Zum Inhalt der Seite

Zwischen den Welten

Das Mary Sue-Projekt
von
Koautor:  Erenya

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ankündigung der Göttin:
»Liebe Shicchi, du brichst viele Herzen, vor allem aber deines, wenn das so weitergeht. Eine kluge Frau sagte mal "Lass dich einfach treiben, dann findest du deine Wurzeln." Jedenfalls, der nächste Morgen wird wieder spektakulär.«

Ich kenne das Sprichwort nicht, gibt es das wirklich? Egal, 'treiben lassen' ist auf jeden Fall 'ne ganz blöde Idee! Am Ende lande ich wer-weiß-wo und werde von skurrilen Gestalten in eine Ecke gedrängt oder von irgendwelchen Gegenständen erschlagen … Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Schreck, lass nach

„Hörst du mich? Hey, kannst du mich verstehen?“

Wie in weiter Ferne höre ich die Stimme. Jung, zierlich. Erst stumpf, als sei ich unter Wasser, dann wird sie klarer.

„Es tut mir so leid.“

Auf einmal steht sie vor mir. Das kleine Mädchen von damals. Wie war ihr Name noch? Mari? Was will sie von mir?

„Ich habe nicht viel Zeit.“

Es fällt mir schwer, ihre Gestalt richtig wahrzunehmen. Ich versuche mich auf ihr Gesicht zu konzentrieren, die großen eisblauen Augen, doch es fällt mir schwer. Ihr Bild ist unscharf und je mehr ich mich anstrenge, desto mehr scheint sich ihr Bild zu verzerren.

„Der erste Wunsch hätte niemals so schiefgehen dürfen. Dabei wollte ich diese beiden Menschen in ihrer Trauer glücklich machen … Dieses Mal wirst du nicht sterben, versprochen.“

‚Warte!‘, will ich rufen, doch es geht nicht. Ich höre meine eigene Stimme nicht.

Dann verblasst ihr Bild immer mehr. Wird dunkler, bis ich nichts mehr vor mir sehe. Alles wird still.

 

Ich öffne meine Augen. Um mich herum ist es ruhig, ich nehme nichts wahr. Benommen stütze ich mich nach oben und setze mich auf. Es dauert einen Moment, bis auch die übrigen meiner Sinne langsam aber sicher zu mir zurückkehren.

Ah, richtig. Ich bin in meinem Zimmer. In meinem Bett. Der Umgebung nach zu urteilen hat sich nichts verändert. Ich bin noch immer hier im Amnesia-Universum. Es sei denn, ich bin endlich aufgewacht und stelle gleich fest, nur in einer Pension zu sein. Oder bei irgendwem zu Besuch, der so gütig war, mich sturzbesoffen bei sich pennen zu lassen. Die Wahrscheinlichkeit ist zwar gering, aber hey, wie viel wahrscheinlicher wäre die andere Variante?

Mein Blick schweift gedankenleer durch das Zimmer. Vor meinem Bett liegt eine Matratze ausgelegt. Das Bettzeug darauf ist ordentlich zusammengelegt. Orion hatte dort geschlafen, oder nicht? Wo steckt der Knirps?

Müde reibe ich meine Augen, bevor ich meine Hände in den Nacken gleiten lasse und mich einmal gut durchstrecke. Anschließend angle ich auf der Schrankablage nach meinem Handy, um die Uhrzeit zu prüfen. Kurz vor acht. Es lohnt sich nicht, noch einmal unter die warme Decke zu kriechen.

„Dieses Mal wirst du nicht sterben.“

Widerwillig quäle ich mich aus dem Bett. Nachdem ich meine Brille gefunden und das Fenster angekippt habe, verlasse ich das Zimmer. Kaum dass ich das Wohnzimmer betrete, bemerke ich ein Klappern aus der Küche. Scheint, als würde sich jemand am Geschirr bedienen.

„Orion? Was machst du da?“

„Oh, du bist wach! Guten Mo… –“

Mein Herz setzt einen Schlag aus, als Orion auf dem Stuhl ins Wanken gerät. Ich mache einen Satz nach vorn. „Vorsicht!“

„Wuah!“

So schnell ich kann bin ich bei ihm. Meine Hände liegen an Orions Rücken und drücken ihn bestimmt nach oben. Mit meinen Beinen fixiere ich den Stuhl gegen die Küchenzeile, um zu verhindern, dass er verrutscht.

„Phew, das war knapp … Danke, dass du mich aufgefangen hast.“

Erleichtert atme ich aus. Orions Haltung ist stabil, dennoch lasse ich meine Hände an ihm, einfach für den Fall der Fälle.

„Sei vorsichtiger! Das hätte echt schiefgehen können“, mahne ich und sehe zu ihm hoch. Skeptisch lege ich den Kopf schief. „Was machst du da eigentlich?“

„Ich wollte den Tisch decken“, erklärt er. Erst da erkenne ich die bunten Teller, die er in seinen Händen hält. „Aber eure Schränke sind ganz schön hoch. Da komme ich nicht so einfach ran.“

„Wieso hilft dir Ukyo nicht dabei? Ist er nicht da?“

„Er ist kurz weg zum Bäcker. Er hat gesagt, ich soll schon mal den Tisch machen.“

„Na super.“ Ich seufze verzweifelt. „Wie gut, dass ich gerade gekommen bin, hm? Das kann man sich ja nicht mitansehen. Komm, ich helfe dir.“

„Sorry, ich habe nicht aufgepasst. Bisher hat das ganz gut geklappt.“

Ich nehme Orion das Geschirr entgegen, welches er aus dem Schrank hervorgeholt hat. Kurz erkläre ich ihm, welche Tassen Ukyo und ich nutzen, bevor ich mit dem Bestücken des Esstisches beginne. Orion folgt nur kurz darauf und platziert auf meine Anweisung Tassen und Besteck, wo sie hingehören.

„Und, wie hast du geschlafen?“, will ich währenddessen von ihm wissen.

Breit lächelnd sieht er mich an. „Ganz gut. Ich bin nicht ein Mal wach geworden!“

„Freut mich. Dann habe ich wohl nicht im Schlaf irgendwelches dummes Zeug gemacht?“

„Nein, ich denke nicht. Und wenn, habe ich es nicht mitbekommen.“

„Da bin ich erleichtert“, lächle ich.

