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Dämonenlord Camio und die Schrecken der Menschenwelt

Wichtelgeschichte für Caranthir
von

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Dämonenlord Camio und die Schrecken der Menschenwelt

Einige Zeit nach dem Beginn des 18. Jahrhunderts entstand in der Unterwelt das Portal von Dis. Eine seltene, wenn nicht gar einmalige Kooperation zwischen Himmel und Hölle, um den Übergang von Dämonen in die Menschenwelt zu regulieren und ihn einigen Subjekten gänzlich zu untersagen. Gerade in der Anfangszeit wurden die Regeln straff gehalten. Patrouillen überwachten die Chaosebene und über den Wolken wurden Engel in Schichten dazu eingeteilt, auf jede geglückte satanische Beschwörung zu lauschen, um schnellstmöglich Eingreifen und mit viel Liebe und Zärtlichkeit den Absolutheitsanspruch des Portals durchsetzen zu können.

Trotzdem existierten eine Handvoll Dämonen, die sich auflehnten. Gründe dafür gab es eigentlich keine. Wenn ein Mensch sie vor der Fertigstellung von Dis hatte beschwören können, standen sie höchst-höchstwahrscheinlich in einem Grimoire, gehörten zum Dämonenadel und durften das Portal sowieso benutzen. Fragte man einen von ihnen, wieso sie sich anstellten wie Kleinkinder, denen ein Bonbon abhanden gekommen war, bekam man des Öfteren eine nicht weniger kindische Antwort zu hören: Es ist langweilig.

Besonders ein gewisser Dämon mit blau-schwarzer Friese lag jeden, der es definitiv nicht hören wollte, mit seiner brillanten Aussage, dass ein bewusster Wechsel zwischen den Welten öder sei als die verdammte ödige Einöde, in den Ohren. Wo blieb die Überraschung, wer einen beschworen hatte und wozu? Was sollte das heißen, man dürfe überhaupt nicht mehr richtig mit Menschen in Kontakt treten und mit ihnen disputieren? War es das, was aus dem Stolz der Gefallenen geworden war, die nichts auf Gott und seine Menschen gaben und sich von den verbliebenen Engeln nichts vorschreiben ließen? Camio war entsetzt. Was möglicherweise auch daran lag, dass seine Anträge auf einen Besuch der Menschenwelt wegen Fehlinformationen und eigenwilliger Rechtschreibung konsequent abgelehnt wurden.

Nachdem bereits alle Dämonen, denen er über den Weg lief, begonnen hatten, ihn zu meiden und ihn notfalls mit Steinen, Schwertern und Höllenhunden zu bewerfen, beschloss Camio seinen Unmut Taten folgen zu lassen. Sein erster Plan, sich auf die Chaosebene zu schleichen, scheiterte zwar, genauso wie sein zweiter, bei dem er einen Schwarm Skelettvögel auf die wachhabenden Krieger hetzte, aber sein dritter war endlich von Erfolg gekrönt.

Bei den Feierlichkeiten anlässlich der 27. Vermählungszeremonie seines Onkels Andras provozierte Camio einen kleinen Streit unter dessen Anhängern. Der Grund, wieso Andras' letzte 26 Partner das Weite gesucht hatten oder getötet worden waren, war der gleiche, aus dem es Camio so leicht fiel, ihn in den Streit zu involvieren. Gesegnet mit der Geduldsspanne eines spielfreudigen Welpen und einer unbändigen Gier nach Katastrophen und Leid entwuchs dank Andras' Gegenwart aus dem winzigen Konflikt ein halber Krieg, der die Patrouillen von der Chaosebene lockte. Camio wurde die Möglichkeit eröffnet, sich dorthin zu flüchten und sich zu verstecken, solange bis er angerufen werden würde. Er war guter Hoffnung. Das Portal existierte erst seit kurzen und die begabteren Dämonenbeschwörer waren es noch gewohnt, dass ihre Zaubereien funktionierten.

Leider jedoch war dieser Tag alles, nur keine Bestätigung seiner klugen Theorie über das sekündliche Beschwören-werden, sobald man die Chaosebene erst mal erreicht hatte. Stundenlang hockte Camio in einer Felsspalte, wo er sich durch sein ultrahippes, fetziges und größtenteils stoffloses Partyoutfit den ein oder anderen Kratzer holte, der sofort wieder verheilte und ihm trotzdem auf die Nerven ging. Unterhaltung hatte er keine, abgesehen davon, sich mit einer Feder Reste des Festmahls aus den Zähnen zu pulen und ein bisschen in seinem neuen Lieblingsbuch – einer illustrierten Abhandlung über die dümmsten Übersetzungsfehler in Grimoires und ihre blutigen Folgen – zu stöbern. Sein Favorit war seine eigene fehlerhafte Beschwörung, bei der man am Ende als Amsel endete. Vielleicht wurde er deshalb nicht angerufen? Vielleicht waren alle seine Anhänger als Vögelchen geendet und konnten ihn nicht mehr beschwören? Eine Tragödie! Was sollte er in dem Fall machen?

Hin und hergerissen zwischen Trotz gegenüber dem blöden neuen Portal und der Langeweile gab er den Menschen noch genau drei Minuten, um ihn zu beschwören. Er zählte sogar runter.

Und dann, nach vier Minuten zählen, weil nach drei Minuten nichts passiert war und er nicht so kleinlich hatte sein wollen, wurde sein stummes Flehen erhört. Ein verwegenes Grinsen erschien auf seinen Lippen, als er sich aus seinen Versteck zwängte und auf den erschienenen Durchgang zu sprintete. Die Wachen hatten die Beschwörung ebenfalls bemerkt, waren aber zu weit weg, um ihn oder das Portal rechtzeitig zu erreichen. Irrsinnig lachend rannte und rannte er auf das schwarze Loch zu, bis er nah genug war, um sich mit einen Hechtsprung hineinzustürzen und davon verschluckt zu werden.
 

Camio hatte Glück. Ausnahmsweise. Der zähflüssige Prozess beim Übertreten in die Menschenwelt verhinderte, dass er kopfüber auf den Holzboden des Hauses krachte, in das er gerufen worden war. Noch in der Schwärze des Portals drehte er sich um seine eigene Achse und landete beinahe elegant in seinem Dreieck. An seinen Röckchen klirrten die metallenen Fransen aneinander, seine Ankunft mit einem reinen Klang lobpreisend, als wäre er noch der Engel, dessen Gestalt ihm in den letzten Jahrtausenden abhanden gekommen war. Ein schwacher Lichtstrahl brachte die Edelsteine über dem Rock zum Funkeln, ebenso wie seine Zähne, während seine Augen rot glühten. Kurzum, er war ein wahrhaft erhabener Anblick, was man von der restlichen Hütte um ihn herum und von dem Menschen vor ihm nicht behaupten konnte.

Gut, viel konnte er von diesem nicht erkennen, da er sein Gesicht und seinen gesamten Körper unter einer Kutte verborgen hatte. Unter einer Kutte, die aussah wie aus dem Grab eines toten Mönchs ausgebuddelt. Und auch so roch. Camio hielt sich die Nase zu und verzog das Gesicht, was den Mann dazu veranlasste, sich beleidigt zu räuspern.

„Dämonenlord Caim?“

„Camio. Es heißt Camio.“

„Aber hier steht -“

„Mir egal, was da steht! Mein Name ist Camio. Muss ich es erst buchstabieren, Menschlein?“

Zwei Sekunden später und er wusste bereits nicht mehr, wieso er sich unbedingt hatte beschwören lassen wollen. War nicht exakt dasselbe beim letzten Mal passiert? Und beim vorletzten Mal? Alles nur, weil einer von Gottes Propheten zu dumm zum Schreiben gewesen war. Oder zum Einritzen in Stein. Camio erinnerte sich nicht mehr genau, wann der Mist mit seinen Namen begonnen hatte. Überlegend kratzte er sich an der Wange und vergaß dabei den Mann in seinem Sichtfeld. Der Gute räusperte sich so oft, bis ihm seine Stimmbänder aus der Kehle zu springen drohten und er schlussendlich die Kapuze abnahm, um Camio angemessen sichtbar einen vorsichtigen, aber nichtsdestotrotz ungeduldigen Blick zuwerfen zu können.

Das erweckte dann doch mal Camios Aufmerksamkeit. Entgegen der stinkenden Kutte war der Typ darunter recht ansehnlich. Von seinem restlichen Körper war zwar nicht viel zu erahnen, aber er war großgewachsen, hatte kantige, charismatische Gesichtszüge und etwas längeres, dunkelbraunes Haar. Wie die männlichere Variante von Gabriel. Camio war auf Anhieb genervt.

„Dämonenlord Camio, hört meine Worte und meine Befehle. Aber beantwortet mir zuerst eine Frage; Seid Ihr wirklich der, den ich gerufen habe?“

„Natürlich. Was soll die dumme Frage?“

„Ihr … seht nicht aus, wie ich mich Euch vorgestellt habe … dieses Gewand ...“, murmelte der Mann, verstört auf die Abbildung in dem Grimoire blickend, das er in den Händen hielt. Um ebenfalls einen Blick darauf zu erhaschen, legte Camio den Kopf schief und schnaubte.

