar Tagen in Shiganshina passiert ist?“, fragte er.

„Nein, was war denn los?“, gähnte Jean zurück und mühte sich nicht einmal, die Augen zu öffnen.

„Ein Titan soll die Mauer durchbrochen und noch weitere von ihnen ins Land gelassen haben. Jetzt sind sie praktisch überall und niemand außerhalb von Rose ist noch sicher.“

Interessiert drehte sich Jean auf die Seite und stützte den Kopf mit dem Ellbogen ab, sodass er Marco nun gegenüber lag. „Ach ja? Woher weißt du das?“

„Alle reden nur noch davon“, sagte Marco. „Mein Vater hat es mir heute Morgen erst erzählt. Bald werden unglaublich viele Flüchtlinge hier sein.“
 

Jean schnalzte missbilligend mit der Zunge, rollte sich wieder auf den Rücken und beobachtete schweigend einen Schmetterling, der über ihre Köpfe hinweg flatterte. Wenn er bloß ebenso frei hätte umherfliegen können, dachte er sehnsüchtig, dann würde es für ihn keine Grenzen mehr geben. Doch in der Ferne berührten die letzten Strahlen der Abendsonne das lange Dach der Mauer und hoch über ihnen funkelten bereits die ersten Sterne.

„Eine Schande für die Armee ist das“, sagte er endlich, „dass die sowas nicht in den Griff kriegen. Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich diese Titanen einen nach dem anderen niedergemetzelt.“

„Aber du bist doch gar nicht dafür ausgebildet“, gab Marco leise zu bedenken.

„Noch nicht!“, erwiderte Jean und seine Stimme überschlug sich fast vor Enthusiasmus. „Aber warte nur ab, wenn ich in zwei Jahren alt genug bin, melde ich mich sofort zum Wehrdienst. Ich kann es kaum erwarten.“
 

Einen kurzen Moment wirkte Marco ganz so, als hadere er mit sich selbst, die folgenden Worte tatsächlich auszusprechen. Dann fasste er sich schließlich ein Herz und murmelte halblaut: „Ich möchte später auch zur Armee gehen.“

Gespannt wartete er auf Jeans Reaktion, doch entgegen aller Befürchtungen kamen weder Gelächter noch spöttische Bemerkungen und ein wenig selbstsicherer fuhr er fort: „Es wäre eine große Ehre für mich und meine Familie, wenn ich zur Militärpolizei käme und dem König dienen dürfte. Ich weiß, ich bin nicht sonderlich kämpferisch und für die Militärpolizei müsste ich einer der besten sein, aber ich weiß auch, dass ich es schaffen kann!“

Seine Augen glühten vor unbändiger Vorfreude und Jean fragte sich, ob sein Blick genauso leidenschaftlich wurde, wenn er von seinen Plänen und Zielen sprach. „Na, dann solltest du aber besser heute noch mit dem Training anfangen“, feixte er, „und erst lernen, wie man sich gegen andere Kinder behauptet, bevor du dich an die Titanen heranwagst.“
 

Mit einem plötzlichen Hechtsprung warf er sich auf Marco, drückte ihn zu Boden und begann, ihn von oben bis unten durchzukitzeln. Lachend und raufend schlugen die zwei eine kleine Schneise durch die verwilderte Wiesenlandschaft, bis sie irgendwann – etliche Meter von der Mühle entfernt – aus der Puste waren und flach auf dem Rücken liegen blieben. Kopf an Kopf sahen sie hinauf in den sternenübersäten Himmel, den die Nacht so heimlich über sie gebracht hatte, dass sie sich der späten Stunde kaum wahr geworden waren. Im Westen klebte der zunehmende Mond als bleiche Silbersichel am Firmament.

