Enthüllungen
Das helle Leuchten des Bitchips erschien Johnny in diesem Moment wie der schönste Anblick, den er je gesehen hatte. Ihn durchflutete förmlich die angenehme Hitze der Verbindung zwischen ihm und Salamalyon und das erste Mal seit Langem hatte er das Gefühl, wieder vollständig zu sein.
Natürlich hatte sein Bitbeast in ihm eine Leere hinterlassen, aber wie groß sie gewesen war, war ihm erst jetzt bewusst geworden. Er rang sich ein Lächeln ab.
Sein Beyblade reagierte blitzschnell auf seine Anweisungen und tatsächlich fühlte er wieder ein Stück dieser unendlichen Freiheit, die er früher beim Beybladen so genossen hatte. Es war fast so, als stünde ihm die Welt offen. Ein wunderbares Gefühl.
Er wusste, dass der Schein ihn betrog, dass auf die kurze Phase der Euphorie auch wieder das Tief kommen würde, das ihm einst den Spaß an diesem Sport genommen hatte. Denn nur, weil Salamalyon zu ihm zurückgekommen war, hieß das noch lange nicht, dass man ihn als Beyblader nun mehr wertschätzen würde als zuvor. In Gedanken sah er bereits wieder die Schlagzeilen und Artikel vor sich, wie sie sich über seinen Stil ausließen und die taktischen Fehler aufzählten, die er sich geleistet hatte... Die Anspannung ließ ihn seine Hände zu Fäusten ballen und Johnny presste seine Lippen fest aufeinander.
Erschrocken bemerkte er, wie das gelbe Licht seines Bitbeasts langsam schwächer wurde, und er bemühte sich darum, wieder an etwas anderes zu denken. Er wollte Salamalyon nicht noch einmal verlieren.
Während er tief einatmete, schloss er langsam die Augen, erfühlte innerlich die Verbindung zu seinem Bitbeast. Sie war noch da. Die Wärme brachte ihn zum Lächeln und als er die Augen öffnete, sah er die strahlende Lichtgestalt vor sich, die zufrieden den Kopf zur Seite neigte. Eine Geste, die Johnny viel bedeutete.
Immer weiter wurden die Kreise, die sein Beyblade zog, bis es grazil und in einer sanften Linie am oberen Rand der Bowl entlang fuhr. Johnny liebte diesen kleinen Trick, dieses Spiel am Abgrund. Man hatte ihm, als er diese Technik einmal öffentlich angewandt hatte, unterstellt, es sei ein Zufall gewesen, dass der ungestüme Majestic mit seinem groben Stil zu derlei gezielten Manövern gar nicht in der Lage wäre.
Es hatte ihn damals schwer getroffen, denn er hatte lange geübt, um sein Beyblade so gut unter Kontrolle zu haben, dass es so exakt fuhr. Denn es war riskant, sich selbst ins Aus zu schießen, wenn er nur ein paar Millimeter neben der Spur kreiselte. Auch Roberts Zuspruch hatte da nicht viel daran geändert.
Dennoch mochte er die Technik. Das Fingerspitzengefühl, das es benötigte so genau zu bladen, und dann das immerwährende Risiko – es bereitete ihm Freude, weil es ihm volle Konzentration abverlangte und er tatsächlich zeigen konnte, was in ihm steckte, welche Fähigkeiten er hatte.
Er hatte Fähigkeiten.
Die Erkenntnis schien ihm auf einmal glasklar und verleitete ihn zu riskanteren Moves, scharfe Kurven und blitzschnelle Wendemanöver ließen ihn zu neuer Form auflaufen. Zuletzt versuchte er sich daran, Salamalyon möglichst geschickt um die Einrichtung des Trainingsraumes herum zu lenken, über den Gymnastikball auf den Ablagetisch zu gelangen und ein Stückchen die Rückwand des Raumes, einen breiten Spiegel, entlang zu rasen. Sein Blick fiel auf sich selbst, wie er da stand, mit einem Grinsen im Gesicht, erhitzt von der kleinen Trainingsrunde. Er hatte sich schon lange nicht mehr so... ausgelassen gesehen. Es fühlte sich ungewohnt an zu lächeln.
Und dann fiel sein Blick auf Robert.
Robert. Ausgerechnet Robert.
Johnny fuhr herum und starrte seinen Teamcaptain aufgewühlt und aufgebracht an. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn jemand beobachtete und er hatte das Gefühl, dass Robert ihn gerade in einem sehr intimen Moment auf frischer Tat ertappt hatte. Es war ihm furchtbar peinlich, dass er so gesehen worden war.
Sein Freund wiederum wirkte im ersten Moment ob seines heftigen Gefühlsausbruchs verwundert, setzte dann jedoch wieder seine typische, ruhige Miene auf. Robert trug ein weinrotes Shirt, darüber einen anthrazitfarbenen Sakko. Seine schwarze Hose und die italienischen Lederschuhe rundeten den Anblick eines reichen Adeligen perfekt ab.
Er hob beschwichtigend die Hände. „Ich wollte nur schauen, ob du schon wieder aus dem Krankenhaus da bist, nicht mehr. Tut mir Leid, wenn ich störe.“
Mit einem giftigen Blick auf Robert, der von seinem Verhalten eher amüsiert zu sein schien, hob Johnny sein Beyblade vom Boden auf und murrte: „Müsstest du nicht trainieren?“
„Mein Trainingspartner nimmt die Trainingszeiten nicht ganz so genau und ist gar nicht erst erschienen“, Robert lehnte sich gegen den Türrahmen und beobachtete Johnny aufmerksam, der etwas unschlüssig dastand und seinen Kreisel in seine Hosentasche gleiten ließ, „Schön das Team wieder zusammen zu sehen. Schön, dich überhaupt mal wieder gut gelaunt und entspannt beim Beybladen zu sehen.“
Johnny erstarrte in der Bewegung. Wusste Robert etwas? Hatte er gemerkt, dass Johnnys Beziehung zu Salamalyon in den letzten Jahren nicht vorhanden gewesen war? Es würde erklären, warum er ihn in den Wettkämpfen seltener eingesetzt hatte, warum er ihn beim Training weniger getriezt hatte. Johnny hatte es als Bestätigung verstanden, dass Robert ihm die Kämpfe nicht mehr zutraute, dass er dem Team öffentlich keine Blöße hatte geben wollen.
