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Opus Magnum

von

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La Ténèbres et la Nuit - Opus V

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Die letzte Stunde vor dem Auftritt war immer die aufregendste.

Aber keine „letzte Stunde“ sollte so aufregend sein, wie die vor diesem letzten Konzert.

 

Nocturns dämonisches Gehör vernahm von Weitem, wie mehr und mehr Menschen le grand escalier betraten und die Treppen hinauf gingen, wie sie sich trafen, wie sie miteinander sprachen und warteten, bis das große Auditorium sich öffnen würde, kurz vor Beginn des Konzertes. Er lauschte all dem mit zufriedener Entzückung, während er die Instruktionen seiner Managerin bejahte und Raria ihm die Haare zurechtmachte. Natürlich hätte er dafür Personal haben können – die Opéra Garnier kümmerte sich gewöhnlicherweise auch darum – aber Raria bestand darauf, dass diese Arbeit niemandem sonst überlassen wurde. Es war auch ihr Wort, das im Endeffekt das Entscheidende war und es war sie, die bis zur letzten Sekunde bei ihm blieb, ohne dabei auch nur eine Sekunde lang ihren prüfenden Blick von ihm zu lassen, denn sie fand immer etwas, was sie noch ändern wollte. Sie wollte es natürlich nicht zugeben – und sie würde es auch niemals – aber Nocturn wusste, dass sie damit nur übertünchen wollte, dass sie nervöser war als er selbst. Bei seinem allerersten Konzert hatte sie ihn umarmt und so fest an sich gedrückt, als würde sie glauben, er würde in den Krieg ziehen.

 

Nocturn war nie nervös gewesen. Das war seine Welt; das war seine Komfortzone. Es gab keinen Grund, nervös zu sein. Auch heute gab es den nicht, dachte Nocturn, und ließ seine Augen nach links wandern, wo unter den Notenblättern für das festgeschriebene Programm die mit einem roten Band zusammengebundenen Notenblätter seines neuesten Werkes lagen. Nein; das, was er spürte, war eine gewisse Vorfreude, keine Nervosität. Vorfreude, es endlich in seiner vollen Länge zu spielen.

Und genau passend zu diesen Gedanken breitete sich plötzlich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, als er, genau wie Raria, endlich Youmas Aura spürte.

„Ich hab dir doch gesagt, dass er kommen wird.“

„Also war er es, der mir drei Karten geklaut hat, die eigentlich für unsere Nachbarn waren...“

„Ich habe es dir doch gesagt!“, erwiderte Nocturn freudig grinsend, dabei das Spiegelbild Rarias ansehend, die allerdings eher grimmig aussah.

„Das erklärt aber keineswegs, warum er als Einzelperson drei Karten benötigt.“

„Ihm war garantiert nicht bewusst, dass er nur eine braucht, um reinzukommen...“ Nocturn lachte immer noch, auch als Raria verkündete, dass sie ihn holen würde und somit Nocturn alleine mit seiner Managerin zurückließ, die nun bereits zum dritten Mal den Ablauf des Abends mit ihm durchgehen wollte.

 

Bereits von Weitem las Raria dasselbe auf Youmas Gesicht ab, was sie eine lange Zeit in der Menschenwelt empfunden hatte; ein genervtes Gemüt angesichts der vielen Menschen. Aber wenn man eine Weile in der Menschenwelt verbracht hatte und mindestens einmal in der Woche in Paris war und dort die Metros nahm... gewöhnte man sich daran.

„Guten Abend... Dieb“, grüßte sie den Halbdämon, sobald sie gegenüber voneinander standen, ein wenig abseits von den anderen Menschen, auf dem hintersten Balkon des linken Flügels.

„Guten Abend, Raria-san“, erwiderte Youma höflich, nicht auf ihre Betitelung achtend oder sonderlich darauf eingehend, was sie aber natürlich nicht durchgehen ließ:

„Was fällt dir eigentlich ein, einfach die Tickets vom Tisch zu stehlen? Sie waren nicht für dich und deine unsichtbaren Begleiter vorgesehen.“ Sie sollte ernster, vor allen Dingen wütender klingen, aber sie war eher belustigt, wenn sie sich vorstellte, wie Youma mit den drei Eintrittskarten am Schalter gestanden hatte, mit seiner ernsten Miene und nicht in der Lage, auch nur ein Wort Französisch zu sprechen... es war sicherlich ein Bild für die Götter gewesen.

