Die Prüfung
Da er an einem Ort aufgewachsen war, den man mit Fug und Recht als unheimlich bezeichnen konnte, war er bislang davon ausgegangen, dass es nichts gab, das ihm noch mehr Furcht einjagen könnte. Doch nun stand er hier, mitten in der Nacht, vor einem Gebäude, das geradezu das stofflich gewordene Sinnbild von Grusel zu sein schien.
Drohend ragte das schwarz gestrichene Haus in den Nachthimmel, das Mondlicht, das einen riesigen Schatten erzeugte, sorgte nicht für Beruhigung, sondern verstärkte die unheimliche Atmosphäre. Es beleuchtete das windschiefe Dach, in dem einzelne Ziegel fehlten, die schräg in den Angeln hängenden Fensterläden quietschten leise im aufgekommenen Wind.
Ein unangenehm kalter Schauer lief ihm den Rücken hinab. „Und was soll ich da drinnen tun?“
Der Direktor lächelte überaus freundlich. „Du wirst hineingehen und einen bestimmten kleinen Behälter finden, den du mir herausbringen wirst. Er ist aus Edelstahl und darauf steht NI 23-1. Wo genau er sich befindet, kann ich dir nicht sagen, aber ich vertraue darauf, dass du ihn schon finden wirst.“
Er wollte fragen, warum er mit so etwas beauftragt wurde, was es beweisen sollte und warum sonst niemand hineingegangen war, um den Behälter zu holen – aber möglicherweise gab es einen bestimmten Grund, weswegen das alles auf diese Art ablief und er verstand ihn lediglich nicht.
„Uhm, gut, werde ich machen.“
Auf den ersten Blick schien es immerhin leicht genug, also gab es keinen Grund, das abzulehnen.
„Dann los, los“, sagte der Direktor lächelnd. „Beeil dich lieber, mein Bester, du hast nur bis Sonnenaufgang Zeit.“
Er atmete tief durch und betrat das Haus, auch wenn sein Magen noch so sehr dagegen zu rebellieren und an etwas zu erinnern versuchte. Aber die Erinnerung sprach nicht zu ihm, deswegen schob er das Gefühl erst einmal fort.
Als die Tür mit einem lauten Geräusch hinter ihm zufiel und dieses verklang, schien es ihm als würde die Stille schwer auf seinen Ohren lasten. Es dauerte einen kurzen Moment, ehe er das Blut in seinen Ohren rauschen hören konnte, ein unangenehmes Geräusch, das ihn daran erinnerte, wie nervös er war und dass er vollkommen allein war – zum allerersten Mal in seinem Leben. Auch wenn man im Waisenhaus einsam war, gab es immer noch andere Bewohner, die einfach nur in anderen Zimmern saßen, aber immer noch da waren.
Um seinem Herzen Zeit zu geben, sich zu beruhigen, ließ er den Blick umherhuschen, um so viel wie möglich von dem aufzunehmen, was das einfallende Mondlicht ihm enthüllte.
Er stand neben einem Empfangsschalter, der unbesetzt war, das aufgeschlagene Buch verriet, dass der letzte Besuch schon zwei Jahre her war, aber dennoch gab es keinerlei Staub auf den Seiten oder dem Tresen selbst. Auch die hölzernen Bodendielen wirkten frisch gewischt und selbst in den Ecken waren keinerlei Spinnweben zu entdecken, jemand kümmerte sich offenbar darum, alles an diesem Ort sauber zu halten. Nur die äußere Fassade interessierte wohl niemanden.
Eine Sitzgruppe lud zum Ausruhen ein, eine Tür im hinteren Teil des Raumes war geschlossen und er wusste instinktiv, dass er dort auch gar nicht reingehen sollte. Fast schien es ihm, als wäre er schon einmal hier gewesen und würde sich nur nicht mehr daran erinnern können.
Sein Blick ging weiter an der Wand entlang, bis er zu einer hölzernen Treppe kam, an deren oberen Ende eine Galerie zu sehen war, die wiederum zu einer weiteren Tür führte – und diese empfand er als sein erstes Ziel.
Es war lediglich ein Gefühl, aber er war sich ziemlich sicher, dass er dort das finden würde, wonach er suchen sollte. Woher diese Ahnung kam, wusste er zwar selbst nicht so genau, aber sie war da und nur das zählte für ihn.
Dieser Eingebung folgend, ging er hinauf und durch die dortige Tür. Dahinter tat sich ein Gang auf, der nur notdürftig vom Mondlicht erhellt wurde, aber es genügte, dass er mehrere Türen auf beiden Seiten erkennen konnte, von denen manche auch geöffnet waren.