„Das geht dich überhaupt nichts an“, Johnny bemühte sich darum, sich seine Beschämung nicht anmerken zu lassen. Robert hatte ihn durchschaut – wie lange schon? – und er hatte sich die ganze Zeit zum Affen gemacht. Und das tat weh.
„Und überhaupt muss ich jetzt nach Max suchen. Der wollte nämlich schon längst wieder hier sein. Wenn du mich also entschuldigst.“
„Wir sehen uns beim Essen?“, Robert musterte ihn genau, trat jedoch schweigend einen Schritt beiseite, um Johnny vorbei zu lassen. Im Weggehen warf Johnny Robert einen kurzen Blick zu. „Natürlich.“
Da Johnny beim besten Willen nicht wusste, wo er nach Max suchen sollte, führte ihn sein erster Weg zurück in das gemeinsame Hotelzimmer. Als er mit Hilfe der Schlüsselkarte die Tür geöffnet hatte, sah er im dunklen Raum bereits die (inzwischen vielleicht sogar etwas zu) vertraute Gestalt des Amerikaners mit dem Rücken zum Fenster stehen. Sein Gesicht wirkte ungewöhnlich ernst und seine ganze Haltung verriet deutlich seine Anspannung. Er blickte auf, als Johnny eintrat, gab sich aber nicht die Mühe, ein falsches Lächeln aufzusetzen.
Johnny hatte nicht einmal die Zeit, zu fragen, was los war.
„Meine Mutter hat einen neuen Liebhaber“, meinte Max trocken, blickte dann zu Boden und steckte seine Hände in die Hosentaschen, „Boris Balkov.“
Boris Balkov. Es dauerte eine ganze Weile, bis Johnny den Namen zugeordnet hatte. Es war zu lange her und der Mann hatte in seinem Leben – abgesehen von den Zwischenfällen bei der ersten Beyblade-Weltmeisterschaft – keinerlei Bedeutung gehabt. Kein Wunder, dass er ihn aus seinem Gedächtnis gelöscht hatte. Gut, es war wohl erneut zu einem Ausbruch seines Größenwahns gekommen, als er die BEGA gegründet hatte – das Problem hatte sie in Europa allerdings nicht betroffen.
Johnny fand es erstaunlich, dass Judy Tate sich mit so einem Mann abgab. Dann wiederum hatte sie in der Vergangenheit nicht unbedingt einen guten Geschmack bewiesen.
Zumindest war Balkov inzwischen rehabilitiert. Mal wieder.
„Das passt dir nicht“, stellte Johnny sachlich fest, denn zugegeben war er sich nicht sicher, was Max in diesem Augenblick für eine Reaktion von ihm erwartete. Ihm wurde jedoch ziemlich schnell klar, dass er falsch reagiert hatte, als Max ihn aufgebracht ansah.
„Während ich im Krankhaus war, hat sich meine Mutter mit diesem Monster einen schönen Abend gemacht! Sie hat nicht mal angerufen!“, der ganze Frust schien aus Max herauszubrechen und er redete sich mehr und mehr in Rage, „Ich habe mich nie beschwert, wenn sie nicht zu meinem Geburtstag kam, weil sie noch arbeiten musste. Ich habe mich nie beschwert, dass sie nur dann zu meinen Kämpfen kam, wenn es ihr Team oder ihre Arbeit betroffen hat. Aber gottverdammt nochmal es kann doch nicht sein, dass ihr dieses Arschloch mehr wert ist, als ihr eigener Sohn?!“
Für einen kurzen, beinahe beschämenden Augenblick überlegte Johnny, ob er Max die selben klugen Sprüche ins Gesicht knallen sollte, mit denen er ihn am Vorabend konfrontiert hatte. ‚Es lebt sich einfacher, wenn man den Schwerpunkt auf die schönen Dinge legt und man das Negative ausklammert. Viele machen den Fehler und sehen immer nur das Schlechte. Dabei sollte es genau andersherum sein. Man sollte immer versuchen das Beste aus seiner Situation zu machen und sich dafür einzusetzen. Es sei denn man genießt es zu jammern.‘ Selbst Johnny sah ein, dass so ein Verhalten in diesem Moment absolut unangebracht gewesen wäre.
„Du hast Recht, deine Mutter hat sich total daneben benommen“, Johnny trat weg von der Zimmertür, schaltete erstmal das Licht ein. Max sah nun noch angespannter, noch aufgebrachter aus. Umso wichtiger, dass Johnny die Distanz zwischen ihnen verringerte. Er kannte diese Enttäuschung verbunden mit dem Gefühl, allen egal zu sein. Und er wusste nur zu gut, dass in diesem Moment nichts tödlicher war, als Desinteresse. Vor einiger Zeit war er selbst an diesem Punkt gewesen und er wäre über jeden Beistand dankbar gewesen. Wie könnte er Max jetzt vor den Kopf stoßen, da er ihn brauchte? „Ich glaube ihr ist gar nicht bewusst, was für einen Mist sie da baut.“
„Das macht es nicht besser!“, Max‘ Hände waren zu Fäusten geballt und er zitterte am ganzen Körper.
