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Das Glasherz

von

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L'Impasse

 

Es gab keinen Weg, die momentane Situation zu verschönen: sie saßen in der Klemme. Teleportieren war nicht länger möglich, was jeden Zweifel auslöschte und bestätigte, dass sie tatsächlich verfolgt wurden... und Nocturn war bewusstlos. In der Hoffnung, dass der Antiteleportationsbannkreis vielleicht nur um das Haus herum wirkte, nahm Youma seinen bewegungslosen Partner Huckepack und machte sich auf den Weg zurück ins Dorf, dabei nach gefühlt jedem zurückgelegten Meter eine erneute Teleportation versuchend. Aber wer auch immer den Bannkreis gelegt hatte, so hatte er seine Arbeit gut getan, denn auch als sie wieder im Dorf ankamen, war das Teleportieren unmöglich. Ganz offensichtlich wollte irgendjemand – die Frau, die Nocturn am Bahnhof gesehen hatte? – nicht, dass sie diesen Ort allzu schnell wieder verließen.  
 

Natürlich – Nocturn war nicht sonderlich schwer, Youma könnte wahrscheinlich noch viele Kilometer mit ihm auf dem Rücken zurücklegen, aber es hatte wieder angefangen zu schneien und keiner von ihnen war warm genug angezogen für eine nächtliche Wanderung im Schnee... und irgendetwas sagte Youma, dass er es bei Nocturns momentanem Zustand nicht auf Zufälle ankommen lassen sollte. Von Minute zu Minute bildete Youma sich ein, dass Nocturn schwächer zu werden schien...  zu Beginn war sein verzagt gestammeltes „Pardonnez-moi“ und „Pourquoi?“ noch in kurzen Abständen über seine schwachen Lippen gekommen - fast so, als hätte er einen Albtraum –  doch nun vernahm Youma diese Worte kaum noch und sein Atem war langsam; der Arm, der an Youmas Schulter herunterhing, schlapp. Er sah nicht danach aus, als würde er in der nächsten Zeit wieder aufwachen – war es da nicht besser, den Versuch zu wagen, anstatt hier draußen in der nahenden Dämmerung darauf zu warten und zu hoffen, dass er aufwachen würde?

Noctürn?“

Youma, welcher gerade Nocturns blasses Gesicht besorgt gemustert hatte, sah auf. Vor ihm auf der dünnen „Hauptstraße“ von La Roche stand eine Frau mittleren Alters, gekleidet in einen dicken Mantel, Schal und eine sehr warm aussehende Wollmütze. Von Sorge und Argwohn eingenommen, hätte Youma sie sicherlich für einen verkleideten Dämon gehalten, aber die eigenartige Aussprache, die sie beim Sagen von Nocturns Namen angewandt hatte, verwischte seine Zweifel. Nocturn hatte ihm nämlich einmal erzählt, dass sein Name, da es ein französischer Name war, eigentlich anders ausgesprochen werden musste; er war die Aussprache, die die Wächter und die Dämonen benutzten, allerdings gewohnt und ärgerte sich nicht damit, jemanden in dessen Aussprache zu korrigieren.

Die Frau kannte Nocturn also offensichtlich – nun, bei einem so kleinen Dorf wahrscheinlich auch kein Wunder... und wäre Nocturn nicht gestorben und somit gealtert, wäre er sicherlich im gleichen Alter wie sie. Ob sie sich als Kinder gekannt hatten?

Aber so günstig dieser Zufall auch war, Youma konnte ihn leider nicht nutzen, da er sich nicht verständigen konnte. Aber die Frau verstand auch so: dass Nocturn Hilfe benötigte war deutlich zu sehen und dass Youma nicht derjenige war, der ihn in diesen Zustand versetzt hatte, erkannte sie wohl an dessen verzagtem Gesichtsausdruck.

Do you speak English?“ Youma hörte, dass sie eine andere Sprache benutzte, aber welche und was sie sagte war ihm ein Rätsel – verflucht sei die Sprachblockade! Zur Abwechslung hätte er Blue wirklich gut gebrauchen können... aber da er ihm nun einmal nicht helfen konnte, hoffte Youma, dass sein Gesichtsausdruck seine stumme Bitte übermitteln konnte.

Und zum Glück: das konnte sie. Das Haus, in dem sie lebte, war gleich um die Ecke und mit großer Fürsorglichkeit und großer Gastfreundschaft bereitete sie in aller Hast ein kleines unter dem Dach gelegenes Gästezimmer vor, in dessen Bett sie Nocturn legten. Kaum dass Youma Nocturn nicht mehr auf dem Rücken trug, verneigte er sich vor der helfenden Frau, in der Hoffnung, das könne seine Dankbarkeit übermitteln. Sie lächelte als Antwort und warf einen Blick zu Nocturn, der, wie Youma mit Schrecken feststellte, blasser geworden war. Irgendetwas teilte sie Youma mit; irgendetwas, was er natürlich nicht verstehen konnte, aber es hatte etwas mit Nocturn zu tun, denn seinen Namen hatte er heraushören können – wahrscheinlich so viel wie „Pass gut auf ihn auf“?

