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Last Desire

L x BB
von

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Ein klärendes Gespräch

10.345… 10.346… 10.365… …? Nein falsch… 10.340… Moment mal. Habe ich jetzt schon 10.350 oder bin ich noch bei 10.344? Ach Mist, jetzt bin ich wieder durcheinander gekommen. Wo habe ich zu zählen aufgehört? Bei 10.340 oder 10.350? Es bringt nichts, ich muss noch mal von vorn anfangen. 1… 2… 3… 4…
 

Beyond erinnerte sich schon gar nicht mehr daran, wie oft er bereits bis 10.000 gezählt hatte. Er hatte schon lange jegliches Zeitgefühl verloren und wusste nicht, ob es noch Tag oder Nacht war. Wirklich alles um ihn herum war in weite Ferne gerückt und nachdem man ihm eine Zwangsjacke, Fußfesseln, diverse Gurte und eine Augenbinde angelegt hatte, war er zur absoluten Bewegungsunfähigkeit verurteilt und somit schutzlos ausgeliefert. Am Anfang hatte er noch massiven Widerstand geleistet und sich nichts anmerken lassen. Er hatte schon viel Schlimmeres miterleben müssen, da war das hier doch ein Witz. Zumindest hatte er das anfangs noch gedacht, denn er hatte selbst nicht gedacht, wie lange sich das Ganze noch erstrecken würde. Er dachte, es würde allerhöchstens zwei Tage dauern, doch er hatte nicht damit gerechnet, dass L wirklich so weit gehen würde.
 

12… 13… 14… 15… 16…
 

Dann irgendwann begann diese Maskerade zu bröckeln und er bekam Angst. Es war ein so schreckliches Gefühl, sich überhaupt nicht bewegen können und hilflos ausgeliefert zu sein. Er hatte versucht so zu tun, als würde er sich auf L’s Forderungen einzulassen und als würde er kooperieren. Aber dieses Spiel hatte dieser Mistkerl durchschaut und ihn hier weiter schmoren lassen. Zwar wurde Beyond nicht gefoltert oder anderweitig körperlich misshandelt, aber diese Erniedrigung und dieser Zustand der vollständigen Bewegungsunfähigkeit bei vollem Bewusstsein war die Hölle für ihn. Es war für ihn schlimmer als der Tod und er fürchtete, dass es ihn noch um den Verstand bringen würde, wenn er sich nicht aufs Zählen konzentrieren würde. Meist begann er zu zählen, wenn man ihm sein Essen gebracht oder ihn untersucht hatte. Ein Mal hatte er versucht gehabt, sich während eines Gefühlsausbruchs die Zunge durchzubeißen, doch daraufhin wurde ihm ein Knebel in den Mund gestopft, um so etwas zu verhindern. Danach hatte er keinen Versuch mehr gewagt, in irgendeiner Weise aufzumucken. Das Resultat war, dass man ihm den Knebel entfernte und er wenigstens ein klein wenig Zuwendung erfuhr und sei es nur, wenn er etwas trinken wollte oder wenn er wegen seiner Verletzungen starke Schmerzen hatte. Und allein dafür war er unendlich dankbar. Gott, das alles hier war so erniedrigend, dass er am liebsten sterben würde. Wie lange saß er hier denn schon fest? Er wusste es nicht mehr… irgendwie war sein Kopf völlig leer.
 

36… 37… 38… 39… 40… 41…
 

Sein ganzer Körper fühlte sich schwach und träge an, außerdem saßen seine Fesseln lockerer als sonst. Sicherlich war er dünner geworden. Er sah durch die Augenbinde rein gar nichts außer der absoluten Dunkelheit. Zwischendurch schlief er ein oder verlor das Bewusstsein, wodurch er sich noch nicht einmal darauf verlassen konnte, wie oft er insgesamt bis 10.000 gezählt hatte. Es konnten Tage oder sogar Wochen vergangen sein, seit er sich hier in diesem mehr als menschenunwürdigen Zustand befand. Vollkommen regungslos saß er da, konnte nicht einmal einen Muskel bewegen, da er nicht nur eine Zwangsjacke trug, sondern auch mit unzähligen Gurten fixiert worden war, die es ihm unmöglich machten, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Selbst sein Kopf war fixiert, sodass er nicht einmal diesen bewegen konnte.
 