„Ja. Ich hätte nicht gedacht, dass meine erste Nacht so toll wird.“

„Was hast du erwartet? Nein, warte, ich will es gar nicht wissen.“

„Ich war ziemlich aufgeregt. Ich hatte gedacht, ich könnte vielleicht gar nicht schlafen.“

„Schlafen Geister denn sonst nicht?“

„Mh, doch“, sagt er zögerlich. Nachdenklich legt er den Kopf zur Seite. „Schon, aber anders, glaube ich.“

„Hm.“ Für einen Moment überlege ich. „Naja, tröste dich. Schlafen ist eigentlich ganz unspektakulär. Solange du gut einschlafen kannst und keine seltsamen Träume hast, ist alles ganz harmlos.“

„Meinst du denn, dass ich träumen werde?“

„Gute Frage. Das werden wir wohl sehen.“

Abschweifend sehe ich auf den Tisch vor mir. Meine Gedanken driften ab zu dem Mädchen, das mir im Traum erschienen ist. Und zu den Worten, die sie gesagt hat. Es hat sich realer angefühlt als ein Traum, genau wie damals, als ich diesen verwirrenden Albtraum hatte. Ja, vielleicht ist erschienen das richtige Wort. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege …

„Was ist?“, dreht sich Orion mir zu, als er bemerkt, dass ich ihn ansehe.

Ich zögere noch einen Moment. „Du, Orion, darf ich dich etwas fragen?“

„Klar. Aber …“ Unsicher hebt er die Schultern, auf seinem Gesicht spielt ein bekümmerter Ausdruck. „Du weißt, ich kann dir vielleicht nicht darauf antworten.“

„Keine Sorge“, will ich ihn beschwichtigen. „Ich glaube, darauf darfst du mir antworten.“

„Okay.“ Seine Haltung entspannt sich. „Was ist denn?“

„Mari“, sage ich und beobachte aufmerksam, wie er auf diese Ansprache reagiert. „Niel hatte sie erwähnt. Dieses Mädchen … Weißt du etwas über sie?“

„Naja … ein bisschen.“ Mir entgeht nicht die Vorsicht in seiner Stimme. Seine blauen Augen begegnen mir achtsam.

„Ist es möglich, dass sie mit mir kommuniziert?“

„Wie meinst du das?“

„Ich habe von ihr geträumt, aber es schien mir mehr als nur ein Traum zu sein.“

„Hat sie etwas zu dir gesagt?“

„Ja.“ Ich nicke. Darauf zögere ich und wäge ab, wie viel mehr ich ihm erzählen soll.

„Wie oft ist das schon passiert?“, will er wissen. Ich glaube, dass er meine Unsicherheit bemerkt hat.

„Jetzt zum zweiten Mal“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Das erste Mal vor einigen Nächten. Ich hatte einen schrecklichen und sehr verwirrenden Albtraum, dass meine Katze überfahren wurde und … Jedenfalls, da tauchte sie am Ende auf. Und dann eben heute.“

„Hm … Und wieso taucht sie auf? Was sagt sie?“

„Weiß nicht. Meistens … entschuldigt sie sich viel. In etwa wie bei unserem ersten Treffen. Sie entschuldigt sich und sagt, dass es ihre Schuld ist und sie irgendetwas wieder in Ordnung bringen will. Und manchmal … erwähnt sie noch andere Personen, die davon betroffen sind. Wovon auch immer.“

Orion senkt den Blick. Ich sehe ihm an, dass ihn etwas an meiner Aussage bekümmert. Was, wird er mir vermutlich nicht sagen. Es macht daher keinen Sinn, ihn zu fragen.

„Steht sie … in irgendeiner Art Verbindung zu mir oder so?“, frage ich stattdessen.

„Mh, ich denke schon.“

„Du denkst schon? Soll das heißen, du weißt es nicht sicher?“

„Doch, schon“, lenkt er ein. Darauf sieht er zu mir hoch, nur kurz, bevor er wieder zur Seite ausweicht. „Das … ist nicht so einfach. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll“, spricht er unsicher.

Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, schließe ihn jedoch wieder. Es hat keinen Sinn zu sehr nach Details zu bohren. Vielleicht weiß es Orion auch wirklich nicht. Außerdem … habe ich Angst. Ich bin nicht sicher, ob ich für die gesamte Wahrheit schon bereit bin.

„Kannst du mir mehr über sie erzählen?“, frage ich vorsichtig.

Orion sieht zu mir hoch. „Über Mari?“

„Ja“, nicke ich. „Ich wüsste gern, wer sie ist. Was sie macht und wieso sie mit mir in Kontakt tritt. Sofern du mir das sagen darfst.“

Ich sehe, wie er über meine Bitte nachdenkt. Schlussendlich nickt er. „In Ordnung. Ich werde dir sagen, was ich über sie weiß. Aber ich fürchte, das wird nicht viel sein.“

„Nicht schlimm“, entgegne ich abmildernd. Ich bin zutiefst erleichtert, dass er sich bereit erklärt hat, wenigstens ein kleines Licht in mein Dunkel zu bringen. „Ich bin schon froh, wenn ich erst mal irgendetwas weiß. Ich bin mir sicher, das wird schon helfen.“

In dem Moment hören wir, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird. Es wird laut im Flur, es raschelt und klappert. Wenig später erkenne ich Ukyo, wie er mit einer braunen Papiertüte im Arm in das Wohnzimmer tritt. „Orion, ich bin wieder da.“

 

Wenig später sitzen wir am Frühstückstisch beisammen. Zwischen Brötchen und Warmgetränken habe ich den Kuchen angeschnitten, der vom Nikolausevent übriggeblieben ist. Lange genug hat es gedauert, dass ich dazu gekommen bin. Doch der Fakt, dass Ukyo und Orion ihn mit mir gemeinsam probieren, macht mir das Warten wett.

Ich genieße ein Frühstück, wie ich es mir immer gewünscht hätte: in fröhlicher Ausgelassenheit mit guten Freunden. Auch wenn es seltsam ist, Ukyo und Orion so zu bezeichnen. Aber es stimmt, wenigstens für den Moment. Ich fühle mich rundum wohl, zufrieden und in guten Händen. Alles ist perfekt, wie es ist und jeglicher Kummer und Zweifel sind weit weg.

