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Opus Magnum

von

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La Ténèbres et la Nuit - Opus III

Youma kehrte erst spät in dieser Nacht zurück in das Schloss seines Gebieters und obwohl mehrere Stunden seit dem Gespräch mit Raria vergangen waren, so spürte er immer noch die Wut in sich. Er ging zu emotional an die Sache heran, dessen war er sich bewusst, doch auch objektiv betrachtet war Rarias Vorhaben doch nichts anderes als hirnrissig! Umso länger er darüber nachdachte, umso wütender wurde er. Aber nicht nur auf sie, sondern auch auf sich selbst: warum hatte er nur nicht schon früher das Gespräch gesucht? Vielleicht hätte es denn noch eine Möglichkeit gegeben, das Unvermeidliche zu verhindern… aber jetzt sah er keinen anderen Weg als den, den Raria geplant hatte, nur dass ihr Vorhaben scheitern würde.

Es war zu spät, es aufzuhalten.

Nicht mehr lange und Kasra würde Ergebnisse sehen wollen und Raria hatte recht; wie lange würde er brauchen, um zu bemerken, dass Nocturn nicht sein Sohn war? Ob Raria darauf warten würde, bis er es herausfand, oder würde sie Nocturn vorher angreifen lassen?

Wie abstrus das Ganze in seinen Ohren klang.

Nocturn hatte doch keine Chance gegen Kasra.

Sie schickte ihn in den sicheren Tod.

 

Youma verlangsamte seine Schritte. Er war stehen geblieben, als ihn die Erkenntnis plötzlich mit voller Wucht traf und herunterzuziehen drohte.

Nocturn würde sterben.

Kasra würde mit ihm dasselbe Spiel spielen wie mit all den anderen, die er umgebracht hatte.

 

Youma zwang sich dazu weiter zu gehen, nicht an die Morde zu denken, bei denen auch er dabeigewesen war, diese Bilder zu unterdrücken, die sich ihm aufdrängten. Denk nach, beschwor er sich, denk nach – es musste eine andere Möglichkeit geben. Es musste. Er musste sich von seiner Wut befreien und das Ganze rational betrachten. Raria war eine intelligente Frau – und sie liebte Nocturn. Auf ihre ganz eigene Art; sie war zwar streng und der Gedanke, dass Nocturn „selbst schuld sei“… nein, den konnte Youma einfach nicht akzeptieren.

Aber würde sie Nocturn einer solchen Gefahr aussetzen, wenn sie nicht davon überzeugt wäre, dass er den Kampf gewinnen würde? Und was war seine Rolle in diesem großen Ganzen? War er wirklich einfach nur ein Teil des Publikums? Einfach nur Nocturns Trainingspartner? Aber bereits einmal hatte Raria bewiesen, dass sie vorausdachte; sie hatte darauf vertraut, dass er nichts über deren Trainingsort und ihre Existenz erzählen würde… vielleicht plante sie wieder voraus, immerhin hatte sie ihn nur vor die Tür gesetzt mit der Aufforderung, dass er am nächsten Morgen wieder zum Training auftauchen müsse.

Mehr und mehr bekam Youma das Gefühl, dass er nur einen Teil von ihrem Plan erfahren hatte. Es steckte mehr dahinter.

Aber was?

 

„Geht es meinem Kleinen gut?“

 

Youma hatte eben die massive Flügeltür geöffnet, die ihn zum Schacht bringen würde, der alle Etagen miteinander verband; doch als diese kleine, helle, hohe Stimme ertönte, da ließ er sie wieder los und mit einem Donnern fiel sie zurück ins Schloss.

 

Wachsam drehte er sich herum und war überrascht, die Person, die ihm gerade diese Frage gestellt hatte, weit entfernt von ihm stehen zu sehen; ihre Stimme hatte geklungen, als würde sie direkt hinter ihm sein…?