45… 46… 47… 48… 49… 50…
 

Ihm war weder warm noch kalt, er spürte nicht einmal Hunger oder Durst. Die erste Zeit in dieser Bewegungsunfähigkeit hatte ihn fast verrückt gemacht. Es war kaum zum Aushalten gewesen. Inzwischen war er in einen Zustand der völligen Resignation und Apathie verfallen und ihm war alles gleichgültig geworden. Diese Ungewissheit, was als Nächstes passieren könnte, war kaum noch zu ertragen und in manchen Momenten wünschte er sich sogar, dass sie ihn foltern würden. Dann wüsste er wenigstens, woran er war. Doch nichts dergleichen passierte. Es waren dieselben täglichen Routinen und Prozeduren, die man ihm unterzog und er kam sich so elend und widerwärtig vor. Er wollte einfach nur, dass es endlich aufhörte. Schließlich brachte er es nicht fertig, weiterzuzählen, sondern schluchzte nur leise, während ihn die Verzweiflung und Hilflosigkeit übermannten. Wann hörte das endlich auf? Er wollte das nicht mehr. Wenn er noch einen einzigen Tag hier blieb, würde er verrückt werden.
 

Bitte lasst mich endlich sterben… Ich halte das nicht länger aus! Warum hilft mir denn niemand?
 

Eine Tür öffnete sich, aber er hörte nicht die üblichen Geräusche von Absatzschuhen wie all die unzähligen Tage zuvor. Es war nicht jene Person, die ihn untersuchte oder ihm sein Essen brachte. Nein, irgendwie klang es danach, als würde jemand barfuß gehen. Beyond horchte auf, auch wenn er wusste, dass er durch die Augenbinde sowieso nichts erkennen konnte. Auch sagte er rein gar nichts, sondern wartete einfach ab, was passieren würde. Vielleicht wollte ihn sein Besucher nur begutachten und sehen, ob er schon dem Wahnsinn verfallen war. Womöglich hatte er auch vor, ihm endlich den Gnadenschuss zu geben, um ihn aus diesem Zustand zu befreien. Ein leises Klicken ertönte schließlich und einer der Gurte wurde gelöst. Was geschah denn jetzt mit ihm? Was hatte diese barfüßige Person denn mit ihm vor? Er versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, doch selbst dafür fehlte ihm die Energie. Sie reichte allerhöchstens noch zum Zählen. Als der letzte Gurt gelöst war, verlor Beyond den Halt und kippte zur Seite, wurde aber aufgefangen und er spürte zwei Arme, die ihn vorsichtig hielten. Sie fühlten sich so zärtlich an und irgendwie gaben sie ihm das Gefühl von Geborgenheit, Wärme und Sicherheit. Sicher lag es daran, weil er durch diese tagelange Isolierung langsam verrückt wurde. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Person da für seine Misere verantwortlich war, war hoch und er hätte allen Grund, sie zu hassen und umzubringen. Aber er war zu froh und dankbar dafür, dass er gerettet worden war. Doch wer hielt ihn da so vorsichtig im Arm wie etwas Zerbrechliches, das er um jeden Preis schützen wollte?

„Wer…“ Er schaffte es kaum weiterzusprechen, denn sein Mund fühlte sich furchtbar trocken an und seine Zunge schien am Gaumen festzukleben. Selbst das Schlucken tat ihm weh, doch da hielt ihm jemand vorsichtig eine Wasserflasche an die Lippen. Eine wahre Wohltat und er fühlte sich unendlich erleichtert, als das kalte Wasser seine Kehle hinunterrann.

„Geht es dir besser?“

„Ich… ich glaub schon.“

Seine Stimme hörte sich so alt und schwach an und sicher musste er einen furchtbaren Anblick bieten. In dem Moment, als er diese Worte hervorbrachte, sammelten sich Tränen in seinen Augen und er konnte seine Emotionen nicht mehr zurückhalten. Er fühlte sich wie das Allerletzte… Jemand nahm ihn plötzlich in den Arm und diese Geste erinnerte ihn wieder an damals… an A. Ja, er erinnerte sich, wie A ihn in den Arm genommen hatte, nachdem er wieder einen seiner Anfälle gehabt hatte. Es fühlte sich so vertraut an, so… angenehm und geborgen… aber es war dennoch anders. Es war nicht derselbe Herzschlag, nicht derselbe Geruch und auch nicht dieselbe Art, wie er im Arm gehalten wurde. Trotzdem fühlte es sich irgendwie vertraut und angenehm an. Sanft strich ihm jemand durchs Haar und er spürte nichts anderes, als diese unendliche Erleichterung darüber, dass er gerettet worden war. Doch wer hielt ihn denn da gerade im Arm? Tief in seinem Unterbewusstsein glaubte er die Antwort zu kennen, doch er verdrängte sie instinktiv. Vorsichtig wurde ihm die Augenbinde abgenommen, doch das Licht war so schmerzhaft für ihn, dass er sie gar nicht öffnen konnte. Seine Augen waren bereits so sehr an diese absolute Finsternis gewöhnt. Schließlich wurden ihm auch die Fußfesseln abgenommen und dann letzten Endes diese schreckliche Zwangsjacke. Merkwürdig wie komisch es sich anfühlte, nicht mehr so eingeschränkt zu sein. Es fühlte sich sogar schon fast falsch an, dass er jetzt wieder diese Bewegungsfreiheit hatte. Das alles machte ihm Angst.