„Der Kuchen ist gut.“

„Ja“, nicke ich bestätigend und lächle zu Ukyo hinüber. „Und das, obwohl er schon drei Tage liegt. Er hat sich erstaunlich gut gehalten.“

„Er war auch gut eingepackt. Aber wieso hast du ihn nicht schon früher angeschnitten?“

„Willst du mich rollen? Natürlich, weil ich ihn mit dir zusammen essen wollte. Aber es hat sich ja nie ‘ne Gelegenheit ergeben“, sage ich vorwurfsvoll.

Ukyo gibt ein leises „Oh“ von sich und senkt den Blick betroffen.

„Der ist wirklich lecker“, bekundet Orion fröhlich. Groß sieht er mich an. „Kein Wunder, dass du beim Wettbewerb gewonnen hast. Du hast bestimmt viel Lob bekommen.“

„Naja, ehrlich gesagt, fand ich den von Shin und Toma besser. Die beiden haben keine fertige Backmischung verwendet und trotzdem einen großartigen Kuchen gezaubert. Den hättest du probieren sollen! Er war einfach umwerfend.“ Die bloße Erinnerung lässt mich schwärmen.

„Der von Ikki und Kento hat auch toll ausgesehen“, wirft Ukyo ein.

„Oh ja, aber hast du den probiert?“

„Ja, aber …“ Sein schiefes Lächeln gibt mir zu verstehen, was er unausgesprochen lässt.

 „Schon gut, du brauchst nichts weiter zu sagen. Sehe ich genauso“, pflichte ich bei und lache.

Derweil wechselt Orions Blick zwischen Ukyo und mir hin und zurück. Ich höre das Lächeln heraus, als er sagt: „Ihr zwei versteht euch wirklich gut. Wie schön, das freut mich zu sehen.“

Darauf wird Ukyo still. Ich kann es nicht genau benennen, aber ich spüre instinktiv, dass etwas anders ist. Bis eben hatte er mir noch herzlich ins Gesicht gelacht, jetzt weicht er meinem Blick aus. Seine Lippen tragen weiterhin ein mildes Lächeln, doch es wirkt seltsam gezwungen auf mich. Was ist auf einmal los?

„Und?“, wende ich mich Orion zu. Auf gar keinen Fall will ich zulassen, dass Unbehagen zwischen uns aufkommt. „Woher kennt ihr beiden euch eigentlich? Ich meine …“

Ich stoppe mich gerade noch rechtzeitig. Um ein Haar wäre mir herausgerutscht, was ich über Orion weiß. Dass er einst mit Hanna verbunden war, weiß Ukyo möglicherweise nicht. Das hier ist das Spadeverse, erinnere ich mich. Es ist längst nicht die Gesamtheit des Spiels. Davon abgesehen bezweifle ich, dass es ratsam wäre, dieses Wissen preiszugeben. Das würde bestimmt komisch aussehen, oder etwa nicht?

„Ich kannte Ukyo schon“, erklärt Orion, worauf sein Blick zu Besagtem geht. „Naja, ein wenig zumindest.“

Ich folge seinem Blick. Gespannt beobachte ich, wie Ukyo aufsieht und mit seinem üblichen Lächeln quittiert.

„Mh“, bestätigt er und nickt. „Ich kannte Orion auch schon vom Hören. Niel hat mir von ihm erzählt. Aber es war gestern das erste Mal, dass ich ihm begegnet bin.“

Oh, gut. Ukyo weiß also, was Orion ist. Und wie viel er von seiner Beziehung zu Hanna weiß, lässt sich gewiss herausfinden. Orion hatte nicht misstrauisch gewirkt, als ich sie gestern erwähnt hatte. Bestimmt kann ich ihm weitere Informationen entlocken, sodass ich mich auf sicherem Terrain bewege. Es wäre ganz schlecht, wenn ich mich ungewollt verplappere und damit nur unangenehme Fragen zu mir aufwerfe.

„Niel-sama hat mir auch von Ukyo erzählt. Ich glaube, ich verstehe ihn jetzt ein wenig besser als vorher.“ Bei Orions versöhnlichem Lächeln geht mir das Herz auf. Dann sieht er zu mir. „Ich denke, es ist gut, dass du bei Ukyo bist. Er kann auf dich aufpassen und … er versteht dich.“

Seine Worte lassen mich unsicher zu Ukyo sehen. Was genau hat das zu bedeuten? In welcher Hinsicht ist das gemeint? Versteht er mich auf einer menschlichen Basis oder … kann es sein, dass er etwas weiß?

Ich spüre, wie sich Orions Hand warm auf meine legt. Als ich zu ihm sehe, lächelt er vorsichtig zu mir hoch.

„Keine Angst“, spricht er gedämpft. Der sanfte Halt seiner Hand soll mich ermutigen. „Ukyo weiß Bescheid. Es gibt ein paar Dinge, die er weiß.“

Jetzt bin ich es, die sich unbehaglich fühlt. Ein Teil von mir will aufspringen und davonlaufen, doch mein Körper klebt wie festgewachsen auf dem Stuhl. Flucht ist keine Option. Auf der anderen Seite werden die beiden mir ebenso wenig ausweichen. Zumindest glaube ich das. Ein Teil von mir hofft es inständig.

„Du weißt es?“, frage ich flüsternd zu Ukyo hinüber. Jede einzelne Silbe fällt mir schwer.

Seine grünen Augen begegnen mir schuldbewusst. Er schweigt einen langen Moment, ehe er zaghaft nickt. „Ja.“

„Wieso … hast du nichts gesagt?“

„Ich wusste nicht, wie ich es hätte sagen sollen. Bitte entschuldige.“

Ich könnte auf der Stelle losheulen. Es ist nicht so, dass ich mich verraten fühle – ich bin erleichtert. Ein großer Brocken namens Einsamkeit fällt von mir ab. Gleichzeitig fühle ich mich noch beladener als zuvor. Was genau weiß er? Wie viel von der Wahrheit über mich kennt er?

„Niel-sama hat ihm ein paar Dinge erzählt. Er hat Ukyo viel zu verdanken“, erklärt Orion derweil. Ich bin nicht fähig, einen von ihnen länger anzusehen. „Es tut mir leid, dass das alles so kompliziert ist. Aber wenn du magst, kann ich dir etwas über Mari erzählen.“

Ich nicke abwesend. Es entsteht eine Pause, bis ich höre, wie Orion tief durchatmet.