„Nocturn hat mich selbst eingeladen“, verteidigte Youma sich, der sich offensichtlich Mühe gab, sich nichts von seiner peinlichen Misere anmerken zu lassen; er warf immer wieder einen Blick über die Menge, die sich auf den goldenen Treppen tummelte und in gepflegter Manier Champagner trank, wie es bei solchen Veranstaltungen üblich war.

„Und soweit ich informiert bin, hattest du abgelehnt. Warum hast du deine Meinung geändert?“

 

Er antwortete nicht, sah weiterhin über die Menschenmenge hinweg, als würde er jemanden suchen... Raria wollte schon nachbohren, als ein markerschütterndes Gefühl ihren Körper zum Beben brachte und ihr schlagartig jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Geschockt, aber schon mit nahender Wut wirbelte Raria in die Richtung, in die Youma bereits die ganze Zeit geblickt hatte und sah die Frau, vor der sie ihr dämonisches Gespür bereits gewarnt hatte, eben le grand escalier betreten. White.

„Du Bastard!“, fauchte Raria jede gute Erziehung vergessend, Youma böse anfunkelnd.

„Wie kannst du es wagen, dich über meine Gebote hinwegzusetzen?!“ Aber Youma blieb ruhig; angesichts dessen, dass er sie so geschockt hatte und dass seine Pläne aufgegangen waren, sollte er wahrscheinlich lächeln, aber ihm war nicht nach einem Lächeln zumute, weshalb er nur ernst antwortete:

„Sie sind eben nicht die einzige Person, die in der Lage ist, Pläne zu schmieden.“ Raria wollte ihm gerade etwas weitaus Uncharmanteres um die Ohren werfen als „Bastard“, als Nocturn aufgeregt zu ihnen rannte. Zwar wandte Youma sich ihm zu, doch er musste zugeben, dass es ihm schwerfiel. Er wollte sich lieber abwenden... er wollte dieses glückliche Gesicht nicht sehen, das natürlich ebenfalls Whites Aura gespürt hatte; dieses aufgeregte, strahlende Gesicht, das gar nicht wusste, wo es hin sollte mit seiner plötzlichen Flutwelle an Gefühlen.

 

Youma zwang sich zu einem Lächeln. Um dieses Gesicht zu sehen, hatte er es immerhin getan. Hatte sich in das Reich der Wächter gestohlen, um dort die Eintrittskarten so zu platzieren, dass sie nicht unbemerkt bleiben konnten… Natürlich hatte die Möglichkeit bestanden, dass White diese „Einladung“ nicht annehmen würde. Aber es hatte eben auch die Möglichkeit gegeben, dass sie es tat.  

 

Nocturn stürzte förmlich an die Brüstung des Balkons, um das zu sehen, was sein Gespür ihm bereits verraten hatte. Wie deutlich Nocturn seine Gefühle in diesem Moment offenbarte, als er White sah! Die Freude nahm zu, verwandelte sich in Euphorie und ließ seine Augen mit einem Schlag glasig werden. Völlig aufgelöst drehte er sich zu Youma herum, denn ihm war wohl klar, dass White natürlich nicht zufällig bei seinem letzten Konzert anwesend war und dass die einzige Person, die ihm zu diesem Glück hatte verhelfen können, Youma war.

 

Der Flötenspieler hatte sich gerade im richtigen Moment herum gedreht. Er sah es somit nicht; das, was Youma und Raria beide erblickten, der eine geschockt, die andere mit grimmiger Genugtuung und bösen Vorahnungen, die jede Genugtuung im Keim erstickten.

 

White war nicht alleine gekommen. Ein anderer Wächter befand sich in ihrer Begleitung, dessen Aura keiner der drei Dämonen gespürt hatte, da ihre Sinne alle auf Whites kolossale Aura fixiert gewesen waren. Youma hatte damit gerechnet, dass White nicht alleine kommen konnte – daher ja auch die zweite Karte – denn natürlich ließ man eine Hikari nicht alleine in die Menschenwelt gehen... aber er hatte nicht damit gerechnet, dass dieser Wächter, ein schwarzhaariger, sympathisch aussehender Mann, Whites Hand nahm und die verliebten Blicke, die sie einander zuwarfen, die... die hatte er auch nicht mit eingeplant.