„Ich weiß“, sagte Johnny erstaunlich ruhig, „Das soll es auch nicht. Du hast alles Recht darauf, sauer zu sein.“
Der Amerikaner starrte ihn fassungslos an, fast so, als hätte ihm noch nie jemand zugestanden, dass er verärgert war. Er schnaubte kurz und schüttelte den Kopf. „Meine Mutter hat gesagt, ich soll mich zusammenreißen und mich nicht wie ein kleines Kind benehmen.“
„Ich glaube, bevor sie das Recht hat, dir so etwas zu sagen, sollte sie erstmal ein bisschen über ihr eigenes Verhalten nachdenken“, Johnny setzte sich auf sein Bett und zu seiner Überraschung wirkte Max nun etwas weniger aufgebracht, „Ich meine, du bist knapp einem Feuer entgangen und sie meldet sich nicht mal, hallo?! Selbst Robert hat es hinbekommen aufzutauchen! Ich habe mich sowieso gefragt, wie das für dich in Ordnung sein kann. Wahrscheinlich war sie zu sehr von ihrem neuen Stecher abgelenkt.“
Vielleicht war Sticheln nicht die beste Methode, um den Konflikt zu lösen, aber zumindest würde es Max helfen seinen Frust abzubauen, wenn er seinem Groll erst einmal freien Lauf lassen konnte.
„Ich meine, Mum hatte öfter neue Freunde. Ich musste oft zurückstecken und das war auch immer okay für mich. Aber warum sucht sie sich ausgerechnet den Typen und nimmt ihn und seine Taten auch noch in Schutz?“
Johnny konnte darauf selbst keine Antwort geben. Außer vielleicht irgendwelcher schlechter Klischees, dass Frauen nun mal manchmal schwer zu verstehen waren, oder dass die Arschlöcher immer das Mädchen bekamen. Allerdings war ihm bewusst, dass das wenig hilfreich wäre. So schwieg er eine Weile, ehe er mit den Schultern zuckte. „Ich kann dir das wirklich nicht beantworten.“
Mit nachdenklicher Miene schlurfte Johnny durch den Hotelflur und kaute auf seiner Unterlippe. Das Gespräch mit Max ließ ihn einfach nicht los. Er war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er das Rufen hinter sich nicht bemerkte.
Für einen kurzen Augenblick hatte er das Gefühl, sein Herz wolle ihm aus dem Brustkorb herausspringen, als sich wie aus dem Nichts eine Hand schwer auf seine Schulter legte. Hektisch fuhr er herum und blickte in Roberts überraschtes Gesicht. Einen Moment lang fragte er sich, ob sein Freund es heute darauf anlegte, es sich mit ihm zu verderben.
„Ich wollte dich nicht erschrecken“, erklärte Robert und schenkte ihm ein Lächeln, das ihn fast ein wenig beruhigte, „Ich hatte dich gerufen und gedacht, du hättest mich gehört.“
„Habe ich aber nicht“, murrte Johnny genervt und schob die Hand von seiner Schulter, ehe er seine Hände in die Hosentaschen gleiten ließ.
„So tief wie du in Gedanken warst – kein Wunder“, Robert passte seine Geschwindigkeit an und sah ihn von der Seite her neugierig an, „Max hast du wohl nicht finden können.“
„Doch“, mehr wollte Johnny eigentlich nicht sagen. Es war Max‘ Angelegenheit – noch dazu eine sehr persönliche. Wer war er überall herum zu erzählen, dass Judy Tate mit Boris Balkov vögelte und dabei ihren Sohn vollkommen vergaß?
„Aber?“, hakte Robert nach und rückte ein Stück näher, fast so, als sei ihm bewusst, dass es um eine schwierigere Angelegenheit ging. Als Johnny nicht antwortete, fügte er hinzu: „Wo ist er denn?“
„Im Zimmer. Hat keinen Hunger.“
„Habt ihr euch zerstritten?“
Johnny blieb schlagartig stehen und starrte seinen Teamcaptain an. Die Verärgerung stand ihm deutlich im Gesicht, als er mit Nachdruck sagte: „Ich bin nicht immer das Problem, wenn sich jemand schlecht fühlt!“
Roberts Finger umklammerten sein Handgelenk, fast so, als befürchtete er, dass Johnny andernfalls das Weite suchte. Es war kein grober oder harter Griff, sondern gerade fest genug, dass er sich nicht einfach losreißen konnte. Ihre Blicke trafen sich. „Habe ich das denn gesagt? Johnny, du solltest wissen, dass ich deine Gesellschaft sehr schätze. Daher gehe ich auch nicht davon aus, dass andere sich in deiner Nähe unwohl fühlen.“
„Mir doch egal“, murmelte Johnny schroff und entspannte sich etwas, als Robert seine Hand zurückzog und ihn etwas schief ansah. „Mir ist aber nicht egal, wenn mein bester Freund hier wie sieben Tage Regenwetter herumläuft. Also: Was ist los?“, wie zur Bekräftigung beugte sich Robert ein Stück nach vorne, Johnny sah zur Seite. Er hasste es, wenn Robert ihn soweit hatte, dass er ihm bereitwillig beinahe alles erzählen würde. Es war einer der seltenen Momente, wenn niemand sonst anwesend war, in denen Robert wirklich ein guter Freund war – und weniger der versnobte Adelige und rastlose Geschäftsmann, dessen einziger Lebensinhalt es zu sein schien, genau so zu funktionieren, wie man es von ihm erwartete.
„Es ist nichts. Max hat familiäre Probleme und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll“, er biss sich auf die Unterlippe und überlegte, wie viel er Robert erzählen wollte. Er wusste, dass Robert schweigen, dass er keine Gerüchte verbreiten würde. Sein innerer Konflikt rührte nicht daher, dass er Robert nicht vertraute – sondern daher, dass er Max Mitwisser ersparen wollte.
Dann wiederum... wie lange würde es bei Judy Tates Verhalten wohl dauern, bis die Beziehung öffentlich war? Was machte es für einen Unterschied, wenn Robert es zwei Wochen eher erfuhr?