„Okay, also“, setzt er an, worauf er seine Worte abzuwägen scheint. „Mari ist … eine von uns. Sie hatte schon immer ein großes Interesse an den Menschen und hat sie gern beobachtet und über sie gelernt. Eigentlich ist sie mehr wie Niel-sama. Sie kann, genau wie er, den Menschen ihre Wünsche erfüllen. Allerdings … ist sie nicht ganz so erfahren und, naja, ihre Macht ist nicht ganz so groß wie seine … Sie ist verantwortlich für das, was dir passiert ist. Ihretwegen bist du in dieser Situation gefangen.“

Also hatte das Mädchen recht: Es ist ihre Schuld. Irgendwie schockt es mich nicht. Ein Teil von mir hat sich bereits mit dieser Möglichkeit abgefunden, seit ich Niel entlarvt habe. Ich habe geahnt, dass es wahr ist. Leider beantwortet es nicht viel von meinen Fragen.

„Wessen Wunsch hat sie erfüllt?“, will ich wissen. Ich bekomme meine Stimme kaum erhoben. „Habe ich … mir etwas gewünscht?“

„Nicht direkt.“

Ich schnaube verächtlich. Na wunderbar, tolle Antwort. Ich merke, dass ich mit diesen Fragen nicht weiterkomme. Offenbar kratze ich schon wieder an dieser Grenze, die man warum-auch-immer um dieses Thema herum gezogen hat. Frustration macht sich in mir breit. Diese Heimlichtuerei, ich hasse sie. Ich hasse es wirklich abgrundtief!

„Also stimmt es, dass sie mit mir kommuniziert“, vermerke ich trocken.

„Es ist möglich“, bestätigt mir Orion.

Prüfend sehe ich zu Ukyo. In einer steifen Haltung sitzt er auf seinem Stuhl, das Kinn gesenkt und den Blick auf seinen leeren Teller fixiert. Ich kann nur vermuten, dass auch dieser Punkt ihm nicht neu ist. Orion hatte nicht gezögert, trotz seiner Anwesenheit über Mari auszupacken. Und Ukyo wiederum hatte keine Fragen gestellt. Es ist einfach, eins und eins zusammenzuzählen. Ich weiß nur noch nicht, ob es mich mehr ärgert oder beruhigt.

„Wenn sie mit mir in Kontakt treten kann, kann ich es dann auch umgekehrt?“

„Das weiß ich nicht“, antwortet Orion gedrückt. „Es kommt darauf an.“

„Worauf?“

„Es ist nicht so einfach, weißt du?“

Keine Ahnung, ob ich das verstehe. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, auf welche Art ein Geistwesen mit einem Menschen verbunden ist. Aber vermutlich spielt das auch gar keine Rolle. Fürs Erste will ich es aufgeben, weiter nachzubohren. Es waren jetzt wahrlich genug neue Informationen für ein Frühstück. An denen werde ich noch eine Weile zu knabbern haben.

 

Vieles hat sich nach diesem Gespräch verändert. Es ist deutlich, als wir gemeinsam den Abwasch bedienen. Ich fühle mich befangen, neben Ukyo zu stehen. Zwanghaft versuche ich, irgendwelche unverfänglichen Gespräche mit ihm anzuzetteln. Sein schweigsames Verhalten jedoch macht mir dieses Unterfangen nicht gerade leicht. Beinah wünschte ich, diese ganze Sache wäre niemals zur Sprache gekommen. Verdammt, wirklich.

Als wir mit allem fertig sind, ziehe ich mich auf mein Zimmer zurück. Rücklings werfe ich mich auf das Bett und lege die Arme über mein Gesicht. Toll, und wieder laufen meine Gedanken Amok. Tausende und Abertausende von Fragen überfluten mich. Ich habe das Gefühl, mein Kopf platzt jeden Moment. Was mache ich jetzt mit diesen neuen Informationen? Wie soll ich von nun an weitermachen? Ich habe keine Ahnung, wie ich mich richtig verhalten soll. Verdammte Scheiße!

Nach einigem stillen Fluchen greife ich kopfüber nach meinem Handy. Das Display zeigt mir keine verpassten Anrufe und keine neuen Nachrichten. Hm, seltsam. Luka hat sich seit gestern nicht mehr bei mir gemeldet. Ob er wohl wütend oder verletzt ist, dass ich ihn zurückgewiesen habe?

Ach, was kümmert es mich. Kann mir doch eigentlich egal sein. Wieso mache ich mir überhaupt solche Gedanken? Ich habe andere Sorgen. Das passt nun mal gar nicht in diese Situation.

Seufzend lasse ich den Arm neben mir auf das Kissen fallen. Indem ich die Augen schließe, versuche ich, den Wirrwarr in meinem Kopf zu bändigen. Nicht nachdenken, nicht nachdenken. Ich muss zur Ruhe kommen, egal wie. Nichts kann besser werden, wenn ich mich zu sehr mitreißen lasse. Ruhe bewahren und dann langsam Schritt für Schritt – nur so komme ich voran.

Minuten vergehen, bis ich bemerke, wie die Tür zu meinem Zimmer geöffnet wird.

„Shizana?“, höre ich Orion, noch bevor ich ihn an der Tür erblicke. „Ukyo will aufbrechen. Magst du ihn nicht verabschieden?“

Wie? Jetzt schon?

„Komme schon.“

Mühsam richte ich mich auf und verlasse mit Orion das Zimmer. Im Flur finde ich Ukyo, fertig angezogen und gerade dabei, in seine Straßenschuhe zu schlüpfen.

„Du willst schon los?“

Er dreht sich darauf nach mir um und zeigt ein vorsichtiges Lächeln. „Ja, ich muss. Ich habe einen Termin.“

„Arbeit?“

„Ja, so etwas in der Art.“

„Hm, verstehe.“ Ich lasse meinen Blick zu Boden gehen für eine kurze Überlegung. Nicht lange, dann sehe ich wieder zu ihm auf. „Wirst du heute Abend wieder zu Hause sein?“

„Ich werde es versuchen, ja?“

Ich nicke. Welche andere Wahl habe ich schon?