Und jetzt, wo sie sich ein wenig von den Menschen lösten, man freie Sicht auf das Liebespaar hatte, bemerkte Youma auch die auffällige Rundung von Whites Bauch, auf den der Wächter gerade zärtlich seine Hand legte. Sie war schwanger.  

 

Nocturn war allerdings zu aufgeregt, um diese Gefühlsveränderung in Youma zu bemerken; sein ganzes Gesicht strahlte, als er die Hände seines verdatterten Trainingspartners packte und sie fest in seinen hielt.

„Danke, Youma! Danke... das habe ich dir zu verdanken, oder? Oh, dieses Glück! Dass ich sie noch einmal sehen durfte... dass ich ihr endlich unser Lied vorspielen darf! Oh danke, danke!“ Youma antwortete nur mit einem gezwungenen Lächeln, welches angesichts dieser neuen Umstände überaus schwer aufrechtzuerhalten war. Zum Glück für ihn ertönte in diesem Moment eine helle Glocke zusammen mit einer französischen Stimme, die den Beginn des Konzertes ankündigte.  

In heller Vorfreude sprang Nocturn wie vom Blitz getroffen auf und unter weiteren Dankesbekundungen begraben ließ er Youma alleine – alleine mit Raria, die sich, kaum dass Nocturn eilends verschwunden war, wie ein Raubtier auf Youma stürzte:

„Ist dir eigentlich klar, was du angerichtet hast?!“ Er wusste, es hatte nicht viel Sinn, sich zu verteidigen, aber er tat es dennoch:

„Das war nicht meine Absicht. Ich hatte nicht gedacht, dass sie...“

„Du hast nicht gedacht, dass eine 24-Jährige Hikari – obendrein White – verheiratet ist und natürlich schon längst ein Kind mit ihrem Mann hat?! Das ist ihr zweites Kind, Youma. Sehr gut im Planen bist du, sehr gut.“ Raria hatte recht, das konnte er nicht verneinen – das hätte er wissen müssen... er hätte sich vorher informieren sollen. Aber in seinem Kopf hatte sich nach Nocturns verliebten Erzählungen einfach der Gedanke einzementiert, dass er und sie füreinander bestimmt waren. Dass sie nur vom Schicksal, von Raria, getrennt worden waren... er hatte sie wieder zusammenführen wollen... hatte selbst Schicksal spielen wollen... er hatte Nocturns Herzenswunsch erfüllen wollen, jetzt wo er noch die Chance hatte. Er hatte ihn... glücklich machen wollen.

„Das hast du wirklich großartig gemacht, Youma! Wirklich, großartig! Hast du überhaupt eine Ahnung, was du angerichtet hast?! Wenn Nocturn das sieht, wird es ihm das Herz brechen! All seine Träume werden platzen, sobald er dieses Liebespaar erblickt!“

„Wenn Sie den Kontakt zu White von Anfang an nicht unterbunden hätten, dann wäre es gar nicht so weit gekommen! Vielleicht wäre er jetzt der Vater dieser Kinder!“

„Und du hast dir überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, warum ich das getan habe?!“ Er sollte sich wahrscheinlich beherrschen, aber er konnte es nicht. Die Worte polterten aus ihm heraus, ohne dass er sie aufhalten konnte:

„Oh, doch, das habe ich! Sie wollten Nocturn einfach für sich alleine haben!“

„Du dummer Junge!“

Diesem wütenden Ausruf folgte eine Hand; eine Hand, die pfeilschnell auf ihn zu schoss, die auf seine Wange zielte – und der Youma im letzten Moment noch rücklings auswich.

 

Schweigend, mit Zorn im Blick, starrten die beiden Dämonen sich in die Augen; die Augen, die Youma zum ersten Mal rot sah. Es war so deutlich, so aufdringlich, dass ihre braunen Kontaktlinsen darin versagten, es zu unterdrücken.

