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Girls Girls Boys

von

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Ich beobachte ihn beinahe täglich bei den verschiedensten Dingen. Wenn er in der Cafeteria sitzt und mit seinen Freunden redet, wenn er im Sportunterricht den Saum seines Shirts nach oben zieht, um sich über seine Stirn zu wischen, wenn er sich heimlich mit seiner Freundin hinter dem Schulgebäude aufhält, um sie zu küssen – sogar, wenn er nach der Schule auf dem Parkplatz steht, um sich eine Zigarette anzuzünden. Ich bin da. Wie ein Schatten. Auch wenn er mich nicht sieht.

 

Ich war 14, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Er stand drüben auf der anderen Straßenseite vor seinem Haus, das meinem direkt gegenüberliegt. Er war gerade eingezogen, gemeinsam mit seinen Eltern und seinem großen Bruder. Und bereits vom ersten Moment an war ich fasziniert von ihm.

 

Mittlerweile sind drei Jahre vergangen und ich kann nicht sagen, dass sich an dieser Faszination etwas geändert hat. Manche würden es vielleicht sogar als Obsession bezeichnen, doch ich sehe das anders. Es ist eben schön, wenn man seine Gedanken mit etwas Erfreulichem füllen kann.

 

Richtig? Richtig. Und er ist all das, was meinen Verstand mit Euphorie erfüllt.

 

Wann genau ich damit angefangen habe, anders über ihn zu denken, kann ich gar nicht mehr bewusst sagen. Womöglich lag dieser Gedanke schon immer an einer Grenze, die sich irgendwann verwischt hat, um mit dem zu verschmelzen, was es heute ist.

 

Ich liebe ihn.

 

Und dabei habe ich noch nie ein Wort mit ihm gewechselt.

 

Ich weiß, wie seine Stimme klingt. Ich höre ihm oft zu, wenn er mit anderen redet. Er ist beliebt. Sogar äußerst. Ganz im Gegensatz zu mir. Was wahrscheinlich daran liegt, dass ich mich bewusst von anderen abgrenze. Menschlicher Kontakt ist anstrengend. Ermüdend. Und ich hasse dieses Schauspiel, das durch soziales Verhalten gefordert wird.

 

„Wie sieht es aus, bist du fertig?“ Ich blicke nach oben in das Gesicht meines Bruders, das mir ausdruckslos entgegenblickt. Auch ich habe einen älteren Bruder. Eine Gemeinsamkeit, die ich mit ihm teile.

 

„Ja.“

 

„Gut, ich werde in zehn Minuten losfahren. Sei bis dahin unten.“ Ich antworte ihm nicht, sondern nicke stattdessen und stehe dann von meinem Schreibtisch auf.

 

Das Objekt meiner Begierde wird wahrscheinlich jetzt erst aufstehen – er macht es immer so. Seit den zwei Monaten, die wir gemeinsam in eine Klasse gehen, war er nicht einmal pünktlich. Doch das stört mich nicht. Es macht ihn menschlicher. Greifbarer.

 

Behalten Sie diese Variable im Blick.“ Der Lehrer führt seinen monotonen Unterricht, während ich damit beschäftigt bin, ihn zu beobachten. Es waren genau sieben Minuten, die er zu spät gekommen ist. Sieben Minuten, die mein Herz damit verbracht hat, erwartungsvoll höher zu schlagen, und als er dann völlig außer Atem in den Raum gerauscht kam – auf den Lippen ein schiefes, jedoch entschuldigendes Grinsen – wurde das Luftholen auch für mich schwer.

 

Er ist perfekt. So perfekt mit all seinen Fehlern.

 

Seine gerunzelte Stirn, die signalisiert, dass er dem Unterricht kaum folgen kann, seine Schneidezähne, die sich in seine Unterlippe bohren, weil er sich versucht zu konzentrieren; all das lässt ihn in meinen Augen noch schöner werden.

 

 

 

 

 

 

Heh. Ich glaube, ich passe. Kakashi wollte noch mit mir über das Projekt reden.“ Auch jetzt lausche ich seiner Stimme. Er ist umringt von seinen Freunden, sitzt gemeinsam mit ihnen an einem Tisch in der Cafeteria. Seine Freundin hängt an seinem Arm, während er es gar nicht wahrzunehmen scheint.