„Ich habe eine Bitte.“

Fragend kippe ich den Kopf. „Welche?“

„Lass dich heute bitte von Orion zur Arbeit bringen“, äußert er. Es klingt ernst. „Ich habe ein schlechtes Gefühl. Jemand sollte auf dich aufpassen, nur für den Fall. Ich möchte nicht, dass dir wieder etwas passiert.“

Seine Worte klingen wie eine Warnung in meinen Ohren. Erinnerungen an den gestrigen Tag werden in mir wach, was mich frösteln lässt. Ich bin wahrlich nicht erpicht, eine zweite Erfahrung dieser Art zu machen. Nein, besser nicht. Es ist mir zwar nicht lieb, ein Kind als Aufpasser zu haben, aber wenn Ukyo mich bittet, werde ich nicht ablehnen. Keiner kennt sich besser mit Gefahren aus als er.

„In Ordnung“, willige ich ein und nicke erneut. „Das sollten wir hinbekommen. Mach dir keine Sorgen, okay?“

„Dann bin ich beruhigt. Also, passt gut auf euch auf. Ich gehe dann jetzt.“

„Ukyo?“ Er hat seine Hand bereits am Türknauf, als ich mich entschließe, die Distanz nun doch zu überbrücken. Eilig hole ich zu ihm auf und bleibe vor ihm stehen. „Versuch bitte, heute Abend da zu sein. Es gibt da ein paar Dinge, die wir vielleicht klären sollten. Ich habe viel Klärungsbedarf, weißt du.“

Sein anschließendes Schweigen stellt mich auf eine harte Geduldsprobe. Es erscheint mir wie eine Ewigkeit, bis ich sehe, dass er die Mundwinkel zu einem Lächeln hebt. „Das verstehe ich“, sagt er ruhig, worauf er nickt. „Ich versuche es, versprochen.“

„Danke.“

„Also, bis später.“

„Mh, bis dann. Pass auf dich auf.“

Damit verlässt Ukyo die Wohnung und zieht die Tür hinter sich zu. Ich stoße ein schweres Seufzen aus, ehe ich mich herumdrehe und ins Wohnzimmer zurückkehre. Auf meinem Weg zu meinem Raum bemerke ich Orion, wie er auf der Couch sitzt. Er wirkt dort ein wenig verloren, den Blick auf einen Fleck am Boden gerichtet, bis er auf mich aufmerksam wird.

„Und?“, will er wissen, wobei er mich erwartungsvoll ansieht.

Ich gehe einmal um den Tisch herum, bis ich mich auf einen freien Platz neben ihm niederlasse. „Gratuliere, du bist nachher mein Begleitschutz.“

„Nachher? Wohin gehen wir denn?“

„Zur Arbeit. Ich zumindest.“

„Ah, ach so“, stößt er aus und lacht dabei. „Super, das wird bestimmt toll! Wann gehen wir denn los?“

„Wir haben noch ein bisschen Zeit“, erkläre ich. Flüchtig werfe ich einen Blick zu der einzigen Wanduhr, um die Zeit zu prüfen. „In zwei Stunden mache ich mich fertig. Wir gehen so gegen halb los, dann brauchen wir uns nicht so zu beeilen.“

„Okay.“

„Die Frage ist nur, was machen wir noch so lange? Ich finde bestimmt eine Beschäftigung, aber ich fürchte, für dich haben wir nichts wirklich.“

„Oh, das ist nicht schlimm“, meint Orion schnell. „Ich finde bestimmt auch etwas zu tun. Und wenn nicht, unterhalten wir uns einfach.“

„Hm, das geht natürlich auch. Lass uns aber trotzdem mal schauen, ja?“

Damit erhebe ich mich und Orion tut es mir gleich. Gemeinsam gehen wir zu meinem Zimmer, wo ich hoffe, etwas für den Kleinen zu finden. In einem der Schränke glaube ich ein paar Bücher gesehen zu haben. Ich weiß allerdings nicht, ob sie für Orion geeignet sind.

„Vielleicht sollten wir etwas für dich kaufen. Eins, zwei Bücher oder etwas anderes, das du magst. Hm, vielleicht eine Spielkonsole. Wobei, das ist so eine Sache …“

„Du musst dir wirklich keine Umstände wegen mir machen“, beteuert er wiederholt. „Wir finden bestimmt irgendetwas.“

Ich seufze schwer. Leichter gesagt, als getan.

„Ist das dein Schichtplan?“

Auf seine Frage drehe ich mich herum. Orion steht vor meinem schlichten Schreibtisch und sieht auf etwas, das darauf liegt. Ich erinnere mich, dass ich dort meinen abgeschriebenen Schichtplan vom Meido abgelegt habe.

„Ja“, bestätige ich, wobei ich an ihn herantrete.

„Du hast heute also mit Ikki und Kento Schicht“, bemerkt er, einen Finger auf den heutigen Tag gelegt. Breit grinsend sieht er zu mir hoch. „Du magst die beiden, oder?“

„Wie kommst du darauf?“, will ich wissen.

„Du hast Herzen in die Tage gemalt, an denen du mit ihnen Schicht hast. Heißt das nicht, dass du sie magst?“

Mein Gesicht glüht. Orion hat mich auf voller Breitseite erwischt.

Rein aus dem Affekt entreiße ich ihm das Blatt und nehme es an mich. „Ja und? Ich mag sie halt, was ist schon dabei?“

„Nichts. Ich finde es nur toll.“

„Ach ja? Und wieso?“

„Es ist doch schön, wenn du jemanden magst. Dann gehst du auch gern auf Arbeit, oder nicht?“

„Hm, schon“, brumme ich widerwillig.

Kurz betrachte ich das Blatt und bleibe am heutigen Tag haften, wo zwei Herzen die beiden Namen meiner Kollegen verzieren. Jetzt im Nachhinein, da es jemand anderes gesehen hat, macht es mich ausgesprochen verlegen. Argh, was habe ich mir nur dabei gedacht, so etwas Kindisches zu tun? Noch offensichtlicher geht es nicht, ehrlich.

Wobei … Jetzt, da ich die Namen sehe, fällt mir wieder etwas ein.

 

Die Zeit vergeht am Ende doch schneller, als mir lieb ist. Ich hatte mir vorgenommen, sie zu nutzen, um meine Antwort auf Kentos E-Mail nachzuholen. Dummerweise habe ich unterschätzt, wie umfangreich seine Auswertung verfasst ist. Es hat gerade gereicht, um alles zu lesen und mir die Worte durch den Kopf gehen zu lassen. Ich habe meine Antwort begonnen, bin jedoch nicht weit gekommen, weswegen ich es letztlich aufgegeben habe. Tja, dann muss ich es wohl persönlich tun, hilft alles nichts. Ich hoffe nur, dass Kento nachsichtig mit mir sein wird, wenn ich ihm erklären muss, wieso ich ihm nicht schon früher geantwortet habe. Ich fürchte mich jetzt schon davor.