„Nathiel-san; guten Abend.“ Youma bemerkte es selbst; seine Stimme klang ein wenig nervös.  Aber weshalb? Es war vielleicht nicht unbedingt Nathiel als Person, die die Nervosität in ihm schürte, sondern der Eindruck, den sie hinterließ. Wie sie da stand; im Schatten der hohen Säulen, mitten auf dem roten Teppich, ihn nicht ansehend, sondern etwas an der Wand anstarrend… hing dort nicht das Gemälde Menuéts? Youma konnte es nicht genau sagen, da die Säulen ihm die Sicht versperrten, aber er war sich recht sicher… dieses riesige, nicht unbedingt hübsche Steingemälde, das Kasra für seine verstorbene „Frau“ hatte machen lassen und für das so viele hatten sterben müssen, weil Kasra einfach nicht zufrieden sein wollte… das jedenfalls hatte Youma gehört, denn er selbst hatte Menuét nicht kennengelernt und war zum Zeitpunkt des Entstehens des Kunstwerkes noch nicht in der Dämonenwelt gewesen. Aber die Erzählungen, die er vom Personal aufgeschnappt hatte, klangen sehr… eigenartig. Kasra sollte zu dieser Zeit sehr aufgebracht gewesen sein und die, die er wegen dem Gemälde umgebracht hatte, hatte er angeblich aus Wut getötet; nicht aus Spaß oder Vergnügen, wie er es sonst tat.

Youma wusste nicht, was furchteinflößender war.  

 

Nathiel bewegte sich nicht; auch nicht, als Youma sich neben sie gestellt hatte. Eigentlich verspürte er nicht die geringste Lust, mit ihr zu sprechen – sie war ihm schon immer komisch vorgekommen – aber es erschien ihm sehr unhöflich, sie einfach stehen zu lassen, wo sie ihn doch angesprochen hatte.

Doch sie begann nicht sofort ein Gespräch. Mit einem… undefinierbaren Blick betrachtete sie das Gemälde vor ihr und sagte dann erst nach einer Weile:

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Youma-san.“ Das hatte Youma in der Tat nicht; er musste zugeben, dass er die Frage vergessen hatte:

„Von wem sprechen Sie denn? Etwa von Nocturn?“ Ein Zucken verzerrte für einen kurzen Moment ihr Gesicht – aber warum? Weil er seinen Namen genannt hatte?

„Geht es ihm gut?“, bohrte sie weiterhin nach, was Youmas Skepsis mehr und mehr steigerte.

„Ja, es geht ihm gut. Sie kennen ihn?“

„“Kennen“?“ Ihre kleinen, roten Augen huschten zu ihm herüber, zum ersten Mal, seitdem sie das Gespräch begonnen hatte. Ein Schauer lief Youma den Rücken herab; aber warum?

„… kennen ist nicht das richtige Wort.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern… nein, eher ein Zischen. Wie das einer giftigen Schlange.

„Wir sind mehr als… Bekannte… mehr als was Sie begreifen können. Wir sind durch mehr verbunden… als dass irgendwelche Worte es beschreiben könnten. Hat Raria mich denn nie erwähnt?“

„Nein“, antwortete Youma sofort und fügte auch noch mit Nachdruck hinzu:

„Nein, das hat sie nicht.“ Er wollte das Gespräch beenden; hier und jetzt und zwar sofort. Er wusste nicht warum, aber er spürte auf einmal eine unergründliche Gefahr von ihr ausgehen; eine Gefahr, die in ihm große Unruhe weckte.

 

Er wollte sich auch schon von ihr entfernen, als ihm plötzlich etwas auffiel; etwas, worüber er schon längst hätte stutzen müssen – Nathiel sprach von Raria. Nathiel hatte Raria schon einmal erwähnt gehabt; er hatte es nur vergessen, am Anfang – noch ehe er selbst Raria überhaupt getroffen hatte.

„Woher kennen Sie Raria?“ Ein schelmisches Lächeln breitete sich auf Nathiels Gesicht aus:

„Wieder dieses Wort. Und wieder passt es nicht. Aber ich möchte auch nicht über sie sprechen. Was denken Sie über meinen Kleinen? Mögen Sie ihn?“ Aber Youma fiel ihr ins Wort, ohne ihre Frage wirklich gehört zu haben:

„Wissen Sie etwa etwas darüber, was zwischen Kasra und Raria vorgefallen ist und warum sie sich in der Menschenwelt versteckt hält?“ Sie verzog das Gesicht wie ein Kind, das seinen Lebertran nehmen musste:

„Darüber will ich nicht sprechen. Ich will gar nicht über Raria sprechen. Raria ist uninteressant! Erzählen Sie mir etwas von…“ Aber Youma war nicht länger gewillt, ihr die Zügel des Gespräches zu überlassen; er war auch nicht länger gewillt, sich von ihr verängstigen zu lassen. Was war sie schon? Eine kleine, schwache Dämonin, deren Aura nicht sonderlich stark war – es gab definitiv nichts an ihr, was irgendwie beängstigend sein sollte.

