Rekonstruktion des Wesentlichen
Sie saß in der Straßenbahn und fuhr Richtung Stadtmitte. Ihre Gedanken kreisten jedoch um die vergangenen Tage, die bei ihr deutliche Spuren hinterließen.
Ihre Eltern verhielten sich merkwürdig und sprachen zurzeit sehr wenig miteinander. Die ewigen Diskussionen hatten zwar aufgehört, aber Mimi war sich sicher, dass ihr Vater immer noch nachts auf die Couch auswanderte.
Mit Sora hatte sie nicht mehr gesprochen. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihr aus dem Weg ging. Wahrscheinlich weil sie wusste, dass ihre ständigen Fragen nicht aufhören würden.
Und dann war da auch noch Tai, der sie regelrecht dazu überredet hatte, am Samstag zum Fußballspiel zu kommen.
Sie war mittlerweile doch eingeknickt und hatte sich von seinen schokobraunen Augen, in denen sie sich immer verlor, überzeugen lassen.
Standhaftigkeit war noch nie ihre Stärke gewesen.
Und jetzt saß sie hier. In der Straßenbahn. Auf dem Weg zu dem Treffpunkt, den sie mit Noriko ausgemacht hatte.
Mimi war gespannt, mit welchen Informationen, sie sie heute bereichern würde. Sie hoffte inständig, dass sie ihr weiterhelfen würden.
Sie hasste es in der Luft zu stehen und Angst vor Veränderungen haben zu müssen. Sie fühlte sich hilflos.
So als würde ihr jemand die Luft zum Atmen nehmen. So als würde sie lautstark schreien und keinen einzigen Ton hervorbringen.
Es war wie verhext.
Noriko musste ihr helfen.
Auch wenn sie ein bisschen Angst vor der Wahrheit hatte.
Was wäre, wenn sie ihr etwas erzählte, was sie nicht hören wollte? Ein Geheimnis, mit dem sie nicht zurechtkam?
Eigentlich hätte ihr das Ganze auch egal sein können, aber seitdem die Spannung innerhalb ihrer Familie so angestiegen war, musste sie es einfach wissen.
Vielleicht schaffte sie es ja zwischen ihren Eltern wieder zu vermitteln. Sie waren jahrelang ein glückliches Paar gewesen. Küssten sich bei jeder Gelegenheit und schmusten miteinander.
Ja, Mimi würde ihre Beziehung als „perfekt“ und harmonisch beschreiben.
Doch es gab etwas, das Mimi nicht wusste. Und alle Stränge liefen bei Ayame zusammen.
Sie war der Schlüssel. Mimi musste ihn nur noch ins Schloss stecken.
_
Zehn Minuten später kam sie am Treffpunkt an. Menschenmassen liefen durch die Fußgängerzone und steuerten wahllos auf sie zu.
Von Noriko…keine Spur.
Vielleicht kam sie auch gar nicht. Lockte sie nur in einen Hinterhalt, um ihr später eine knappte SMS zu schreiben, sie verarscht zu haben. Mimi stand missmutig vor dem Einkaufszentrum und verschränkte die Arme vor der Brust.
Immer wieder tippte sie mit dem Fuß auf den Boden und starrte verzweifelt in die Menge.
Nichts zu sehen. Sie kam wohl nicht.
Mimi sah auf die Uhr und stellte nüchtern fest, dass sie noch keine zehn Minuten wartete.
Sie war wohl einfach zu ungeduldig, deswegen entschied sie sich dazu, noch ein wenig zu warten.
Zum Glück war es angenehm warm heute.
Mimi blieb einfach an Ort und Stelle stehen und sah in den hellblauen Himmel, der keine einzige Wolke aufzeigte. Es war klar und die Sonne schien.
Ein laues Lüftchen blies und brachte ihre Haare etwas durcheinander.
Mimi versuchte ihre Haarsträhnen zu ordnen, als sie plötzlich jemand von der Seite antippte.
Erschrocken drehte sie sich zur Seite und erkannte ein bekanntes Gesicht vor sich.
„Man, du hast mich erschreckt“, grummelte sie und hielt sich die Hand vor die Brust.
„Sorry, ich konnte doch nicht ahnen, dass du so schreckhaft bist“, meinte sie nur und stemmte die Hände in die Hüfte.
Mimi musterte sie genau. Ihre Schuluniform war in dem gleichen schlichten Blau gehalten wie ihre. Allerdings hatte sie rote Akzente und eine rote Krawatte bildete den Mittelpunkt des Kleidungstücks. Das Pony ihrer langen braunen Haare hatte sie mit einer roten Spange zurückgesteckt.
„Und was machen wir jetzt? Wollen wir uns irgendwo hinsetzen?“, fragte Mimi und sah sie gespannt an.
Noriko zuckte nur mit den Achseln und schaute sie teilnahmslos an.
„Mir egal, nur das was ich dir erzähle, ist nicht ganz ohne“, bereitete sie sie ohne Umschweife darauf vor.
„Okay“, sagte Mimi langsam und zog eine Augenbraue in die Höhe. „Wollen wir vielleicht in das Café da hinten gehen? Da kann man sich draußen hinsetzen.“
„Klar, was auch immer“, antwortete sie und klang vollkommen gleichgültig.
Mimi nervte ihr Tonfall ungemein. Sie hatte ihr doch die Handynummer in die Hand gedrückt, warum konnte sie nicht wenigstens ein bisschen mehr Interesse zeigen?
Sie setzen sich einander gegenüber und bestellten jeweils eine Cola und einen Orangensaft.