Bewaffnet mit Broten und Halstuch verlassen Orion und ich pünktlich die Wohnung. Auf unserem Weg erkläre ich ihm, welche Erfahrungen ich bisher mit meiner Arbeit im Meido und meinen Kollegen gemacht habe. Vieles davon kann er nachvollziehen, was wohl seiner Zeit an Hannas Seite zu verdanken ist. Mir ist es nur recht. Es ist schön, dass es ein Thema gibt, bei dem wir größtenteils auf dem gleichen Wissenstand sind und eine Meinung teilen.

„Wir liegen gut in der Zeit“, sage ich, als das »Meido no Hitsuji« endlich in Sichtweite ist. Ein kurzer Blick auf meine Handyuhr bestätigt mir, dass es erst fünf vor eins ist. Ich habe wirklich noch mehr als genug Zeit, um mich von Orion zu verabschieden und anschließend in Ruhe umzuziehen.

Wir biegen gerade um die Ecke in Richtung Personaleingang, als ich ein Klacken vernehme. Ich richte meinen Blick nach vorn und erkenne Hanna, die gerade aus der Tür tritt.

„Hanna? Hi.“

„Oh, Shizana-san. Guten Tag“, grüßt sie höflich, kaum dass sie mich erkannt hat. Die förmliche Anrede irritiert mich, doch ich kommentiere es nicht.

Vorsichtig sehe ich neben mich, wo ich Orion vermute. Zu meinem Erstaunen muss ich feststellen, dass er nicht länger bei mir ist. Er muss wohl geflüchtet sein, als er Hanna bemerkt hat. Ich kann verstehen, warum er das tun würde. Traurig. Orion tut mir leid.

„Was machst du denn hier?“, wende ich mich wieder Hanna zu. Ich versuche meine trüben Gedanken zu überspielen, so gut es mir eben möglich ist. „Hast du heute nicht frei?“

„Ja. Ich habe nur etwas geholt, was ich heute Morgen hier vergessen habe“, erklärt sie schüchtern. Tatsächlich erkenne ich, als sie näherkommt, ein kleines Büchlein in ihrer Hand. Vermutlich hat sie das gemeint.

„Ach so, sehe schon. Sind Ikki und Kento schon da?“

„Ja, sie sind schon umgezogen.“

„Echt jetzt? So spät bin ich doch gar nicht dran.“

„Die beiden sind meistens schon sehr früh da.“

„Hm, dann sollte ich mich wohl besser beeilen. Sorry, Hanna.“

„Schon gut“, weist sie zurück und schüttelt den Kopf. „Ich muss auch weiter. Ich bin schon spät dran.“

„Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Wir sehen uns bestimmt die Tage?“

„Freitag, denke ich. Da haben wir zusammen Schicht.“

„Alles klar, dann spätestens Freitag. Ich freue mich drauf.“

„Ich mich auch“, entgegnet sie lächelnd. „Viel Erfolg heute.“

„Danke, dir auch. Bis dann.“

Ich hebe die Hand zum Abschied und gehe an ihr vorbei. Bei der Tür zum Personaleingang bleibe ich stehen und sehe mich noch einmal nach ihr um. Gerade biegt sie um die Ecke, schon ist sie aus meinem Sichtfeld verschwunden. Ich warte noch einen Moment, hoffend, dass sich Orion noch einmal blicken lässt. Als aber auch nach einer Minute kein Junge mit Kapuze um die Mauer linst, seufze ich und gebe mich geschlagen.

Ich betrete den Flur, als es passiert …

Es ist still im Pausenraum. Niemand außer uns ist hier.

Ich sehe ihn an. Wie ein verlassenes Häufchen Elend sitzt er auf der Bank, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und die Stirn in die Hände gelegt. Er sieht kraftlos aus, verzweifelt und unsagbar einsam. So habe ich ihn bisher noch nie gesehen. Er ist nicht der Typ, der diese Schwäche zeigt.

Seine Stimme klingt noch in meinen Ohren. Sie ist voll Kummer gewesen, seine Worte ohne Hoffnung. Es schmerzt. Dieser Anblick ist für mich nicht zu ertragen.

Ohne zu überlegen beuge ich mich vor und schließe ihn in meine Arme. Ziehe ihn an mich und halte ihn fest. So gern will ich ihn trösten, ihm Mut spenden. Doch in dieser Situation weiß ich nicht, ob irgendjemand, der nicht sie ist, das zu bewerkstelligen vermag.

„Du hast recht“, spreche ich sanft. Meine Hand streichelt seinen Kopf, fährt durch das weißsilberne Haar. „Es ist nicht leicht. Und was andere auch sagen, das wahre Leben ist kein Spiel. Es gibt kein Game Over, solange man nicht aufgibt. Es gibt Hürden und manchmal scheitern wir an ihnen. Manchmal fühlt man sich besiegt, aber im Gegensatz zu einem Spiel können wir an diesen Dingen wachsen. Es ist eine Gelegenheit, stärker voranzugehen. Deswegen, auch wenn es im Moment leichter gesagt ist, gib bitte nicht auf.“

Ich kehre in Schweigen ein. Um uns herum ist es still. Ich habe nichts zu ergänzen und überlasse es der Zeit, den Rest zu tun. Langsam doch sicher spüre ich, wie sich Ikkis Haltung in meinen Armen entspannt.

„Schön gesagt.“

Seine Stimme klingt ruhig und sanft, wie ich es gewohnt bin. Ich bemerke die Regung und löse die Umarmung, um Ikki freizugeben. Bevor ich mich ihm ganz entziehen kann, ergreift er meine Hand und hält sie warm in seiner.

Er hebt den Blick auf mich. Sein helles Lächeln trägt mich davon. „Danke für diese Worte. Und danke, dass du mir zugehört hast. Ich würde mich gern dafür revanchieren. Vielleicht gestattest du mir, dich auf ein Date einzuladen?“

Ich versinke rettungslos in dem klaren Blau seiner Augen …

Ich taumle zurück gegen die Wand. In meinem Kopf herrscht ein heftiger Schwindel. Mir ist regelrecht übel. Was ist denn jetzt auf einmal los?