„Na, wenigstens etwas hast du gelernt!“

 

Dann drehte sie sich schwungvoll herum, richtete ihre Haare und warf ihm beim Weggehen noch letzte Worte zu:

„Es ist zu spät, um es jetzt noch abzubrechen, daher genieße das Schauspiel, das du selbst inszeniert hast. Du wirst einen guten Platz haben, um es überblicken zu können! Siehe, welchen Horror du über uns, über ihn, gebracht hast!“

 

 

Youma hatte tatsächlich einen guten Platz, aber zum Glück nicht in der unmittelbaren Nähe von White; wenn er in ihrer Nähe gesessen hätte, dann hätte der Abend wahrscheinlich ein sehr schnelles Ende gefunden... obwohl, wenn er Rarias Worten Glauben schenken sollte, dann war das vielleicht gar nicht so schlecht. Aber was meinte sie mit... Horror? War „Horror“ nicht vielleicht das falsche Wort? Übertrieb sie nicht etwas, indem sie ein solches Wort wählte? Es würde ganz ohne Zweifel ein... schmerzhafter Abend für Nocturn werden und natürlich bereute Youma seine Taten, denn das hatte er nicht gewollt. Nein... das hatte er garantiert nicht gewollt.

Er wollte nicht sehen, wie Nocturns seliges Lächeln bröckelte, wie die Freude sich in Nichts auflöste... er wollte nicht sehen, wie sehr er litt. Aber leider saß er zu gut; in der Mitte der Menge. Er saß zentral, mit direkter Sicht auf Nocturn. White saß schräg einige Reihen hinter ihm, was ihm sein Gefühl sagte; er benötigte keinen Blick über die Schulter. Ihre Aura war zu deutlich spürbar.

Es würde gleich beginnen.

 

Es würde gleich beginnen; das sagte ihm nicht nur seine Managerin, sondern auch Nocturns konstanter Blick auf die Uhr, auf die sich bewegenden Zeiger. Nocturn drückte seine Hengdi fest an sich, drehte die lange Holzflöte in seinen Fingern und musste zugeben, dass er zum ersten Mal nervös war. Oder war er einfach nur aufgeregt? Er wusste es nicht. Es war ja auch eigentlich egal, wie man dieses Zittern nennen wollte.

White war da... White würde sein Spiel hören... endlich!

„Nocturn.“ Der Angesprochene wandte sich zu Raria herum, die ihn genauso ernst wie immer ansah, allerdings... allerdings war da auch etwas anderes, aber dafür hatte Nocturn im Moment keinen Blick.

„Viel Glück.“ Nocturn grinste:

„Ich brauche doch kein Glück, das weißt du doch...“ Sein Grinsen brachte auch Raria dazu, ein wenig zu lächeln: ein letztes Mal noch richtete sie seine Haare, strich ihm eine falsch sitzende Strähne aus dem Gesicht und ließ ihre Hand kurz an seiner Wange verweilen – dann ging sie zusammen mit seiner Managerin und ließ Nocturn hinter dem roten Vorhang alleine.

Nocturn atmete tief durch und wartete wie immer darauf, dass der Vorhang sich heben würde.

Er löste einen Finger nach dem anderen von seiner Hengdi, um sie dann langsam zu senken, wie er es immer tat, im Takt mit dem sich beiseite schiebenden Vorhang...

 

Normalerweise verneigte Nocturn sich eigentlich immer zuerst, sobald der Vorhang sich beiseite geschoben hatte, aber an diesem Abend ließ er seinen Blick erst einmal über die Menge schweifen. Natürlich, er wollte White sehen, dachte Youma und bereitete sich seelisch darauf vor... ja,  und da war der Moment.

 

Nocturn hatte White entdeckt; sein ruhiges Lächeln erstarrte, genau wie Youma es vorhergesehen hatte, denn natürlich sah auch er Whites schwangeren Bauch.

Youma spürte regelrecht, wie er den Atem anhielt, wie er das Atmen vergaß, wie er alles um sich herum vergaß... Was würde jetzt passieren, in dieser schrecklichen Sekunde der Stille?

 

Youma hatte ganz recht mit seiner Vermutung; Nocturn hatte Whites runden Bauch entdeckt; er hatte den Wächter neben ihr bemerkt, sammelte sich, las die Gedanken des schwarzhaarigen Wächters, als wäre das Ganze noch nicht klar genug.

 

Raria beobachtete ihn vom Bühnenrand; genau wie Youma las auch sie Nocturns Gefühle in seinem Gesicht ab und sie bereitete sich bereits darauf vor, mehr zu sehen... Dinge zu sehen, die sie nie sehen wollte...

 

Aber es geschah nicht.