„Es tut mir wirklich Leid, dass ich das tun musste“, hörte er diese Stimme sagen, die ihm so bekannt vorkam. Aber da ihm selbst das Denken fast unmöglich erschien, konnte er sie niemandem zuordnen.

„Was hast du mit mir vor?“

„Ich will nur in Ruhe mit dir reden, sonst nichts.“ Reden? Das kam ihm irgendwie so bekannt vor. Aber ihm wollte beim besten Willen nicht mehr einfallen, wer denn zuvor mit ihm reden wollte. Beyond fühlte sich irgendwie seltsam und als er wieder vorsichtig die Augen öffnete, sah er nur verschwommene Schatten und Lichter, mehr aber auch nicht. Unter diesen Voraussetzungen konnte sein Shinigami-Augenlicht unmöglich funktionieren.

„Irgendwie ist mir schlecht…“ Schließlich packten ihn zwei Hände und zogen ihn vorsichtig hoch. Wankend kam er wieder auf die Beine und hatte das Gefühl, dass es schon Monate her war, seit er das letzte Mal auf eigenen Füßen gestanden hatte.

„Komm, ich bring dich erst einmal an die frische Luft. Dann wird es dir gleich wieder besser gehen.“ Diese Stimme klang so sanft und freundlich, trotzdem glaubte er, so etwas wie Kummer oder Schuld herauszuhören. Und immer noch hielten ihn diese zwei Arme fest, damit er nicht fallen konnte.
 

Wie lange es wohl her war, dass er draußen gewesen war?
 

„Wie… wie lange war ich hier?“

Keine Antwort, nur beschämtes Schweigen. Es musste also schon eine lange Zeit vergangen sein. Gleich schon als er die ersten Schritte tat, spürte er, wie sein Kreislauf versagte und er beinahe gestürzt wäre, aber diese Person, die ihn aus dieser Hölle befreit hatte, hielt ihn fest und stützte ihn. Wohin sie genau gingen, konnte Beyond nicht erkennen, aber es ging auf jeden Fall in einen Aufzug und der führte bis ganz nach oben. Den Rest erklommen sie über die Stufen und es kostete Beyond eine ungeahnte Kraftanstrengung, sie zu bewältigen. Es würde noch eine Zeit lang dauern, bis er sich wieder richtig bewegen konnte und fit genug war. Wärmendes Sonnenlicht strahlte ihm ins Gesicht und er spürte, wie es seinen völlig erschöpften und blassen Körper förmlich wieder belebte. Es tat so gut, wieder an der frischen Luft zu sein. Sein Begleiter brachte ihn zu einem Stuhl und setzte sich ebenfalls. „Und? Hast du noch irgendwelche körperlichen Beschwerden?“

„Meine Augen haben sich noch nicht wirklich an das Licht gewöhnt und ich sehe so gut wie gar nichts.“ Schweigen… Er sah sehr unscharf, wie sein Begleiter sich in einer mehr als ungewöhnlichen Sitzposition auf den Stuhl setzte. Moment mal, diese Haltung kannte er doch! Das war doch seine eigene. Nein… das war L’s. Als er endlich realisiert hatte, wer ihn hierher gebracht hatte, stand er sofort auf, woraufhin ihn aber sofort wieder die Kraft verließ und er auf seinen Stuhl zurücksank.

„Ich fasse es einfach nicht“, brachte er hervor und konnte noch nicht einmal die Kraft aufbringen, wütend zu werden. Trotzdem konnte er seine Tränen nicht zurückhalten, so enttäuscht und verletzt war er. „Zuerst fesselst du mich und lässt mich in diesem Zustand da unten im Keller versauern und jetzt kommst du plötzlich an und tust so, als würde es dir leid tun. Was ist das für ein abartiges Spiel, das du mit mir spielst?“

„Kein Spiel, sondern eine harte Maßnahme, um vernünftig mit dir zu sprechen, ohne dass du dich von deiner wahnsinnigen Seite wieder beherrschen lässt. Ich gebe aber offen zu, dass es mir selbst nicht leicht gefallen ist, diese Entscheidung zu treffen.“

„Und das soll ich dir glauben? Du bist ein verdammter Lügner und ein eiskalter Psychopath und Sadist!!! Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was du mir da eigentlich angetan hast?“

L seufzte und wich Beyonds Blick aus. So langsam hatte sich sein Augenlicht wiederhergestellt und was er sah, irritierte ihn völlig: L sah unglücklich aus. Normalerweise ließ er sich seine Emotionen niemals ansehen und wirkte immer so unantastbar, als könne man ihm rein gar nichts anhaben. Doch jetzt wirkte er so anders, viel verletzlicher als sonst. Was war nur mit ihm passiert, dass er so aussah?

„Es tut mir wirklich sehr Leid, was ich dir angetan habe. Das ist die Wahrheit.“

Seine Stimme zitterte ein wenig und man sah ihm wirklich an, dass er enorme Schuldgefühle gegenüber Beyond hatte. Dieser schüttelte den Kopf und konnte nicht glauben, dass das hier wirklich passierte. Das alles wirkte irgendwie wie ein schlechter Scherz. Wieso nur betrieb L diesen ganzen Aufwand eigentlich und ging sogar so weit, wenn er es doch eigentlich gar nicht wollte?

„Und wieso hast du das dann trotzdem gemacht? Wieso ist es dir so unglaublich wichtig, zu erfahren, wieso A sich damals umgebracht hat? Wieso???“

„Weil ich dich besser verstehen will, Beyond. Ich will deinen Schmerz und deine Wut verstehen. Du hast von Anfang recht gehabt, als du gesagt hast, ich hätte mich weder groß um dich oder um A gekümmert. Ich habe mir nie die Mühe gemacht, euch beide zu verstehen und habe nicht erkannt, wie sehr dich sein Tod wirklich mitgenommen hat. Vielleicht hätte einiges nicht so sehr eskalieren müssen, wenn ich dir geholfen und mir die Mühe gemacht hätte, dich zu verstehen. Weißt du, ich versuche immer, eine emotionale Distanz zu bewahren und mir niemals meine eigenen Gefühle anmerken zu lassen. Ganz einfach aus dem Grund, weil ich nicht schwach wirken und anderen ein Angriffsziel bieten will. Und gleichzeitig will ich vermeiden, dass ich falsche Entscheidungen treffe, weil ich mich zu sehr von meinen Emotionen leiten lasse. Und da ich diese Distanz zu anderen Menschen wahre, habe ich leider keine großen Erfahrungen damit, was das Zwischenmenschliche betrifft. Deswegen passiert es oft, dass die Menschen mich falsch verstehen, mich seltsam oder sogar unheimlich finden. Ich bin in gewisser Weise rücksichtslos, kindisch, absolut misstrauisch, stur und verfolge mein Ziel, auch wenn ich anderen Menschen vor den Kopf stoße, weil ich unbedingt gewinnen will. Das führt wiederum dazu, dass sie sich von mir distanzieren und daraus ein Teufelskreis entsteht und ich somit nicht gerade sozialkompetent bin. Eigentlich bin ich die soziale Inkompetenz in Person, wenn man es so betrachtet.“

Der Serienmörder hob skeptisch die Augenbrauen und war sich nicht ganz sicher, was er davon halten sollte, dass L seine ganzen Schwächen offen zugab und interpretierte dies zuerst als einen kaltblütigen Schachzug, um seinen Gegenüber zum Reden bringen. Aber Beyond hatte nicht die Energie und den Willen, sich weiterhin so stur zu stellen und alles nur noch schlimmer zu machen. Er war heilfroh gewesen, dass er endlich diesem klaustrophobischen Alptraum entkommen war, der ihn fast verrückt gemacht hatte, da wollte er auch so schnell nicht wieder dorthin zurück. Mit einem geschlagenen Seufzer legte er seinen Kopf zurück und schloss müde seine Augen. Obwohl er die meiste Zeit, wenn er nicht gerade wach war und gezählt hatte, entweder ohnmächtig gewesen war oder geschlafen hatte, fühlte er sich trotzdem schläfrig und erschöpft. Der mentale Stress war einfach zu viel für ihn gewesen und noch ein Mal würde er das nicht durchstehen, das wusste er. Es brachte einfach nichts mehr, sich weiterhin stur zu stellen. L würde niemals aufgeben und wenn er sogar noch weitergehen musste, um ihn zum reden zu bringen. Das sah er jetzt endlich ein.

„Wenn du deine Antworten hast, lässt du mich dann endlich gehen?“

„Das kann ich dir leider nicht versprechen. Aber zumindest würde ich dir nicht mehr diese Fesseln anlegen.“ Das war schon mal ein Kompromiss und so seufzte er geschlagen. „Also gut, dann stell mir deine Fragen.“

„Was genau war das für eine Freundschaft zwischen dir und A und inwiefern hat er dir geholfen?“

Beyond öffnete die Augen und betrachtete den leicht bewölkten Himmel. Irgendwie kam es ihm in diesem Moment so vor, als wären seitdem Jahre vergangen, dass er das letzte Mal den blauen Himmel gesehen hätte.

„Seit meiner Geburt leide ich an etwas, das man gut mit einer Art Persönlichkeitsstörung vergleichen kann. Es sind keine eigenständigen Persönlichkeiten, deren Erinnerungen getrennt sind und die auch andere Namen haben. Streng genommen sind es lediglich verschiedene Gefühlszustände, die aber für Außenstehende wie verschiedene Persönlichkeiten aussehen. Eine davon ist ganz normal und vielleicht verschlossen, aber auch emotional, misstrauisch und auch ähnlich wie du. Die andere ist das genaue Gegenteil. Sie ist aggressiv, wahnsinnig, destruktiv, besitzergreifend, sadistisch und auch masochistisch veranlagt. Ich weiß nicht genau, wieso das bei mir so ist und warum ich diese Persönlichkeit habe. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich mit den Augen eines Shinigami geboren wurde und meine Psyche aufgrund dessen erhebliche Schäden erlitten hat, weil ich von klein auf sehen konnte, wann Menschen sterben. Jedenfalls konnte ich das Monster, so wie ich diese zerstörerische Seite in mir genannt habe, nicht kontrollieren und war nicht in der Lage, mit ihr umzugehen. Selbst die Psychopharmaka haben nicht geholfen, das Monster vollständig zu unterdrücken. Das führte dazu, dass die anderen Kinder und auch die Erwachsenen Angst vor mir bekamen und ich ganz alleine war und niemanden hatte, der sich freiwillig mit einem Freak wie mir abgeben wollte. Selbst meine eigenen Eltern haben sich vor mir gefürchtet und mich wie einen Fremden behandelt. Schließlich aber habe ich A getroffen und er war der erste Mensch, der keine Angst vor mir hatte. Er wollte mir helfen und fand schnell heraus, wie und wann sich das Monster zeigte und entwickelte eine Methode, um mir zu helfen. Er war schon immer der Klügste in Wammys House gewesen und hatte als Erster wirklich verstanden, wie man mein Problem in den Griff bekommen könnte. Und zwar, indem eine dritte Persönlichkeit erschaffen wurde, nämlich Rue Ryuzaki. Während meine erste Persönlichkeit, nämlich Beyond Birthday, mein „Selbst“ darstellt, scheint das Monster so etwas wie mein rein destruktives und aggressives „Verlangen“ zu verkörpern. Es folgt keiner Logik, keinen Prinzipien oder Regeln und könnte genauso gut mit dem „Es“ aus Sigmund Freuds Unterbewusstseinsmodell verglichen werden. Ich schwankte also ständig zwischen meinem Selbst und meinem Verlangen, immer zwischen zwei Extremen, die niemals in Einklang kommen konnten und wollten. Und A entwickelte mit mir zusammen quasi eine dritte Persönlichkeit, nämlich den „Kompromiss“. Rue Ryuzaki war eine Mischung aus dem „Selbst“ und dem „Verlangen“. Er konnte beides in Einklang bringen und die Wünsche und Ziele beider Seiten ausleben, ohne den anderen zu benachteiligen. So war ich zwar immer noch nicht einfacher, aber zumindest konnte ich ohne Angst leben, dass ich mich selbst oder andere wegen dem Monster in mir verletze. Ryuzaki hat ähnlich emotionale Züge wie mein „Selbst“, besitzt aber auch eine ähnliche Kaltblütigkeit und Grausamkeit wie das Monster. Und natürlich hat er auch gewisse sadistische und masochistische Züge… Er lebt aber alles in einem gesunden Maß aus, damit niemand ernsthaft zu Schaden kommt und ich somit halbwegs normal leben konnte. Dank A konnte ich also einen Kompromiss zwischen mir selbst und dem Monster finden und war somit zum ersten Mal in der Lage, beide Extreme unter Kontrolle zu halten. A wurde für mich mehr als bloß ein Freund. Er wurde zu meiner wichtigsten Bezugsperson und zum einzigen Menschen, der mir etwas bedeutet. Und dann…“

Er zögerte und L sah, dass es etwas sehr Persönliches sein musste. Zwar war er in allem, was Sozialkompetenz beinhaltete, absolut miserabel, aber er besaß genug Einfühlungsvermögen um zu verstehen, was Beyond nicht auszusprechen wagte. Und als er es begriff, da spürte er selbst einen stechenden Schmerz in der Brust. Irgendwie fühlte er sich ziemlich miserabel, sogar noch schlimmer als ohnehin schon die letzten Tage. Schon seit er entschieden hatte, Beyond zu fesseln und ihn so lange Zeit in diesem Zustand zu lassen, dass er fast verrückt wurde, fühlte er sich hundsmiserabel und konnte nicht einmal die Motivation für irgendwelche interessanten Fälle aufbringen. Es hatte ihm selber so furchtbar wehgetan, ihn so zu sehen und zu wissen, dass er allein dafür verantwortlich war. Und jetzt, da er wusste, warum Beyond so verletzt war, hätte er am liebsten geweint. Doch selbst dazu konnte er sich nicht durchringen.

„Du… hast ihn geliebt, nicht wahr?“

Beyond senkte den Blick und nickte nur leicht. Zu hören, dass er A geliebt hatte, tat L sogar noch mehr weh als die Fesselungsgeschichte. Er spürte dieses unsagbare Gefühlschaos und hätte am liebsten laut geschrieen, wäre so gerne wütend geworden und hätte so gerne seinen Gefühlen ein einziges Mal frei Ausdruck gegeben. Einfach nur, um es besser ertragen zu können. Warum er so unglücklich war zu hören, dass Beyond A geliebt hatte und wahrscheinlich immer noch liebte? Vielleicht, weil er selber Gefühle hatte, die er für seinen Erzfeind hegte, so absurd das auch klang? Doch wie sollte er damit umgehen? Wie sollte er sich verhalten? Es wäre das Vernünftigste für ihn, weiterzumachen wie bisher und diese Gefühle nicht zuzulassen. Somit ersparte er sich nur Ärger. Aber er hatte leider erkennen müssen, dass es einfacher gesagt war als getan, denn es war niemandem entgangen, dass Beyonds absolute Isolation ihn genauso mitgenommen hatte wie ihn. Sein Appetit auf Süßes war ihm in der Zeit endgültig vergangen und er hatte an nichts anderes mehr denken können als daran, dass er Schuld war, dass Beyond so leiden musste. Er hatte immer wieder mit dem Gedanken gespielt, endlich abzubrechen und ihm das nicht mehr anzutun. Aber hätte er es nicht getan, dann wäre Beyond wieder in diesen Zustand verfallen, wo er sogar eine Gefahr für sich selbst gewesen wäre. Es war wirklich eine beschissene Situation, die keinen von ihnen glücklich gemacht hatte.

„Zuerst wusste ich nicht, dass ich ihn liebte oder zumindest habe ich es zuerst abgestritten und es als brüderliche oder freundschaftliche Gefühle verstanden. Aber dann war ich mir sicher gewesen, dass ich ihn wirklich liebte. Doch das Ganze war leider eine einseitige Geschichte. A hat in mir einen guten Freund gesehen, mehr aber auch nicht und er hatte schon jemand anderen geliebt. Nämlich dich, L.“

Eine lastende Stille herrschte und nur der sommerliche Wind wehte die Geräusche der Straße weit unter ihnen herauf. Fassungslos starrte L ins Leere und erkannte mit einem Mal, was da wirklich für eine Tragödie im Waisenhaus passiert war und inwiefern er und Beyond mit A’s Tod zu tun hatten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2014-08-11T02:07:45+00:00 11.08.2014 04:07
Ein ganz großes Lob an dich *_* das Kapitel war mal wieder WOW :D


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