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Herzschlag I

Miss Paine
von

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018 – Die Schneidermeisterin

Meine geschundenen Nerven und der wenige Schlaf der letzten Nacht ließen mich wie einen Stein bis spät in den Nachmittag im Bett bleiben. Mein Kopf musste währenddessen einiges verarbeitet haben und ich hatte es nicht mitbekommen. Ich blinzelte verschlafen über mein Kissen und versuchte in Ruhe die Informationen zu ordnen, die Sofia mir in den letzten Tagen gegeben hatte. Es war noch immer Irrsinn und es würde noch eine Weile dauern, bis ich alles begreifen konnte.

Ich zog mir bequeme Kleidung an und ging nach unten, um eine Kleinigkeit zu Essen. Magdalena hatte gefüllte Teigtaschen gezaubert, sie waren köstlich und schmeckten auch lauwarm. Von meinem Platz neben dem Waschbecken konnte ich beobachten, wie sie draußen im Vorgarten Unkraut jätete. Es war zu normal, wenn man die Umstände bedachte. Ein Haus mit Vorgarten, Kräuterbeeten und bunten Blumen. Es gab auch ein paar Gemüsebeete, die Magdalena regelmäßig pflegte und wunderbare kleine Ernten einfuhr. Diese Idylle war trügerisch. Der schöne Schein verbarg einige Tiefen und je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass es nicht nur das Grundstück war, hinter dessen Fassade sich Abgründe aufgetan hatten.

Wollte ich das Gleiche für mich? Wollte ich so werden wie Sofia? Ein Ungeheuer, das mit Freundlichkeiten blendete?

Ich blies ratlos die Luft durch meine Nase aus und verließ mit der letzten Teigtasche die Küche. Mein Ziel war der Keller. Auf dem Weg hinunter band ich meine Haare in einen hohen Pferdeschwanz und wickelte Bandagen um meine Hände. Ich musste meine innerliche Anspannung loswerden und ein paar kräftezehrende Minuten am Sandsack erschienen mir dafür am sinnvollsten. Durch das schmale Fenster, das Sofia geöffnet hatte, fiel Licht in den kahlen Raum. Ich dachte an ihre Hand, die sie mir voller Brandblasen vor die Nase gehalten hatte.

Hier, dein Beweis. Ich verpasste meinem Gegner einen festen Schlag in die Magengegend. Sieh hin, es heilt wieder. Noch ein Schlag. Führhand. Dein Zuhause ist hier. Ich schlug auf den Sandsack ein wie eine Wahnsinnige und mir wurde wärmer. Führhand-Schlaghand, zwei-, drei- und viermal in Folge, immer wieder von vorne. Weil du ein guter Mensch bist. Rechter Aufwärtshaken. Ich war verbissen. Du misst dem Ganzen zu viel Gewicht zu. Ja, vielleicht. Ich habe dich beobachtet ... Ich trinke ihr Blut und ich töte sie ...

Kopfhaken, Viererfolge. Wilde Kombinationen, wie es mir gerade passte. Ich drosch so lange auf den Sandsack ein, bis mein Körper sich weigerte fortzufahren. Schweiß rann über meine Stirn und den Nacken hinunter und meine Finger schmerzten. Ich musste eine kurze Pause einlegen. Gezwungenermaßen.

Das Licht, das durch das Fenster fiel, war ein gutes Stück gewandert. Ich vermutete, dass ich seit etwas mehr als drei Stunden hier sein musste. Hatte ich die ganze Zeit auf den Sandsack eingeschlagen? Offensichtlich. Ich ließ mich auf dem Boden nieder und betrachtete meine Hände.

"Au ..."

Sie fühlten sich an wie damals, als ich das erste Mal mit dem Sandsack trainiert hatte. Nur waren es bei meinem ersten Versuch wenige Minuten gewesen, keine Stunden. Ich hatte zweifelsfrei übertrieben, aber es ging mir besser und das war es wert.