„Hatte der Künstler zwei gebrochene Hände und eine Augenklappe?“, beschwerte er sich. „Das sieht nicht annähernd aus wie ich. Außerdem, was ist mit meiner Kleidung nicht in Ordnung?!“

Seine rot glühenden Augen schienen bei seinem Gegenüber einen starken Eindruck zu hinterlassen, denn der Beschwörer wich einen halben Schritt zurück und hob gleichzeitig besänftigend eine Hand.

„Nichts, nichts. Es ist alles in Ordnung. Ihr seid eine beeindruckende Erscheinung. Werdet Ihr jetzt meinen Befehlen folgen und tun, was ich Euch auftragen werde? … Bitte?“

Besänftigt verschränkte Camio die Arme vor der Brust. Er ließ Heri – wie er ihn innerlich nannte, ohne sich komplett sicher zu sein, dass dessen Name wirklich Heribert lautete – noch ein wenig schmoren, dann nickte er huldvoll.

„Bring hervor, wieso du mich angerufen hast“, erwiderte Camio weiterhin gnädig gestimmt.

Heri nickte nun ebenfalls. Sein Blick schweifte zusammen mit seiner freien Hand durch den armseligen Raum, der anscheinend sein Wohnquartier darstellte. Dann forderte er Camio auf: „Blick Euch um, verehrter Dämonenlord. Hier lebe ich. Meine Eltern waren keinen Gulden reicher, als sie noch lebten. Und dann, als sie starben, ließen sie mich und meine kleine Schwester mit -“

„Soll ich dir etwa Reichtum schenken?“, unterbrach Camio ihn unwirsch. „Du musst dich verlesen haben. Ich bin nicht der Richtige für dein Gejammer.“

„Nein! Nein, bitte hört mich zu Ende an. Darum geht es mir nicht. Meine Lebenssituation ist momentan um einiges besser als meine Unterkunft vermuten ließe. Meine Schwester hat kürzlich einen alten und reichen Patrizier geheiratet, um dessen Haushalt sie sich gekümmert hat. Er hat sich bereit erklärt, mich zu fördern, weswegen ich studieren gehen kann und es sicher auch in Zukunft können werde. Lange wird er nicht mehr leben. Meine Schwester und die Brut in ihr sind seine einzigen Erben. Wenn er stirbt, wird sich jemand um die beiden und um die Verwaltung seines Erbes kümmern müssen, nicht wahr? Ich werde reich!“

Im Schneidersitz hatte Camio sich auf dem Dreieck niedergelassen, während er sich fragte, wieso der Typ ihm seine halbe Lebensgeschichte erzählte. Heris Euphorie teilte er jedenfalls nicht. Eher war ihm nach einen Nickerchen zumute.

„Komm mal zum Punkt, Mensch. Du bist echt eine Quasselstrippe. Ich habe noch besseres zu tun, weißt du? Wie zum Beispiel ... mit Cerberus Gassi gehen. Er gehört zwar nicht mir und ich habe ihn eigentlich noch nie gesehen, aber selbst das würde ich jetzt lieber tun!“

„... Verzeiht.“

Ein winziges bisschen wirkte Heribert eingeschnappt, aber er fing sich wieder. Als würde eine unsichtbare Macht ihn dazu zwingen, ließ er sich ebenfalls auf dem Boden nieder und macht sich klein, indem er die Beine an den Körper zog, die Arme um die Knie schlang und sein Kinn auf diesen bettete. Er wirkte jung und verloren. Ein Eindruck, der bei Camio nur schwach ankam. Was auch immer Heris Hilfslosigkeit hervorgerufen hatte, es war selbst verschuldet. Und es handelte sich um nichts Gutes. Wieso sollte er sonst einen Dämon beschwören, anstatt Gott um himmlischen Beistand anzuflehen? Camio wedelte ungeduldig mit der Hand, damit er weiter redete. Möglicherweise war er trotz Heris langatmiger Erzählung ein wenig neugierig geworden.

„Nun, wo war ich stehen geblieben?“

Heribert blickte einen Moment zur Seite. Außerhalb der Hütte rannten zwei fröhlich schreiende Kinder vorbei. Camio hatte es vorher nicht bemerkt, aber sie schienen in einer Stadt zu sein. Ein Fuhrwerk ratterte, jemand schimpfte über die Kälte und ein anderer stimmte in die Klage mit ein. Als Heri weitersprach, flüsterte er beinahe, als wären ihm die Stimmen von außerhalb jetzt ebenfalls bewusst geworden und er fürchtete, gehört zu werden. Camio schüttelte den Kopf. Wer beschwor einen Dämon bitte am Tag? Er musste einen blutigen Anfänger vor sich haben. Oder einen Schwachsinnigen. Vermutlich eher einen Schwachsinnigen, was dessen nächste Worte erklären könnte.

„Ich habe Euch angerufen, edler Dämonenlord, weil mir der Verlust meiner Zukunftsaussichten droht. Ein junges Fräulein aus reichen Elternhaus will mich beschuldigen, sie gewaltsam entjungfert zu haben, wenn sich in den nächsten Wochen ihre Vermutung, guter Hoffnung zu sein, bestätigt. Das darf nicht geschehen! Das Wort des Adels steht über meinen, obwohl sie nur ein Weib ist. Ich würde alles verlieren. Meine kläglichen Ersparnisse, die Zuneigung meiner Schwester und die Förderung durch ihren Gatten … vielleicht sogar noch mehr … Körperteile … mein Leben ... Ich studiere Jurisprudenz noch nicht lange genug, um die Regeln für diesen Fall zu kennen. Egal was, es muss verhindert werden. Alles, was Ihr tun müsst, ist diesen Brief in ihren Schlafzimmer zu platzieren. Er beweist, dass sie ihre Unschuld schon vor mir verloren hat. Ich werde selbst dafür sorgen, dass er gefunden wird. Bitte helft mir, Camio!“

Angespannt, die Fingerspitzen leicht bebend zog Heribert einen Brief aus seiner Kutte und hielt ihn Camio unter die Nase. Angenehm war das nicht. Er stank nämlich genauso wie das Stück Stoff, unter dem er sich befunden hatte. Angewidert versuchte Camio wegzurobben, nur leider war das Dreieck zu klein.

Würgend antwortete er mit einen einzigen Wort, das klarer nicht hätte sein können: „Nein.“

Heribert blinzelte ihn verdutzt an. „Wie bitte?“

„Ich habe Nein gesagt. Nein, ich schmuggel den Brief nicht für dich in ihr Zimmer. Du hast sie wirklich vergewaltigt, nicht wahr?“

„Natürlich habe ich das! Ich bin gutaussehend, intelligent und werde bald vermögend sein. Sie hatte kein Recht, mich abzuweisen. Also habe ich mir genommen, was mir zustand. Was soll das werden, Dämon? Richtest du über mich?“

Camio kratzte sich an der Nase und überlegte, Ja zu sagen. Allein, um Heribert noch mehr anzupissen. Allerdings wusste er nicht, wie viel Lüge das Beschwörungsdreieck zuließ. Also wandelte er auf dem Pfad der Wahrheit. So halbwegs.

„Nein, mir sind deine Taten egal. Töte und vergewaltige, wenn es dir beliebt. Aber die Suppe hast du dir dann selbst eingebrockt und ich werde sie nicht für dich auslöffeln. Außerdem ist dein Plan tooootal langweilig. Keinerlei Herausforderung für mich und am Ende werd ich nicht mal dafür bewundert! Such dir jemand anderen für deinen Mist.“

Heri wurde wütend. Vielleicht, wirklich nur vielleicht, hätte er bei Camio etwas erreicht, wenn er sich vor ihm auf den Bauch geworfen und seine untertänigste Treue und Hingabe geschworen hätte. Dazu ein kleiner Snack und etwas Interessantes zu lesen … Camio war eben auch nur ein Dämon. Bestechungen waren super. Aber mit herrischen Verhalten erreichte Heribert nichts. Weniger als nichts. Synchron erhoben sich Dämon und Mensch und starrten einander in die Augen. Der eine mit gebleckten Zähnen, der andere sein Buch wie einen Schild vor sich haltend.

„Dämon, ich habe dich gerufen! Du kannst dich meinen Befehlen nicht verweigern.“

„Kann ich nicht?“

„Nein! Siehst du nicht, wo du stehst?“

„Doch“, erwiderte Camio lapidar. Unter anderen Umständen hätte es ihm tatsächlich etwas ausgemacht, im Dreieck gefangen zu sein. Aber er plädierte darauf, dass er richtig beobachtet hatte. Heribert war weder erfahren noch so klug, wie er von sich selbst behauptete. Möglicherweise stand es nicht in seinem Grimoire, wahrscheinlicher aber war, dass er mehr als die Beschwörungsseite nie gelesen hatte. Woher also sollte er von dem Zauber wissen, der das Dreieck unantastbar machte? Camio mochte die Kreide nicht mit seinen Händen oder Füßen verwischen können, doch was er tun konnte, war eine Phiole mit Wasser aus einer nicht vorhandenen Tasche seiner Kleidung zu ziehen und sie über einer Linie des Dreiecks zu entleeren.

„Upps“, sagte er lächelnd und trat gelassen aus dem Dreieck, als das Wasser auf die Kreide traf und sie kaum wahrnehmbar verwischte. Heribert klappte der Mund auf, was Camio mit ungemeiner Befriedigung erfüllte.