„Eines Tages werden wir Seite an Seite gegen die Titanen kämpfen“, sagte Jean und streckte den Arm gerade in die Luft, als hielte er ein imaginäres Schwert. „Dann nehmen wir Rache im Namen der gesamten Menschheit.“

„Keiner wird uns aufhalten können“, ergänzte Marco, „und der König wird uns Auszeichnungen für unsere Verdienste und unseren Mut verleihen.“

„Wir reißen die Mauern ein-“

„-und sehen uns die Welt da draußen an.“
 

Schwärme von Glühwürmchen stiegen aus dem feuchten Gras und leuchteten durch die Dunkelheit, als trage jedes einzelne von ihnen ein Licht der Hoffnung mit sich, das aus den Wünschen der Jungen geboren worden war. Ihr leises Summen vermischte sich mit dem gleichmäßigen Zirpen der Grillen und erst die hallenden Glockenschläge, die von der Kirche im Dorf zu ihnen herüberwehten, ließen Jeans und Marcos Fantasiegebilde zerplatzen wie Seifenblasen.

„Wir sollten zurück“, sagte Jean missmutig, stemmte sich hoch und wartete darauf, dass Marco es ihm gleichtat, doch sein Freund hatte sich nicht gerührt und starrte weiterhin gedankenverloren zu den Sternen empor.

„Jean, hast du eigentlich schon mal einen Titanen gesehen?“, fragte er plötzlich ganz ernst. „Ich meine, so einen richtigen, echten Titanen?“

Im ersten Augenblick stutzte Jean, obwohl er nicht einmal lange über seine Antwort nachdenken musste. „Nein“, entgegnete er dann wahrheitsgemäß. „Du etwa?“

„Nein, auch nicht.“

„Aber was spielt das schon für eine Rolle? So schlimm können die ja gar nicht sein, diese Titanen.“
 


 

Was für einfältige Kinder sie doch gewesen waren. Für wie weise man doch die eigenen Entscheidungen und Ansichten hielt, wenn man jung war, bis man erst Jahre später wirklich bemerkte, dass man sich damals kein bisschen erwachsen verhalten hatte. Ja, vielleicht würde Jean eines Tages sogar genauso auf sein heutiges Ich zurückblicken – vorausgesetzt, er bekam die Chance, älter als 15 zu werden. Denn bei dem bloßen Gedanken daran, was ihm noch bevorstand, stieg ihm die Übelkeit bis zum Hals. Er hatte es den Mitgliedern seiner Trainingseinheit bereits gesagt und wenn er jetzt einen Rückzieher machte, würde er ihnen nie mehr in die Augen, geschweige denn in den Spiegel sehen können. Trotzdem wurde Jean das ungute Gefühl nicht los, einen Fehler gemacht zu haben, als er vorschnell verkündet hatte, der Aufklärungslegion beitreten zu wollen.
 

Mittlerweile stand er fast alleine an den Totenfeuern. Vereinzelt bewegte sich eine Silhouette derer, die mit ihm am längsten ausgeharrt hatten, doch viele waren schon lange zu Bett gegangen. Jean fragte sich, welchen Entschluss die anderen wohl für sich noch treffen mochten. Ob sie ebenso mit sich haderten wie er? Ob seine Worte sie beeinflusst hatten? Immerhin, er war unter die besten zehn seiner Gruppe gekommen und würde sich bei der Militärpolizei im Inneren Distrikt ein schönes, leichtes Leben machen können. Das langersehnte Ziel war zum Greifen so nah, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte. Aber es war irgendwie nicht mehr das, was er wollte – wenn er denn überhaupt noch wusste, was er wirklich wollte. Marco hätte ihm da gewiss einen guten Rat geben können.
 

Die Tränen auf Jeans Gesicht waren allmählich getrocknet, das verbotene Lächeln wie weggewischt, doch die Leere umfasste weiterhin sein Herz wie eine kalte Faust. Vielleicht sollte er mal wieder zur alten Mühle gehen und nachsehen, ob man sie in den letzten drei Jahren repariert oder abgerissen hatte? Sie war nicht weit von hier und auch, wenn ihm nicht ganz klar war, was ein Besuch bringen sollte, hatte er dennoch den Eindruck, dass dort der Ort war, an den er gerade gehörte.

Entschlossen wandte Jean sich um und schritt durch die Dunkelheit der Nacht, die nach dem langen Blick in die Flammen fast pechschwarz wirkte. Der penetrante Geruch nach Blut und Asche begleitete ihn auch eine halbe Stunde später noch, beim Tor, das Trost mit Jinae verband, und vermischte sich mit dem süßlichen Duft nach Wein, den die müden Wachen sich zuprosteten, um ihr Elend zu ertränken. In ihrem Rausch bemerkten sie nicht einmal, wie sich Jean an ihnen vorbei durch den Torbogen stahl – oder zumindest taten sie so.
 