Viel wichtiger als das, was er sehen konnte, war allerdings das, was er spüren konnte. Er war bei weitem nicht das einzige Lebewesen an diesem Ort, stattdessen spürte er die Präsenz von anderen Menschen. Zumindest glaubte er, dass es sich um solche handelte, aber sie strahlten eine Aura ab, die er noch nie zuvor gespürt hatte.
Sie war leer, ein unbefülltes Gefäß, ohne jegliche Emotionen, stumpf und primitiv. Auch wenn er so etwas noch nie zuvor gespürt hatte, wusste er sofort, dass er vorsichtig sein musste, als er weiterlief.
Er warf Blicke in die offenen Zimmer hinein, die allesamt verwüstet waren. Obwohl er keine spezielle Einrichtung erwartet hatte, verwunderte es ihn doch ein wenig, Büros vorzufinden, deren Tische und Stühle umgeworfen worden waren, sämtliche Dokumente, die einmal gut sortiert gewesen sein mussten, waren wild verstreut worden. Nichts davon wirkte so als wäre es von jemandem auf der Suche nach etwas in großer Eile durcheinandergeworfen worden, vielmehr machte es auf ihn den Eindruck, dass es ... einfach so geschehen wäre, aus Wut, Frustration oder vielleicht sogar aus Spaß.
Seine Ahnung riet ihm aber, weiterzugehen und mit jedem Schritt, näherte er sich einem seltsamen, schmatzenden Geräusch, das er im Moment nicht einordnen konnte. Aber er glaubte zu wissen, dass er damit nichts Gutes, sondern etwas Furchterregendes verbinden musste.
Schließlich, an der letzten Tür angekommen, hielt er wieder inne. Dort war das Geräusch am lautesten, aber auf den ersten Blick war dort nichts anderes zu sehen als in den vorigen Zimmern. Nur einer der Tische lag anders als zuvor und er war sich ziemlich sicher, dass der Ursprung des Geräuschs dahinter lag.
Plötzlich war er sich aber gar nicht mehr so sicher, ob er wirklich wissen wollte, was dahintersteckte. Es war eines jener Lebewesen, das keinerlei Emotionen beherbergte, das konnte er eindeutig wahrnehmen, aber er spürte auch einen seltsamen Schauer, der über seinen Rücken lief und das ihn davon abhalten wollte, näherzugehen.
Diesem Gefühl folgend, wollte er sich gerade wieder umdrehen, als sein Blick auf den Aktenschrank an der hinteren Wand fiel und er spürte, wie er blass wurde. Auf dem Schrank, fast so als wäre er dort extra platziert worden, stand der gerade einmal fingergroße Behälter, den er suchen sollte, also musste er dort nach hinten, auch wenn er eigentlich nicht wollte. Selbst auf diese Entfernung konnte er die angebrachten Buchstaben und Zahlen erkennen, als wären sie mit Leuchtbuchstaben geschrieben worden. Ihm schien sogar, der Behälter würde ihn verspotten, was ihn mit Ärger erfüllte, allerdings mehr auf die Person, die diesen wohl einstmals dort aufgestellt haben mochte.
Obwohl er wusste, dass ihm nichts anderes übrig blieb, stand er eine Weile unschlüssig da und überlegte, ob er nicht vielleicht doch lieber wieder gehen sollte. Aber die Strafe für seinen Ungehorsam wollte er sich gar nicht erst vorstellen, also hatte er wirklich keine Wahl, als endlich weiterzumachen und zu hoffen, dass sein Zögern keine schlechte Wertung nach sich ziehen würde.
Mit vorsichtigen, langsamen Schritten, ging er hinein. Das andere Wesen schien ihn nicht zu bemerken, auch nicht, als die Bodendielen unter ihm leise knarrten, deswegen wurde er ein wenig mutiger und lief schneller, zwang sich dabei jedoch, die Augen stur auf den Behälter gerichtet zu lassen. Er war zwar neugierig, was das für ein Wesen sein mochte, aber die Furcht vor dem, was er sehen könnte, war größer, denn aus irgendeinem Grund glaubte er zu wissen, was es war und was es mit diesem Geräusch auf sich hatte.
Am Schrank angekommen, steckte er das Gefäß mit zitternden Händen ein. Nichts kam aus einer dunklen Ecke hervor, um ihn anzugreifen oder gar ein Stück von ihm abzubeißen, so wie die Bilder vor seinem inneren Auge es prophezeiten, aber es erforderte dennoch seinen ganzen Mut, sich wieder umzudrehen, damit er den Raum verlassen konnte. Noch immer bemerkte das andere Wesen ihn nicht.
Doch schließlich siegte seine Neugier und gegen seinen Willen, wandte er den Kopf in die Richtung dieses Geräuschs – nur um vor Schreck in eine Starre zu fallen.