„Dann machs mal gut, Heri. War nett mit dir. Man sieht sich hoffentlich nie wieder.“

Gut erzogen wie er war hob Camio zum Abschied die Hand, bevor er sich aus der nächsten Tür flüchtete, hinaus in die Menschenwelt mit ihrer kühlen Wintersonne und den ersten Schneeflocken des Tages. Als Heribert ihm entsetzt hinterher jagte, war Camio längst außer Sicht.
 

Schnee war für Camio ein Wunder. Selbstverständlich herrschte nicht in jedem Gebiet der Unterwelt höllische Hitze, sondern einige Bereiche waren klirrend kalt, aber es gab eben keinen Himmel, wie Gott ihn den Menschen geschenkt hatte. Keine Wolken, kein Wetter und somit auch keinen Schnee. Dass er bei einen seiner wenigen Besuche in der Menschenwelt welchen gesehen hatte, mochte ewig her sein. Die Erinnerung war zu eingestaubt, um das Phänomen der herabrieselnden, weißen Flöckchen, die um ihn herum auf der Erde landeten, im ersten Moment richtig zu identifizieren.

Nachdem er sich weit genug von Heriberts Hütte entfernt hatte, blieb er stehen, um Luft zu holen und sich umzusehen. Viele Menschen auf einen Haufen, von denen die meisten in eine gemeinsame Richtung strebten, vermutlich zur Stadtmitte hin. Wenn es hier bereits so voll war, mussten die Menschenstädte gewachsen sein, seitdem er zum letzten Mal eine besucht hatte. Das versprach Aufregung, hatte aber den Nachteil, dass sich mit einigen Abstand eine Traube um ihn versammelte und ihn fasziniert anglotzte. Camio hob die Hände, um seine Zuschauer wild fuchtelnd zu vertreiben, allerdings mit mäßigen Erfolg. Stattdessen wurde nun geflüstert und gelacht, jemand erdreistete sich sogar, mit dem Finger auf ihn zu zeigen, was Camio dazu brachte, eine Horde Vögel auf ihn hetzen zu wollen. Wenn es Vögel in seiner unmittelbaren Nähe gegeben hätte. Irritiert, weil niemand auf seinen Befehl reagierte, sah er sich genauer um. Weiterhin keine Vögel. Nur verlassene Nester, kahle Bäume und am Himmel diese weiße, sanft herabschwebende Masse.

Plötzlich erinnerte er sich.

Die Erinnerung war älter als die Menschheit selbst. Bevor Gottes Plan sich überhaupt in den Menschen weiterentwickelt hatte, hatte ihn jemand mit auf die Erde genommen und ihm die reine, von Menschen und Tieren unberührte Welt gezeigt. Sie waren durch tropische Gebiete geflogen, über einen Ozean hinweg, bis sie schließlich auf eisigen Schollen gestanden und zum Himmel empor geschaut hatten.

Sieh nur, Caim“, hatte sein Begleiter gesagt und die Zunge ausgestreckt. Winzige Schneeflocken waren auf ihr gelandet, sogleich wieder geschmolzen und doch hatten sie einen Moment reinen Glücks hervorgerufen. Camio hatte sich nicht zweimal bitten lassen. Er war dem Beispiel gefolgt, ungeduldig und begierig darauf, dieses neue Gefühl zu kosten. Es war besser gewesen, als er es sich hätte vorstellen können.

Doch hier und jetzt berührten keine Schneeflocken seine ausgestreckte Zunge. Die glühende Aura seines Körpers ließ sie schmelzen, bevor sie mit ihm in Berührung kommen konnten, genauso wie seine Füße den Schnee verschwinden ließen, auf dem er stand. Enttäuscht öffnete Camio seine unwillkürlich geschlossenen Augen wieder und blinzelte. Er wandte sich ab, sowohl von der Erinnerung als auch vom Anblick des Himmels. Dann folgte er denjenigen, die sich nicht um seine Gestalt kümmerten, sondern unbeirrt den Weg zur Stadtmitte weiter verfolgten.

Inmitten dieser Menge fand er sich schließlich auf einem weitläufigen, gut besuchten Marktplatz wieder. Es war zu groß, um alles zu überschauen, aber Camio plante sowieso nicht an einer Stelle stehen zu bleiben, zumal seine Straße ihn direkt in den Fleischmarkt geführt hatte. Trotz der konservierenden Temperaturen stank es schlimmer als Heriberts Kutte. Tote, aufgehängte Tiere glotzten ihm entgegen, lagen herum oder wurden fröhlich in die Luft gehalten, um sie den vorbeiziehenden Bürgern anzupreisen. Einige der mit Innereien gefüllten Eimer hinter oder neben den Ständen waren ebenfalls kein schöner Anblick. Camio verging jeglicher Appetit, als er sah, wie sich ein abgemagerter, kleiner Dieb an einem Eimer bediente. Hatten die Menschen denn gar keine Würde? Er persönlich hätte lieber einen der streunenden Köter genascht, die zwischen den Beinen der Menschen herum liefen.

Nachdem er sich tatsächlich ein Häppchen gegönnt hatte, trieb es ihn weiter den Hauptweg entlang. Fleisch schien es am meisten zu geben, im Winter war eben nicht viel her mit Feldfrüchten und anderen Obst- oder Gemüsesorten. Hauptsächlich sah er Korn, daneben Kartoffeln und ein paar importierte Waren, von schmucken Händlern für die reicheren Bürger feilgeboten. Trotz des entsetzten Blickes der jungen Dame beim Gewürzstand schnappte Camio sich ein Päckchen Pfeffer und schnupperte daran. Die Dame fiel fast in Ohnmacht, als er auch noch anfing zu niesen und das kostbare Gewürz mit seinen Nasenausscheidungen anreicherte. Mit feierlich-ernster Miene reichte er es ihr zurück und lief weg. Im Weglaufen war er schon immer gut gewesen.

Sein Weg führte ihn schließlich zu einer Kirche, angelockt vom schweren Klang der geläuteten Glocke. Er war ein wenig über den Stoffmarkt gewandert, allerdings nur, um wieder angeglotzt zu werden. Diesmal mit besonderem Abscheu. Er entsprach wohl nicht der allgemeinen Mode. Camio hatte nicht weniger angewidert die Blicke erwidert. Langsam musste er sich eingestehen, dass sein Ausflug in die Menschenwelt nicht halb so viel Spaß machte wie erwartet. Gerade wagte er es nicht, Magie zu seiner Belustigung einzusetzen, denn er wusste nicht, wie schnell dann ein Engel hinter ihm her sein würde. Es gruselte ihn, dass das bisher nicht passiert war. Was machten die blöden Federviecher im Himmel? Ein Nachmittagsschläfchen halten?

Die Kirche in all ihrer imposanten Pracht erschien ihm verschwendet an den Himmel und seine Bewohner. Die Menschen könnten ruhig ein paar Gebäude für Luzifer bauen. Oder für Belial. Der war sowieso cooler, wenn man Camio gefragt hätte. Er hätte sich im Handumdrehen um die kreischenden Kinder, die Klagen der Bürger wegen der Brotpreise und um die Bettler gekümmert, die vor der Kirche campierten und einen den schönen Anblick vergällten. Camio verengte die Augen, sich fragend, wieso die anderen Menschen in voller Ignoranz an der Ansammlung Leidender vorbei gehen konnten, ohne wütend zu werden und sie auf der Stelle zu vertreiben. Oder erfreuten sie sich an dem Leid? Fühlten sie sich dadurch besser? Das war eine Regung, die er besser verstehen konnte als die Akzeptanz von Ungeziefer inmitten der funktionierenden, seinen Lebensunterhalt selbst bestreitenden Gemeinschaft.

Möglicherweise jedoch fühlte sich ein Teil von ihm bei dem Anblick unwohl und zwar nicht, weil seine Sicht auf die Kirche beschmutzt wurde.

Er wandte den Blick ab. Mal wieder. Allerdings konnte er diesmal nicht gelassen in eine andere Richtung fortgehen, sondern sein Blick blieb an einem Mädchen hängen, das etwas abseits von der größeren Bettlermenge stand und zu ihm herübersah. Das herablassende Verhalten der Erwachsenen auf dem Markt fehlte gänzlich in dem neugierigen Staunen, mit dem sie ihn bedachte. Sie selbst war kein so netter Anblick. Winzig, dürr, schmutzig und gehüllt in feinste Pennermode, die sie zwar warmzuhalten schien, aber keinen sonderlich gepflegten Eindruck vermittelte.

Camios Unwohlsein nahm zu. Er hätte wohl dennoch nichts getan, was über seinen üblichen 'Ich-bin-ein-Dämon-und-brauch-keine-Empathie'-Charakter hinausgegangen wäre, aber mit einem Mal stand sie in seiner Nähe. Sie war mit Trippelschritten näher gekommen, ein lautloses, kleines Ding im lauen Schneetreiben. Älter als sechs Jahre konnte sie nicht sein. Ein Säugling im Vergleich zu dem, was Camio kannte. Er hatte keine Vorstellung davon, was es bedeutete, sechs Jahre alt zu sein. Immerhin nervte sie ihn nicht wie die anderen Kinder, denen er bisher in der Menschenwelt begegnet war. Sie war so still, dass er erst dachte, sie wäre stumm.

„Was willst du?“, fragte er sie unfreundlich, aber sie zuckte nicht zusammen. Ihr Blick war sowieso nicht auf sein Gesicht gerichtet. Ihre Augen folgten den Federn über seinen Kopf, die bei jeder Bewegung mitwippten. Vielleicht hätte sie danach gegriffen, wenn sie größer gewesen wäre. Aber sie reichte ihm nur bis zum Ellbogen.