Erst als die Kellnerin ihnen die Getränke gebracht hatte, unterbrach Noriko die beißende Stille, die sich über sie gelegt hatte.
„So, jetzt sind wir hier. Was willst du wissen?“
Alles.
„Naja, was zwischen unseren Müttern vorgefallen ist! Meine verhält sich seit unserer Begegnung richtig seltsam und redet mit meinem Vater kaum noch ein Wort“, erklärte sie verzweifelt und nippte an ihrer Cola.
„Da hat sie wohl den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden gehabt“, murmelte sie hörbar und fuhr sich mit der Hand über ihr Kinn. Sie wandte den Blick von Mimi und kramte in ihrer Tasche.
Heraus holte sie einen grünen Ordner, der viele verschiedene Zettel und Papiere beinhaltete.
„W-Was ist das alles?“, fragte sie verwirrt, als Noriko den Ordner fein säuberlich auf den Tisch legte und den Inhalt ausbreitete.
„Mit 13 hatte ich Leukämie. Eine seltene Form, aber das spielt wohl keine große Rolle. Ich war auf jeden Fall sehr krank“, begann sie und durchforstete die Dokumente.
Anscheinend wusste sie genau, wo sie was finden konnte.
„Okay“, brachte Mimi hervor und sah sie skeptisch an. Warum erzählte sie ihr nur sowas? Was hatte das Ganze mit ihr zu tun?
Sie bemerkte ihre fragenden Blicke und fuhr unbeirrt fort.
„Ich bin damals ins Krankenhaus gekommen und brauchte dringend eine Bluttransfusion. Mein Blutbild war wohl alles andere als gut.“ Sie lachte leise, fing sich aber schnell wieder.
„Meine Eltern waren natürlich gleich Feuer und Flamme, Blut zu spenden, um mir das Leben zu retten“, erklärte sie und biss sich auf die Lippe. „Doch leider kam weder meine Mutter, noch mein Vater als Spender in Frage.“
Mimi runzelte die Stirn und verkrampfte ihre Finger ineinander. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit. Was wollte sie ihr damit nur sagen?
„Warum erzählst du mir sowas?“, wollte Mimi verständnislos wissen.
Noriko schüttelte nur mit dem Kopf. „Du raffst es wohl nicht! Mein Vater kann nicht mein Vater sein.“
„Und was hat das mit mir zu tun? Versteh‘ ich wirklich nicht“, meinte sie barsch und verdrehte die Augen.
„Du scheinst wohl überhaupt nichts zu wissen“, stellte sie nüchtern fest und schlug den Ordner zu.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Welche Blutgruppe hast du?“
„Welche Blutgruppe?“, wiederholte sie und schien die Frage nicht zu verstehen. „A, warum?“
„Und welche Blutgruppe hat dein Vater?“
Mimi klappte der Mund leicht auf und sie schüttelte unwirsch den Kopf. „Was spielt das für eine Rolle? Er hat auch A, wie ich“, stellte sie klar und sah ihr Gegenüber dringlich an. Sie wusste es nur, weil sie in Amerika einmal mit ihrem Vater beim Blutspenden war. Doch warum wollte sie ausgerechnet das von ihr wissen?
„Meine Eltern haben beide Blutgruppe 0. Ich habe die gleiche Blutgruppe wie du!“, ergänzte sie und hoffte anscheinend, dass es bei Mimi ‚Klick‘ machen würde.
Doch sie rutschte nur unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, bis sie eine Position gefunden hatte, in der sie sich einigermaßen wohlfühlte.
„Ja, was heißt das denn jetzt? Warum hatten unsere Mütter Streit?“, wollte sie wissen. Der Groschen war wohl immer noch nicht gefallen.
„Du bist echt schwer von Begriff“, meinte sie herablassend und musterte sie aus dem Augenwinkel heraus. „Meine Mutter hatte eine Affäre und dreimal darfst du raten mit wem.“
Mimis Augen weiteten sich und sie spürte ein deutliches Stechen in der Brustgegend, sodass sie automatisch die Schleife ihres Oberteils etwas löste. Sie bekam nur noch schwer Luft und ihre Atmung verlangsamte sich ungemein. Wusste sie, was sie da behauptete? Welchen Schaden sie damit anrichten könnte?
„Was redest du da? Spinnst du?“ Mimi wurde lauter als gewohnt und funkelte ihr Gegenüber böse an. Kein Wunder das ihre Mutter so sauer war. Noriko spielte ein gefährliches Spiel. Und sie war sich den Konsequenzen vollkommen bewusst gewesen.
„Ich sagte nur die Wahrheit. Meine Mutter hat es mir erzählt, nachdem mein Vater uns verlassen hatte“, erklärte sie weiter.
„Du bist doch krank“, knurrte Mimi und sprang auf. „Du willst bestimmt nur Aufmerksamkeit! Nur weil dich dein Vater verlassen hat, stiftest du in meiner Familie so eine Unruhe?“
Mimi nahm ihre Tasche und kramte ihr Portmonee hervor.
„Tut mir leid, auf so ‘ne kranke Scheiße habe ich keinen Bock“, erwiderte sie wütend und legte das Geld nehmen ihre halbleere Cola.
„Es ist aber keine kranke Scheiße. Es ist die Wahrheit. Frag‘ doch deine Mutter oder nein, frag‘ am besten gleich deinen…“, sie stoppte kurz und sah sie herausfordern an. „Unseren Vater.“
Mimi gab einen undefinierbaren Laut von sich und drehte den Kopf zu Seite.
„Du kannst mich mal“, zischte sie spitz ohne sie nochmal anzusehen.
Danach lief sie zurück zur Straßenbahn.