Verwittert, aber unberührt zeichnete sich die Mühle gegen den dunklen Himmel ab und streckte ihre gebrochenen Flügel zu den Sternen aus. Jean verließ den Weg, der ins Dorf führte und überquerte die weitläufige Wiese, in dessen Gras noch immer die Glühwürmchen nisteten, als sei kein einziger Tag vergangen. Für einen Moment erwartete er fast, Marco von der Mühle her freudestrahlend auf sich zu rennen zu sehen, doch das Rascheln der Weiden zeugte nicht von menschlichen Schritten, sondern kam lediglich vom aufbrausenden Wind. Langsam erklomm Jean die knarrenden Holzstufen und fand sich inmitten eines kreisrunden Raumes wieder, in dem nur die dicke Staubschicht und unzählige Spinnenweben verrieten, wie viele Jahre ins Land gezogen waren.
 

All die Sachen, die er und Marco vor so langer Zeit zusammengetragen hatten, all ihre kleinen Schätze lagen noch immer an ihren angestammten Plätzen: Bälle, mit denen sie so oft gespielt hatten, bis sie kaputt gegangen waren, vergilbte Bücher mit Geschichten über Helden und fantastische Welten, geklaute Brieftaschen und wertlose Münzen, bunte Vogelfedern, verschrumpelte Kastanien, rostige Messer, abgebrannte Kerzen… Jean betrachtete die gebrauchten Gegenstände so andächtig, als seien sie heilige Artefakte und mühte sich, keines von ihnen zu berühren, als könne sonst die Vergangenheit mit Marco zerbrechen wie dünnes Glas. Sein Blick blieb an einer gemaserten Porzellanflasche mit schlankem Hals hängen, die sich auf einem Podest präsentierte, als sei er ein Altar und Jean erinnerte sich auch noch sehr genau, warum sie diesen Ehrenplatz erhalten hatte…
 


 

„Es tut mir so leid!“

„Ist schon gut.“

„Nein, nichts ist gut! Ich bin ein schrecklicher Freund! Ich hätte dir beistehen müssen und stattdessen laufe ich einfach weg und lass dich im Stich.“

„Du hast eben Panik gekriegt. Mach dich nicht fertig!“

Auf Marcos Wangen glänzten Tränen. „Das ist keine Entschuldigung“, hickste er und schnäuzte sich die Nase in seinem Jackenärmel. Den Ausführungen von Jeans Eltern nach zu urteilen, hatte er stundenlang auf einem Hocker neben Jeans Bett gekauert und sich geweigert, ihm von der Seite zu weichen. Als Jean schließlich zu sich gekommen war, hatte er hemmungslos zu weinen begonnen und zunächst kein Wort sprechen können, bis er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.
 

„Ich kann verstehen, wenn du jetzt nicht mehr mit mir befreundet sein willst“, sagte Marco leise, nahm den Lappen von Jeans rechtem Auge, wobei dieser vor Schmerz den Kopf ins Kissen drückte, tauchte ihn in einen Eimer voll kaltem Wasser und legte ihn wieder auf das geschwollene Lid zurück.

„So ein Blödsinn!“, blaffte Jean ungehalten. „Du hast mich bis nach Hause getragen. Also, wenn das nichts beweist! Außerdem war das deine erste richtige Schlägerei, da haben schon ganz andere kalte Füße bekommen.“

„Ich bin eben nicht für den Kampf gemacht“, murmelte Marco und redete sich damit etwas von der Seele, was ihn schon seit längerem belastete. „Vielleicht sollte ich meinen Antrag fürs Militär wieder zurückziehen.“

Wütend setzte Jean sich auf, ignorierte das Stechen und Brennen seiner Wunden und packte Marco grob an den Schultern. „Hast du sie noch alle?!“, keifte er und schüttelte ihn kräftig durch. „Was dir fehlt, ist einfach ein bisschen mehr Selbstvertrauen.“
 

Er verrenkte sich ungeschickt über den Bettrand und zog eine hübsche, verkorkte Porzellanflasche hervor, die er dem verwirrten Marco gegen die Brust drückte.