 

Ich mag sie nicht. Das habe ich noch nie. Selbst als sie noch kein Paar waren konnte ich sie nicht ausstehen. Sie ist laut. Laut und gewalttätig. Sie passt nicht zu ihm. Sie ergänzen sich zu gut.

 

Aww, Baby, du weißt, dass ich heute hingehen muss. Er droht mir schon wieder damit, dass ich aus dem Team rausfliege.“ Ungewollt schlägt mein Herz höher, als er diesen Satz ausgesprochen hat. Sie wollen ihm das nehmen, was er hier am liebsten hat?

 

Sag ihm einfach, dass du dir einen Nachhilfelehrer suchst. Hat bei Ino auch geklappt. Natürlich müsstest du dann auch Extrastunden nehmen“, meint sie an ihn gewandt, und obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen kann, stelle ich mir vor, dass sie lächelt.

 

Sie lächelt ihn an ... und er lächelt zurück.

 

Sakura-chan, ich hasse Nachhilfe“, erwidert er niedergeschlagen und legt seinen Kopf dann auf der Tischplatte ab. Somit verwehrt er mir auch den Anblick auf sein hübsches Gesicht. Ich sehe nur, dass ihre Finger durch sein Haar fahren, seinen Kopf kraulen ...

 

Abrupt stehe ich auf und verlasse die Cafeteria, da diese Szene sich unangenehm auf meinen Körper auswirkt. Meine Hände sind klamm und mein Bauch schmerzt.

 

Vor allem bin ich jedoch wütend. Wütend, dass sie es ist, die das Privileg genießt, ihn anfassen zu dürfen. Und wütend darüber, dass er es so einfach zulässt.

 

 

 

 

 

 

Ich habe noch nie verstanden, wie Menschen ihre Stimmung gegenseitig so in die Höhe schaukeln können.

Er prügelt sich. Bereits zum vierten Mal in diesem Monat. Sogar mit derselben Person, die es jedes Mal aufs Neue schafft, ihn soweit zu provozieren, dass er sich gehenlässt.

 

Eine Eigenschaft, die mir an anderen nicht sonderlich gut gefällt.

 

Auch an ihm nicht.

 

Du dreckiger Bastard! Du hast überhaupt keine Ahnung!“, schreit er dem Jungen entgegen, ehe er seine Faust voller Wut in dessen Bauch rammt.

 

Schon alleine der Gedanke daran, von dieser Kraft getroffen zu werden tut weh.

 

Auseinander! Ihr beide, sofort aufhören!“ Seine Freundin ist aufgelöst. Sie weint, während die Lehrer versuchen, das auf dem Boden herumwirbelnde Paar voneinander zu trennen.

 

Ich wette, morgen wird sein hübsches Gesicht von Blessuren gekennzeichnet sein.

 

 

 

 

 

 

Kannst du dir vorstellen, dass er schon wieder gesagt hat, dass mein Schwanz klein ist? Was fällt dem Wichser eigentlich ein? Als ob er überhaupt ne Ahnung davon hätte.“

 

Wahrscheinlich weil er dich immer nach dem Sport beobachtet, wenn du duscht.“

 

Halt die Fresse! Moment, echt jetzt?“

 

Ja, ich hab ihn schon ein paar Mal dabei erwischt.“

 

Erzähl keinen Scheiß! Alter, das ist widerlich!“

 

Obwohl die Bibliothek ein Ort ist, der für gewöhnlich mit Ruhe gesegnet ist, ist es im Moment alles andere als still hier. Ich wundere mich, weshalb er überhaupt hier ist. Gemeinsam mit seinem besten Freund sitzt er an einem der Tische, keine drei Meter von mir entfernt.

 

Er ist nie hier. Warum also heute? Nicht, dass ich mich nicht darüber freue – der Muskel in meiner Brust schlägt schon seit geraumer Zeit schneller als gewohnt – doch was hat ihn hierher geführt?

 

Wegen dem Bastard hab ich schon wieder einen Verweis kassiert! Ich schwör dir, wenn er noch einen Ton sagt, werd ich ihn in den Fluss werfen.“ Wie aggressiv er klingt. Es lässt mich automatisch denken, dass ich pervers bin, da es mich erregt.