Das Publikum hatte bereits zu tuscheln angefangen, die Managerin schwitzte nervös – bis Nocturn sich galant wie immer tief verbeugte.

 

Seinem gesamten Publikum unbemerkt lächelte Nocturn, während er den Kopf gesenkt hielt. Er lächelte, weil er es endlich verstand.

 

Youma und Raria atmeten beide erleichtert auf, als Nocturn zu spielen begann; Youma hatte zwar nicht direkt gewusst, was Raria eigentlich befürchtet hatte, konnte sich auch überhaupt kein Bild davon machen, aber die Angst vor etwas Unbekanntem hatte sich, ohne dass er es hätte verhindern können, auf ihn übertragen, weshalb er jetzt mehr als erleichtert in seinem Sitzplatz zusammensackte, während die Menschen um ihn herum erfreut Nocturns Flötenspiel lauschten. Es war ein fröhliches, munteres erstes Lied, welches auch Youma schnell ablenkte. Hach, es war so munter, dass man fast Lust hatte, sich dazu zu bewegen, die Finger im Takt von Nocturns lebhafter Melodie zu bewegen... ihn überkam fast das Verlangen danach zu tanzen, so einladend war die Melodie.

Sämtliche Anspannung war von ihm gefallen: er hatte sich wieder ordentlich hingesetzt und folgte Nocturns Aufführung mit den Händen im Schoß gefaltet. Es war unglaublich, wie viele verschiedene Gefühle Nocturn so einem doch recht simplen Instrument entlocken konnte; von Melodien, die zum Tanzen einluden, übergangslos zu Liedern, die einen bedrückten, fast traurig stimmten, bis die nächste Melodie einem wieder aus dem schwarzen Loch empor half.

Youma musste zugeben, dass er es mehr genoss, als er angenommen hatte.

Nach einer Weile bemerkte er sogar, dass er selbst bei den wehmütigen Melodien lächelte... Nocturn so in seinem Flötenspiel aufgehen zu sehen... war das der Grund, weshalb er einfach nicht aufhören konnte zu lächeln? Er schien so glücklich zu sein, so ausgelassen... eins mit seiner Musik, eins mit seiner Flöte. Absolut in seinem Element.

Was für eine Freude es war, ihm zuzuhören, ihn so zu sehen...

 

Trotzdem wollte Youma sich kurz abwenden, denn die Neugierde hatte ihn gepackt. Wie reagierte White auf das Spiel? Er wollte sich kurz zu ihr herum drehen, wollte sehen, ob Nocturn auch sie verzauberte, auch sie in den Bann zog. Der Halbdämon hatte gerade den Kopf seitlich gedreht, wollte kurz über die Schulter blicken, um Whites Reaktion abzulesen, als er plötzlich das Gefühl hatte... aber nein, das konnte nicht sein, seine Sinne spielten ihm einen Streich... aber obwohl sein Gehirn ihm sagte, dass das nicht möglich war, hatte er das Gefühl, als würde eine Hand sich an sein Gesicht legen und ihn sanft dazu bringen, den Kopf wieder zu drehen. Nein, es war nicht irgendeine Hand – es war Nocturns Hand, die ihn sanft um seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit bat.

Aber wie war das möglich? Wie schaffte Nocturn es nur mit seiner Flöte, ohne Augenkontakt, nur mittels Tönen?

 

Er schaffte es genauso, wie er es jetzt schaffte, Bilder vor Youmas innerem Auge zu malen; die Flöte malte Bilder... rief Erinnerungen hoch... die Äpfel, die auf Youmas Kopf gefallen waren, Nocturns lachendes Grinsen, diese ansteckende Mimik, wie er es immer schaffte, selbst die dunkelsten Momente zu erhellen... ihre Hände, die sich fast berührten...

 

Genau wie der Rest des Publikums war auch die Managerin ganz ergriffen von dem Spiel Nocturns; sie lehnte sich zu Raria, flüsterte ihr zu, dass das tatsächlich Nocturns größte Leistung war, die er bis jetzt erbracht hatte... und war das nicht ein neues Stück? Wie war der Name? Sie vergaß sogar, darüber pikiert zu sein, dass Nocturn ohne es ihr zu sagen noch ein Stück eingebaut hatte.