„Willst du eine Feder?“, hakte er weiter nach und erreichte, dass sie ihn kopfschüttelnd ihre Aufmerksamkeit schenkte.

„Ist Euch nicht kalt, Sir?“

Camio blinzelte. „Nein. Mir ist nie kalt. Dir?“

„Oft. Aber gerade nicht. Meine Hand tut auch nicht mehr weh“, hörte er sie antworten, während er sich überlegte, wie er aus dieser merkwürdigen Unterhaltung wieder rauskam. Ihr dünnes Stimmchen kam ihm unangenehm zerbrechlich vor, zumal sie undeutlich sprach und vor jedem Wort eine kaum wahrnehmbare Pause einlegte, als würde sie um jedes Wort ringen müssen. Er wollte weder ihren Babysitter noch ihren Wohltäter spielen. Er wollte seinen Spaß. Fragte sich nur, wann er den endlich bekam.

„Hör zu, Kleine. Geh einfach nach Hause, wenn dir kalt ist.“

„Aber ich habe gesagt, mir ist nicht kalt... und nach Hause kann ich nicht...“

Da sie in den letzten Sekunden nicht unerwartet in die Höhe geschossen war, kam sie an die Federn auf seinen Kopf immer noch nicht heran, was sie aber ergreifen konnte, waren die Kettchen, die von dem Juwel auf seiner Brust ausgingen. Als ihre Hand seine nackte, vermutlich für sie unerwartet heiße Haut berührte, zuckte sie heftig zurück und zog dabei an den Ketten, die auseinander rissen. Camio rieb genervt sich die Nasenwurzel.

„Gratuliere, du hast es kaputt gemacht. Lässt du mich jetzt in Ruhe?“

Ein tieftrauriger Ausdruck erschien auf ihren Gesicht. Sie hielt ein paar der Kettenglieder beschützend in ihren Fäusten verborgen. Camio konnte praktisch geschehen fühlen, was gleich auf ihn zukommen würde. Er blickte nach links und nach rechts und konnte sich nicht entscheiden, in welche Richtung er fortlaufen sollte. Für normale Ohren unhörbar bemerkte er, wie ihr Atem zitterte. Sein eigener Atem beschleunigte sich dadurch ebenfalls und er zog eine Grimasse, die seinem Gesichtsausdruck im Moment seines Sturzes aus dem Himmel, nicht unähnlich sein dürfte.

„Okay!“, zischte er schließlich leise, „Ist ja gut, fang nicht an zu heulen. Ich kann das ganz schnell wieder heile machen. Schau her.“

Er griff nach ihren Händen und zog vorsichtig ihre geschlossenen Finger auseinander. Dann nahm er ihr die Kettenglieder ab, um sie an den losen Enden derer zu stecken, die noch an seiner Verkleidung herumhingen. Absolut wie pure Magie verschmolzen die kaputten Teile miteinander. Eins nach dem anderen, ohne dass er sie separat anbringen musste. Sie schwebten schlicht aufeinander zu und wurden wieder zu einer Einheit. Weil das beinahe zu unspektakulär wirkte, klatschte Camio nach der Vollendung seines kleinen Tricks in die Hände und einige nur für sie beide sichtbare Funken stoben aus den geheilten Kettchen. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man in dem bunten Minifeuerwerk grinsende Camio-Gesichter erkennen. Ein Zauberkünstler musste eben sich selbst preisen.

„Na, wie war das? Ich bin nämlich ein Dämon, weißt du. Du darfst mich jetzt gerne bewundern“, sagte er ausgelassen und wuschelte ihr über die Haare, froh, die nahende, tränenreiche Katastrophe abgewendet zu haben. Sie wirkte zwar nicht aufgemuntert, sondern eher geschockt und überwältigt, aber das konnte man ihr ja nicht verübeln. Camio war manchmal von sich selbst ebenfalls überwältigt.

Summend begann er an seinen Haaren herumzunesteln und eine Feder herauszuziehen, die er der Kleinen großzügig überreichte.

„Du darfst sie behalten. Aber nur, wenn du jetzt nach Hause gehst und mich in Ruhe lässt. Vielleicht komme ich dich noch mal besuchen, bevor ich auch wieder in mein Zuhause zurückkehre. … Wie kehrt man eigentlich zurück?“

Die letzte Frage hatte Camio mehr an sein eigenes Erinnerungsvermögen gestellt, das gerade kläglich versagte und sich weigerte, ihm eine Antwort zu liefern, aber das Mädchen antwortete ihm dennoch ein wenig eingeschüchtert: „Ich … ich weiß nicht …?“

„Ist mir klar, dass du das nicht weißt“, erwiderte er, die Arme vor der Brust verschränkend. „Was mach ich denn jetzt? Zurück zu Heribert oder einen Engel auf mich aufmerksam machen? Ich glaube, letzteres könnte weh tun ...“

„Seid nicht traurig, Mister … ich kann auch nicht nach Hause.“

„Du kannst nicht … warte, das hast du vorhin schon gesagt, oder? Wieso kannst du denn nicht?“

Sie blickte betreten auf den Boden. Mit der Feder, die sie in ihrer rechten Hand hielt, strich sie leicht über ihre linke Handinnenfläche.

„Vater hat mir befohlen, zu verschwinden. Weil meine Hand so weh tat und ich nicht mehr aufhören konnte, zu weinen. Er sagte, ich soll wiederkommen, wenn ich mich beherrschen kann. Jetzt tut es nicht mehr, aber ich glaube, dass es wieder anfängt, sobald ich Zuhause bin und Vater noch wütender wird … Er hat mir Angst gemacht ...“

Einen Augenblick lang schloss Camio die Augen. Er erwiderte nichts. In dieser Zeit der lautlosen Stille zwischen ihnen, ergriff er die Hand des Mädchens und ließ seine Magie wirken. Er wusste nicht, was kaputt gewesen war oder was genau seine Magie tat. Hauptsache es half. Es reparierte. Es tat, weshalb es ursprünglich vielleicht einmal geschaffen worden war. Diesmal ohne Belohnungsfeuerwerk für sich selbst.

„Dein Vater ist ziemlich mies, hm? Kenn ich. Mein Vater ist auch ein Mistkerl“, sagte er schließlich.

Aber die Kleine widersprach ihm trotzig, wenn auch vorsichtig. Sie schüttelte dabei ihre Hand, ungläubig, dass das, was sie gefühlt hatte, wirklich passiert war. Ein schwaches, leicht schiefes Lächeln schlich sich auf Camios Lippen.

„Vater ist … Vater ist nicht böse. Er ist nur immer beschäftigt. Ich hätte ihn nicht stören dürfen.“

„... Natürlich nicht“, erwiderte Camio nüchtern. Er wippte von einem Fuß auf den anderen. Sie standen schon solange herum, dass ihm unwohl wurde. Einerseits erwartete er, jeden Moment von einem Engel gefunden zu werden und andererseits war das langweilig. Man musste sich doch nicht im Stehen unterhalten. Irgendwo warteten Spaß und Leidenschaft auf sie. Sie mussten die Abenteuer nur finden.

„Du willst immer noch nicht nach Hause, hab ich Recht? Das heißt, du könntest mit mir kommen. Wenn du bei mir bist, kommen vielleicht ein paar Hündchen und Kätzchen angelaufen und lassen sich vernaschen.“

Sie legte den Kopf schief und sah ihn verständnislos an. Was daran nicht zu verstehen war, konnte er sich zwar nicht erklären, aber er verzieh es ihr, genauso wie er selbstlos seine Zeit für sie opferte. Scheinbar besaß er ein Herz. Oder sowas ähnliches.

„Ich darf …?“

„Mit mir kommen, ja. Ich erlaube dir, in meiner Anwesenheit zu verweilen, Odi.“

„Odi?“

Camio kratzte sich an der Nase, als er antwortete: „Odi. Dein Spitzname. Odila ist mir zu lang. Leb damit.“ Seine Unruhe hatte noch zugenommen, beinahe hüpfte er von einem Bein zum anderen. Der Schnee unter seinen Füßen schmolz nicht nur, er begann zu verdampfen. Entweder härtete die Kleine allmählich bei den seltsamen Dingen ab, die von ihm ausgingen oder sie war mal wieder zu verwirrt, um den Dampf Beachtung zu schenken.

„Ist das mein Name? Ich habe einen Namen?“, fragte sie Camio, die Feder fest an sich gedrückt.

„Natürlich hast du. Was dachtest du denn?“

„Vater nennt mich nur Mädchen … Ich dachte ...“

Wie bei einer fernen Erinnerung konnte Camio bittere Galle in seiner Kehle brennen spüren. Caim oder Camio, immerhin kannte er seinen eigenen Namen. Darin hatte nicht mal sein Vater versagen können. Es war so lange her. Er hatte seine eigenen Flügel vergessen. Das eisige Prickeln von Schnee auf der Zunge. Die Stimmen seiner Geschwister, die oben verblieben waren. Aber das erste Wort, das er nach seiner Erschaffung gehört hatte, würde ihm nie entfallen.

Camio. Mein Sohn.