 

„Sie wissen es, nicht wahr?! Sie haben mich schon vor Raria gewarnt, ehe ich überhaupt mit ihr in Kontakt gekommen bin! Was steckt hinter dem Ganzen?!“ Nathiel schüttelte zurückweichend den Kopf; jetzt war sie es, die vor Youma zurückschreckte, aber er ließ sie nicht gehen. Seine Hand schnellte hervor und packte ihren Oberarm:

„Keine Geheimnisse mehr! Ich will die…“

„Lassen Sie sie sofort los.“

 

Youma folgte dieser Aufforderung nicht sofort; mit skeptischem Blick sah er über die Schulter und in Karous Gesicht, seine Augen – was für ein finsterer Blick! Youma war kurz überrascht; er hätte nicht gedacht, dass der sonst immer so gefühllos wirkende Dämon überhaupt zu so einem Blick fähig wäre.  

„Der König erwartet Sie.“ Seine Augen entspannten sich sofort, kehrten zu seiner monotonen Maske zurück, als er sah, wie Youma Nathiels Arm losließ und sie sich von dem Halbdämon zurückzog. Karou warf ihr auch kurz einen Blick zu, den Youma allerdings nicht zu deuten vermochte; Nathiel aber scheinbar schon, denn sie verschwand.

„Er ist ungehalten“, fuhr Karou fort als wäre nichts geschehen:

„Sie sind zu spät.“

 

War das eine Warnung oder eine Drohung?

 

Es war womöglich eine Mischung aus beidem, aber als Youma den Thronsaal betrat, bemerkte er nicht nur Kasras Wut – sondern auch etwas anderes, was er allerdings sofort wählte, nicht zu kommentieren; er spürte Lichtmagie im Raum. Und da Kasra der einzige Dämon im Saal war, bedeutete das, dass er es war, der Lichtintus hatte.

Kein Wunder, dass er wütend war – Lichtintus war eine schmerzhafte, überaus unangenehme Erfahrung. Das Licht der Hikari war wahrlich furchteinflößend; war es doch die einzige Magie, die direkt in den Körper der Dämonen eindrang und sie von innen zersetzte. Das einzige, was einen davor retten konnte, war das so genannte „Anti-Licht“; ein zu injizierendes Serum, sehr wertvoll, da es teuer war in der Herstellung. Natürlich besaß der König genug Anti-Licht, weswegen sein Leben nicht ernsthaft in Gefahr war, aber das Anti-Licht rettete einem nur das Leben; es ersparte einem nicht die Schmerzen.

 

Kasra ließ sich auch nichts anmerken und hätte Youma nicht so ein außerordentlich gutes Gespür für Lichtmagie, dann hätte er es wahrscheinlich auch nicht bemerkt. Sein König hatte wahrscheinlich bereits eine Behandlung mit Anti-Licht hinter sich, aber dennoch waren Reste der Lichtmagie noch in seinem Körper. Die Anti-Licht-Methode war nun einmal nicht perfekt.

 

Am liebsten wollte Youma an der Tür stehen bleiben – womit er immerhin mehr als 100 Meter Abstand hätte zu Kasra – aber das war natürlich nicht möglich. Er legte also den Abstand hinter sich und vollführte das obligatorische Verneigen seines Kopfes, sobald er bei Kasra angekommen war – dieses Mal sogar ein wenig tiefer als normal, sich Kasras Wut und der Schwierigkeit des Themas bewusst. Nocturn und Raria waren beide gute Schauspieler, aber Youma konnte nicht gerade behaupten, eine künstlerische Ader zu besitzen.

 

Kasra schien heute entweder ungeduldig zu sein oder schlichtweg keine Zeit zu haben, denn er kam sofort zum Punkt und wartete auch nicht darauf, dass Youma den Kopf wieder gehoben hatte:

„Da du wieder einmal so lange weg gewesen bist, gehe ich davon aus, dass das Training meines Sohnes gute Fortschritte macht.“ Eilends hob Youma den Kopf wieder, denn es war nie gut, Kasra nicht zu sehen. Wie viele hatten schon den Fehler begangen und einfach auf den Boden gestarrt in der Hoffnung, der Schrecken würde dann einfach vorbeiziehen? Aber das tat er nicht und es war besser, darauf vorbereitet zu sein; man gab Kasra viel zu viel Angriffsfläche, wenn man ihn nicht im Visier hatte.

