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Grau und Weiß

Adventskalender Tag 22
von

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Grau und Weiß

Der Becher erschien mit einem leisen Klonk vor ihm. Aromen von Fruchtsäften, Gewürzen und der absoluten Abwesenheit von Alkohol stiegen ihm in die Nase. Für den Moment hasste er Ja‘far, doch das sagte mehr über seine generelle Laune aus, als über ihre Beziehung zueinander.

Klamm schlossen sich Sinbads Finger um den Becher.

Vermutlich sollte er diesen Tag abhaken. Abhaken und vergessen. Diesen Tag, diese Reise und den Aufwand, den sie in sie gesteckt hatten.

„Sinbad, Sinbad, Sinbad“, flötete eine zu fröhliche Stimme hinter ihm, „du vergisst deine Manieren.“

Holz schabte über Stein, als Sharrkan und Spartos sich erhoben. In seinem Augenwinkel blieb Ja‘far stehen, plötzlich so reglos, wie er selbst. Argwöhnisch tauschten sie einen Blick. Sie beide kannten diese Stimme und ihr Besitzer hatte ein hundsmiserables Timing.

„Nun, dass ich sie vergessen kann, bedeutet zumindest, dass ich welche habe.“

Normalerweise hätten Worte wie diese Ja‘fars Protest ausgelöst, Protest, den er dem jahrelangen Einfluss Rurumus verdankte, doch dieser blieb aus. Stattdessen war es der Eindringling selbst, der das Wort ergriff.

„Aww, du verletzt mich“, schalt er ihn. „Ihr seid wirklich mit einem furchtbaren König geschlagen.“

Sinbad verdrehte die Augen.

„Yunan-san“, erwiderte Ja‘far langsam, ohne das Sinbad hätte heraushören können, ob es sich nur um eine distanzierte Begrüßung oder bereits um eine Warnung handelte. Yunan, jedoch, war für den kühlen Unterton entweder unempfänglich oder ignorierte ihn geflissentlich. Sinbad hörte ihn förmlich lächeln.

„Es freut mich, euch wiederzusehen“, verkündete Yunan hinter ihm. „Wie lange ist es her? Du bist gewachsen, Ja‘far. Und du Sinbad! Wie fühlt es sich an, alt zu werden?“

Sinbad knirschte mit den Zähnen, möglicherweise laut genug, dass alle Anwesenden ihn hörten. Selbst Spartos warf ihm zweifelnde Blicke zu, aber vielleicht lag das auch nur daran, dass er es noch immer nicht für nötig hielt, sich zu dem Magi umzudrehen, der hinter ihm aufragte. Oder ihn vorzustellen.

„Ich bin neunzehn, nicht neunzig.“

„Ja, und sieh dich nur an!“

Kurz fragte er sich, ob Yunan wirklich so nah hinter ihm stand, wie er in diesem Moment klang. Dann realisierte er, dass Sharrkan seine Hand mit der gleichen Präzision zum Heft seines Schwertes gleiten ließ, wie Ja‘far seine Hände in den Ärmeln verschwinden zu lassen pflegte. Der Blick des Jungen versicherte ihm nicht nur, dass Yunan ihm in der Tat viel zu nah war - sondern auch, dass der Magi darüber hinaus sogar die Nerven hatte, sich zu ihm hinunter zu beugen und seinen Rücken zu mustern, wie eine Warenauslage. „Deine Statur ist groß und ansehnlich geworden und deine Gesichtszüge haben ihren kindlichen Speck verloren.“

Warmer Atem strich sachte über die Haut in seinem Nacken. Die feinen Härchen, die dort wuchsen, kribbelten, als sie sich aufstellten.

„Danke“, presste er zwischen seinen Zähnen hervor. Sein Blick glitt zu der klaren, roten Flüssigkeit, die in seinem Becher schwamm. Ihr mochte der Alkohol finden, doch das sorgte nun nur dafür, dass ihm nun ein gutes Dutzend anderer Möglichkeiten einfiel, was er mit ihr tun konnte.

Schmale, lange Finger legten sich auf seine Schultern. Sinbad spürte den sanften Druck sogar durch den dichten Stoff seiner Tunika hindurch.

„Und sieh dir nur deine Schultern an, so breit und so muskulös! Und doch schon so verspannt, wie die eines alten, verbitterten-“

„Yunan.“

Nur Ja‘fars finsterer Blick sorgte dafür, dass der Fruchtpunsch in seinem Becher blieb.

„Du bist wirklich furchtbar verspannt, mein Lieber.“ Der Druck auf seinen Schultern wurde stärker. Deutlich spürte Sinbad, wie Yunan seine Finger gegen seine Haut drückte. Erst einen Augenblick später verstand er, dass Yunan ihn massierte. Einen Augenblick nach Spartos überdies, denn dieser wurde im Licht der Laternen, die die Taverne erleuchteten, seltsam blass. 