Meine Pause würde länger dauern, wahrscheinlich ein paar Tage, bis meine Hände sich erholt hatten. Ich legte mich in den Sand und warf meinen Blick an die steinerne Decke, während ich langsam wieder abkühlte. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich an Sofias Glaubwürdigkeit zweifelte. Was, wenn sie mir keine Wahl lassen würde? Wenn sie andere Pläne hatte, als sie das sagte? Nein, ich musste damit aufhören! Ich hatte mich entschieden zu bleiben und ich hatte das Risiko in Kauf genommen, mich in die Hände eines Vampirs zu begeben. Ich wollte kein gewöhnliches Leben, wollte nicht die unscheinbare Hausfrau sein, die keine eigenen Entscheidungen treffen konnte. Ich wollte tun, was mich glücklich machte und das konnte mir nur Sofia ermöglichen.

Ob ich irgendwann ihre Schülerin sein wollte, konnte ich jetzt noch nicht abwägen. Die Thematik war mir zu fremd, als dass ich die Vor- und Nachteile in irgendeiner Weise logisch abwägen konnte. Es war nicht logisch.

Da meine Hände zu keinen weiteren Trainingseinheiten mehr in der Lage waren, entfernte ich die Bandagen, schüttelte den Sand von meiner Kleidung und ging nach oben, um mir ein Glas Wasser zu holen. Die Küche war noch immer verlassen, als ich eintrat. Magdalena war sicher in der Waschküche. Heute war Waschtag.

Ich leerte mein Glas, spülte es ab und ging mich waschen. Bis ich fertig war, dauerte es keine zwanzig Minuten. Frisch eingekleidet verließ ich das Haus und lief schnurstracks in den hinteren Garten, wo Magdalena lange Leinen von trockener, sauberer Wäsche befreite. Yasha und Isaak leisteten ihr Gesellschaft und ruhten zufrieden neben dem Apfelbaum.

"Megan, da bist du ja!" Sie lächelte mich herzlich an. "Ich dachte schon, ich bekomme dich heute gar nicht mehr zu Gesicht. Wie geht es dir?"

Eine berechtigte Frage, nach den jüngsten Ereignissen.

"Gut, denke ich."

Ich griff mir das nächstbeste Kleidungsstück und nahm es von der Wäscheleine. Meine Finger musste ich erst noch davon überzeugen, dass sie wieder arbeiten sollten. Sie sträubten sich noch.

"Was tust du da?" Magdalena sah mich fragend an, als ich die Klammern in meinen Taschen verstaute.

"Dir helfen."

"Das sollst du doch nicht ... Sofia möchte nicht-"

"Ich möchte", entgegnete ich ihr mit Nachdruck.

Diesmal würde sie es mir nicht ausreden. Ich faltete die Hose sorgsam zusammen und legte sie in den Wäschekorb, dann nahm ich mir das nächste Teil. Magdalena beobachtete mich verblüfft. Es dauerte einen Moment, bis sie ihr Lächeln wiederfand.

"Na schön. Du sollst schließlich tun, worauf du Lust hast."

Wir hängten die restliche Wäsche gemeinsam ab. Es war schön, Magdalena wenigstens ein bisschen behilflich sein zu können.

"Magda? Ich muss dich etwas fragen."

Sie nahm gerade das letzte Kleid von der Leine. "Ja?"

"Warum hast du dich dafür entschieden, ein Mensch zu bleiben?"

Die Heiterkeit in ihrem Gesicht wich überraschtem Schrecken.

"Woher weißt du das?"

"Sofia erzählte mir, dass ich nicht die Erste bin, die sie gefragt hat, und du meintest, du wüsstest was in meinem Kopf vor sich geht. Also nahm ich an, dass du es sein müsstest, von der sie sprach."

Magdalena seufzte leise und hob den Korb vom Boden, bevor sie zu mir herüberkam.

"Deine Frage ist nicht so leicht zu beantworten."

"Versuche es bitte."

Sie nickte, ließ sich aber einige lange Sekunden Zeit, bis sie mir antwortete: "Ich hatte Angst davor. Ich hatte Angst, dass ich mich verlieren würde, dass ich mich nicht unter Kontrolle haben könnte und dadurch zu einer Gefahr würde."

"Sofia sagte, dass man nicht zu jemand anderem wird."

Magdalena zuckte mit den Schultern. "Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass man einen starken Willen braucht, um sich selbst zu beherrschen. Ich habe es mir nicht zugetraut."

"Du wolltest niemanden töten."

"Ja. Ich bin zu friedliebend dafür." Sie lächelte. "Und ich hätte die Sonne vermisst."