Aber Raria hörte ihre Worte gar nicht; auch sie hörte nur die Töne, die Nocturns Hengdi entströmten, die Melodie, die sie bis zum jetzigen Abend nur in kleinen Bruchteilen gehört hatte. Sie hätte wirklich nicht an ihm zweifeln sollen... er spielte sie perfekt, zu perfekt.

Ihre Hand wanderte zu ihrem Mund und zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit – sie wusste gar nicht, wie lange es her war – spürte sie, wie Tränen in ihr hochkamen.

Genau wie Nocturn verstand auch sie es jetzt. Und sie wusste auch, dass sie es nicht mehr aufhalten konnte... und wollte. Diese schiere Reinheit seiner Gefühle, denen er hier Form und Ton gab,  war von nichts mehr zu unterdrücken. Ob Youma es verstand? Spürte er es? Spürte er, dass jeder Ton dieses Lied nur ihm gewidmet war? Wusste Youma, was Nocturn ihm damit sagen wollte?  

 

Es hatte als eine Ode an die Freundschaft begonnen... und jetzt verwandelte Nocturn es in ein...

 

Aus einem ihn unerklärlichen Grund spürte Youma, wie sein Gesicht sich erwärmte.

Was geschah mit ihm, warum hatte er sich in seinem Sitz vorgebeugt, warum überkam ihn das Bedürfnis, seine Hände auszustrecken, sie nach Nocturn auszustrecken, ihn zu umarmen, ihn zu halten, aber ohne ihn von seinem Spiel zu unterbrechen? Es war, weil Nocturn ihm das Gefühl gab, als würde er ihm eine Hand reichen, als würde er wollen, ihn dazu einladen, ihm näher zu kommen, ihm ganz nah zu sein... jetzt, weil sie nicht mehr viel Zeit hatten. Jetzt, die Zeit rennt uns davon!

 

Der Zauber fiel abrupt von Youma, als es plötzlich ganz still im Raum wurde – mit einem hellen Ton hatte Nocturn das Lied beendet und verdattert, atemlos starrte Youma ihn an, beobachtete völlig erstarrt, wie Nocturn die Augen bedächtig wieder öffnete, als um ihn herum der Applaus ertönte. Kam es Youma wegen dem Scheinwerferlicht nur so vor, oder war Nocturn auch rot geworden?  

Wieder schoss Youma in den Sinn, dass sie keine Zeit hatten und entschlossen, als würde eine unsichtbare Macht ihn genau wie die Menschen um ihn herum auf die Beine ziehen, richtete er sich auf. Die unsichtbare Macht schubste ihn weiter, weg von seinen sich natürlich nun beschwerenden Sitznachbarn, zu einem im Schatten gelegenen Punkt, von wo aus er sich unbemerkt zu Raria teleportierte, denn er war sich bewusst, dass sie natürlich in Nocturns Nähe war und sie sicherlich die erste Person sein würde, an die er sich nach dem Empfangen des Applauses und der weißen Rosen wenden würde.

Natürlich achtete er dabei nicht sonderlich auf Diskretion und auch darauf nicht, dass Nocturns Managerin beinahe vor Schreck in Ohnmacht fiel, als Youma so plötzlich neben ihr auftauchte. Sie herrschte ihn mit ihrem Französisch an, aber Youma könnte es nicht weniger interessieren in diesem Moment – er wechselte auch nur einen kurzen Blick mit Raria, ehe seine Augen, als wären sie magnetisch angezogen von Nocturn, zu ihm huschten, der sich gerade noch ein weiteres Mal verbeugt hatte und sich für die Rosen bedankte.

 

Dann endlich drehte er sich herum und ging auf sie zu – ehe er allerdings die Bühne verließ, drehte er ein letztes Mal den Kopf zu White herum. Sie wirkte erfreut, der Abend hatte ihr wohl gefallen.... Der Wächter beugte sich zu ihr herunter, flüstere ihr etwas ins Ohr und sie nickte eifrig, aber auf eine zurückhaltende Art.

Sie war wirklich schön... das Licht.

Aber sein Schicksal war nicht das Licht.

Nocturn drehte sich lächelnd herum, sah den immer noch sehr verwirrt, ja, fast aufgelöst aussehenden Youma an und spürte wieder, wie sein Körper sich erwärmte.

Sein Schicksal war ein anderes.