„Hast du in deinem Haushalt wirklich niemanden-“

„Das reicht!“

Mit einem Ruck stand er. Dumpf prallte sein Stuhl hinter ihm gegen Yunan und blieb, unglücklich verkeilt, zwischen ihnen hängen. Die Sitzfläche presste sich unangenehm in seine Kniekehlen, doch das Wimmern, das er hörte, war es ihm wert. Einen langen Moment stemmte er seine Knie gegen den Stuhl, dann erst machte er den nötigen Schritt zu Seite, damit er sich umdrehen und Yunan ansehen konnte. Zwischen ihnen fiel der Stuhl achtlos zu Boden.

Der Magi indes krümmte sich leicht, beide Hände vor dem Bauch verschränkt. Tränen funkelten in seinen Augenwinkeln.

„Au! Sinbad, du gemeiner Schuft! Du hast mich verletzt!“

„Sagst ausgerechnet du.“

Die Tränen des anderen versiegten nicht, im Gegenteil.

„Was habe ich dir getan?“

„Das weißt du ganz genau.“

„Nein, weiß ich nicht!“

Seufzend warf Sinbad einen Blick über seine Schulter. Tatsächlich erwiderten Sharrkan und Spartos die Geste mehr irritiert als souverän, der eine die Augenbrauen zusammengezogen, der andere immer noch blass, als hätte er besonders amoralische Dinge gesehen. Nur Ja‘far saß mittlerweile wieder und verschwand hinter einem großen, dampfenden Becher Kaffee.

Schließlich gab er nach. 

Ohne darauf zu warten, dass Yunan ihm folgte, ohne überhaupt etwas zu sagen, schritt er an ihm vorbei. Einem Impuls folgend griff er nach dem langen, dünnen Zopf. Er musste nicht daran ziehen. Yunan folgte ihm auch so, jammernd und weinend und nicht ohne dabei noch dreimal sein furchtbares Verhalten und seine fehlenden Manieren zu kritisieren.

Ohne auf den Protest zu reagieren, stieß er die Tavernentür auf und trat ins Freie. Das leise Tuscheln seiner Begleiter, das aufgeflammt war, kaum dass er einen Schritt getan hatte, verstummte. Schnee knirschte unter seinen Stiefeln. Ein kalter Wind umfing ihn und brachte Eiskristalle mit sich. Unter den langen Ärmeln seiner Tunika stellten sich die Härchen an seinen Armen auf und erinnerten ihn daran, seinen Mantel bei seinen Begleitern vergessen zu haben.

Einige Dutzend Schritte von der Taverne entfernt und außerhalb des Lichtkreises, den die Fenster des Gebäudes warfen, blieb er schließlich stehen und drehte sich um.

Selbst im schummrigen Dämmerlicht wirkten Yunans Augen verquollen. In dem wenigen Licht, das sie erreichte, glitzerten seine Wangen feucht.

Ihre Blicke trafen sich.

„Du tust mir weh.“

Fragend zog Sinbad eine Augenbraue in die Höhe. Langsam sah er an Yunan hinab. Geflissentlich ignorierte er dabei, wie sich die Tränen an Yunans Kinn sammelten und auch die Schneeflocken, die auf dem Stoff seiner grünen Robe landeten und langsam schmolzen. Schließlich blieb er an seiner eigenen Hand hängen, die noch immer locker Yunans Zopf hielt. In der Dunkelheit schimmerten seine Haare weniger blond, als silbrig grau. Erst jetzt sah er, dass auch Yunan selbst seinen Zopf ein kleines Stück weiter oben erfasst hatte. Seine Haut wirkte so weiß wie sein Haar und neben Sinbads eigener, gebräunter Hand beinahe krank. Dennoch zweifelte Sinbad nicht daran, dass Yunan genug Kraft besaß, um ihn davon abzuhalten, ernsthaften Schaden anzurichten, sollte er auf die Idee kommen, tatsächlich zu ziehen.

„Die Menschen in diesem Dungeon können das nicht mehr sagen.“

Vorsichtig, beinahe so, als würde er Sinbad weiterhin zutrauen, spontan an seiner Frisur zu zerren, lockerte Yunan seinen Griff. Für einen Moment sahen sie beide dabei zu, wie der Zopf langsam ein Stück hinab glitt, bis Sinbads Griff die Bewegung stoppte. Schneeflocken landeten in den Haaren und verschwanden.

„Darum geht es dir also.“

Sinbad nickte.

Als Antwort ließ Yunan endgültig von seinen Haaren ab. Stattdessen tastete er nach Sinbads Hand, zaghaft nur, fast so, als frage er stumm um Erlaubnis. Erst als er sich nicht sofort der Berührung entzog, ließ Yunan seine Finger über Sinbads Haut fahren, bis er die Hand ganz umfasste. 

„Glaubst du, ich hätte den Dungeon versinken lassen, hättest du dich in ihm befunden?“

Glaubte er das? Eigentlich nicht, aber er wäre ein Narr, würde er Yunan noch immer so blind vertrauen, wie er es vor fünf Jahren getan hatte.