Richtig. Die Sonne.

Sie warf gerade die letzten rot-goldenen Strahlen des Tages über die Weiten der Landschaft und in unsere Gesichter. Es war ein lauer Sommerabend und für einen kurzen Augenblick bedauerte ich Sofia und Ezra, dass sie die Schönheit dieses Augenblicks nicht genießen konnten.

"Ich bringe die Wäsche rein. Kommst du mit, oder bleibst du noch hier?", fragte sie mich.

"Ich bleibe noch."

Sie nickte, rief die Hunde und wandte sich ab, um ins Haus zu gehen.

"Man muss doch niemanden töten, oder?", rief ich ihr hinterher, bevor sie um die Hausecke bog.

Magdalena drehte sich noch einmal zu mir um. Ich konnte keine Bedenken in ihrem Gesicht erkennen, als sie mir antwortete: "Nein, muss man nicht."

Ein beruhigender Gedanke.

Ich ging ein paar Schritte und ließ mich auf der hölzernen Bank nieder, deren Anstrich schon bessere Tage gesehen hatte. Die Sonne färbte sich tiefrot, bevor sie langsam und majestätisch hinter dem Horizont versank. Es war ein nicht zu verleugnender Nachteil, den das Vampirleben mit sich brachte. Ich liebte die Sonne und ihre Wärme, das konnte ich nicht leichtfertig aufgeben.

Kaum war sie verschwunden, wurde es kühler. Es fröstelte mich ein wenig. Ob es an der hereinbrechenden Nacht, oder an meinen eigenwilligen Fantasien eines Vampirlebens lag, konnte ich nicht sagen.

Bevor die Gänsehaut sich über meinen gesamten Körper ausbreiten konnte, verließ ich den Platz im Garten. Ich hatte Lust auf einen Tee. Minze vielleicht.

Noch bevor ich die Front des Hauses erreichte, kam mir Ezra entgegen. Er hatte es eilig.

"Hast du Betty gesehen?", fragte er im Vorbeigehen.

"Nein. Ist sie verschwunden?"

Er ging unbeirrt weiter, ohne zu antworten. Ich überlegte, wann ich die Katze zuletzt gesehen hatte. Vor ein paar Tagen? Einer Woche? Ich drehte auf dem Absatz um und folgte Ezra zurück in den hinteren Garten.

"Wie lange ist sie denn schon weg?"

"Drei Nächte."

Mir war nicht klar gewesen, dass Ezra sich tatsächlich um seine Katze sorgen würde. Das hatte ich ihm nicht zugetraut. Ich suchte die Umgebung mit den Augen ab. Es war gerade noch hell genug, dass ich alles gut erkennen konnte.

"Sie wird schon irgendwo sein."

"Halt die Luft an!", wies Ezra mich zurecht.

"Was?" Hatte ich etwas Falsches gesagt?

"Spreche ich Russisch? Du atmest zu laut. Hör auf damit!"

Er meinte es wortwörtlich. Ich hielt sie an und verhielt mich still. Ezra ging noch ein Stück, bis er neben dem Apfelbaum stand. Ich vermutete, dass er versuchte, Betty zu hören. Eine andere Möglichkeit hatte er schließlich nicht. Er ging noch ein paar Schritte weiter, blieb wieder stehen und lauschte. Ich rührte mich solange nicht von der Stelle und bemühte mich, so leise wie möglich Luft zu holen. Meine Anwesenheit war offenbar nicht sehr hilfreich. Noch ein paar Minuten beobachtete ich Ezra, wie er den Garten absuchte, dann wurde es zu dunkel, um etwas zu sehen.

"Soll ich im Haus suchen?", fragte ich und versuchte, meine Verunsicherung hinter einer festen Stimme zu verbergen.

"Nicht nötig."

"Oh ... das hast du wohl schon getan."

"Das ist alles Sofias Schuld!", knurrte er leise vor sich hin, während er von einer Ecke des Gartens zur anderen lief.

"Was hat sie denn gemacht?"

"Vergiss es. Geh ins Haus."

Ezra hatte seinen distanzierten Tonfall wiedergefunden. An jedem anderen Tag wäre ich gegangen und hätte ihn in Ruhe gelassen, heute nicht.