Dann ging sie die Treppe herunter und hinterließ einen ratlosen Youma, der sich, weil er nichts anderes tun konnte, einen niedrigen Hocker heranschob und sich neben Nocturn setzte. Seid sie hier angekommen waren, hatte er sich nicht mehr geregt; auch seine Stimme war kein weiteres Mal mehr zu hören gewesen.

Die Hilflosigkeit war schrecklich. Youma konnte nichts anderes tun, als bei ihm sitzen zu bleiben und zu warten... wenn er nur nicht alleine wäre; wenn sie zu zweit gewesen wären, dann hätte einer auf Nocturn aufpassen können, während der andere sich auf die Suche nach dem Urheber des Bannkreises machte, denn Youma wagte es nicht, Nocturn mit dieser Menschenfrau alleine zu lassen. Nicht weil er ihr nicht vertraute, sondern weil es, wenn der Verfolger hinter Nocturn her war, für ihn ein Leichtes wäre, die Frau umzubringen, um an den Bewusstlosen heranzukommen.

 

Youmas unheilschwangere Gedanken wurden von einem erneuten Besuch der Frau unterbrochen; überrascht hob er den Kopf und sah, dass sie eine dampfende Suppe auf einem Tablett mitbrachte. Da Nocturn immer noch schlief und keine Anzeichen darauf machte, in der nächsten Zeit wieder aufzuwachen, war es deutlich, dass sie dieses Essen für Youma vorbereitet hatte. Wieder versuchte der Dämon, sich mit Gebärden erkenntlich zu zeigen, als er das Tablett entgegennahm - sobald Nocturn wieder wach war, musste er unbedingt für ihn dolmetschen.

Erst als Youma die cremige Hackfleischsuppe probierte, spürte er nicht nur, dass er seit geraumer Zeit Hunger verspürt hatte, sondern auch, dass sein Körper ziemlich durchgefroren war - die warme Suppe tat gut und schmeckte obendrein. Nur das dazu servierte Brot war ziemlich hart, aber das schien eine Eigenart der Franzosen zu sein.

 

Kaum dass Youma den Teller geleert hatte, kehrte die Menschenfrau auch schon wieder zurück - allerdings nicht um das Service wieder abzuholen, sondern um ihm etwas zu zeigen - ein altes Fotoalbum, gefüllt mit sepiafarbenen Bildern. Warum verstand Youma zuerst nicht, aber nachdem sie hastig mehrere Seiten umgeblättert hatte und nach kurzem, nachdenklichen Zögern die richtige Seite gefunden hatte, verstand Youma es. Denn auf dem bräunlichen Foto, das sie ihm zeigte, war Nocturn am Rande einer kleinen Kindergruppe zu sehen.

 

Youma war sich bewusst, dass er das Bild anstarrte - aber es war einfach so ungewohnt, Nocturn so zu sehen! Youma hatte sich ihn irgendwie nie als Kind vorgestellt, aber hier sah er ihn vor sich und obwohl er seinen Augen zuerst nicht trauen wollte, war es ganz ohne Zweifel sein Partner, vielleicht zwölf Jahre alt, gemeinsam mit anderen Kindern seines Alters, auf einem hübsch dekorierten Teppich sitzend. Alle Kinder blickten lachend in die Kamera, Nocturn aber - und Youma musste grinsen, als er seine Hengdi erkannte, die er an sich drückte - sah in eine andere Richtung, als hätte irgendetwas seine Aufmerksamkeit erregt; etwas außerhalb des Bildes. Er war kleiner als die anderen; doch genauso dünn wie heute, aber seine Haare waren kürzer, gingen ihm nur bis zur Schulter - ob er Kontaktlinsen trug, konnte Youma aufgrund der Bildqualität nicht beurteilen.

 

Die Menschenfrau nahm ihm das Fotoalbum wieder aus der Hand und als Youma aufsah, zeigte sie mit dem Zeigefinger auf die Fläche unterhalb ihres rechten Auges - und Youma verstand, was sie meinte; sie wollte ihm sagen, dass sie Nocturn an seinem Zeichen wiedererkannt hatte.  

 

Wieder bedankte Youma sich und verfluchte dabei die Sprachblockade - wie interessant doch ein Gespräch mit ihr gewesen wäre! Hoffentlich war Nocturn zu irgendeinem späteren Zeitpunkt noch gewillt, ein Gespräch mit ihr zu führen; es würde Youma sehr interessieren, was sie über seinen Partner zu erzählen hatte. Denn es war ja nicht nur so, dass sie ihn ohne Zweifel kannte, sondern auch, dass es eine gute Bekanntschaft sein musste, wenn man jemanden nach so vielen Jahren von der Straße auflas und ihn dann auch noch in seinem Bett schlafen ließ, samt einer Person Essen gab, die man überhaupt nicht kannte.