„Hier, trink das!“, sagte er bestimmt.

„Was ist das?“, fragte Marco, wog die Flasche in den Händen, hielt sie waagerecht und spähte dann in die runde Öffnung hinein. „Die ist ja leer, da ist gar nichts drin.“

„Doch doch, sie ist voll! Trink einfach!“, entgegnete Jean aufmunternd und beobachtete, wie sein Freund die Flasche an die Lippen setzte und sie gleich darauf wieder sinken ließ.

„Was ist denn?“

„Ich komm mir albern vor. Wofür soll das gut sein?“

Jean ließ einen langgezogenen Seufzer hören. „Das ist Mut“, erklärte er. „Immer wenn du Angst hast, musst du einfach ein paar Schlucke davon nehmen. Ich trinke schon jahrelang daraus, aber weil du’s bist, schenk ich sie dir.“
 

Einen Augenblick lang starrte Marco Jean nur mit großen Augen und offenem Mund an und konnte sich wenige Sekunden später vor Lachen kaum noch aufrecht halten.

„Sowas hab ich wirklich noch nie gehört“, prustete er, krümmte sich auf dem Hocker zusammen und presste die Hände auf den Bauch. „Wie kommst du nur immer auf solche Ideen?“

„He, machst du dich etwa über mich lustig?“ Auch Jean schmunzelte angesichts der Wirkung, die seine Worte erzielt hatten. „Sei ein bisschen respektvoller! Ich hab dir gerade ein Geschenk gemacht.“

Marco atmete ein paar Mal tief ein und aus und rang weiter um Beherrschung. „Tut mir leid“, gluckste er, „und vielen herzlichen Dank! Den Mut kann ich wirklich gut gebrauchen.“
 


 

Schweigend kehrte Jean den Objekten in der Mühle den Rücken zu und trat wieder hinaus ins Freie. Die kühle Luft strich ihm über die Stirn wie eine sanfte Hand und verscheuchte all die wirren, negativen Gedanken, die ihm seit dem Begräbnis folgten wie dunkle Schatten. Seine Entscheidung war so unumstritten gefallen, als habe er schon von Anfang an gewusst, welchen Weg er wählen würde. Es war an der Zeit, sich der Realität zu stellen. Eren Jaeger mochte mit seinem grenzenlosen Idealismus ein ausgemachter Idiot sein, aber er hatte auch Recht damit, wenn er sagte, dass sie kämpfen mussten, um mehr über die Titanen herauszufinden. Wenn sich jeder vor Feigheit im Inneren Distrikt verkroch, würde sich nie etwas ändern und all die Opfer wären ganz umsonst gestorben. Im Gegensatz zu früher, würde Jean die Titanen nun nicht mehr unterschätzen. Er würde kämpfen, er würde leben und er würde Rache nehmen – für Marco.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  ShilohCraaSham
2014-08-16T19:21:39+00:00 16.08.2014 21:21
Hi

Also erstmal klasse Story, also klasse Anfang. Ich schreib nebenbei immer mal was hier unten rein, deshalb nicht wundern.
Dein Stil find ich bis jetzt wirklich schön, nur ein kleiner Tipp. Bau nicht so etwas ein:
Warmes Blut floss ihm noch immer über Mund und Nase und der andere musterte ihn mit skeptischer Miene, als möge er ebendies doch stark bezweifeln.
Das passt nicht zu deinem Stil find ich. Bleib erzählerisch, das gibt dem Leser ein Gefühl dabei zu sein, als würde Jean die Geschichte selber erzählen. Ich hätte lieber geschrieben:
Warmes Blut floss ihm noch immer über Mund und Nase, während der andere ihn mit (einer) skeptischen und zweifelnden Miene musterte.

- erhob sich aber dennoch und folgte Jean langsam -
Wenn du lust hast kannst dus ja verbessern, ich schreib wie gesagt nur so meine Notizen auf, das was ich finde. Kannst es auch einfach ignorieren.