 

Anstatt ihm allerdings direkt zu antworten, deutete Youma nur ein Nicken an, welches den eben noch genervt umher gehenden König zum Stillstand brachte. Er musterte ihn kurz genauso eindringlich wie umgekehrt und antwortete dann:

„Warum so ruhig heute, Youma?“

„Ihr erscheint mir schlechte Laune zu haben, Majestät. Ich möchte dieser Laune nicht noch mehr Nährboden geben.“ Das hätte eine gefährliche Antwort sein können, aber genau deswegen wusste Youma, dass es keine war: er hatte bereits geahnt, dass dieser Tollkühn Kasra eher belustigen würde als das Gegenteil. Und tatsächlich: Kasra hob grinsend die Augenbraue und schien sich ein wenig zu entspannen. Er lachte sogar kurz:

„Wie nett, dass du dir solche Gedanken um mein Gemüt machst – ist meine Laune so offensichtlich?“ Wieder deutete Youma ein sachtes Nicken an.

„Ach, Youma! Du könntest doch gar kein Grund sein für meine schlechte Laune…“

 

Wieder einmal tat Kasra es. Wieder einmal schaffte er es. Youma hatte sich innerlich auf alles vorbereitet – auf weitere gebrochene Knochen, auf Demütigung, auf Schmerzen – aber nicht auf das. In dem Moment, in welchem Youma für einen kurzen Augenblick die Augen niedergeschlagen hatte, hatte Kasra plötzlich seine linke Hand erhoben und als Youma die Augen wieder öffnete, hatte der König seine Hand an dessen Wange gelegt.

 

„…dafür amüsierst du mich doch viel zu sehr.“

 

Youmas gesamter Körper erstarrte zu Eis; er wollte am liebsten rückwärts zurückweichen, tat es aber nicht – ja, aus Furcht. Was tat Kasra da? Warum tat er das? Was lag hinter dieser… merkwürdigen Geste, diesem zutiefst zufriedenen und überaus unheilschwangeren Lächeln, welches Youma nicht loszulassen schien? Natürlich – es war Youmas Schock, seine aufgerissenen Augen und die Furcht, die Kasra darin lesen konnte, die all seine schlechte Laune vertrieben hatte, aber da war… mehr. Und gerade dieses „mehr“ und diese Hand an seiner Wange machten Youma unglaublich nervös.

 

Er sollte ihn lieber schlagen, anstatt… so was zu machen – aber Kasra tat es nicht. Er löste seine Hand ganz langsam, ja, fast sogar sanft, von Youmas Wange, seine Haare fielen wieder auf ihren Platz zurück, aber das war das einzige an Youma, das sich bewegte.

 

„Eine Woche“, begann Kasra, sich wieder von ihm entfernend, ihn aber dennoch genau beobachtend, keine Geste, keine Regung Youmas verpassen wollend:

„Das sollte genügen, oder, Youma? Ich bin so ungeduldig und gespannt – ich möchte endlich Ergebnisse sehen!“  

 

Youma hörte, wie er es bejahte, wie er seinem König so souverän wie möglich versicherte, dass eine Woche mehr als ausreichend sei, dass sie große Fortschritte machten… dass er einfach irgendetwas sagte, um endlich diesen Raum zu verlassen. Um sein Herz zu beruhigen, um sich wieder sammeln zu können, aber selbst als er endlich im Bett lag, fand er keine Ruhe. Was sollte das nur? Was hatte er damit aussagen wollen? Wollte er überhaupt etwas aussagen oder war das nur eine seiner kranken Ideen gewesen?

Nein, nein – irgendetwas sagte Youma, dass es mehr als das war. Er sah es nur noch nicht. Es lag vor ihm, aber er sah es nicht.

 

Dieser Gedanke und der, dass sie nur noch eine Woche hatten, hielt ihn vom Schlaf ab: er schlief sowieso nie besonders gut, seitdem er in der Dämonenwelt lebte; die Angst, plötzlich aus dem Schlaf gerissen zu werden, war einfach zu groß – und leider keine unberechtigte Angst.