 

Wieder ließ sie die beiden Dämonen alleine; schaltete vorher aber noch ein kleines Lichtlein an, das neben Nocturns Bett stand. Auf die Idee war Youma natürlich nicht gekommen, da ihm die Dunkelheit keine Beschwerden bereitete. Doch das Entzünden der Lampe erinnerte ihn an etwas - es war fast abends. Zu diesem Zeitpunkt hätten sie eigentlich schon wieder in Paris sein müssen.

 

Youma erhob sich daher und suchte das Handy aus seinem Rucksack heraus, welches natürlich mittlerweile über keine Batterie mehr verfügte. Aber zum Glück war er so voraussehend gewesen und hatte das Aufladekabel mitgenommen und kaum, dass er das Kabel angeschlossen hatte, leuchtete das Handy auch schon auf. Nocturn den Rücken zugekehrt wählte er die Nummer des Haustelefons in Appartement 667 und bekam - zu seinem Unsegen - Blue an den Hörer.

„Wo ist Feullé-san?“, fragte Youma daher sofort, denn eigentlich war es immer sie, die den Hörer abnahm, wenn es denn nicht Nocturn selbst war. Immerhin waren die beiden die einzigen, die Französisch wirklich beherrschten. 

„Sie ist gerade einkaufen gegangen.“  Eigentlich wollte Youma nicht mit Blue reden, aber es führt wohl kein Weg daran vorbei, wie er mit himmelnden Augen feststellte:

„Wir werden heute Abend wohl nicht mehr zurückkehren können.“

„Weshalb?“

„Zügele deine Neugierde“, zischte Youma verächtlich und fügte dann im gleichen Tonfall hinzu:

„Es dauert nur ein wenig länger als geplant, das ist alles.“

„Warum rufen Sie an und nicht Nocturn-sama?“ Warum nur war er ein so guter Beobachter - sogar durch das Telefon durch? Natürlich, es war eine berechtigte Frage, denn normalerweise wäre es wohl Nocturn, der angerufen hätte, um die Verspätung mitzuteilen. Aber warum bemerkte er diese Unregelmäßigkeit sofort, nein, warum zog er sofort immer die passenden Schlüsse!? Dieser Kerl war einfach schrecklich, schrecklich - warum hatten sie ihn im Team?!

„Er ist im Augenblick verhindert.“

„Was ist geschehen?“ Natürlich fragte dieser neunmalkluge Halbdämon nicht, ob etwas geschehen war, sondern sofort was. Wie er ihn hasste!

 

Aber Youma kam nicht dazu, zu antworten, denn aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er, dass Nocturn sich zu regen anfing. Kurz löste er das Handy von seinem Ohr, wollte gerade auf ihn zugehen, da hörte er aber noch Blue etwas überaus Interessantes sagen, was ihn sofort dazu brachte, sich von dem langsam aufwachenden Nocturn abzuwenden.

„Was?! Lacrimosa-san war da?! Warum hast du mich nicht sofort angerufen?!”

„Das habe ich. Ihr Handy war ausgeschaltet.“

„Was wollte Lacrimosa-san? Weshalb war sie da?“, drängte Youma zu wissen, dabei bemerkend, dass Nocturn langsam aufstand und an ihm vorbei aus dem Zimmer herausging.

„Das hat sie mir nicht sagen wollen. Sie spricht nicht mit mir, wie Sie wissen.“ Eigentlich wollte Youma das Gespräch sofort beenden, doch sein politisches Interesse hielt ihn am Handy gefesselt. Als sein dämonisches Gehör dann aber Französisch vernahm, das von unten zu ihm heraufkam, beruhigte er sich ein wenig.

„Du hast aber doch sicherlich deine eigenen Schlüsse gezogen. Also?“

„Lacrimosa-sama war in Eile. Es war so dringend, dass sie es mir sogar fast erzählt hätte - aber sie konnte sich gerade noch zurückhalten. Ich denke…. was auch immer Sie und Nocturn-sama tun, es sollte nicht mehr allzu lange dauern.“

„Wir können hier aber nun einmal gerade nicht weg - würdest du Green-san dazu zwingen, an Pflichten zu denken, wenn es ihr gerade nicht gut geht?!“

 

Schweigen.

 

Beide wurden rot.

 

„Was… was hat Green damit zu tun?“

„Nichts, ich meinte auch eigentlich deinen Bruder, weil der… also der Vergleich mit Nocturn ist ja… also… passender.“ Blue schien ihm immer noch nicht folgen zu können und auch Youma verstand sich selbst gerade nicht - aber er hörte unten die Tür aufgehen.

Von Instinkt getrieben schmiss er nun endlich das Handy beiseite, rannte herunter, vorbei an der verwirrt aussehenden Frau und zog im Vorbeigehen seinen Mantel vom Harken - und schon stand er in der Dunkelheit der Nacht.

 



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