Auf dem Boden lag eine fast nicht mehr zu erkennende Gestalt, die kaum noch aus Fleisch bestand, aber dennoch einmal ein Mensch gewesen sein musste. Über ihr kniete ein richtiger Mensch, der zwar wie einer aussah, aber gleichzeitig auch nicht, er war nackt, besaß aber keinerlei Geschlechtsmerkmale. Es war das leere Gefäß, das er zuvor wahrgenommen hatte, die Haut war dermaßen blass, dass man glauben könnte, dieses Wesen wäre seit Tagen tot und würde nur noch aus Unwissenheit darüber herumlaufen – und es fraß das Fleisch des vor ihm liegenden Menschen.
Ein scharfer Schmerz zuckte durch seinen gesamten Körper, als er das beobachtete und er stieß ein leises, gepeinigtes Stöhnen aus, das laut genug war, um das Wesen auf ihn aufmerksam zu machen.
Als es den Kopf hob, blickte er in überraschend helle, aber dennoch glasige blaue Augen, in denen er nichts außer Gier lesen konnte.
Alles an diesem Wesen erinnerte ihn an das, was sein Lehrer einmal Zombie genannt hatte, es war ein Untoter und er hatte Hunger auf frisches Fleisch – und er war im Moment die einzige Quelle dafür.
Noch ehe er reagieren konnte, stürzte das Wesen sich auf ihn. Durch den Wucht des Aufpralls stürzte er rückwärts und prallte hart mit dem Rücken auf den Boden, der unter dem Gewicht der beiden nachgab.
Ein lautes, ohrenbetäubendes Geräusch ertönte, während sie in das untere Stockwerk fielen, der aufgewirbelte Staub ließ ihn heftig husten, wobei seine Brust und sein Rücken heftig schmerzten, hatte aber keinerlei Einfluss auf seinen Angreifer, der geifernd versuchte, an das weiche Fleisch seines Halses zu kommen. Er hielt den anderen so gut er konnte auf Abstand, versuchte, zu überlegen, was er nun tun sollte.
Irgendwo tief in seiner Erinnerung glaubte er, eine solche Situation schon einmal erlebt zu haben. Verschwommen, undeutlich, sah er dieses Wesen, in einer wesentlich besseren Verfassung als im Moment, über sich, genau wie in diesem Moment, die Augen, die ungeheuer tief in den Höhlen lagen, waren jedenfalls genau dieselben.
Er spürte einen heftigen Schmerz in seinem Hals und glaubte für einen kurzen, furchteinflößenden Moment, er wäre gebissen worden und müsste nun alle Hoffnung aufgeben und zu einem der ihren werden. Aber als das Gefühl verblasste, wurde ihm bewusst, dass dies nur eine Erinnerung gewesen war, er hielt den Zombie immer noch auf Abstand, indem er dessen Kopf mit der Hand unter dem Kinn wegdrückte.
In dem Augenblick, in dem die Erinnerung sich gänzlich zurückgezogen hatte und er sich der Situation wieder bewusst war, schien die Realität an mehr Schärfe als gewöhnlich zu gewinnen. Ihm war als würde sich sein Blickfeld erweitern und entdeckte so, nicht weit entfernt von sich, eine spitz zulaufende Eisenstange – und er wusste sofort, was damit zu tun war.
Er streckte den Arm aus, ergriff die Stange und rammte sie ohne zu zögern durch den Kopf des Zombies. Mit einem kraftlosen, letzten Stöhnen fiel dieser zur Seite, die weit aufgerissenen Augen ins Nirgendwo gerichtet. Plötzlich war es geradezu unheimlich still, weswegen er umso lauter atmen musste, um das zu kompensieren.
Er blieb direkt neben dem Wesen liegen, starrte nach oben, durch das Loch in der Decke und wartete darauf, dass sein aufgeregter Herzschlag sich wieder beruhigte.
Ich habe gewonnen ... ich lebe ... ich lebe ...
Ein tiefes, erleichtertes Seufzen kam aus seiner Kehle und wieder erwachte eine Erinnerung in ihm, die ihm zeigte, dass er das schon einmal geschafft hatte, obwohl er ganz sicher das allererste Mal an diesem Ort war – und auch bestimmt noch niemals einem Zombie begegnet war.
Aber seine Gedanken wurden unterbrochen, als er plötzlich ein weiteres, leeres Stöhnen hörte und er noch mehr dieser unbefüllten Gefäße spüren konnte.
Er musste hier raus, bevor einer von ihnen ihn aufspüren und doch noch fressen konnte, so wie unzählige Erinnerungssplitter ihm in diesem Moment glauben machen wollten.
Während er aufstand, stellte er sicher, dass er den Behälter noch bei sich trug, dann huschte er zur Tür, die er inmitten der Trümmer der ehemaligen Decke und all den Kisten ausfindig machen konnte. Auf dem Gang konnte er keines dieser Wesen spüren, er vermutete, dass sie sich in anderen Zimmern befanden und dort ... Was sie dort tun könnten, wusste er nicht, aber er konnte sich denken, dass sie sich nicht langweilten, falls sie dieses Gefühl überhaupt noch kannten.
Er öffnete die Tür und spähte in den dunklen Gang, wo wirklich nichts und niemand zu sehen war. Leises Stöhnen erklang aus den anderen Räumen, rastlose und dennoch gleichgültige Bewegungen wie von einem erwachenden Organismus, der in seinem langen Schlaf gestört worden war, wurden hörbar.
Sein Verlangen, diese anderen Wesen kennenzulernen, hielt sich allerdings in Grenzen und so orientierte er sich lediglich in Richtung der Tür, die ihn zurück in den Eingangsbereich bringen würde, ehe er hastig loslief.
Gleichzeitig mit seinen Fußschritten, wurden unzählige andere Geräusche wach. Die Wesen hörten ihn und seine Anwesenheit ließ sie ihre Trägheit und Müdigkeit vergessen. Sie erreichten ihre Türen in dem Moment, in dem er die zum Eingangsbereich hinter sich zuschlug.
Ohne zu zögern hastete er weiter auf den Ausgang zu. Ein Erinnerungssplitter, der sich ihm in den Fuß bohrte, ließ ihn beinahe stolpern, dabei bemerkte er einen dunklen Fleck auf dem Boden, der ihm zuvor nicht aufgefallen war und noch mehr Schmerzen durch seinen Körper jagte.
Er verdrängte den aufkeimenden Gedanken und die dazugehörige Erinnerung und riss die Tür nach draußen auf. Kalte Nachtluft strömte herein und machte ihm erstmals bewusst wie sehr er geschwitzt haben musste.
Kaum war er über die Schwelle des Hauses geschritten, kam er doch noch ins Stolpern und so landete er vor dem gelangweilt aussehenden Direktor auf den Knien. Tief durchatmend versuchte er erneut, seinen Herzschlag zu beruhigen, ohne sich dabei umzusehen, denn irgendetwas in seinem Inneren sagte ihm, dass diese Wesen ihm ohnehin nicht nach draußen folgen würden. Die Furcht vor der Außenwelt hielt sie im Gebäude, zumindest jetzt noch. Eines Tages jedoch ...
Er beendete den Gedanken nicht, sondern stand auf und griff in seine Tasche, um dem Direktor den Behälter zu überreichen, damit der Eindruck und die endgültige Bewertung nicht noch schlimmer ausfallen würde, als es bislang der Fall sein dürfte.
„Oh, ich bin wirklich sehr zufrieden mit dir“, sagte der Mann allerdings lächelnd, während er den gesuchten Gegenstand in seiner Hand hin und her drehte.
„Was ... ist es denn?“, fragte er zögernd.
Nachdem er nun sein Leben riskiert hatte, um den Behälter aus diesem Gebäude zu holen – und das vermutlich nicht zum ersten Mal, wenn er den Erinnerungssplittern glauben durfte – war er doch interessiert daran, was sich eigentlich darin befand und warum es so wichtig war.
Noch immer lächelnd blickte der Direktor nun ihn an. „Neugier ist der Katze Tod, mein Lieber.“
Also würde er keine Antwort bekommen, wie er mit einem inneren Seufzen feststellte.
„Aber du hast wirklich wunderbare Arbeit geleistet – also wirst du ab morgen ein Teil des Teams von Lunaris und Solaris werden.“
Ob er sich darüber freuen sollte, wusste er nicht so recht, aber immerhin war es das gewesen, was er gewollt hatte, denn es bedeutete, dass er das Waisenhaus verlassen und die Welt erkunden könnte – und das war doch immerhin eine gute Sache.
Andererseits gab es da draußen aber auch Gefahren, die nicht zu unterschätzen waren und eigentlich wollte er nicht noch einmal in solche Situationen wie in dieser Nacht geraten.
Den Kopf in den Nacken gelegt, entfuhr dem Direktor schließlich ein zufriedenes Seufzen. „Ich denke, ich habe jetzt auch einen Namen für dich, mein Bester.“
Während der Mann sprach, fuhr er selbst herum, damit er zum Eingang des Gebäudes zurücksehen konnte. Er glaubte, das frustrierte Stöhnen Verhungernder zu hören, die erkannt hatten, dass ihre schon sicher geglaubte Beute wieder entwischt war. Er empfand ein wenig Mitleid mit ihnen, aber nicht genug, um sich als kostenloses Festmahl anzubieten. Also blieb ihm nur die Hoffnung, dass irgendjemand sich darum kümmern würde, dass es ihnen bald besser ging oder sie zumindest befreit waren.
„Der perfekte Name für dich lautet-“