Youma hatte erst um zwölf bei Raria und Nocturn sein müssen – und er war sich bewusst, dass Raria ihm nicht umsonst gedroht hatte, dass er pünktlich sein solle und dass sechs Stunden zu früh definitiv alles andere als pünktlich war, aber sie würde ihm sicherlich verzeihen, wenn er ihr berichtete, dass sie nur noch eine Woche Zeit hätten und sich daher beeilen müssten. Jetzt würde sie es sicherlich gestatten, dass sie endlich andere Dinge trainierten als… dieses elendige Basistraining.

 

 

Wegen der frühen Uhrzeit betrat Youma das Haus vorsichtig, aber seine Rücksichtnahme schien nicht von Nöten zu sein, denn die Bewohner des Hauses waren schon wach – jedenfalls Nocturn, denn sein Spiel auf der Flöte erfüllte das Haus. Die sachten Klänge seiner Flöte beruhigten sein Gemüt; etwas zu sehr sogar, denn er fühlte sich plötzlich von einer starken Melancholie erfüllt, die nicht nur sein Gemüt erschwerte, sondern seinen gesamten Körper. Jede Bewegung schien ihm zu schwer zu sein.

Wo sollte das nur alles hinführen?

 

Nocturn setzte die Flöte ab, als er bemerkte, dass Youma das Auditorium betrat. Es war wirklich noch sehr früh: Nocturn hatte sich noch nicht für den Tag umgekleidet und war noch in einen schwarzen Pyjama gekleidet, darüber einen Morgenmantel tragend. Auch seine Haare waren zottelig. Aber anstatt darüber pikiert zu sein, dass Youma schon so früh gekommen war und dass dieser ihn nun in diesem doch sehr privaten Aufzug sah, grinste er Youma neckisch an, während er die lange Flöte zurück in ihre Halterung am Fenster gleiten ließ. Youma hatte aufgeschnappt, dass Nocturn sein treues Instrument am liebsten überall mit hin nehmen wollte, sie stets auf dem Rücken tragen wollte, doch dass Raria es ihm verboten hatte – das wäre albern – und dass Nocturn sich immer wieder ärgerte, die Flöte zurückstellen zu müssen. Aber er war gut erzogen; und dies war nur wieder ein weiterer Beweis dafür.

„Wie ich sehe, hast du das Duell mit der Löwin überlebt?“

Zuerst wusste Youma gar nicht, was Nocturn meinte; aber dann breitete sich, fast per Automatik, ein erwiderndes Grinsen auf Youmas Gesicht aus:

„Sieht ganz danach aus.“

„Und deinen Kopf hast du auch noch!“

„Ich denke, ich sollte mich glücklich schätzen. Wo ist Raria-san überhaupt?“, fragte Youma, denn ihm war nun zwischenzeitlich aufgefallen, dass er ihre Aura nirgends spüren konnte.

 

Nocturn ging genau im richtigen Moment an Youma vorbei, so dass dieser das Steifwerden seines Grinsens nicht sah.

„Sie ist in Paris.“ Youma wusste natürlich nicht, dass es sicherlich kaum Dinge gab, die man um sechs Uhr morgens in Paris zu erledigen hatte, aber er durchschaute die Lüge dennoch. Er hörte sie regelrecht.

„Nocturn“, begann er, ihm hinaus auf den Gang folgend:

„Raria hat mir von ihren Plänen erzählt. Ich weiß jetzt, was ihr vorhabt…“ Youma zögerte, denn er wusste auf einmal nicht, was er eigentlich sagen wollte. Nocturn steuerte währenddessen ungebremst auf die Küche zu, während Youma kurz stehen blieb, ehe er sich wieder sammelte:

„Der König hat befohlen, dass wir in einer Woche Ergebnisse vorzeigen sollen. Unter diesen Umständen ist es doch wirklich sehr unrealistisch, dass du Kasra in einem Kampf töten könntest.“ Nocturn schien nur den ersten Teil von Youmas Worte gehört zu haben, denn während er einen Kaffee zubereitete, antwortete er:

„Das passt doch gut; Raria hat nicht mit mehr Zeit gerechnet. Das ist dann genau nach meinem letzten Konzert.“ Das war wieder eine Antwort, mit der Youma weder gerechnet hatte noch eine, die ihm besonders gefiel:

„Sie hat damit gerechnet?! Raria hat nur so wenig Zeit eingeplant und glaubt, du würdest in dieser kurzen Zeitspanne so gut werden, dass du Kasra bezwingen könntest?!“ Youma konnte es nicht fassen; weder die nackten, eben gesagten Tatsachen, noch, dass Nocturn sehr ruhig zu sein schien angesichts dessen, dass er gegen den König kämpfen sollte und höchstwahrscheinlich sterben würde – und dass es obendrein seine geliebte Tante war, die ihn in den Tod schickte… und wofür?  