„Hey, du!“, reißt mich ein lauter Appellruf aus meiner Trance. Er schmerzt in meinen Ohren und in meinem Kopf. „Was stehst du dort so herum?! Wie oft sage ich, dass ihr für den Kampf gewappnet auf Arbeit erscheinen sollt?! Schwäche ist ein Vorreiter zur Niederlage! Ich wünsche nicht, dass du ihn aufs Schlachtfeld trägst!“

Ich weiß nicht, was Waka da redet. Dieses ständige Gebrüll von Kampf und Kriegsgehabe … so langsam geht es mir auf den Geist. Gerade jetzt kann ich das nicht gebrauchen. Doch ich weiß, dass ich mich fügen muss, weswegen ich ein knappes „‘tschuldigung, Boss“ aus mir herauszwänge.

„Wenn du das verstanden hast, dann geh und rüste dich für den Feind! In zehn Minuten will ich sehen, dass du einsatzbereit bist!“

„Jawohl.“

Ich protestiere nicht. Mit bemüht geraden Schritten gehe ich an der Küche vorbei und sehe nur kurz zu meinem Boss auf. Hinter ihm erkenne ich Kento, fertig hergerichtet in seiner Kochuniform, ganz wie Hanna es gesagt hatte. Er hat also alles mitbekommen. Ich kann nur erahnen, was diese Szene hinter seiner Stirn anregt. Super, blamiert habe ich mich also auch noch. Der Tag ist jetzt schon für mich gelaufen.

Ohne weitere Umschweife begebe ich mich in den Pausenraum. Ich steuere auf gerader Strecke meinen Spind an. Flüchtig werfe ich einen Blick über meine Schulter in Richtung Sitzbank, während ich Tasche und Mantel verstaue. Das vorhin, was war das gewesen? Ein weiteres Déjà-vu?

Es war dort drüben. Dort hat Ikki gesessen und ich habe ihn getröstet. Das war keine Erinnerung, oder? Aber was war es dann? Laut dem, was da passiert ist … Im Spiel war es genauso gewesen, oder nicht? Ich erinnere mich an solche Szenen. Hat Hanna dasselbe durchgemacht, wann immer eine Erinnerung zu ihr zurückgekehrt ist?

Vom Flur höre ich Waka irgendetwas brüllen. Es scheint nicht an mich gerichtet zu sein, trotzdem rüttelt es mich auf. Ich beeile mich, meine Arbeitskleidung zusammenzusuchen, ehe ich den Spind schließe und mich ins Badezimmer zurückziehe.

 

In weniger als zehn Minuten bin ich mit allem fertig. Ich verlasse das Bad und gehe an meinen Spind, um meine Privatsachen darin zu verstauen. Während ich damit beschäftigt bin, höre ich ein Klopfen an der Tür. „Kann ich reinkommen?“

Ich erkenne die Stimme, die gedämpft in den Raum dringt. Schnell bejahe ich, drehe mich jedoch von der Tür weg, um ein beschäftigtes Tun vorzutäuschen.

„Ist alles in Ordnung? Ich habe Waka-san brüllen gehört.“

Na super, nicht nur Kento. Ikki hat es also auch mitbekommen. Ich will Waka am liebsten den Hals umdrehen und anschließend beschämt im Boden versinken.

„Ja, tut mir leid. Ich habe kurz neben mir gestanden“, erkläre ich beiläufig. Ich hoffe inständig, dass er es darauf beruhen lassen wird.

„Geht es dir auch gut? Soll ich heute vielleicht besser ein Auge auf dich haben?“

Oh nein. Alles, nur das nicht!

„Nein, keine Sorge“, beschwichtige ich. „Es war nur ein Ausrutscher. Es wird während der Arbeit nicht nochmal vorkommen.“

„Hm, okay. Aber wenn etwas ist, sag mir bitte rechtzeitig Bescheid. Und wenn es nur ist, dass du eine Pause brauchst. Ich kümmere mich dann darum, wenn nötig.“

„Alles klar.“

Vorsichtig linse ich zu Ikki hinüber. Mein Herz rast wie verrückt in meiner Brust. Er steht nicht weit von der Tür entfernt, trotzdem fürchte ich, dass er meine Aufregung bemerken könnte.

Diese Bilder, sie wollen mir einfach nicht aus dem Kopf. Sein Leiden, mein Trösten. Ich habe ihn im Arm gehalten und er ist ganz ruhig geworden. Er hat mich auf ein Date eingeladen. Ich habe nicht zugestimmt, oder doch? Nein, das glaube ich nicht. Das geht nicht mit meiner Vorstellung einher. Aber wenn doch …?

„Ich liebe dich.“

Mir schießt alles Blut in die Wangen. Ich spüre es zu deutlich und wende das Gesicht von ihm ab. Verdammt, wieso denke ich jetzt an diesen Traum? Nichts davon ist wirklich passiert. Nichts davon ist real. Nur ein Albtraum mit vermischten Gefühlen, mehr nicht. Das hier, das vorhin, ist nichts anderes. Kein Grund so nervös zu werden.

„Warte nicht, bis es zu spät ist“, höre ich Ikki sagen. Mein Herz überspringt einen Schlag. „Du bist heute als einzige Maid eingesetzt. Wenn du ausfällst, wird es schwer, jemanden einspringen zu lassen. Deswegen –“

Ein dumpfer Schlag gegen die Tür beendet unsere Unterhaltung. Mein Herz flattert noch vor Schreck, als ich Waka erkenne, der Stock voran in den Pausenraum tritt. „Die Zeit ist um. Ikki, ich brauche dich im Café. Shizana, du wirst in der Küche gebraucht. Geh deinem Kameraden zur Hand.“

„Ja“, sage ich und nicke verstanden. Kurz sehe ich noch einmal zu Ikki, ehe ich an ihm vorbei den Raum verlasse. Für eine Antwort bleibt mir keine Gelegenheit.

 

In der Küche treffe ich auf Kento, der gerade dabei ist, einen der unteren Schränke auszuräumen. Neben ihm stapeln sich bereits mehrere Töpfe und Pfannen zu einem kleinen Berg. Ich frage mich, wieso sie draußen auf dem Boden stehen.