"Sei nicht albern", wiederholte ich seine Worte, die er Sofia letzte Nacht an den Kopf geworfen hatte.

Er antwortete nicht. Sollte ich mich jetzt geschlagen geben? Oder sollte ich noch einmal nachfragen, um meiner Bitte mehr Gewicht zu verleihen? Meine Überlegungen erübrigten sich, als Ezra sich zu einer Antwort durchrang.

"Betty ist verschwunden, nachdem Sofia neulich den Verstand verloren hat."

Er klang nicht genervt, einfach nur sachlich. Ich wagte mich ein paar Schritte näher an ihn heran, um ihn besser sehen zu können, und hoffte, dass meine Atmung ihn nicht all zu sehr störte.

"Kann ich nachvollziehen ..."

Betty war nicht die Einzige, die die Flucht ergriffen hatte.

"Das ist nicht lustig."

Ich folgte ihm ihn die Waschküche.

"So war es auch nicht gemeint."

"Schön, und jetzt verschwinde endlich. Ich brauche hier ein bisschen mehr Ruhe."

"Ich bin gleich weg."

"Gleich?"

"Ich will noch etwas wissen."

Er seufzte leise, widersprach aber nicht. "Und was?"

"Ist Sofia so gefährlich, wie ich denke?"

Durfte er überhaupt mit mir über sie sprechen? Vielleicht hatte Sofia ihm einen unsichtbaren Maulkorb angelegt.

"Woher soll ich wissen, was du denkst?"

Er lehnte sich an den Tisch, auf dem einige Gefäße mit Seife und Bleiche neben verschiedenen Bürsten standen. Es sah ganz danach aus, als wartete er darauf, dass ich meine Frage neu formulierte.

"Sie ist nicht so freundlich, wie sie es vorgibt zu sein, richtig?"

"Richtig."

"Ist sie stärker als du?"

"Kommt drauf an."

Es war nicht leicht, etwas aus ihm herauszubekommen.

"Worauf kommt es an?"

"Ob du von reiner Muskelkraft sprichst, oder nicht."

"Nein, ich meine es ganz allgemein."

"Dann ist sie stärker als ich."

Es überraschte mich nicht einmal, dass sie stärker war. So wie ich die beiden zusammen erlebt hatte, war es definitiv Sofia, die das Zepter führte. Außerdem konnte sie sehen, im Gegensatz zu Ezra. Das konnte nicht ohne Auswirkungen sein.

"Sind wir fertig?"

Er hatte die Arme verschränkt. Offensichtlich hatte er genug von meinen Fragen. Ich hätte gerne noch ein paar Antworten bekommen.

"Ja, ich ..." Er löste sich vom Tisch und steuerte zurück Richtung Garten. "... ich wollte nur noch wissen, ob sie für mich gefährlich werden könnte."

Ezra blieb in der Tür stehen.

"Sie steht zu ihrem Wort, solange du sie dir nicht zum Feind machst ... Wir sehen uns übermorgen um sieben Uhr abends zum Training. Gute Nacht."

Er verschwand und setzte seine Suche auf der anderen Seite des Hauses fort. Ich glaubte ihm. Er war nicht der Typ, der etwas schönredete. Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass es ihn besonders stören würde, wenn ich nicht mehr hier wäre, also gab es keinen Grund, dass er mich anlügen musste. Obwohl ich mit ihm mehr Zeit verbracht hatte, als mit Sofia oder Magdalena, führten wir eine nahezu ausnahmslos geschäftliche Beziehung. Wenn man das so nennen konnte. Für ihn war ich nicht viel mehr als eine Aufgabe, die Sofia ihm übertragen hatte. Es war in Ordnung für mich und auch Ezra hatte sich inzwischen damit arrangiert, schließlich war ich eine fleißige Schülerin.

 

Ich ging mir einen Tee aufsetzen und zog mich mit dem heißen Kessel und ein paar Keksen in mein Zimmer zurück. Auf meinem Nachttisch lagen zwei Bücher. Lady Rose's Daughter, das ich mir zum Lesen aus dem Regal der Neuerscheinungen in Sofias Schatzkammer geholt hatte, und ein dickeres Buch, das ich zuvor noch nicht gesehen hatte. Ich stellte den Tee daneben und nahm das Buch mit dem schlichten schwarzen Einband in die Hände. Es war kein Titel darauf zu lesen, kein Autor. Auf der Rückseite stand winzig klein ein Datum: 10. Dezember 1603.

Das war vor dreihundert Jahren. Ein ziemlich altes Buch, obwohl es noch gut erhalten war. Vielleicht ein Nachdruck? Ich schlug es auf, um herauszufinden, was es damit auf sich hatte. Nachdem ich die ersten Seiten gelesen hatte, dämmerte es mir. Die Sprache und die Formulierungen waren mir vertraut. Sofia hatte es geschrieben und ich ahnte, was es war: ihre Geschichte.

Ich war sicher, dass es nicht die Originalfassung war, eher eine zeitgemäße Übersetzung, damit ich es überhaupt lesen konnte, schließlich war ich der russischen Sprache nicht mächtig und ich nahm nicht an, dass Sofia schon in jungen Jahren meine Sprache gesprochen hatte. Ob sie noch ein Mensch gewesen war, als sie dieses Werk verfasst hatte? Das Mädchen in dieser Geschichte war so anders, als die Sofia, die ich kannte. Es war befremdlich, einen so tiefen Einblick in ihre Gedankenwelt zu erhalten, doch mit jeder Seite wurde ich weiter hineingezogen, bis ich völlig vergessen hatte, dass ich in Sofias Vergangenheit gereist war.

Es war 1587, als ihre Mutter starb. Sie war nicht einmal zehn Jahre alt, als Darja nach kurzer Krankheit von ihr ging. Es war schnell gegangen, überraschend, und ich fühlte den Schmerz, der das Kind übermannte. Sofia hatte mich fest in ihren Bann gezogen. Ich wollte sie gerne trösten und ihr sagen, dass alles gut werden würde.

Es wäre eine Lüge gewesen. Sofias Vater starb ein Jahr später bei einem Überfall auf dem Weg von Moskau nach Twer und plötzlich stand sie alleine da. Mit acht Jahren. Ich wusste nicht, wie ich mich an ihrer Stelle verhalten hätte. Wahrscheinlich wäre ich verzweifelt, genau wie sie.

Ich atmete tief durch, bevor ich weiterlesen konnte. Der Tod ihres Vaters hatte mich mehr mitgenommen, als ich es erwartet hatte.

Sofia wurde zwei Wochen später von den Nachbarn mit in die große Stadt genommen. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie noch nie in Moskau gewesen. Man brachte sie in eines der Waisenhäuser, das dort vor Kurzem eröffnet worden war und sie begann Kleidung zu nähen, um überleben zu können. Es war das Prinzip dieses Hauses, dass die Kinder selbst für die nötigen Einkünfte sorgten und es gab viel zu tun. Die Kinder konkurrierten miteinander. Es waren harte, lehrreiche Jahre, bis das ruhige Mädchen wusste, wie sie sich zu verhalten hatte, um nicht unterzugehen. Sie wollte nicht in der Masse verschwinden und den anderen das Feld überlassen. Sie hatte gelernt, sich unter all den Kindern zu behaupten. Sie erledigte ihre Arbeiten tadellos und es gab nie etwas zu beanstanden. Sie war schnell und geschickt. Mit vierzehn hatte sie sich weit nach oben gearbeitet. Nur noch Sonderanfertigungen für reiche Kunden, keine Massenware mehr für das gemeine Volk.

Ihre Vorgesetzten waren vollauf zufrieden, nur vergiftete Neid und Missgunst die Beziehungen zu den anderen Mädchen und Jungen. Sofia musste einiges über sich ergehen lassen. Häme und Spott, so unbegründet, dass ich diesen Kindern am liebsten die Ohren lang gezogen hätte. Warum waren sie so ungerecht zu ihr? Sofia hatte niemandem etwas getan.

Ich war froh, als Sofia mit der Zeit immer besser damit umzugehen wusste. Sie wehrte sich und entwickelte sich zu einer halsstarrigen jungen Frau, die sich nichts mehr gefallen ließ und die herausstach. Nicht immer positiv. Sie eckte an, weil sie widersprach und sich beschwerte, wenn etwas nicht stimmte. Es war ihr Glück, dass sie es sich dank ihrer fehlerlosen Arbeit leisten konnte, obwohl ich fand, dass sie jedes Recht dazu hatte.

Es ging so weit, dass die Leiterin des Waisenhauses sie für einige Tage in ein Einzelzimmer verlegen ließ. Eine Strafe, die im Grunde keine war. Sie würde ohnehin bald gehen müssen, weil sie zu alt geworden war. Dabei wäre sie gerne geblieben und hätte eine Stelle als Lehrerin für die Neuzugänge angetreten, doch man hörte sie nicht an.

Sofia zog alle Register, bis man sie endlich ins Büro der Waisenhausleitung beorderte. Es war ihre letzte Chance und dort saß sie: Katerina Orlova. Eine erfahrene Geschäftsfrau, die nach all den Berichten ihrer Angestellten nun keine andere Wahl mehr hatte, als sich diesem Problem mit Namen Sofia anzunehmen. Sofia hatte keine Angst, sie hatte nichts mehr zu verlieren. Entweder würde man sie hinausschicken, oder man gab ihr eine Chance, sich als Lehrerin zu beweisen.

Die beiden Frauen sprachen lange miteinander und Sofia wurde klar, dass dies das Ende ihrer Zeit im Waisenhaus war. Endlich.

"Du könntest meine persönliche Schneiderin werden. Hast du Interesse?"

Ich rieb mir die Augen. Sie waren müde geworden und mein Tee war kalt, als ich mich daran erinnerte, dass ich ihn mitgenommen hatte. Der Blick auf die Uhr verriet, dass es längst Schlafenszeit war. Ein Uhr nachts. Ich schob einen von Magdalenas Keksen in meinen Mund, trank einen Schluck eiskalten Tee und las weiter. Ich konnte jetzt beim besten Willen nicht aufhören. Solange meine Lider mich ließen, würde ich weiterlesen. Katerinas Rolle interessierte mich ungemein. Sie war der jetzigen Sofia so viel ähnlicher, als die Sofia in dieser Geschichte. Eine unbeschwerte Frau, kaum einzuschätzen und ebenso eigensinnig. Auch sie ließ Sofia lange im Ungewissen, was ihre wahre Natur betraf. Ich wusste schon, worauf es hinauslaufen würde, nur Sofia schneiderte unwissend weiter die schönsten und teuersten Kleider in Moskau.

Ich wollte unbedingt wissen, wie Sofia Katerinas Geheimnis aufnehmen würde, doch meine Konzentration wurde von Minute zu Minute schlechter. Es hatte keinen Zweck mehr, meine Augen noch länger offen zu halten. Die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen und ich musste mich geschlagen geben. Es war gleich vier Uhr.

 
 

 

 "Megan! Aufstehen!"

Fay warf mich fast aus dem Bett mit ihrem Gebrüll. Ich riss entsetzt die Augen auf.

"Was ist?"

"Steh endlich auf! Hast du mal auf die Uhr gesehen?" Sie lachte und zog mir die Decke weg. "Los jetzt!"

"Aber warum denn?"

Ich verstand die ganze Aufregung nicht. Es war noch früh am Nachmittag. Fay rollte mit den Augen und seufzte, dann zog sie mich aus dem Bett und schob mich ins Bad auf der anderen Seite des Flurs.

"Das wirst du gleich sehen, aber zuerst musst du dich ein bisschen herrichten."

Ich war kein Freund von Überraschungen, doch Fay gab nichts preis, also nahm ich meine Zahnbürste zur Hand, während sie ungefragt meinen Zopf löste, und begann meine Haare zu kämmen. Sie hatte mir schon häufiger die Haare geflochten, das war nichts Besonderes. Diesmal wurde es ein dicht an meinem Kopf entlanggeflochtener Seitenzopf, der knapp hinter meinem Ohr nach unten über die Schulter fiel.

"Darf ich mir noch etwas anderes anziehen?"

Sie nickte mit einem breiten Grinsen und folgte mir zurück in mein Zimmer. Was war bloß los mit ihr? Sie war aufgeregt, wie ein Kind, das sich auf die weihnachtliche Bescherung freute. Zumindest machte sie aber einen überaus gesunden Eindruck. Ich war froh, dass es ihr wieder besser ging.

"Hose", sagte sie, als ich ein Kleid aus dem Schrank zog.