„Es geht nicht um mich“, antwortete er schließlich.

„Ich hätte den Dungeon nicht versinken lassen, hätte sich noch eine lebende Seele in ihm befunden.“

„Kannst du das mit dieser Bestimmtheit sagen?“

Statt zu antworten, strich Yunan mit dem Daumen über die Rücken seiner Finger. Langsam, beinahe schon einlullend, hypnotisch. Sinbad blinzelte unwillkürlich, obwohl er die Bewegungen aufgrund seiner Handhaltung nicht einmal sehen konnte.

„Ich war zwei Monate in Baal.“

Yunan beugte sich zu ihm vor, so weit, dass die Krempe seines Hutes seine Stirn berührte. Vermutlich versuchte er Sichtkontakt herzustellen, doch Sinbad blickte nicht auf. Noch immer starrte er auf sein Hand, wo Yunans Daumen die beiden Ringe gefunden hatte, die er trug.

„Du bist außergewöhnlich, Sinbad.“

Yunans Atem strich in weißen Wölkchen über seine Haut, dort, wo die Tunika seinen Hals nicht vor der Kälte verdeckte, und hinterließ ein warmes Gefühl.

„Eine erstklassige Singularität.“

„Wenn du es so ausdrücken möchtest.“

„Tsk. Wann ging es dir je darum, was ich möchte?“

Yunans Daumen stoppte abrupt, halb in dem Versuch, Zepars Ring einmal um seinen Mittelfinger zu drehen.

„Immer.“

Nun sah Sinbad doch auf. Ihre Blicke trafen einander. Erst jetzt wurde ihm klar, dass Yunan vermutlich jede seiner Regungen, jedes Blinzeln und jedes Stirnrunzeln, genauestens verfolgt hatte. So, wie er ihn jetzt dabei beobachtete, wie er die Stirn in Falten legte und die Augenbrauen zusammenzog.

Für einen Moment tat Sinbad das Gleiche. In der Dunkelheit konnte er Yunans Augenfarbe nicht erkennen, doch er sah den klaren Blick, mit dem er ihn musterte. Die Tränen waren versiegt, doch seine Wangen schimmerten noch immer feucht. Er konnte ihre Spur hinunter bis zu Yunans leichtem Lächeln verfolgen.

Sinbads Mundwinkel zuckten.

„Lügner“, schalt er ihn. „Glaubst du wirklich, du bist ein Wanderer ohne eigene Agenda?“

Yunan zog die Augenbrauen hoch, mehr auffordernd als fragend.

„Soll ich dir wirklich glauben, dass du mich einfach so in Baal geschickt hast? Einen Vierzehnjährigen?“

„Es stand nie in Frage, ob du Baal betrittst, Sinbad.“

Leise trat Yunan einen Schritt vor und überbrückte die letzte Distanz.

„Die Frage war, ob du es als du selbst tust.“

Sinbad spürte, wie auch Yunans zweite Hand nach der seinen tastete. Finger strichen behutsam über seine Haut. Warm gegen die Kälte der Nacht fuhren sie seine Konturen nach, über seine Ringe und über die Adern, die er unter seinem Handgelenk finden konnte.

„Der Dungeon, den ich habe versinken lassen, war nicht mein Werk. Es gibt drei Magi in dieser Welt. Ich bin der einzige von ihnen, der sich keinem Reich verschrieben hat.“

„Und ich bin dein Königskandidat.“

„Du bist dein eigener Königskandidat, Sinbad. Es ist nicht dein Schicksal, König zu werden. Du bist das Schicksal. Allein der Gedanke daran, was aus dir in den Händen Reims - oder einer anderen Nation - werden könnte, macht mir Angst. Du machst mir Angst.“

Vielleicht hätte er in besserem Licht sehen können, ob in Yunans Augen die Angst stand, von der er sprach. Er sah keine neuen Tränen und der jammernde Tonfall fehlte. Vielleicht sprach er die Wahrheit.

Dennoch - oder vielleicht deswegen - hob Sinbad den freien Arm, bis er Yunans Schulter unter seinen Fingern spüren konnte. Fast schon erwartete er ein Zittern unter dem feuchten Stoff zu fühlen, doch als er ihn berührte, war da nur die angespannte Ruhe, die er auch in den Worten des anderen hörte.

„Glaubst du, es könnte funktionieren?“, fragte er, während er sich langsam höher tastete, bis er Yunans Haut unter seinen Fingern spürte.

Yunans Lächeln wurde deutlicher.

„Du?“

Das leichte Beben seines Pulsschlags kribbelte unter Sinbads Fingerkuppen. Sein eigenes Lächeln schluckte die offensichtliche Antwort.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2015-03-20T14:36:02+00:00 20.03.2015 15:36
Am Ende zu viele Berührungen für meinen Geschmack, aber ich habe Gänsehaut und fands toll <3
Antwort von: Arcturus
20.03.2015 20:55
Danke für deinen Kommentar. :)
Was für Berührungen waren dir genau zu viel?


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