„Judy Tate hat einen neuen Lover“, schob Johnny zögerlich nach einer kurzen Pause nach, „Damit käme Max ja generell gut klar, ist ja nicht das erste Mal. Aber diesmal ist es Boris Balkov. Und stell du dir doch mal vor, deine Mum vögelt ausgerechnet mit Boris...“
Robert starrte ihn an und seine Miene wirkte plötzlich angespannt. Johnny kannte seinen Freund gut genug, um zu bemerken, dass etwas nicht stimmte. Da war dieser Hauch von Unsicherheit in seinen Augen, der Johnny irritierte.
„Ich kann mir vorstellen, wie sehr das Max trifft“, der bemüht ruhige Tonfall überdeckte geschickt, was Robert vor ihm verbergen wollte, „Ist eine unschöne Vorstellung.“
Die Reaktion wirkte auf der einen Seite aufrichtig, auf der anderen Seite war irgendetwas falsch. Mit gerunzelter Stirn musterte Johnny sein Gegenüber auf der Suche nach Anhaltspunkten, was Robert so aus dem Konzept gebracht hatte. Robert war ein zu guter Lügner, um sich grundlos so einen Fauxpas zu leisten. „Ist mit dir denn alles in Ordnung?“
Vielleicht hätte sein Freund geantwortet, vielleicht auch nicht. Johnny fand sich damit ab, dass er es vorerst nicht erfahren würde, denn sie wurden grob unterbrochen, als ein lautes „Cavolo!“ durch den Flur hallte. Die erfreute Stimme des Italieners ließ den Schotten herumfahren, nur um zu sehen, wie der blonde Gigolo in seinen überteuerten Designerklamotten von einem Ohr zum anderen grinste.
Enricos Haare waren perfekt frisiert und wirkten mit seinem aktuellen, kürzeren Haarschnitt eher leicht gelockt, als dass sie in alle Richtungen abstanden. Seit ein paar Wochen hatte er zudem den Tick zu allen Gelegenheiten eine Sonnenbrille zu tragen. Beispielsweise in einem Hotelflur. Der keinen natürlichen Lichteinfall hatte.
Über seinem weißen Hemd, dessen Ärmel er ein Stück nach oben gekrempelt und dessen obere Knöpfe er nicht geschlossen hatte, trug Enrico eine graue, geschlossene Weste, der man ihren überteuerten Preis viel zu sehr ansah. Seine Hose war farblich perfekt auf die Weste abgestimmt und ließ ihn gemeinsam mit den braunen Kalbslederschuhen reich und edel erscheinen. Was er schließlich auch war. Die gold-blaue Rolex vom Modell Submariner am Handgelenk und die goldene grobgliedrige Kette, die sich rund um seinen Hals legte, bestätigten diesen Eindruck nur.
„Ist das nicht wunderbar?“, schob er wie zur Bekräftigung seiner Aussage nach, als er seine beiden Freunde erreicht hatte, und legte jeweils einen Arm um Johnny und Robert, während er sie mit in Richtung Speisesaal zog. Als der Italiener Johnnys irritiertes Gesicht sah, grinste er nur umso mehr und zwinkerte ihm zu: „Ich habe seit Monaten keinen Kohl mehr gegessen!“
Wenigstens Einer, dem es hier zu gefallen schien.
Während des Essens wäre Johnny am liebsten in Grund und Boden versunken. Er spürte die neugierigen und fragenden Blicke, die sich in seinen Rücken bohrten und das Gesprächsthema Nummer Eins schien der gestrige Brand im Hotel zu sein. Johnny konnte den anderen Beybladern ihre Neugier nicht verübeln – glücklich war er darüber jedoch genauso wenig. Allem Anschein nach hatten die übrigen Teilnehmer des Beyblade-Trainings bereits am Morgen nähere Informationen zu dem Vorfall erhalten, es war also nicht so, als hätte man sie im Unklaren gelassen.
Wenn Max hier an seiner Stelle gesessen hätte, hätte er allen die Geschichte seiner heroischen Taten erzählen können. Aber Johnny selbst hatte wenig zur Rettung von Kai und Daichi beigetragen und seine Motivation sich als Held feiern zu lassen war gering. Gerade, weil er wusste, welchen Ruf er genoss, hatte er keine Lust, dass irgendwelche Gerüchte über ihn und sein Verhalten die Runde machten.
Immerhin hatten Enrico und Oliver den Anstand, nicht sofort nach den Geschehnissen zu fragen. Erst nachdem sich Enricos Selbstgespräch über die Schmackhaftigkeit von Kohl-Speisen gelegt und Oliver sich nach Johnnys Befinden erkundigt hatte, nötigten sie ihn dazu zu berichten, was genau am vergangenen Abend geschehen war. Johnny erzählte nur, was nötig erschien, und dachte auch gar nicht daran, seine Begegnung und Aussprache mit Salamalyon zu erwähnen.
Er war dankbar, als der helle Klang eines Teelöffels, der vorsichtig gegen Glas hämmerte, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zog. Stanley Dickenson stand in vertrauter Gestalt, mit dem gewohnten braun-grauen Anzug und der roten Fliege, vor ihnen und lächelte zufrieden in die Runde. Als er sich vergewissert hatte, dass alle Beyblader ihn bemerkt hatten, begann er zu sprechen:
„Meine lieben Beybladerinnen und Beyblader, es freut euch sicher alle zu erfahren, dass Kai und Daichi auf dem Weg der Besserung sind und angekündigt haben, nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wieder zu unserem Training hinzuzustoßen. Nach den gestrigen bedauerlichen Vorfällen, haben wir neue Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, damit ihr so sicher wie möglich eurem Training nachgehen könnt. Da wir diese im Verlauf des Nachmittags in den Trainingsräumen umsetzen möchten, sind sie für eine gewisse Dauer nicht nutzbar“, ein enttäuschtes Raunen ging durch die Menge, das Mister Dickenson geschickt mit einem Lächeln überging, „Das soll uns jedoch mit Sicherheit nicht vom Sinn und Zweck dieses Trainingsaufenthaltes abhalten!“
Der alte Mann schien die interessierten und neugierigen Blicke, die auf ihn gerichtet waren, richtig zu genießen und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er endlich weiter sprach: „Ebenso wichtig wie das Training der Beyblade-Fähigkeiten ist für einen Beyblader das Training von Körper und Geist. Aber Beyblade ist schon lange kein Einzelsport mehr und es ist wichtig, mit anderen Beybladern zusammen zu arbeiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen und so letzten Endes gemeinsam an einem Strang zu ziehen, um Ziele zu erreichen. Diese Übung hilft optimal dabei, euren Partner besser kennen und schätzen zu lernen.“
Die Spannung im Raum schien ins Unermessliche zu steigen und auch Johnny runzelte irritiert die Stirn und hoffte, dass sich der komische Kauz nicht irgendeine bescheuerte Vertrauensübung-Trainingseinheit überlegt hatte.