Jean schnalzte missbilligend mit der Zunge, rollte sich wieder auf den Rücken und beobachtete schweigend einen Schmetterling, der über ihre Köpfe hinweg flatterte. Wenn er bloß ebenso frei hätte umherfliegen können, dachte er sehnsüchtig, dann würde es für ihn keine Grenzen mehr geben. Doch in der Ferne berührten die letzten Strahlen der Abendsonne das lange Dach der Mauer und hoch über ihnen funkelten bereits die ersten Sterne.
Iwi wirkt das fehl am Platz. Es ist schön geschrieben, passt aber nicht. Jean würde hier denk ich eher über die Flüchtlinge und Titanen nachdenken. Und nacher als du schreibst das er jeden Titan niedergemetzelt hätte. Das ist Eren, sry aber zu dem Zeitpunkt ist Jean noch ein Feigling und hat sogar vor der Militärpolizei bei zu treten um nicht mit den Titan in Kontakt zu kommen.

Das langersehnte Ziel war zum Greifen so nah, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte.
Das so müsste da weg.

Der letzte Rückblick gefällt mir persönlich nicht. er ist zu kitschig, das hätten sie vieleicht gemacht als sie jünger wären, aber nicht da. Mir hätte hier gefallen wenn du Jeans Zeichenkünste eingebracht hättest. Oder eine epische Rede Seitens Jeans, das wäre in meinen Augen besser gekommen.

Was ich besonders gut fand war die Beschreibung der Mühle als Jean alleine dorthin zurück kehrt. Es hatte etwas mystisches an sich, man hat richtig die leere in sich gespührt.
An sich merkt man das du dir wirklich Mühe bei der Story gegeben hast. An einigen Stellen hätte ich es anders geschrieben, damit es emotionaler geworden wäre, aber ok ich hör grade auch traurige Musik.
Das was ich nicht gut fand hab ich dir ja oben geschrieben, aber der Rest war super. Man merkt an manchen Stellen eben das du dich noch nicht so oft mit Jean und Marco beschäftigt hast. Doch selbst dafür ist es super geworden.
Wenns dir recht ist würd ich dich gerne auf meinem Weblog empfehlen (also deine Geschichte hier) Ich werd es einfach machen, solltest du es nicht wollen werd ich sie sofort wieder raus nehmen.

Ok ich hab KA wie viel ich geschrieben habe und was, es ist alles was durcheinander, da ich wie gesagt nebenbei schreibe während ich lese und so zu den Sachen die mir auffallen meinen Senf gebe. Sollte dir das Kommentar nicht gefallen... Ignorier es einfach.
Von: abgemeldet
2014-05-05T10:00:11+00:00 05.05.2014 12:00
Erstmal: Ich hab erst den ersten Band von Attack on Titan gelesen (ich wurde so viel gespoilert, da musste ich es doch mal anfangen zu lesen xD) und kenn die beiden Charaktere nicht wirklich gut. Dennoch hatte ich sehr viel Spaß an der Geschichte - wobei, kann man das Spaß nennen? xD" Eher war ich sehr gefesselt davon. Ich fand deinen Stil sehr, sehr toll und konnte mich (leider?) sehr gut in das Gefühlsleben von Jean einfinden. Du hast die Atmosphäre wirklich sehr gut hingekriegt - mir liefen teils Schauer über den Rücken, ich fand diese Feuerbeerdigung wirklich erschreckend. Umso schöner war es, dass es dann ein positives Ende gab. (Jedenfalls halt so weit es ging xD")

Die Geschichten aus der Vergangenheit fand ich allerdings nicht so gut wie die in der Gegenwart (aber DAS zu toppen ist schwer xD). Da war sehr viel typisches dabei, also rein von dem her, was die beiden gemacht haben. Zwar zeigt es super ihre Freundschaft, aber da kam bei weitem nicht so viel Gefühl rüber. Und das ist jetzt gar nicht als Kritik gemeint, auch wenn es so klingt - ich finde eben nur, dass dir die Gegenwart so super gelungen ist, dass die Vergangenheit dagegen ziemlich blass aussieht. Mein Herz hast du aber trotzdem erreicht, besonders am Schluss mit der Flasche. Ich glaub sowas kann ich tausend Mal lesen, weiß dann, dass es recht typisch ist, aber es bewegt mich immer wieder. xD" *seufzt*