„Tss. Dein Name ist Odila“, teilte er ihr aufgebracht mit. „Deine Mutter gab dir diesen Namen und du solltest ihn verwenden. Beziehungsweise, ich verwende ihn für dich. Odila. Odi. Und ich bin Camio. Camio und Odi. Klingt doch super, oder? Wir werden jetzt Spaß haben. Kapiert?“

Sie nickte. Ihr Lächeln war beinahe hübsch zu nennen. Es war voller ehrlicher Freude über ihren Namen, die Feder und ihren neuen Freund. Das herzähnliche Ding in Camios Brust war ein klitzekleines bisschen zufrieden mit sich selbst.
 

Sie hatten tatsächlich Spaß. Odila zeigte Camio ihre Stadt und damit einhergehend auch das Menschensein, das er konstant verspottete und das ihm dennoch Freude bereitete. Mit Hilfe eines schlichten, geringfügig angeknacksten Schlittens, den Camio von einer Horde Jungs entliehen hatte, rutschten sie einen schneebedeckten Abhang hinunter. Sie versuchten einen Schneemann zu bauen und scheiterten daran, dass zu viel Schnee unter Camios Füßen weggeschmolzen war. Dazu, Schneeengel zu machen, kamen sie gar nicht mehr. Im Laufe des Tages beruhigte sich das Wetter. Zurück blieb ein klarer, wolkenloser Himmel. Die einzigen Wolken waren die der Menschen, die bei jedem Atemzug für Sekunden vor ihren Gesichtern zitterten.

Des Schnees beraubt, wollten sie etwas essen, was Camio zu der überraschenden Erkenntnis brachte, dass Hunde für Odila keine Delikatesse darstellten. Aber dafür hatte er eine einfache Lösung. Er schlich durch die Hintertür einer Backstube. Als er wiederkam, brachte er einen Arm voll süßer Brötchen, Fruchtörtchen und einen Laib Brot mit. Er hatte sich geschnappt, was interessant ausgesehen hatte. Odila wusste ebenso wenig wie er, wie die meisten Sachen hießen, aber sie probierten alles und fanden alles fantastisch.

Camio hatte den besten Begleiter, den er haben konnte. Jemand, der seine Aktionen nicht hinterfragte. Jemand, der selbst die Initiative übernahm und auf so wundervolle Ideen kam, wie auf den Turm der Kirche zu klettern und die Glocke zu läuten. Von der unmittelbaren Lautstärke wurden sie fast taub, aber es war es wert. Die Gesichter der Leute unter ihnen, der Priester, der fluchend einen Messdiener die Treppe hochjagte und schließlich der Sprung aus dem Fenster in den Hintergarten der Kirche, bei dem er Odila in den Armen hielt … sie lachten und hatten den Spaß gefunden, nachdem er gesucht hatte.

Irgendwann wurde es Abend. Sie machte ihn darauf aufmerksam. Er selbst hatte noch nie einen Tageszeitenwechsel miterlebt. Das war es also. Tag und Nacht. Ein unaufhaltsames Dunkelwerden, weil die Sonne verschwand. Wo sie wohl hinging? Odila konnte ihm die Frage nicht beantworten. Aber sie sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen. Am Morgen würde die Sonne wiederkommen. Das tat sie immer. Er jedoch konnte ihr nicht versprechen, am Morgen noch da zu sein. Egal, ob die Engel endlich mal ihren Pflichten nachkamen oder man begann, ihn in der Unterwelt zu vermissen, er selbst war es, der nach Hause wollte.

Mittlerweile befanden sie sich auf einen Friedhof. Camio hatte ein kleines Puppenspiel mit den Gebeinen der Verstorbenen organisiert, was Odila zunächst zum Weinen gebracht hatte, bis er ihr versichert hatte, ihre Mutter wäre ganz bestimmt nicht dabei und die anderen Toten fänden das unheimlich witzig. So führte er ein Stück auf, in dem es um Luzifers Lieblingssportart 'Seelenjagd' ging, die er regelmäßig ausübte und bei der er genauso regelmäßig versagte. In den Wettbüros der Unterwelt standen momentan die höchsten Einsätze darauf, dass er bei der nächsten Jagd im Moor versinken würde. Nachdem er beim letzten Mal in einen Vulkan gefallen war, war die Höhe der Wetten für das Moor-Missgeschick nicht verwunderlich. Lediglich Camio hatte darauf gesetzt, dass er ausnahmsweise die Seele fing, hinter der er her war. Es wurde Zeit für ihn, nach Hause zu kommen und allen seinen baldigen Wettgewinn unter die Nase zu reiben.

Sie setzten sich auf zwei Grabsteine, die unter einer kahlen Trauerweide standen. Ein hübsches Plätzchen im Sommer, im Winter jedoch eher trostlos. Manchmal fielen feine Wassertröpfchen auf Odilas dunklen Haarschopf nieder. Es wehte ein kühler Wind und die übrigen Fruchtörtchen von Camios Diebesausflug, die sie miteinander teilten, schmeckten vertrocknet. Die letzte Hälfte aß er kaum, sondern zerbröselte sie größtenteils zwischen seinen Fingern und ließ die Krümel vom Wind fortwehen.

„Ich denke, wenn ich mich intensiv konzentriere, könnte ich mit jemanden aus der Unterwelt Kontakt aufnehmen und mich von ihm zurückziehen lassen. Besser als einem blöden Engel zu begegnen.“

„Aber Engel sind doch gut“, protestierte Odila mit größter Selbstverständlichkeit. Camio, der sich einen nervigen Törtchenkrümel aus dem Bauchnabel pulte, widersprach nicht. Praktisch gesehen gab es nichts zum Widersprechen. Engel waren gut und Dämonen böse. Was wohl hieß, dass er ebenfalls böse war. Die Tatsache schien allerdings nicht bei ihr anzukommen und er wollte sie nicht mit der Nase darauf stoßen.

„Ja. Wie auch immer ... Es wird echt ziemlich … Nacht. Du findest den Weg nach Hause?“

Odila blickte sich um. Ihr Blick richtete sich fest in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Ein paar schwache Lichter schienen von der Stadt zu ihnen herüber zu glimmen. Winzige Leuchttürme in der anbrechenden Dunkelheit. Leider konnte er die Kirche von hier aus nicht sehen, aber dafür eine kleine Kapelle, die zum Friedhof gehörte. Die Statue eines langhaarigen, bärtigen Mannes im weiß-roten Gewand stand neben den Eingang. Er kam Camio entfernt verwandt vor. Aber auch ohne ihn konkret einordnen zu können, war er Camio von Grund auf unsympathisch, weshalb er ihn im Laufe des Abends mehrmals versehentlich mit Dolchen symbolisierenden Fingerknochen beworfen hatte.

„Fein. Du findest deinen Rückweg. Und ich meinen. War schön mit dir, Odi. Machs gut“, leierte Camio herunter. Er kam mit Abschieden nicht klar. Seine Füße hatten bereits beim zweiten Wort wieder Feuer gefangen.

„Du musst wirklich gehen?“

„Ja.“

„Wirklich?“

„Jaaaah …“, sagte er, einen tonlosen Seufzer auf den Lippen. Mit kaum verhohlener Leidensmiene sprang er vom Grabstein und drehte ihr den Rücken zu. Möglicherweise kam zu dem ehrlichen Bedauern, von ihr Abschied nehmen zu müssen, seine theatralische Seite noch hinzu.

„Ich habe eben einen Ort, an dem ich gehöre. Genauso wie du. Obwohl dein Vater … schwierig … ist und nicht mal merken würde, wenn du verschwinden würdest.“

„Hmm …“

Camio konnte ihr Gesicht nicht sehen. Er verschränkte die Arme miteinander, um sich davon abzuhalten, sich wieder umzudrehen. Er musste jetzt stark bleiben. Ein echter Dämon. Nein, sogar ein Dämonenlord. Kleine Kinder verspeiste er zum Frühstück.

„Jetzt geh schon. Das, was gleich kommt, willst du nicht miterleben. Wärst du dreitausend Jahre alt, ließe sich darüber reden, aber du bist erst sechs. Kusch, kusch!“

Auch wenn sie es nicht sehen konnte, löste er eine Hand aus seinen verschränkten Armen und wedelte damit in der Luft herum. Es war auch ohne Sichtkontakt effektiv. Er hörte sie vom Grabstein heruntergleiten. Ihre Füße erzeugten zwar kaum ein Geräusch auf der gefrorenen Erde, aber er konnte ihre Kleidung rascheln hören. Im Laufe des Nachmittags hatte er ihnen nicht nur Essen geklaut, sondern ihr zudem einen hübschen, warmen Mantel besorgt und sie gleichzeitig davon überzeugt, ihn zu duzen. Nicht, dass ihm die ehrerbietige Anrede nicht gefallen hätte, aber nachdem sie sich ein paar Mal beim Sprechen verhaspelt hatte, war es ihm zu anstrengend geworden. Hätte er weitere ermüdende Gespräche führen wollen, wäre er bei Heribert geblieben.

Plötzlich griff ihre Hand nach seiner. Warm und menschlich. Etwas in ihm empörte sich mit einem lauten 'Ieh', aber er drehte sich herum und sah sie ohne jede sichtbare Emotion an.

„Was ist?“, fragte er widerwillig. Ein wenig kam er sich vor, als wäre die Zeit um Stunden zurückgedreht wurden und sie stünden wieder am Anfang. Nur Odilas Anblick überzeugte ihn, dass das nicht sein konnte. Das Selbstvertrauen ihm gegenüber existierte erst seit einem Bruchteil des Tages.