„Ihr werdet gemeinsam ein Zimmer gestalten.“
Alle Anwesenden starrten den Leiter der BBA an.
„Aber es soll nicht irgendein Zimmer sein! Es soll für beide Partner ein Traumzimmer werden. Daher ist es wichtig, dass ihr miteinander arbeitet. Wir haben hierzu ausreichend leere Zimmer zur Verfügung, ebenso hat die BBA keine Kosten und Mühen gescheut, Möbel und Einrichtung heranzuschaffen, die ihr nutzen könnt.“
Ein genervtes Murren ging durch die Menge, doch Dickenson ließ sich davon nicht beirren: „Bis morgen früh müssen alle Zimmer fertig sein. Ihr habt außerdem die Aufgabe festzuhalten, wo sich in eurem Zimmer die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeigen. Genauere Anweisungen findet ihr dann vor Ort. Ich wünsche euch viel Spaß!“
Johnnys Augen verfolgten aufmerksam die gezielten Bewegungen des Bleistifts, den Max geschickt über das Papier gleiten ließ. Max schien es inzwischen wieder besser zu gehen und der matte und erschöpfte Gesichtsausdruck war nun einem leichten Lächeln gewichen, als er den Plan des Zimmers mit ein paar Strichen ergänzte.
Die Stirn des Schotten legte sich in Falten. „Willst du wirklich den Schreibtisch da drüben beim Fenster hin stellen? Das lenkt doch total ab und die Sonne blendet. Ich fände es viel besser, wenn er hier steht, in Richtung Tür“, er deutete auf eine Stelle auf dem Papier, „Dann könnte man das Bett ans Fenster stellen und kann nachts gut die Sterne sehen.“
„Natürlicher Lichteinfall hilft beim Konzentrieren“, konterte Max und sah auf, „Ich täte mir schwer damit, die ganze Zeit die Tür anzustarren, während ich arbeite.“
Die Beiden starrten sich einige Momente lang schweigend an, wobei Johnny das Gefühl überkam, dass Max mit dieser Art der Kommunikation nicht viel anfangen konnte. Johnny seufzte und fuhr sich durch die Haare: „Wie wäre es, wenn wir den Schreibtisch hier in die Ecke neben dem Fenster stellen und das Bett hier an die Rückwand. Tageslicht zum Arbeiten und Sternenlicht zum Schlafen. Alle sind glücklich.“
Der Amerikaner grinste zustimmend und verbesserte seine Skizze passend zu ihrer Einigung. Nach und nach fügten sie die übrigen Möbel in den Raum ein, wobei sie immer wieder diskutierten, in welcher Ecke was aus welchem Grund am besten aufgehoben wäre. Erst nachdem sie jedes Detail besprochen hatten (denn sie waren darin übereingekommen, dass ein Plan sinnvoller war, als die zusammengebauten Möbel immer wieder hin und her zu schieben, bis sie sich geeinigt hatten), machten sie sich auf den Weg zu ihrem „Zimmer“, das sie nun gestalten durften.
Als sie den Raum verließen, kam Johnny nicht umhin, Max für seine gespielte Lockerheit zu bewundern. Ihm war noch gut in Erinnerung, wie aufgebracht er vor zwei Stunden noch gewesen war und die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei ihrer Arbeit auf Judy Tate trafen war... sehr groß. Aber gut, vielleicht war Max niemand, der vor der Auseinandersetzung davon lief.
Johnny wünschte sich selbst diese Stärke. Er senkte seinen Blick, schob die Hände in die Hosentaschen und trottete langsam hinter seinem Partner her. Erst als sie in den Gängen ankamen, in denen die einzelnen Teams bereits fleißig arbeiteten, und ihnen das bunte Durcheinander von Diskussionen und Streitgesprächen entgegenkam, sah Johnny auf, um in das eine oder andere Zimmer zu linsen und die bisherige Arbeit der anderen zu begutachten. Lee war gerade dabei einen Schrank aufzubauen, während Enrico an seinem Smartphone herumspielte. Robert warf Brooklyn, der es sich auf dem Fensterbrett bequem gemacht hatte und nach draußen in den Himmel starrte, verächtliche Blicke zu, während er in Eigenregie einen Zimmerplan anfertigte. Mariah und Emily waren bereits dabei das Zimmer zu dekorieren, wie sie es geschafft hatten die Möbel so schnell aufzubauen, war Johnny ein Rätsel.
Ihr eigener zu gestaltender Raum lag am Ende des Ganges und die Tatsache, dass sie die Möbel vom Gemeinschaftsraum ganz vorne bis hier her tragen mussten, brachte Johnny jetzt schon dazu, von der ganzen Aktion mehr als genervt zu sein. Ob er glücklich darüber sein sollte, dass sie die Möbel nicht im Ganzen transportieren mussten, sie dafür aber auch selbstständig den Aufbau übernehmen durften? In dem Moment wurde Johnny klar, dass er in seinem Leben noch nie auch nur ein Regal aufgebaut hatte.