 

„Nocturn... es... es tut mir leid, ich wusste nicht, dass... dass White...“ Nocturn lächelte immer noch, ohne etwas zu sagen – und ebenso schweigend stellte er sich genau vor Youma, dem das ganze Blut in den Kopf schoss, weil er Nocturns sanftes Lächeln nicht platzieren konnte. Genauso wenig verstand er, warum Nocturn Raria seine Hengdi reichte oder den stummen Blick, den die beiden austauschten, ehe Nocturn wieder Youma ansah – und seine Hand nahm.  


Nachwort zu diesem Kapitel:
Weiter geht's ♥

Es gab eine kleine Pause - entschuldigt bitte uwu aber jetzt geht es weiter und wir nähern uns dem Ende der ersten Hälfte von Opus Magnum... nur noch ein Kapitel ♥

Aber noch möchte ich nicht über das nächste Kapitel sprechen, auch wenn mir das sehr wichtig ist - denn dieses hier liegt mir auch sehr am Herzen! Ich hatte wirklich Spaß beim Schreiben dieses Kapitels, weil mir von Anfang an klar war, dass ich schreiben wollte, wie Nocturn seine Liebe durch Musik gesteht - und wie Youma, der am Anfang seine Musik so gar nicht verstehen konnte... es jetzt aber versteht. uwu ♥

Viel Spaß beim Kapitel >w< ♥ Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: MiyaToriaka
2016-01-05T11:29:14+00:00 05.01.2016 12:29
;_____________________________;
Wie mich Nocturn schon wieder an mich erinnert. Damals. Als ich auch raus fand, dass mein ewig langer Schwarm vergeben war. Es ist ein schreckliches Gefühl und ich kann nur sagen, Nocturn kann sehr froh sein, dass er Youma zu dem Zeitpunkt an seiner Seite hatte, auch wenn dieser mehr oder weniger den Untergang der Hikari damit eingeläutet hatte *HUST*. Und überhaupt mit dem Erfüllen von Nocturns Wunsch ihm auch gleichzeitig das Herz gebrochen hat.
Dass man hier White und Kanori miteinander sieht, finde ich sehr, sehr schön, auch, dass Green indirekt dabei ist. Es gibt so viele Familien allgemein in der Anime-Welt, die man gerne einmal so glücklich zusammen gesehen hätte und auch hier ist es... NARF.
Jedenfalls ist die Art und Weise, wie du das speziell geschrieben gewidmete Lied beschrieben hast, mehr als beeindruckend und ergreifend. Als die Töne ihn wie eine Hand sanft berühren und zu Nocturn zurück führen, da spätestens hat es mich voll und ganz ergriffen. Auch wie am Anfang Nocturns Euphorie und Freude beschrieben wurde, dazu der komplette Gegensatz von Raria und Youma, die sich dazu noch in die Haare kriegen und wahrscheinlich jetzt nie wieder richtig miteinander reden können werden - ganz, ganz toll.
Ich liebe dieses Kapitel. Es ist wirklich außerordentlich gut geschrieben und ich hab alles davon genossen. ♥
Von:  Keiko-maus
2015-11-26T20:11:33+00:00 26.11.2015 21:11
Raria ist lustig^^ Nervöer als Nocturn bei den Konzerten xD Und irwie ist sie auf Perfektion aus, wa? xDD
Okay, Youma klaut drei Karten xD Und ich muss sagen, dass ich die Vorstellung von Raria in Bezug auf Youma sehr lustig finde^^ Mit drei Karten in einem fremden Land rumstehen xDD Aber nee, er hat was anderes geplant :D Und was ein Plan^^ Läd er White ein, wie genial^^ Bin ja schon sehr gespannt^^ Obwohl es mich wundert, dass White allem Anschein nach so ruhig ist, obwohl sie doch Raria spüren muss ö.ö
Oh ö.ö White hat Kanori mitgebracht^^" Und ist auch noch schwanger^^" Oje, bin ja gespannt, wie Nocturn darauf reagieren wird. Hoffentlich nicht sauer ;.; Ah, warte, warte, zweites Kind? Zweites? Im Ernst? Dann ist das Green und... und... wer ist der Wächter? xDDD

Okay, sehr schönes Kapitel :3 Und sehr interessant, was Nocturn mit seiner Musik hervorrufen kann^^ So viel Liebe und Gefühle und ach :D
Von:  fahnm
2015-09-09T21:19:06+00:00 09.09.2015 23:19
Spitzen Kapitel


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