 

„Nocturn…“ Youmas Tonfall wurde ein wenig inständiger; es war für ihn einfach nicht verständlich, dass sein Gegenüber so ruhig sein konnte. Was war nur in ihn gefahren?! Er stellte ihm einfach seelenruhig die Tasse mit dem dampfenden, gut riechenden Kaffee hin und lehnte sich selbst an die Küchentheke, den Kaffee ein wenig kalt pustend.

„… du kannst doch nicht wirklich glauben, dass du eine Chance hättest? Du hast doch Kasras Aura gespürt. Du hast ihn doch gesehen. Du kannst doch nicht wirklich auf einen Kampf gegen ihn aus sein?!“ Nocturn nahm einen Schluck von seinem Kaffee und sah schweigend in die Flüssigkeit.

„Ich bin auf gar keinen Kampf aus, aber es bleibt mir keine andere Wahl.“

Natürlich hast du eine Wahl! Du hast doch keine Aura, du kannst dich überall verstecken und neu anfangen!“ Aber da fiel Nocturn ihm ins Wort, plötzlich nicht länger ruhig, sondern aufgebracht:

„Habe ich die wirklich?! Noch war keiner von Kasras Schergen hier, aber natürlich weiß er, wo du dich die letzten zwei Wochen aufgehalten hast und somit weiß er auch, wo Raria ist. Wenn ich einfach verschwinde, obwohl der König nach mir verlangt – was glaubst du würde passieren? Es benötigt nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass er Raria dann töten würde!“

„Ihr könntet doch zusammen…“

„Könnten wir? Wenn sie dich geortet haben, dann haben sie auch Rarias Aura hier aufspüren können und können sie weiter verfolgen. Raria ist nicht mehr sicher; sie ist wegen mir nicht mehr sicher! Es bleibt mir also keine andere Möglichkeit, wenn ich Rarias Leben schützen will – und natürlich will ich das. Sie ist meine Familie. Natürlich lasse ich sie nicht im Stich – das würdest du doch auch nicht tun?“ Aus Respekt vor Nocturn und seiner Liebe für Raria antwortete er nicht, aber der Gedanke, dass Raria Nocturn opferte, um weiterhin ihr angenehmes Leben führen zu können, bekam er nicht aus den Kopf. Er hatte selbst Schuld – das waren ihre Worte. Er hatte… selbst Schuld.

 

„Aber du willst doch gar nicht König werden.“ Nocturn sah weg, seine Wut schien verraucht. Youma fuhr fort:

„Raria hat dir ja wohl hoffentlich erzählt, dass du dann der nächste König werden würdest? Der König der Dämonenwelt? Du müsstest dein Leben hier aufgeben, deine menschliche Identität...“

„Ich habe dir doch schon mal gesagt, dass wir nicht vor unserem Blut davonlaufen können. Ich habe lange diesen Luxus genießen können und wenn wir es genau nehmen, ist es ja auch meine eigene Schuld, dass ich dieses Leben…“

„Ist es nicht!“, war es nun Youma, der ihm ins Wort fiel, wütender und auch verzweifelter als er es sich selbst eingestehen wollte, was auch Nocturn dazu brachte, ihn verwundert anzusehen.

„Du wolltest einfach nur White sehen – dafür kann dir niemand einen Vorwurf machen! So ein unschuldiger Wunsch rechtfertigt doch nicht so eine schreckliche Strafe!“

 

„Danke.“

Nachdem Nocturn ihn für einen kurzen Moment nur verwundert mit seinen großen, fast kindlichen Augen angesehen hatte, hatte er gelächelt. Ruhig, ein wenig traurig und herzzerreißend.

 

Youma sagte nichts mehr, das Thema war beendet. Es ging ihn ja auch... tatsächlich nichts an. Nocturn hatte es nicht so direkt gesagt, wie Raria es getan hatte, aber seine Verwunderung zeigte dasselbe – warum war Youma so aufgebracht, wo es doch Nocturn war, der gegen Kasra antreten sollte und nicht Youma? Wenn er vorgab, nichts von dem Ganzen gewusst zu haben, dann würde er wahrscheinlich mit einer Strafe – einer sehr harten – davonkommen. Dasselbe hatte sein namenloser Gönner ihm auch schon gesagt... er solle aufpassen, sich nicht zu sehr einzumischen, er wisse schon zu viel – und es war doch deren Sache...

 

 

Die beiden beschlossen, dass sie auch ohne Rarias Anwesenheit weiter trainieren wollten, was sie, natürlich nachdem Nocturn sich umgezogen hatte, auch taten. Nocturn war tatsächlich genau wie immer… jedenfalls bemerkte Youma keine Veränderung. Aber anders herum war es leider absolut nicht der Fall. Es fiel Youma sehr schwer, sich zu konzentrieren; gerade jetzt, wo es doch so essentiell war, dass er Nocturn ein guter Trainingspartner war. Aber es ging einfach nicht: immer wieder schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass der grinsende Dämon vor ihm, der eine so kindliche Freude an den Tag legte, wenn er einen Treffer gelandet oder besonders gut ausgewichen war, zum Tode verdammt war.

Er konnte einfach nicht glauben, dass Nocturn einen Kampf gegen ihn gewinnen konnte. Ganz egal, wie viel Vertrauen Raria in ihn steckte und egal, wie sehr Nocturn dadurch bestärkt ward. Sie hatten Kasra nicht erlebt. Sie hatten nicht Tag für Tag unter seiner Schreckensherrschaft leben müssen. Natürlich hatte Nocturn recht; wenn er einfach verschwinden würde, dann würde Kasra sich ohne Zweifel auf Raria stürzen. Nicht nur aus Rache; sondern einfach, weil er es konnte. Weil er darauf Lust hatte.

Immer wieder fragte Youma sich, wie der Dämonenkönig reagieren würde, wenn Nocturn vor ihm stand und ihn herausforderte. Es würde ihm wahrscheinlich gefallen. Wahrscheinlich würde es ihm sogar sehr gefallen… er hätte Spaß daran. Spaß daran, Nocturn zu töten; Nocturn, der eigentlich gar kein Dämon war, der hierhin gehörte, hier, wo die braunen Bäume rote Äpfel trugen, hier, wo er den Herbst feiern konnte und wo er… einfach er selbst sein konnte.

 

Genau diese Äpfel waren es, die ihm nun auf den Kopf fielen, denn Nocturn hatte ihn mit einem gezielten Tritt gegen einen Apfelbaum geschleudert. Grummelnd und sich beschwerend rieb Youma sich den Kopf, dort, wo die Äpfel auf sein Haupt gefallen waren und wollte sich gerade beschweren, als er bemerkte, wie Nocturn sich plötzlich neben ihn hernieder kniete und sich zu ihm an den Baum setzte.

„Offensichtlich ist das wohl die Aufforderung für eine Pause!“, verkündete Nocturn mit einem Grinsen, einen der Äpfel aufsammelnd, die neben Youma auf den Boden gefallen waren. Youma war nicht der Meinung, dass sie sich eine Pause gönnen konnten, ganz gleich, ob sie schon wieder drei Stunden trainiert hatten oder nicht. Sie hatten keine Zeit… sie hatten einfach keine Zeit---

 

Aber als Nocturn ihm mit einer entschlossenen Geste den roten Apfel in die Hand drückte, verschwand der Gedanke kurz und zusammen die ganzen anderen beklemmenden Gefühle, Gedanken, Schreckensbilder vor dem inneren Auge. Plötzlich waren da nur sie beide unter dem herbstgefärbten Apfelbaum – und dass das das Ganze noch schrecklicher machte, darüber dachte Youma in diesem Moment nicht nach.

 

Er sah einfach nur dieses sorglose Grinsen Nocturns, das ihm davon erzählte, wie er und Raria die Äpfel immer pflückten und das ihm vorschwärmte, wie gut die Äpfel schmecken würden, auf deren Geschmack er sich gar nicht konzentrieren konnte, denn er war zu sehr damit beschäftigt, dem eigentümlichen Lächeln auf seinem Gesicht auf den Grund zu gehen, zusammen mit der Frage, warum die unmittelbare Nähe Nocturns Hand neben seiner ihn nicht nur beruhigte, sondern fast schon in ein glückliches, von sämtlichen Sorgen befreites Vakuum einschloss.

 

Aber natürlich kehrten die Gedanken zurück: das Vakuum war nicht stark genug, um sie beide lange vor der Bedrohung abzuschirmen. Aber zusammen mit diesen kristallisierte sich plötzlich in all seiner Klarheit ein Bewusstsein in Youma.

 

Ich lasse dich nicht sterben. 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Guten Morgen!

Uuuuund weiter gehts! Das sofortige Hochladen von Animexx ist wirklich absolut mega praktisch... vielen dank dafür >w<!

Wir bewegen uns immer weiter der Spitz der Achterbahn zu; langsam werden die Weichen unwiderruflich gelegt... und dann haben wir in diesem Kapitel auch zum ersten Mal die für Opus Magnum so wichtigen "Äpfel". Interessante Trivia: dieses Kapitel war mehrere Wochen/Monate aus der Himitsu no Mahou-Dropbox verschwunden, ehe Tekuu und ich bei einem Re-Read von Opus Magnum bemerkten, dass sie weg war ahahahah /o/°°°°°°°° aber zum Glück verschwinden Dateien in der Dropnox nie wirklich haha! Wäre doch komisch gewesen, wenn es gefehlt hätte, oder xDD?

An dieser Stelle bedanke ich mich auch mal wieder für 44 Kommentare >////w///<!! Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: MiyaToriaka
2016-01-05T10:10:39+00:00 05.01.2016 11:10
NATHIEEEEL!!! AWW sie ist so niedlich, wenn sie schwach ist. Das Verlangen nach dem kleinen Nocturn besteht immer noch. Ich müsste sie eigentlich für ihren Fetisch hassen, aber sie ist so ein toller, missverstandener Charakter... Und zusammen mit Karou eines meiner Leiblings-Himi-Ships in the underground. Ich hab sie vermisst (vermisse auch Badromance hier, aber das passt leider gerade so gar nicht!). KAROU TO THE RESCUE!!! Der böse, böse Youma will ihr was! I'M COMING, du verdammtes Nutten-Girl, an dem ich garantiert nicht interessiert bin. I SEE YOU, KAROU, I SEE YOU!!! Und Youma war so nah dran. Trotzdem bin ich auf Karous Seite - dieses Mal. x3
Und dann kam er wieder: DAT KING. Also ernsthaft, whut?! Er ist nicht aufgebracht, wie man es in seiner Situation erwarten würde? Shocking! Was geht da vor? ¬¬
Jedenfalls, auch wenn es kurz war, sehr interessantes Gespräch, wenn man das so nennen kann. Youma hat so ein starkes Wesen, es ist unglaublich. Ich wäre schon längst 30.000 Tode gestorben!
Cuteste Szene mal wieder: Der Apfelbaum. Das ist so schön und gleichzeitig ist man den Tränen nahe, denn Nocturn ist ja quasi zum Tode verurteilt. Wie er Nocturn zugesprochen hat, dass es in Ordnung wäre, einen solchen Wunsch zu haben und alles dafür zu tun, dass er in Erfüllung geht... ;________; AWW! Wahre Liebe, sag ich nur. Youma will, dass er glücklich ist. So, so toll. ♥
Und Nocturn... Ich würde gerade in solchen Momenten so gerne sein Gesicht sehen können...
Von:  Keiko-maus
2015-08-07T23:25:23+00:00 08.08.2015 01:25
Youma, wir sind einer Meinung xD Das ist eine absolute Schnappsidee, die Raria da hat. Eine schnappsige Schnappsidee!
Kasra und Menuet. Über die beiden wüsste ich auch liebend gerne mehr. Nathiel und Raria sind auch ein spannendes Thema, ebenso wie Raria und Kasra xD Mensch, ich möchte so viel über die Charas wissen *_*

Kasra hat schlechte Laune. Aua, gut, bei Lichtintus zu verstehen. Und Youma, deine geschätzte Liebe nennt dich nicht ohne Grund Kunstbanause xD Das hast du ja gerade auch selbst gesagt^^

Richtig so, Youma! Rede Nocturn ins Gewissen, sehr guter Mann! Brav^^
Unter einem Apfelbaum sitzend und einen Apfel mampfend ist übrigens wieder sehr romantisch^^
Fight, Youma >o<
Von:  fahnm
2015-07-21T22:04:34+00:00 22.07.2015 00:04
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