Mit einem Streifen Tesafilm befestigte Max ihren Zimmerplan an der Innenseite der Tür, so gingen sie sicher, dass sie den Zettel nicht verloren. Als nächstes mussten sie die Möbelteile in das Zimmer schaffen. Gemeinsam gingen sie nach vorne.
Der helle Gemeinschaftsraum, in dem normalerweise mehrere Tische und Stühle standen, war vollgestopft mit Möbelteilen, Verpackungen und sonstigen Dingen, die man für die Einrichtung eines eigenen Zimmers gebrauchen konnte. Es wirkte geradezu chaotisch, was vermutlich daran lag, dass unzählige Beyblader vor ihnen den Fundus an Materialien durchwühlt hatten.
Es dauerte eine Weile, bis sie genau die passenden Möbel gefunden hatten – der Schreibtisch mit der passenden Größe, das geeignete Bett... Sorgfältig stapelten sie ihre Auswahl übereinander und lehnten sie an die Wand, um sie nacheinander in ihr Zimmer zu tragen.
Johnny wurde schnell klar, warum seine Eltern diese Arbeit für gewöhnlich das Personal oder eine entsprechende Firma erledigen ließen. Nachdem sie alles Material im Gang vor ihrem Zimmer gegen die Wand gelehnt hatten, machten sie sich daran, den Schreibtisch aufzubauen. In ihrem Zimmer hatten sie einige Werkzeuge, die ihnen die Arbeit erleichterten. Die Bauanleitungen selbst waren, sehr zu Johnnys Freude, leicht zu verstehen. Sie kamen zügig voran und es war ein erfreuliches Gefühl, etwas mit den eigenen Händen zu schaffen und das Ergebnis zu sehen.
Da sie sich vorher gut abgesprochen hatten, war ein weiteres Gespräch über die Einrichtung des Zimmers nicht nötig und sie begannen darüber zu diskutieren, wie sie die Regale einräumen wollten. Zu Johnnys Überraschung war auch Max ein großer Freund von Videospielen und sie tauschten sich über die neusten Veröffentlichungen aus, während sie den Kleiderschrank zusammensetzten.
Als sie gerade die Rückwand des Fernsehschranks festschraubten, klopfte es an der verschlossenen Zimmertür. Noch ehe einer von ihnen reagieren konnte, öffnete sich die Tür einige Zentimeter und der Kopf von Emily schob sich durch den Spalt. Die beiden Jungen sahen den Eindringling, der zunächst damit beschäftigt schien, ihren aktuellen Stand einzuschätzen, fragend an.
„Max, deine Mutter würde gerne mit dir sprechen“, meinte Emily und schob ihre Brille zurecht, „Sobald du mit der Aufgabe fertig bist, versteht sich.“
„Danke, Emily“, nickte Max ihr mit einem Grinsen zu, während Johnny darüber fluchte, dass die Vorbohrung zu klein ausgefallen war. Erst als das Mädchen verschwunden war, sah er von seiner Aufgabe auf und seinen Teampartner besorgt an. „Schon bereit dafür?“, fragte er und legte den Akkubohrschrauber zur Seite. Das Brett hielt nun zu seiner vollen Zufriedenheit.
„Muss ja“, war die Antwort, doch Max erschien wieder angespannt, „Ich hatte gehofft, wenn ich einfach nicht daran denke, dann muss ich mich auch nicht mit der neuen Beziehung meiner Mutter befassen.“
Johnny konnte diese Gedanken nur zu gut nachvollziehen. Er kannte das Gefühl nur zu gut, der Realität entkommen zu wollen. „So funktioniert das Leben leider nicht“, meinte er und schloss die eben befestigte Schranktür, um seine Arbeit zu überprüfen, „Aber vielleicht ist es gar nicht schlecht, wenn ihr darüber sprecht und so das Problem vielleicht aus der Welt schafft.“
Max schnaubte leise, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Erst einmal ist es wichtiger, dass wir das Zimmer fertig bekommen.“
So arbeiteten sie weiter, bis auch der Bürostuhl und der Fernseher am passenden Fleck standen. Nach einem kurzen, stolzen Moment des Schweigens, traten sie den Rückweg zum Gemeinschaftsraum an. In der hinteren Ecke standen verschiedene Einrichtungsgegenstände: über dekorative Figuren und Gemälde, hin zu zahlreichen Blu-Rays und DVDs, sowie Laptops, Konsolen und Videospielen, wobei das meiste Pappattrappen waren – sehr zu ihrer Enttäuschung. Ein Playstation-Match mit dem Game „BBA 2016“ wäre ein wunderbarer Abschluss ihrer harten Arbeit gewesen.
Sie packten zusammen, was sie gebrauchen konnten und diskutierten ein letztes Mal über das Ordnungssystem – während Max die Filme gerne nach Genre oder zumindest dem Alphabet geordnet hätte, war Johnny der Ansicht dass diese sowieso nicht lange halten würde und damit unnötig war. Da das Zimmer selbst jedoch nicht genutzt werden würde, einigten sie sich auf die Genre-Ordnung.
Und dann waren sie fertig. Stolz betrachteten sie ihr Werk und ließen sich erstmal auf das Sofa fallen. Sie waren geschafft von der Arbeit, aber Dickenson hatte ihnen ja eine ganz wunderbare Zusatzaufgabe aufgetragen: Festzuhalten, wo sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die sie hatten, in ihrem Zimmer zeigten.
Es war eine ätzende Arbeit und kurz diskutierten sie darüber, ob es nicht auch in Ordnung wäre, die Aufgabe einfach unter den Tisch fallen zu lassen. Dann wiederum wollten sie möglichst gut abschneiden – wer wusste schon, welche Aufgaben sie noch erwarten würden?
Als Max zum Treffen mit Judy Tate aufgebrochen war, hatte Johnny sich dazu entschieden Robert aufzusuchen. Der Deutsche saß mit genervter Miene alleine in „seinem“ zu gestaltenden Zimmer, als er Johnny sah, richtete er sich auf.
„Was willst du denn hier? Helfen?“
„Wenn es notwendig ist – siehst ja ziemlich verzweifelt aus“, Johnny trat ein und schloss die Tür hinter sich, „Wo ist denn dein Partner?“
„Da musst du nicht fragen, ich weiß es nicht. Wo steckt deiner?“, Robert klopfte sich Holzstaub von der Kleidung und lehnte sich dann mit einem leichten Grinsen auf den Lippen gegen den Beistelltisch, „Und pass auf, ich nehme dein Angebot noch an. Klingt einfach zu gut.“
„Max hat ein Gespräch mit seiner Mutter wegen... Boris“, da sein Gegenüber die Umstände kannte, machte es in Johnnys Augen keinen Sinn um den heißen Brei herum zu reden, „Die beiden hatten sich ja heute vor dem Mittagessen schon einmal in den Haaren...“
Robert hielt inne und runzelte die Stirn, dann lief er in Richtung Tür, wobei er Johnny eine Hand auf den Rücken legte und ihn mit sich schob.
„Du wolltest mit mir reden, Mum?“, Max stand mit verschränkten Armen in der Tür des Gemeinschaftsraums, in dem nach wie vor zahlreiche Möbelteile und Einrichtungsgegenstände gelagert waren, und blickte seine Mutter mit bemüht ruhiger Miene an.
„Schön, dass du es einrichten konntest“, in ihrer Stimme klang ein unausgesprochener Vorwurf mit und sie deutete auf einen der Stühle, eine stumme Aufforderung, sich zu setzen. Max folgte der Anweisung schweigend, wenngleich widerwillig. Er wusste, dass es wenig Sinn hatte, sich quer zu stellen, wenn er ein zielführendes Gespräch mit Judy führen wollte. Judy stand mit tadelnder Miene an einen der Tische gelehnt.
„Max, ich bin enttäuscht, wie kindisch du dich benimmst. Es muss doch möglich sein, die Sache vernünftig zu klären.“
„Wir können die Sache gerne vernünftig klären“, Max Anspannung war deutlich zu sehen, „Wenn du einfach beginnen würdest.“
Judy bedachte ihn mit einem skeptischen Blick. „Das habe ich bereits. Es geht um dein unmögliches Verhalten. Man könnte meinen, du bist inzwischen alt genug und hast eine gewisse Reife. Was du dir heute geleistet hast, war beschämend. Ich bin enttäuscht, Max.“
Der junge Amerikaner starrte seine Mutter an, dann sprang er von seinem Stuhl auf. „Du bist enttäuscht? Wer verheimlicht denn seine Beziehung mit einem Psychopathen-“
„Ich verbitte mir diesen Ton!“
„und erwartet von mir Verständnis dafür, dass der neue Stecher wichtiger ist, als den eigenen Sohn im Krankenhaus zu besuchen?!“, es platzte einfach aus ihm heraus und er wusste, dass es falsch war, dass es die Situation nicht besser machte. Und trotzdem war es nichts, was er auf sich beruhen lassen konnte.
„Es ist für mich in Ordnung, wenn du diesen Kerl liebst“, zwang er sich zur Ruhe, „Aber es ist für mich nicht in Ordnung, wenn du alles, was er in der Vergangenheit getan hat, als Nichtigkeit abtust.“
Judy schnaubte und schüttelte den Kopf. „Das ist kindisch und oberflächlich, Max! Denk doch einmal darüber nach, was du sagst. Jeder macht Fehler. Jeder hat eine zweite Chance verdient. Du lässt dich hier von deinen Hassgefühlen blenden. Wahrscheinlich bist du auch eifersüchtig, weil-“
„Ich muss mir das nicht anhören“, Max bemühte sich sichtlich um Ruhe, presste angespannt die Lippen aufeinander. Er wusste nicht, was er sonst noch sagen sollte. Judy starrte ihn mit vorwurfsvoller Miene an und wirkte merklich enttäuscht. Sie setzte bereits zu neuen Vorwürfen an, doch Max hob seine Hand.
„Ich will es nicht hören“, und während er das sagte, drehte er sich zur Tür und stapfte hinaus. Erst jetzt bemerkte er, dass Johnny gemeinsam mit Robert im Gang stand und ihn mit bedrücktem Gesichtsausdruck ansah.
Robert warf Max einen Blick zu, als er an ihm vorbeistürmte, die Verärgerung stand ihm deutlich im Gesicht. Der Deutsche trat zum Gemeinschaftsraum, mustere Judy Tate genau und schien angestrengt zu überlegen, ob er sich wirklich äußern wollte - oder nicht. Sein Mitgefühl gegenüber Max schien zu siegen und er wirkte sehr ernst, als er sprach.
„Es ist nicht kindisch oder oberflächlich, einen Menschen nach seinem Handeln zu beurteilen. Menschen können viel sagen und behaupten. In ihren Kopf können wir nicht hineinsehen. Also müssen uns ihre Taten als Spiegel ihrer Seele dienen. Menschen zeigen durch ihr Handeln, wer sie sind“, er machte ein Pause und überging den mahnenden Blick Judys, „Welche Seiten Boris uns bisher gezeigt hat, sind seine manipulativen Fähigkeiten und sein krankhaftes Streben nach Macht, bei dem er auch bereit ist über Leichen zu gehen.“
Er hielt inne und für einen kurzen Augenblick schien es, als wolle Judy etwas einwerfen – doch dann schüttelte sie abfällig den Kopf und wandte sich ab. „Ich denke nicht, dass ich meine privaten und familiären Angelegenheiten mit Ihnen besprechen muss, Herr Jürgens.“
„Dann sollten Sie vielleicht darüber nachdenken, einen vernünftigen Tonfall einzuschlagen, wenn Sie mit denen darüber reden, die diese Angelegenheiten betreffen“, Roberts Blick war überraschend kalt und abwertend, „Zweite Chancen kriegt man nicht geschenkt. Man muss sie sich verdienen. Einen schönen Tag noch.“
Damit machte er auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer.
Wahrscheinlich hatte Robert gedacht, dass er ungesehen auf die Hotelterrasse entschwunden war, doch Johnny war sein unruhiges Verhalten und seine angespannte Haltung nach dem Gespräch mit Judy aufgefallen und er hatte ihn im Auge behalten. Selbst Robert neigte gelegentlich zu Dummheiten.
Er folgte Robert und die frische Luft und der Sonnenschein erinnerten ihn daran, wie viel Zeit er bereits im Hotel verbracht hatte. Das Tageslicht tat ihm gut. Ob er später noch Zeit finden würde, das gute Wetter zu nutzen?
Johnny sah sich um und erblickte Robert neben dem Aschenbecher mit geschlossenen Augen an die Hotelwand gelehnt mit einer Zigarette in der Hand, die leicht zitterte. Für einen Moment beobachtete er, wie Robert langsam den Qualm ausstieß, dann trat er etwas näher. „Du wolltest aufhören.“
Robert öffnete seine Augen und musterte sein Gegenüber kurz, ehe er einen weiteren Zug an seiner Zigarette nahm. „Hatte ich auch. Das ist meine erste seit zwei Jahren. Das weißt du.“
Johnny erwiderte seinen Blick und schob seine Hände in die Hosentaschen, ehe er neben Robert trat und den Platz neben ihm einnahm. „Was ich aber nicht weiß, ist, warum du jetzt wieder anfängst.“
Es herrschte einvernehmliches Schweigen. Robert rauchte, starrte dabei in die Ferne, und Johnny genoss das Sonnenlicht, wohlwissend, dass sein Freund ihm sagen würde, was los war, sobald er bereit dazu war.
„Ich habe es selbst erst sehr spät erfahren“, begann er und drückte die Reste seiner Zigarette im Aschenbecher aus, „Aber wahrscheinlich hätte ich es wissen müssen. Ich meine, es ist ja fast schon zu offensichtlich.“
Johnny beobachtete seine Bewegungen, der Geruch nach Rauch haftete unangenehm an Robert. Er wirkte unschlüssig, was er sagen und tun sollte. Vermutlich hatte er nur die eine Zigarette gehabt und die erhoffte Erleichterung hatte sich nicht eingestellt.
„Ich kann dir nicht mal sagen, wie genau es dazu gekommen ist, was meine Mutter dazu bewegt hat“, Robert holte tief Luft und starrte wieder auf irgendeinen Punkt in der Ferne, „Boris ist mein biologischer Vater.“
Der verbitterte Tonfall schwang hörbar in seiner Stimme mit und Johnny wagte es nicht, ihn zu unterbrechen, wusste er doch selbst nicht genau, wie er mit dem neuen Wissen umgehen sollte. Es war so unvorstellbar. Dann wiederum...
Robert schnaubte.
„Als das herauskam – in dem Moment war es aus mit der liebevollen Familie, in der ich groß geworden war. Die Beziehung zu meinem Vater war zerstört und so sehr ich mich bemühte, ihn durch meine Leistungen zu überzeugen... er sah nicht mehr seinen Sohn, sondern das Kind dieses... Kerls. Und ich kann es ihm nicht mal verübeln. Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel sehe, sehe ich, was ich nicht sein möchte.“
Es bedurfte keiner Worte zwischen ihnen. Sie standen da, dicht nebeneinander, schweigend.
Das neue Wissen bescherte Johnny einen neuen Blickwinkel auf seinen besten Freund. Wie er sich immer wieder selbst zu den besten Leistungen anspornte, um seinem Vater und vor allem sich selbst seine Wertigkeit zu beweisen und er sich nie eine Blöße erlaubte. Vermutlich hatte er das Rauchen zu dem Zeitpunkt angefangen, als sein Leben so durcheinander geraten war.
Johnny seufzte, dann zog er eine Packung Kaugummi aus seiner Hosentasche heraus und hielt sie seinem Freund unter die Nase: „Ist besser als die Zigaretten. Killt dich auch nicht so schnell.“
Er kannte Robert gut genug, um das Schnauben als Lachen zu deuten, als er sich einen der Streifen nahm, ihn auswickelte und sich in den Mund schob.
„Vielleicht solltest du es positiv sehen“, murmelte Johnny und drückte seinem Gegenüber die restliche Packung in die Hand, in der Hoffnung, er würde sie künftig den Zigaretten vorziehen, „Wenn sich die Sache so weiterentwickelt wie bisher, bist du bald mit Max verwandt. Und hey, ist dann Judy Tate nicht sowas wie deine Stiefmutter? Beziehungen sind doch heutzutage alles.“
Robert verdrehte die Augen, konnte den Anflug eines Grinsens jedoch nicht unterdrücken. „Ich bin in der Angelegenheit nicht sonderlich für Scherze aufgelegt, Johnny.“
Johnny sah ihn einen Augenblick durchdringend an, ehe er mit ernster Miene meinte: „Mir ist es egal, wer nun dein richtiger Vater ist und wer nicht. Du bist du. Du bist das, was du aus dir machst. Und da ist es unwichtig, wer nun dein Erzeuger ist. Ich schätze dich als meinen Freund so, wie du bist.“
Robert wirkte etwas entspannter, dennoch sah man ihm deutlich an, wie sehr in die Angelegenheit beschäftigte. Verständlicherweise.
„Und bevor du jetzt weiter Trübsal bläst“, Johnny redete, bevor er überhaupt wusste, was er sagen wollte, „Du hast ja mitbekommen, dass Max auch nicht so gut drauf ist. Ich denke, wir Drei setzen uns heute Abend zu einem gemütlichen Filmabend zusammen, damit ihr auf andere Gedanken kommt.“