„Hey. Ich soll dir in der Küche helfen, hat Waka-san gesagt?“

„Hallo“, grüßt er unbetont zurück und dreht den Kopf in meine Richtung. „Wir haben neues Küchenutensil bekommen. Dort vorn steht es. Überprüfe bitte die Listen, ob alles komplett ist. Wenn du etwas bemerkst, das nicht in Ordnung ist, vermerke es darin. Ansonsten findest du dort drüben Reinigungsmittel, solltest du sie brauchen. Ich bin mit dem Ausräumen gleich fertig.“

Ich nicke verstehend. Mit anderen Worten soll ich die neuen Waren auf ihre Vollständigkeit und ihren einwandfreien Zustand überprüfen. Okay, das sollte ich hinbekommen. Und im Zweifelsfall kann ich immer noch fragen. Kento wird mir das sicherlich nicht übel nehmen.

Ich mache mich also an die Arbeit. Drei große Kartons gilt es zu überprüfen. Sie beinhalten nicht viel, vorrangig Küchensets unterschiedlicher Töpfe und Pfannen in verschiedenen Größen. Ein paar Schüsseln und Kleingeräte befinden sich außerdem darunter. Die Listen sind schnell abgearbeitet. Unter genauer Überprüfung entdecke ich nichts, was mir an den Geräten ungewöhnlich vorkommt. Noch bevor ich den letzten Karton überprüft habe, ist Kento mit dem Ausräumen fertig. Ich kann mich direkt ans Einsortieren machen.

Ein wenig frustrierend ist es. Ich hatte gehofft, bei der gemeinsamen Arbeit ein wenig Smalltalk mit Kento aufholen zu können. Zu meinem Bedauern ergibt sich mir keine Gelegenheit. Er ist so in seinen Listen vertieft, dass ich nicht wage, ihn großartig anzusprechen. Gelegentlich frage ich ihn, wo etwas einsortiert werden soll, das war’s aber auch schon.

„Der Rührstab?“

„Unterer Schrank, obere Ablage, links.“

„Die Presse?“

„Selber Bereich, daneben.“

„Hm, und die Plastikschüsseln S und XS?“

„Oberer Schrank, oberes Fach, wo Platz ist.“

„Hm.“

Ich komme den Anweisungen nach. Das Einräumen geht mir wirklich schnell von der Hand. Die Schränke sind sehr ordentlich und übersichtlich sortiert. Es ist einfach, sich zurechtzufinden.

Der letzte Karton ist so gut wie geleert. Fehlen nur noch die Schüsseln und dann …

„Vorsicht!“

Etwas packt mich hart bei den Schultern. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, werde ich bereits nach hinten gezogen. Im gleichen Moment poltert und kracht es ohrenbetäubend. Ich spüre, wie der Schreck jeden meiner Muskeln lähmt.

Mein Herz rast schmerzhaft in meiner Brust. In meinem Rücken spüre ich einen unnachgiebigen Widerstand, dem ich meinen aufrechten Stand zu verdanken habe. Ohne ihn und den festen Halt an meinen Armen wäre ich in mich zusammengesunken. Noch begreife ich nicht, was da soeben passiert ist.

„Wie ist das möglich?“, höre ich Kento hinter mir. Seine stoische Stimme, aus der eine Ahnung von Unglauben klingt, holt mich ins Hier und Jetzt zurück. „Das ergibt keinen Sinn. Wer hat die nach oben gestellt?“

‚Woher soll ich das wissen?‘

Der Schock sitzt mir in den Gliedern. Ich vermag nicht, meine angespannte Haltung in Kentos sicheren Händen zu lockern. Mein Blick ist auf die immense Eisenpfanne gebannt, die keinen Meter vor mir auf dem angeschlagenen Küchenboden liegt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Aufgaben:

1. Du träumst von dem seltsamen Mädchen. Allerdings flackert sie, als würde sie nicht lange bei dir bleiben können. Sie erzählt dir folgendes: "Ich habe nicht viel Zeit... Es tut mir leid. Der erste Wunsch hätte niemals so schief gehen dürfen. Dabei wollte ich diese beiden Menschen in ihrer Trauer glücklich machen. Dieses Mal wirst du nicht sterben, versprochen."
2. Erwache aus diesem Traum. Frage Orion beim Frühstück über Mari aus. (Er wird dir erzählen, dass Mari die Menschen sehr mag , sie gerne beobachtet und das ihre Fähigkeiten vergleichbar mit Niels sind, sprich sie auch die Macht hat Wünsche zu erfüllen und dass sie eben für das ganze Chaos verantwortlich ist.)
3. Mach dich mit Orion auf den Weg zur Arbeit. Am Meido siehst du Hanna aus dem Mitarbeitereingang kommen. Unterhalte dich kurz mit ihr, Orion hat sich aber, kaum dass er sie sah, aus dem Staub gemacht.
4. Kaum dass du das Meido betrittst, hast du einen Flashback, in dem du mit Ikki im Mitarbeiterraum stehst. Ikki scheint einen schwachen Moment zu haben, du umarmst ihn und sprichst ihm tröstend Mut zu. Ikki scheint sich daraufhin etwas aufzuraffen. Als Dank fragt er, ob er dich auf ein Date einladen darf.
5. Waka bittet dich, Kento in der Küche zu helfen. Als du Töpfe in einen Schrank räumen willst, kommt plötzlich die schwere Eisenpfanne runter. Entscheide ob Kento oder Ikki dich rettet.

Phew, geschafft. Das war doch endlich mal ein sehr angenehmes Kapitel. Ich musste mich zwar trotzdem geschickt von Szene zu Szene hangeln, Platz füllen und Zeit überbrücken, aber es hat Spaß gemacht. Ich wollte viele Dinge unterbringen und alles, bis auf eine Sache, hat soweit geklappt. Ich bin sehr zufrieden.
Ukyo und Orion nehmen etwa 70% des Kapitels ein, habe ich das Gefühl. Weiß nicht, ob das von meiner Göttin kalkuliert war, aber ich konnte das Gespräch nicht so larifari gestalten. Dadurch hat sich alles etwas gestreckt und, boah, meine Geduld! Ich dachte echt, ich komme nie mehr zur nächsten Aufgabe. x'D
Ja, ich bin gespannt, was uns noch erwartet. Ich habe so ein Gefühl, dass es noch sehr spannend wird – in mehrerlei Hinsicht. ^_^ Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück