Sie sieht dich an, mustert dich von unten nach oben – und du kannst Wahrheit und Lüge nicht mehr voneinander unterscheiden.
Nur mit ihren Augen schafft sie es, dass deine über die Jahre sorgfältig aufgebaute Mauer Risse bekommt. Deine eiserne Mauer ist nichts im Vergleich zu einem ihrer allesdurchdringenden Blicke; sie bröckelt und bricht schlussendlich in sich zusammen und ihre Nutzlosigkeit offenbart sich dir. Eine bittere Enttäuschung, immerhin hat sie dir in der Vergangenheit oft geholfen. Aber jetzt, vor deinen Füßen zu Schutt zerfallen in ihrer Gegenwart, hat sie keinen Nutzen mehr. Der Hauch von Silber in ihren Augen wird von ihren vollen Wimpern unterstrichen. Mit diesen Augen sieht sie dich an; und durch dich hindurch. Aber wie? Lange dachtest du, dass du undurchsichtig bist, aber sie beweist dir das Gegenteil. Mit Leichtigkeit überwindet sie deine Abwehr. Du erzitterst; du kannst sie nicht mehr sehen lassen als sie bereits hat.
Aber sie sieht dich weiterhin an und du bringst es nicht über dich, dich umzudrehen. Das setzt in dir einen ohrenbetäubenden Alarm frei. „Los, verschwinde. Schnell!“ Er schreit dich an, schrill und laut. Aber du kannst es nicht. Stattdessen bleibst du stehen. Starr, beinahe ängstlich. Kann sie es sehen- das Etwas, dass du so verzweifelt zu verstecken versuchst? Es droht dich zu hintergehen und zu entkommen, gelockt von dem Hauch eines Lächelns auf ihren Lippen.
Du hast gedacht, dass du alles wüsstest, aber in diesem Augenblick fällt dir auf, dass du rein gar nichts weißt. Sie kommt dir näher, ihr Schritt so selbstbewusst wie sonst auch. Der Trampelpfad erstickt beinahe das Geräusch ihrer Schritte, aber dennoch sind sie laut genug für dich. Sie erdrücken dich, halten dich gefangen und geben dir keinerlei Möglichkeit zu entkommen. Mit jedem Schritt kommt sie dir näher und gewinnt an Stärke. Sie weiß es; und deine Stille ermutigt sie. Merkwürdig für jemanden wie dich sich nicht zu wehren.
Du schaust für einen Augenblick zu Boden, ein nervöses Seufzen entkommt deinen Lippen. Dein Blick wandert wieder nach oben und sie steht dort vor dir- ihre Augen leuchten. Du verlierst unbewusst, langsam die Kontrolle über dich und dein Herz beginnt zu rasen. Es klopft in deiner Kehle. Ihr Blick trifft auf deinen und deine Entschlossenheit ihr weiterhin Widerstand zu leisten verschwindet. Du weißt, dass sie gewonnen hat. Deine Schultern lassen sich hängen und du kannst nichts weiter machen als deine Niederlage einzugestehen. Immerhin bleibt dir diese Ehre, wenn du schon diesen Kampf nicht gewinnen kannst.
Als ihr Gesicht deinem langsam näher kommt, spürst du wie deine Augenlieder schwer werden und sich schließen. Ihr Atem ist warm, und er tanzt leicht über deine Lippen. Sie wartet- ärgert dich um dich aus der Reserve zu locken. Vorsichtig berührt dein Atem ihren als du ein angespanntes Seufzen raus lässt. Warum macht sie das? Sieht sie nicht, dass sie bereits gewonnen hat? Sie scheint vergnügt über deine wachsende Frustration, zu erkennen an dem leichten Lachen, das ihr entkommt. Es irritiert dich, zieht dich jedoch zeitgleich an.
Nicht mehr in der Lage ihr zu widerstehen schließt du die Lücke zwischen euch beiden. Deine Lippen pressen sich auf ihre in einem Akt der Verzweiflung. Zu deiner Überraschung sind ihre Lippen sowohl so wie du sie dir vorgestellt hast und zur selben Zeit ganz anders. Aber dort sind sie, warm und weich auf deinen. Du spürst wie sie lächelt bevor sie deinen Kuss erwidert. Süß und sanft- ein direkter Kontrast zu dem Bild das sie nach außen hin von sich preisgibt. Bewundernswert.
Aber das reicht dir noch nicht. Du küsst sie wieder, beinahe hungrig, und du spürst wie der letzte Rest deiner Entschlossenheit schwindet. Du brauchst sie nicht. Zumindest jetzt nicht.