„Kann ich nicht mit dir kommen? Bitte, Camio, ich will nicht nach Hause ...“

Sich ihrer Hand entziehend schüttelte er den Kopf. Beides fühlte sich schwerer an, als es war.

„Nein, kannst du nicht. Ich bin ein Dämon, schon vergessen? Da, wo ich hingehe, ist für Lebende kein Platz.“

Obwohl ihm bei genauerer Betrachtung dieser Aussage die 16. Braut seines Onkels Andras einfiel. Ein Mensch, den dieser direkt von der Erde entführt hatte. Nach fünf nervenaufreibenden Jahren hatte er sie wieder zurückgeschickt. Nackt wie am Tag ihrer Geburt, aber dafür ausgestattet mit einem Wortschatz, der eine Riege betrunkener Soldaten das Fürchten gelehrt hätte. Was wohl aus ihr geworden war? Vermutlich war sie inzwischen tot, was schade war, denn so kannte er niemanden in seiner unmittelbaren Nähe, den er bezüglich menschlichen Wesen in der Unterwelt befragen konnte.

Aber möglich war es.

Camio rieb sich über den Nacken und sagte zögerlich: „Na ja, wenn ich es mir recht überlege …vielleicht könntest du mir deine Seele überschreiben ... glaube ich. Ich habe mich nie damit auseinander gesetzt, also müsste ich erst zurück und Onkel Andras fra-“

Odila umarmte ihn stürmisch. Seine Idee mochte tausend und einen Fehler haben, sie störte sich nicht daran. Wenn er nach unten blickte, sah er den Kopf eines kleinen Mädchens, der aufgeregt hin und her wippte. Er wandte den Blick wieder ab und ließ sich widerstandslos beknuddeln. Der Ansatz eines Lächelns hob seine Mundwinkel empor.
 

Oh mein Satan, wenn das mal nicht niedlich ist! Der große Dämonenlord Camio wird von einem Menschenkind lieb gehabt. Wieso steht ihr nicht auf einer Blümchenwiese? Ich bin enttäuscht.“

Ihre Präsenz war von einem Schlag auf den nächsten da. Sie hatte in dem ersten Wort, das Camio vernommen hatte, mitgeschwungen. Nicht sehr machtvoll, eher wie ein Schatten. Und genauso dunkel.

Drei Sekunden lang hatte er ehrlich gelächelt, aber mit dem Auftauchen der fremden Dämonin wenige Meter vor ihnen war es damit definitiv vorbei. Feine Wutfältchen durchzogen seine Stirn und die Nasenwurzel. Fast hätte er sich über ihr Auftauchen gefreut, aber nicht mit dieser Herablassung in der Stimme. Also wirklich. Und woher wollte sie bitte wissen, dass Odi ihn lieb hatte und er nicht im Gegenteil gerade dabei gewesen war, sie in irgendeine Sünde zu stürzen? Gut, sie war erst sechs, aber sie waren Dämonen. Moral war etwas für Engel.

„Lilith“, sagte er gefährlich leise, Odila hinter sich schiebend. Sein Blick glitt einmal und in aller Eile über seine neu ernannte Feindin, die ihn genauso empört ansah wie er sie.

„Lilith? Nicht schon wieder! Komm schon, wir hatten diese Diskussion erst vor 79 Jahren. Es heißt Lilithia. Nicht Lilith und auch nicht Lilim. Ich bin mit beiden nicht verwandt. Zur Hölle, diejenigen, die mir diesen Namen gegeben haben, gehören für ewig ins Verlies von Antenora gesperrt!“

„ …Oookay ...“, erwiderte Camio gedehnt und hob beruhigend die Hände. Das hatte er gewusst, natürlich. Sein Gedächtnis war perfekt. Ihre angebliche Unterhaltung vor 79 Jahren war zwar ein wenig verschwommen, aber immerhin wusste er, woher er sie kannte. Kein Dämonenadel, dafür jedoch eine Spielgefährtin von Belials rechter Hand Avaria. Mit denen war nicht zu spaßen. Was ihn auch auf die einzig sinnige Erklärung brachte, wieso sie ihm hier auflauerte.

„Du sollst mich zurückholen, richtig? Die Mühe hättest du dir nicht machen brauchen, ich wollte schon von alleine zurück.“

„Ist das so“, murmelte sie lustlos, augenscheinlich weiterhin eingeschnappt. Camio plante nicht, sich zu entschuldigen. Sie hatte angefangen. Odila hingegen lugte neugierig und immer noch sehr aufgeregt hinter seinem Rücken hervor. Die Fremde dürfte sie kleidungsmäßig genauso faszinieren wie Camio. Silberne Rüstungsplatten umschlossen ihre Brüste und bedeckten im Ansatz ihren Unterleib. Man konnte sich nicht komplett sicher sein, was mehr verdeckte; die Rüstung oder ihre seidenglatten, langen, schwarzen Haare, die über ihren Körper flossen. Sie hätte gut und gerne ein Schwert in dieser Haarmasse verstecken können und keiner hätte es gemerkt.

„Ja, das ist so!“, antwortete Camio laut. Er plusterte sich ein kleines bisschen auf, fügte dann allerdings versöhnlich hinzu: „Du siehst, ich komme freiwillig mit. Danke fürs Auflesen, Li... Lilithia ...“

Ihre Miene verzog sich unmerklich zu einem Grinsen, während sie langsam und bedauernd den Kopf schüttelte. Camio blinzelte verwirrt.

„Nein nein, du hast das missverstanden. Ich bin nicht dein Abholdienst. Keine Ahnung, ob überhaupt jemand gemerkt hat, dass du weg bist. Die Wachen auf der Chaosebene wurden jedenfalls nicht gewarnt, sonst wüsste ich davon. Ich durfte dort nämlich ein bisschen Strafdienst verrichten, bis, nun, bis gerade eben.“

Als sie beim Sprechen auf ihn und Odila zukam, bemerkte er, dass sich ihre Haare nicht bewegten. Der Wind schien an ihnen abzuprallen wie er es an Stein tat. Je näher sie ihnen kam, umso überzeugter wurde er davon, dass sie tatsächlich steinerne Haare besaß, womöglich aus Marmor, was die hellen Sprenkel erklären würde, die er in der Dämmerung zuerst nicht bemerkt hatte. Merkwürdiger, neumodischer Haartrend. Wenn er sie anstupste, würde sie dann einfach nach hinten fallen und wie eine Schildkröte auf dem Rücken liegen bleiben? Die Vorstellung amüsierte Camio ungemein. Er grinste selig vor sich hin und bekam erst mit, wie Lilithia vor ihm stand, als sie ihm direkt in die Augen sah. Kalte, graue Augen. Farbenfroh war etwas anderes.

Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück, beinahe auf Odilas Füße tretend, die ihm durch die Bewegung so nah gekommen war, dass er ihren Atem an seinen Rücken spüren konnte. Ihre Neugier war versiegt. Sie versteckte sich hinter ihm.

„Nein nein, ich bin hier, weil derjenige, der dich gerufen hat, Lord Camio, eine zweite Beschwörung durchgeführt hat, um jemanden zu finden, der dich erledigt. Eigentlich wollte er Flauros, aber ich war gerade in der Nähe und äußerst gelangweilt, weswegen ich meinen Wachpartner eins übergezogen habe und durch das Portal gegangen bin.“

„Aha?“

„Ja. Heribert war nicht begeistert. Leider musste ich ihm mitteilen, etwas besseres als mich würde er wegen dem Portal von Dis nicht bekommen, also haben wir eine Abmachung getroffen. Ich soll den Brief in das Zimmer seines Opfers schmuggeln und dich auf dem Weg dahin umbringen. Selbstverständlich habe ich zugestimmt. Es klang lustig. Ihn habe ich allerdings auch umgebracht, nachdem er mich aus dem Dreieck gelassen hat.“

„Oh.“

Er wich noch einen Schritt zurück. Verrücktheit hatte er selbst schon genug, da brauchte er sich mit ihrer nicht anzustecken. Armer Heribert. Aber er war dumm gewesen. Welches Schicksal hätte man ansonsten bei ihm erwarten können? Camio würgte ein Lachen hervor und ließ seine Zähne aufblitzen. Am besten sie glaubte, er wäre voll mit ihr auf einer Wellenlänge und hätte die Situation genau auf die gleiche Art gehandhabt.

„Dann lieferst du eben den Brief aus und ich gehe schon mal alleine zurück? Falls dein Freund noch ohnmächtig ist, übernehme ich es gerne, ihm ein zweites Mal zu schlagen und zu betäuben, bis du ebenfalls da bist“, sagte er mit hocherhobenen Daumen, aber sie erwiderte nur: „Nein.“ Es wirkte wieder ein wenig bedauernd. Aus der Nähe versagten allerdings ihre schauspielerischen Fähigkeiten.

„Deine Idee ist nett, aber ich habe einen Schwur geleistet. Sowas muss man einhalten. Im Gegensatz zu dir besitze ich dämonische Ehre.“

„ … Das ist ein Scherz, oder?“

Camio schnaubte und vollführte eine mimische Glanzleistung, indem er im selben Augenblick die Augen verdrehte. „Du willst mich umbringen? Ernsthaft? Mich? Ich bin Dämonenlord Camio. Mein halber Finger reicht aus, um -“

Was sein halber Finger leisten konnte, würde vermutlich nicht mal Camio je erfahren, denn er kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu denken. Trotz ihrer unkonventionellen Haare war Lilithia schnell, das hätte er bereits an ihrem plötzlichen Auftauchen merken sollen. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn sie tatsächlich ein Schwert unter ihnen versteckt hätte, aber sie stürmte mit bloßen Händen auf ihn zu und anstatt ihn anzugreifen, tänzelte sie um ihn herum, um nach Odila zu greifen.