Jedenfalls, bevor ich jetzt weiter gefühlsduselig werd: Ich fand die Geschichte wirklich toll. Ich hoffe ich krieg auch mal ne Wichtelgeschichte von dir ^//^
Von: Futuhiro
2014-05-01T22:19:56+00:00 02.05.2014 00:19
Toll geschriebene Story, wouw. Ich kenne zwar Attack on Titan nur vom Namen her, ohne mich je damit beschäftigt zu haben, aber man bekommt in dieser Geschichte ein tolles Bild von den Charakteren. Die Handlung ist so bestechend logisch und durchdacht, und der Schreibstil etwas anspruchsvoller, das gefällt mir super. ^^

Zurecht ein YUAL!
Von:  Anzu_Inuzuka
2014-02-15T22:32:12+00:00 15.02.2014 23:32
Mir hat die Story wirklich gut gefallen:3 Schade, dass die Vergangenheit der beiden in Attack on Titan nicht so in der Richtung gelaufen ist..:)
Von:  Newt
2014-02-04T11:36:56+00:00 04.02.2014 12:36
So, nachdem ich nun endlich mal halbwegs ausgeschlafen bin und mir zutraue, wieder mehr als drei zusammenhängende Wörter zu formulieren, kommt hier natürlich auch mein Kommentar an dich. :D

Erst einmal hat es mich unglaublich glücklich gemacht, dass du mir etwas zu Shingeki no Kyojin geschrieben hast – das war irgendwie im vergangenen Jahr eine der Serien, die mich sehr intensiv begleitet haben, an die ich mich selbst aber schreibtechnisch vermutlich nie trauen würde, weil mir einfach der Skill fehlt, die Stimmung einzufangen. Du dagegen hast den richtigen Ton schon nach dem ersten Satz getroffen und ich wusste, ich würde nach dem letzten Satz vermutlich ein Taschentuch brauchen.

Ich lese zwar unglaublich gerne Pairing-Geschichten, aber in diesem Fall war es einfach perfekt, dass du in die Geschichte nichts reinzwungen hast – Freundschaft ist immerhin auch eine wundervolle Art von Liebe, und die kleinen Rückblicke zeigen ganz deutlich, wie wichtig Jean und Marco füreinander waren und sind. Ich gebe zu, Marcos Tod und Jeans Trauer sind in der Serie eine der Tatsachen, die ich persönlich nur ganz schlecht verkraften konnte, weswegen ich zuerst dachte: "Oh-oh, das wird jetzt vermutlich sehr wehtun...", und das tat es auch tatsächlich. Aber gleichzeitig waren die kleinen Erinnerungspassagen so liebenswert, so typisch und man merkte, wie wertvoll sie für Jean sind. Die Mühle als Ort der Erinnerung noch einmal aufzusuchen ist die logische Konsequenz für Jean, um sich selbst ein Stück weit "closure" zu geben und entschlossen weiter in die Zukunft zu gehen. Insofern war die Geschichte zwar enorm traurig, aber gleichzeitig sehr hoffnungsvoll.

Dein Stil hat mir unglaublich gut gefallen. Du hast eine sehr ruhige, aber dennoch lebendige Art zu erzählen, und vorallem die Dialoge der beiden Jungs haben mich mehr als einmal zum Schmunzeln gebracht. Mein Lieblingssatz ist allerdings dieser hier: "Schwärme von Glühwürmchen stiegen aus dem feuchten Gras und leuchteten durch die Dunkelheit, als trage jedes einzelne von ihnen ein Licht der Hoffnung mit sich, das aus den Wünschen der Jungen geboren worden war. Ihr leises Summen vermischte sich mit dem gleichmäßigen Zirpen der Grillen und erst die hallenden Glockenschläge, die von der Kirche im Dorf zu ihnen herüberwehten, ließen Jeans und Marcos Fantasiegebilde zerplatzen wie Seifenblasen." Einfach wunderschön und ein wenig unheilvoll.

Was soll ich sagen? Es war einfach die perfekte Wichtelgeschichte für mich, und selbst wenn sie nicht direkt für mich gewesen wäre, hätte sie mich beeindruckt. Ich danke dir tausendmal und versichere dir, dass ich die Story in meinem Herzen weitertragen werde. <3


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