Erst jetzt fiel mir auf, dass auch Fay eine Hose trug. Das tat sie sonst nie. Ich ließ diesen ungewohnten Anblick auf mich wirken, bis Fay mich nochmals zur Eile anhielt. Es musste wirklich wichtig sein. Schnell schlüpfte ich in meine Kleidung und sputete mich, Fay hinterherzukommen.

Sie hatte mein Zimmer bereits verlassen und lief die Stufen hinunter ins Erdgeschoss.

"Du wirst Augen machen!", verkündete sie und tänzelte zur Tür.

Ich war vollkommen planlos. Hatte ich irgendetwas nicht mitbekommen? Fay wartete ungeduldig. Ihr entglitten für einen Moment die Gesichtszüge, als Magdalena aus dem Salon kam und mich aufhielt.

"Megan! Warte!"

Magdalena auch? Sie war genauso überschwänglich. Warum?

Ich blieb stehen und ließ mich von ihr umarmen. Waren sie denn plötzlich alle verrückt geworden?

"Alles Gute zum Geburtstag!"


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe mal, dass es euch aufgefallen ist, dass dieses Kapitel etwas "fröhlicher" ist, als die vorangegangenen :D
Happy Birthday Megan ♥
Wird Zeit, dass du ein paar anständige Geschenke bekommst! ;P Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Fairytale_x3
2015-10-11T15:36:12+00:00 11.10.2015 17:36
Und weiter gehts :)

Mir gefällt das Kapitel auch wenn es ja doch etwas seichter ist wieder wie die davor. Ich mag es deshalb, weil Megan endlich mal einigermaßen glücklich ist, dann darf es auch mal etwas seichter zugehen.
Das Ezra sie offensichtlich nicht leiden kann, merkt man ja schon sehr, ich bin gespannt ob sich das irgendwann noch ändert, denn so manchmal hatte ich bisher den Eindruck das er sie mittlerweile vielleicht doch nicht mehr durch und durch nicht leiden kann, sondern zumindest ihren Fleiß ab und an, still und leise anerkennen kann.
Wie du Sofias Geschichte eingebaut hast, hat mir stilistisch wirklich gut gefallen :) vorallem, weil es doch auch recht überraschend kam. Und Das Megan Geburtstag hat fand ich eine nette Wendung zum Schluss. Bin mal gespannt ob Ezra sich blicken lässt, oder ob er beschließt, sich im Keller zu verstecken, bis alles vorbei ist :D :D

lieben Gruß

Fairy :)
Antwort von:  DieJESSYcA
12.10.2015 18:47
Hehe, ja ich dachte, ich muss diese trübe Stimmung mal etwas unterbrechen. Ich wurd ja selbst schon ganz depri xD
Ansonsten kann ich gar nicht viel zu deinem Kommentar sagen^^' Aber ich denke mal, ich hab zu dem davor genug für 2 geschrieben xD
Also nochmal Danke auch für diesen Kommentar^^
Von:  noamuth
2015-08-23T08:34:44+00:00 23.08.2015 10:34
So dann sofort weiter im Text:

Der schöne Schein verbarg einige Tiefen
-->Ich frage mich schon eine Weile, was die Einwohner in der Nähe denken. Aberglaube ist ja normal in dieser Zeit. Wenn man die Herrin (alleine diese Tatsache) wenn dann nur Nachts sieht, da gehen doch bestimmt auch irgendwann die kleinsten 1 Watt Glühbirnen im Kopf an.

Ich hatte zweifelsfrei übertrieben, aber es ging mir besser und das war es wert.
-->Ein Loch im Sandsack wäre auch interessant gewesen als Ende des Trainings. Aber selbst durch die Bandagen muss das doch sicher bluten.

"Schön, und jetzt verschwinde endlich. Ich brauche hier ein bisschen mehr Ruhe."
-->So ein Ekel aber auch^^ Er ist doch nicht etwa Eifersüchtig auf Megan, die soviel von Sofias Aufmerksamkeit bekommt? Wenn man mal alles zusammenrechnet, was Ezra tut und sagt, kann man der Ansicht sein, dass er strikt gegen die Aufnahme von Megan war, schon immer.

Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass es ihn besonders stören würde, wenn ich nicht mehr hier wäre, also gab es keinen Grund, dass er mich anlügen musste.
-->Das ist untertrieben xD So wie Ezra sich gibt ist sie eine Last, egal was sie tut.

Sofia hatte es geschrieben und ich ahnte, was es war: ihre Geschichte.
-->Das ist doch kein Zufall, dass sie das Buch gerade JETZT findet ;)

Ihre Vorgesetzten waren vollauf zufrieden, nur vergiftete Neid und Missgunst die Beziehungen zu den anderen Mädchen und Jungen.
-->Vorgesetzten klingt nach Fabrik. Ich würde im Zusammenhang mit Waisenhaus eher von Heimleitung sprechen.

Es ging so weit, dass die Leiterin des Waisenhauses sie für einige Tage in ein Einzelzimmer verlegen ließ.
-->Ich würde das als Luxus empfinden. Man ist immer von den anderen Umgeben, Tag und Nacht. Man ist nie wirklich alleine. Privatsphäre fehlt. Lass die Heimleitung Sofia lieber in den Keller ziehen, wo es feucht ist oder so und es keine Sonne gibt.

Mich stört etwas das "Endlich." nach dem Gespräch mit Katerina. Sie wollte doch bleiben.

Gut wenn man mal von Tendency ausgehst als höchste Handlungsebene deiner Welt, hast du mit Sofias Geschichte eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte. Geschichte-ception. Solange du diese Vergangenheit erst abarbeitest ist das okay, nur nichts neues aufmachen, wie Ezras oder so. Das sorgt dann für Verwirrung.

Gut das war dann auch. Weitere Kommentare werden in Zukunft wohl etwas weniger, da mir die Zeit fehlt, aber ich hoffe, dass ich erstmal eine Menge Input geben konnte.
Antwort von:  DieJESSYcA
24.08.2015 15:13
Nochmal Hallo! :)

-->Ich frage mich schon eine Weile, was die Einwohner in der Nähe denken.
"Nähe" ist relativ. Da kommt nicht allzu oft jemand vorbei, schon gar nicht nachts, außer vielleicht der Kutscher, der Fay bringt, aber der bekommt weder Sofia noch Ezra zu Gesicht und ob es ihn überhaupt interessiert ... tja~
Und FALLS tagsüber jemand vorbeikommt, trifft er auch nur Magdalena :D

-->Ein Loch im Sandsack wäre auch interessant gewesen als Ende des Trainings. Aber selbst durch die Bandagen muss das doch sicher bluten.
Das hatte ich ernsthaft auch erst überlegt, ob ich das schreiben soll xD Hab mich dann aber dagegen entschieden, weil ich dachte, dass es zu vorhersehbar wäre. Ein bisschen Blut könnte ich aber wahrscheinlich noch einbringen.

-->So ein Ekel aber auch^^ Er ist doch nicht etwa Eifersüchtig auf Megan, die soviel von Sofias Aufmerksamkeit bekommt?
Ich mag ihn xD Aber ja, er ist schon recht abweisend zu Megan, das soll auch so sein^^ Freut mich ja, dass dir aufgefallen ist, dass er von Anfang an dagegen war, Megan mitzunehmen :D Das stimmt voll und ganz^^ So ein Vampir braucht eben seine Zeit, um sich mit neuen Gegebenheiten anzufreunden xD

-->Das ist doch kein Zufall, dass sie das Buch gerade JETZT findet ;)
Natürlich nicht, Sofia hat es dort hingelegt xD Hat sich ja nicht aus dem Nichts dort hingebeamt^^ Sofia ist eine so berechnende Frau ... hach ja~

Danke auch für deine Hinweise zu Sofias Vergangenheit^^
Ich gebe zu, es ist evtl. viel Vergangenheits-Gegrabe o.o' Habe dazu eine UMFRAGE erstellt, würde mich freuen, wenn du eine Stimme abgibst^^
Achja, ich habe nicht vor besonders tief in Ezras Vergangenheit zu graben. Das würde dann wohl wirklich zu weit gehen und eigentlich interessiert das glaube ich auch nicht wirklich. Es wird nur ein paar Details aus seiner Vergangenheit geben, nix Umfangreiches^^

Merci für den Kommentar und die Ideen :)
Mach dir keinen Stress mit dem Kommentieren^^


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