In der Dauer des Moments, den er brauchte, sich herumzudrehen, hörte er das erstickte Keuschen des kleinen Mädchens und das belustigte Lachen der Dämonin.

„Upps, ich habe es mir anders überlegt. Das hier ist viel witziger.“

Noch immer erschien kein Schwert. Sie hielt Odila nur am Mantel gepackt, ein wenig daran ziehend, als wolle sie sie dazu auffordern, das Ding auszuziehen. Camio war davon so irritiert, dass er nicht wusste, ob er Lilithia wegschleudern oder versuchen sollte, einen Stock zu finden, der einen Schwert ähnelte, damit er sie verdreschen konnte.

„Äh … ja, der Mantel ist schön … aber könntest du sie bitte loslassen und stattdessen versuchen, mich zu vernichten?“

„Nein.“

Camio schnaubte wieder. Knisternde Funken stoben nicht länger nur von seinen Füßen auf, sondern auch von seinen Händen. Er streckte sie nach Lilithia aus, aber sie wich vor ihm zurück und zog weiterhin an Odilas Mantel. Beim Zurückweichen hätte sie diesen mit sich ziehen zu müssen, doch stattdessen zog sie etwas aus ihm heraus. Es löste sich anfangs nur schwerfällig, dann immer schneller und mit einem Mal stand ein Abbild Odis vor seinen Augen. Ein etwas durchscheinendes Ding, aber zweifellos Odila.

Jetzt komplett mit einem riesigen Fragezeichen über den Kopf sah Camio zwischen den beiden Mädchen hin und her, die sich nicht rührten, außer dass die eine atmete und die andere starr vor Schreck Lilithia ansah.

Eine Seele.

Camio verstand es in exakt dem Augenblick, als Lilithia Odilas Seele zum Explodieren brachte. Tausende geisterhafte Fragmente wurden in die Luft geschleudert, lautlos und körperlos. Sie durchschnitten ihn, ohne einen Schaden zu hinterlassen. Genauso fegten sie durch Odilas und Lilithias Körper hindurch, die davon völlig unbeeinflusst blieben. Nur dass Odila nicht mehr existierte. Die Geisterfragmente zerfielen in ihre Einzelteile, wurden zu winzigen Scherben, wurden zu Staub und schließlich waren sie verschwunden. Falls noch etwas von ihnen existierte, dann war es weder für das menschliche noch das dämonische Auge sichtbar. Odilas Körper sank auf die Knie nieder und kippte nach vorn. Ihre Brust hob sich in gleichzeitigen Atemzügen, doch alle nicht lebensnotwendigen Muskeln hatten die Leidenschaft des Lebens und Wirkens eingebüßt. Eine leere Hülle lag zu Camios Füßen. Und Lilithia lachte.

„Schau, ich bin heute gnädig. Ich habe weder dich noch sie umgebracht“, meinte Lilithia fröhlich, sich mit den Händen bereits verschwundenen Staub von den Haaren wischend. Camio sah sie nur an. Er starrte noch immer, als sie ihm einen mitleidigen Blick schenkte und auch, als sie Odilas Körper mit der Fußspitze anstupste. Für den Bruchteil einer Sekunde zuckte dieser zusammen und Camio spürte sein Herz gegen seinen Adamsapfel klopfen, aber danach kam nichts mehr. Odila atmete und blieb liegen.

„Du hast sie umgebracht“, widersprach er atemlos. „Du hast alles umgebracht, was Odila ausgemacht hat … du hast sie umgebracht ...

„Ist ja gut, jetzt fang nicht an zu weinen. Ich hab keine Zeit dich zu trösten, ich muss den Brief ausliefern. Man sieht sich, Lord Camio.“

„DU HAST SIE UMGEBRACHT!“, schrie er sie an und hörte nicht mehr, was sie sagte. Seine Wut schwappte wellenartig von seinem Herzen zu seinem Verstand. Er hatte nicht mal gewusst, dass er auf diese Art wütend werden konnte. Aber Lilithia sah ihn nur an, als würde ein kleiner Köter sie ankläffen. Es steigerte Camios Wut.

Irgendwo kreischte eine Krähe.

„Du hattest kein Recht dazu! Ihre Seele war mir versprochen! Sie war nicht irgendwer! Sie war … sie war ...“

„Deine Freundin? Ach, komm schon. Du bist ein Dämon, Lord Camio. Oder willst du wieder ein Engel sein? Wir können ja ein bisschen kämpfen. Vielleicht wird dann einer auf dich aufmerksam und holt dich zurück in den warmen Schoß Gottes, wo alle lieb und nett und gerecht sind“, sagte sie abfällig. Scheinbar hielt sie ihn für einen Spielverderber. Ihr Lachen war abgeklungen und sie wirkte wieder auf die gleiche Weise eingeschnappt, wie als er sie Lilith genannt hatte. Nicht mehr und nicht weniger. So viel war ihr eine verlorene Seele wert.

Camio war nah dran, sich auf sie zu stürzen. Wer brauchte schon ein Schwert oder eine andere Waffe? Er wollte sie verletzen, mit was war ihm egal. Aber in dem Moment erklang eine weitere Stimme. Wahrscheinlich nur durch einen glücklichen Zufall eine der wenigen Stimmen, die ihn jederzeit erreichten, auch in tiefster Wut. Mit der Stimme zusammen öffnete sich neben ihnen ein kleines Portal zur Unterwelt.

Camio. Lilithia. Kommt zu mir“, sagte die Stimme befehlsgewohnt und die beiden folgten ihr. Camio weiterhin zähneknirschend und mit vor Wut verschleierten Augen, Lilithia enttäuscht seufzend und den Brief auf den Boden werfend.

Sie hatten keine andere Wahl.

Belial hatte nach ihnen gerufen.
 

Nach zwei Sekunden im nachtschwarzen Portal betrat Camio den Thronsaal von Belials Schloss. Lilithia war dicht hinter ihm, doch er versuchte Abstand zu halten. Ihre Existenz widerte ihn an. Sein einziger Trost war es, ihre Gelassenheit unter Belials kritischen Blick hinweg schmelzen zu sehen.

Der Dämonenkönig, dessen Macht nicht unweit unter Luzifers rangierte, lag posierend auf einen edlen, aus silber gefärbten Holz und blau-goldenen Stoff gebauten Diwan, anstatt auf seinem Thron zu sitzen, der verlassen an der Stirnseite des Saals herumstand. Nicht, dass der Diwan an sich weniger beeindruckend gewirkt hätte. Das Licht, das von einer mit grün loderten Flammen überzogenen Ebene durch die spärlichen Saalfenster drang, strahlte direkt auf Belials Gestalt. Seine schwarzen Flügel lugten träge hinter seinen Rücken hervor. Ganz wie es sich für einen Herrscher gehörte, stand auf einem Tischen vor ihm eine Schale mit Naschereien. Weintrauben des Verderbens getunkt in feinste Höllenschokolade, deren geheime Zutat angeblich die Tränen trauernde Menschen waren. Normalerweise hätte Camio seinen letzten Brustpanzer für eine der kostbaren Kugeln gegeben. Nur jetzt gerade irgendwie nicht.

„Hattet ihr Spaß in der Menschenwelt?“, fragte Belial düster, während er sich eine weitere Kugel genehmigte. „Ich hoffe es, denn es wird für lange Zeit der letzte gewesen sein. Einer von Luzifers Schergen ist persönlich bei mir vorbeigekommen, um mir im Auftrag seines Herren zu befehlen, mich um euch zu kümmern, bevor die Engel ihre nutzlose, kleine Konferenz über die nächste Eiszeit beenden und euch bemerken.“

Auch Avaria, die sich wie meistens in Belias Nähe aufhielt, blickte grimmig zu ihnen. Kurzzeitig war Camio über den Umstand verwirrt, sie unüblicherweise zu Belials Füßen sitzen zu sehen, anstatt ihre Präsenz einige Schritte neben oder hinter ihm auszumachen, allerdings ließ Belial nicht lange zu, dass ihre Blicke abschweiften. Er schaffte es, ihnen beiden gleichzeitig in die Augen zu sehen und schien eine Antwort zu verlangen. Camio strich sich unbehaglich über den Nacken.

Als zu seinen Unwillen keine Antwort kam, sprach Belial langsam weiter: „Ich habe absolut nichts dagegen, wenn du in die Menschenwelt gehst, Camio. Du musst allerdings verstehen, dass sich beschwören zu lassen, momentan unklug ist. Warte noch 200, 300 Jahre, dann stehen die Dinge vielleicht anders. Du jedoch, Lilithia, hast gegen mehr verstoßen als ein simples Abkommen zwischen Himmel und Hölle. Du hast dir ein Privileg genommen, das nur dem Dämonenadel zusteht. Erkläre mir bitte, wieso ich das dulden sollte?“

Straff stehend warf Camio einen gehässigen Blick zu seiner linken, wo die farblose Dämonin unruhig von einem Fuß auf den anderen trat und scheinbar versuchte, mit Avaria Augenkontakt herzustellen, damit diese für sie das Wort ergriff. Aber Avaria war Belial bedingungslos treu. Wenn er nicht amüsiert war, war sie es ebenfalls nicht. Und wenn er jemanden verstieß, tat sie es ihm gleich, egal, um wen es sich dabei handelte.

„Ich wollte lediglich … Lord Camio zurückholen“, antwortete Lilithia schluckend, nachdem Belial sich diesmal nicht erbarmt hatte, weiterzusprechen. Viel mehr setzte dieser sich nun sogar auf und hatte die Weintrauben von sich geschoben. Shit just got real, wie die Jugendlichen in wenigen Jahrhunderten sagen würden.

„Ich verstehe. Nichts anderes war deine Intention. Wieso hast du ihn dann nicht zurückgeholt?“

„Wir waren dabei, Sire.“

„Waren wir nicht!“, widersprach Camio sofort. Der Drang sie anzuklagen, war in dem Moment verschwunden, als er Belial erblickt hatte. Sein Verstand hatte die spärlichen Reste seiner Vernunft zusammengekratzt und ihn informiert, dass es wenig dämonenwürdig war, sich über den Tod eines Menschen zu beschweren. Aber er wollte sie trotzdem bestraft sehen. Bis jetzt waren sie auf einen guten Weg dahin.

„Sie wollte mich nicht zurückholen, sie wollte mich umbringen. Das hat sie selbst gesagt, Bruder.“

„Das war ein Scherz. Nichts weiter, okay? Der hochwohlgeborene Lord Camio war mit einem niederen Menschenmädchen zusammen. Ich wollte sie nur ein wenig erschrecken.“

Belial neigte interessiert den Kopf, derweil Avaria angeekelt das Gesicht verzog. Als Belial dies bemerkte, schenkte er ihr ein zärtliches Lächeln, das Camio für einen Moment von dem Brennen ablenkte, das von der Hitze in seinen Füßen in seinen ganzen Körper überging und ihm beinahe wie ein physischer Schmerz vorkam. Lilithia sollte nicht das Recht haben, Odila so lapidar und verachtend zu erwähnen. Sie sollte einfach nicht.

Camio senkte den Blick und ballte die Fäuste.

„Sie hat O- … das Menschenmädchen umgebracht. Sie hat ihr die Seele herausgerissen und sie zerstört, obwohl die Seele mir versprochen war. Wir hatten es zwar noch nicht mit einem Vertrag besiegelt, aber sie muss gehört haben, wie wir es besprochen haben.“

„Davon wusste ich nichts“, erwiderte Lilithia sofort. Sie versuchte mit einem Lächeln einen guten Eindruck herauszuschinden, aber da hätte sie auch nackt vor Belial stehen können, es machte keinen Unterschied.

„Ich verstehe nicht, was du mit einem Menschenkind wolltest, Camio … du solltest gelegentlich deine Taten überdenken, weißt du?“ Belial schüttelte seufzend den Kopf, was in Camio augenblicklich ein schlechtes Gewissen hervorrief. Er wollte es eigentlich nicht, dennoch hatte er seinem Bruder in der Vergangenheit mehr als einmal Schande bereitet. Eine Gelegenheit, es wieder gut zu machen, hatte er bis heute nicht gefunden. Ob er vielleicht mal an Luzifers Jagden teilnehmen und versuchen sollte, eine Trophäe für Belial zu ergattern?

„Nichtsdestotrotz“, sprach Belial weiter, „hattest du kein Recht, das Mädchen zu erschrecken, Lilithia. Sie zu töten noch weniger. Du bist nicht nur eine Enttäuschung für mich, sondern auch für meine teuerste Avaria, die mit eiserner Hand die Disziplin unter meinen Untergebenen aufrecht erhält. Mir fehlen wirklich die Worte.“

„Genau! Sie ist eine Enttäuschung! Sie gehört bestraft, nicht wahr?“, mischte sich Camio begeistert ein. Er versuchte die Rachelust in seinen Augen zu unterdrücken, immer das Gefühl im Hinterkopf, keinen guten Grund für sein Verlangen vorweisen zu können, aber auf einer unterbewussten Ebene ahnte er, dass Belial es wusste. Belial wusste alles, war in allen begabt und ein grandioser Anführer. Er war Camios großes Vorbild, wenn dieser sich nicht gerade aus Langeweile von Dämonenanbetern heraufbeschwören ließ.

Und Belial enttäuschte ihn nicht.

„Das tut sie. Sie gehört bestraft. Ihrem Vergehen nach würde ich sagen, sie verdient das selbe Schicksal?“

„Nein! Ich … ich … bitte tut das nicht! Bitte gebt mir eine zweite Chance! Ich bin eure treue Dienerin und werde für ewig -“

Ein lässiges Handwedeln von Belial und es war vorbei. Mitten im Satz, während die Aussicht auf ihr nächstes Wort schon vibrierend in der Luft hing, zerfiel Lilithia zu Staub. Belials Methode war wesentlich sanfter und feiner, aber nicht weniger zerstörerisch. Dämonen, Engel und jegliche andere Wesen, deren Körper ihre Seele war, ohne schützende Hülle drumherum und nur körperlich fest dank ihres Willens, der ihnen ein Abbild dessen erschuf, was Gott den Menschen großzügig geschenkt hatte, starben vollständig, wenn man ihre Körper zerstörte. Mochten sich manche Wesen dagegen verteidigen können, ein Unterklassendämon konnte es nicht.

Camio blickte auf den Aschehaufen, der sich aus den lautlos zu Boden gleitenden Flocken bildete, und blinzelte. So leise, so schnell. Schon wieder. Er fühlte sich seltsam benommen, aber weder Belial noch Avaria zuckten mit der Wimper.

„Ihre Bestrafung ist vollzogen. Ich muss wohl nachher jemanden rufen, der das wegmacht.“

„Ja ...“, murmelte Camio. Er hatte sich sowieso schon von Lilithia ferngehalten, aber jetzt trat er noch einen Schritt zur Seite. Seine Kehle kribbelte unangenehm, als würde er ihre Asche einatmen, obwohl kein Wind herrschte, der sie zu ihm hätte tragen können.

„Ich … danke dir, Bruder.“

Etwas fehlte ihm. Er konnte es genau fühlen. Etwas, das er erwartet hatte und das nicht eingetreten war, als sie zu Staub zerfallen war. Befriedigung? Ja, das musste es sein. Er war in diesem Augenblick kein Stück glücklicher als vor drei Minuten. Bedauern tat er allerdings auch nichts. Ihr Tod war einfach bedeutungslos, für ihn und alle anderen im Raum.

„Vergiss nie, dass ich das für die Ehre des Adels und für dich getan habe, Camio. Vor allem für dich.“

Fast ein wenig verwirrt blickte Camio auf und sah Belial erstaunt an. Ihm war, als wäre das Lächeln, das dieser ihm schenkte, ebenfalls außerordentlich warm. Ein vollkommener Umschwung zu der enttäuschten Miene, die er meistens bei Belial hervorrief.

„Wirklich? Für mich …?“

„Wie du selbst gesagt hast, sind wir Brüder. Sie hat dir ein Unrecht getan und ich habe es vergolten. Ich stehe immer auf deiner Seite, genauso wie du auf meiner. Ist das nicht so?“

Camio nickte eifrig. Selbstverständlich stand er auf Belials Seite. Da waren Wörter überflüssig. Jeder in seiner Familie war ihm wichtig, aber niemand kam an seinen wundervollen, großen Bruder heran. Er hätte sich ihm vor die Füße geworfen und ein Treuegelübde gesprochen, wenn Belial das verlangt hätte.

Aber Belial verlangte nichts dergleichen. Er sah ihn lediglich zufrieden an.

„Dann darfst du jetzt gehen“, sagte er. „Betrachte dich als zurechtgewiesen und verziehen. Es war schön, dich nach längerer Zeit mal wieder in meinem Schloss begrüßen zu können, kleiner Bruder. Wir sehen uns sicher bald wieder.“

Camio strahlte nicht. Er hüpfte nicht auf und ab. Aber ein klitzekleines bisschen war er glücklich. Glücklich genug, um ohne einen weiteren, mulmigen Blick auf den Aschehaufen das Schloss verlassen zu können. Wen interessierten schon tote Dämonen und Menschen? Es gab Milliarden von ihnen.

Aber als er wieder in seinen eigenen Heim war und sich umzog, ersetzte er die Feder an seinem Outfit. Er konnte die leere Stelle nicht ertragen. Dreihundert Jahre lang ließ er es danach in einem Schrank verschwinden. Wieso er es letztendlich wieder herausholte und für seinen nächsten Aufenthalt in der Menschenwelt anzog, das wusste nicht mal er selbst so genau.

Dass die Menschen diesmal frecherweise nicht angetan waren von seiner Erscheinung, ist sowieso eine andere Geschichte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Kirai
2014-09-16T19:43:24+00:00 16.09.2014 21:43
Hallo Kaataya.
Ich lese das hier gerade zum x-ten Mal, und kriege immer noch all diese schönen verfluchten Gefühle.
Du bist eine großartige Inspiration, auch wenn ich an das hier wohl kaum herankommen würde.
Dafür danke, wirklich.
Das ist so viel wert, hör bloß nicht auf zu schreiben.

...Auch wenn mich diese Geschichte jetzt wieder vom arbeiten abgehalten hat...
...Danke...

Kirai, aka Kiera


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