 

Haha, dabei würd ich dir sogar helfen! Aber mal ne andere Frage, warum haben wir uns eigentlich hier getroffen? Hast du Strafarbeit und musst recherchieren?“, fragt sein Freund, doch er schüttelt den Kopf und antwortet:

 

Nein. Ich hab gehört, dass sich hier jemand rumtreibt, der mir mit meinem Problem helfen kann. Nur leider hab ich den Namen vergessen. Ich weiß nicht mal, wie er aussieht, dabei soll er in unsere Klasse gehen.“ Jetzt pocht mein Herz angestrengt.

 

Ah, du meinst deinen Rauswurf aus dem Team.“

 

Laber keinen Müll. Ich werde nicht rausgeworfen, weil ich mir von dem kleinen Nerd helfen lasse werde.“ Wen meint er damit?

 

Pech nur, wenn du nicht mal weißt wie er aussieht oder heißt.“

 

Ja Mann, Kakashi hat mir zwar den Namen gesagt, und dass er sich in den Freistunden öfter hier rumtreibt, aber den Namen hab ich leider wieder vergessen ...“

 

Und was ist dein Plan?“ Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als er sich plötzlich umsieht. Er blickt genau in meine Richtung. Nein, er blickt mich sogar direkt an!

 

Oh Gott ... und wie er mich ansieht.

 

Warum steht er auf? Und warum kommt er direkt auf mich zu?!

 

Es rauscht in meinen Ohren, als er vor mir zum Stillstand kommt. Seine Lippen bewegen sich und trotz dieser Wunde, die seine Unterlippe ziert, sieht er atemberaubend schön aus.

 

Er spricht mit mir ...

 

„Alles okay bei dir?“ Seine Stirn ist gerunzelt, seine große Hand wedelt vor meinem Gesicht herum.

 

„Was?“, erwidere ich heiser, da seine gesprochenen Worte mit Verzögerung an meine Ohren gedrungen sind.

 

„Ich hab gefragt, ob alles okay bei dir ist. Du sahst irgendwie so aus, als wärst du weggetreten.“ Mein Nacken fühlt sich warm an.

 

„Alles okay.“

 

„Okay“, antwortet er und grinst mir dann entgegen. „Sag mal, du bist nicht zufällig in meiner Klasse?“ Dieser Idiot. Er bemerkt noch nicht einmal, dass sich diese Aussage geradewegs wie eine Kugel in meine Brust bohrt, denn er grinst noch immer.

 

„Bin ich. Ich sitze drei Reihen schräg hinter dir.“ Er sieht überrascht aus.

 

„Wirklich? Wieso hab ich dich noch nie gesehen?“ Vielleicht, weil du blind bist oder deine Aufmerksamkeit den falschen Leuten schenkst?, will ich sagen, doch ich presse nur die Lippen aufeinander.

 

„Zu viele Schüler?“, biete ich ihm stattdessen lahm an und er blinzelt.

 

„Was? Niemals! Du bist so auffällig!“ Jetzt beiße ich mir auf die Innenseite meiner Wange und spüre, dass meine linke Augenbraue verdächtig nach oben zuckt.

 

„Und weshalb?“ Sogar meine Stimme klingt anders. Kühler.

 

„Na-naja. Eh, also … weil du auffällst?“

 

„Definiere auffällig.“ Er runzelt wieder die Stirn.

 

Was denn? Überfordert dich dieses Wort etwa? Würde mich bei deinen Noten nicht wundern.

 

„Naja, du bist so ... ein Bücherwurm?“ Ich schnaube. Und das ist meine einzige Reaktion.

 

Wie kann er nur so grausam sein? Merkt er nicht, dass er mich mit solchen Aussagen verletzt?

Ich bin ganz sicher kein Bücherwurm, nur weil ich in der Schule die meiste Zeit meine Brille trage.

 

„Hey, ich meine nicht die schlechte Art von Bücherwurm. Ich meine eher ... also-“

 

„Es gibt eine andere Art von Bücherwurm?“, unterbreche ich ihn und genieße es für einen kurzen Augenblick, ihn so zu sehen. Er sieht hilflos aus, so mit seinen Worten ringend.

 

Du Idiot …

 

„Ja! Ja, die gute Art von Bücherwurm, zu der du definitiv zählst! Du bist hübsch, deshalb bist du kein schlechter Bücherwurm und...-“ Ich habe das Gefühl, dass mein pochendes Herz stehenbleibt. Für einige Sekunden. Für einen Moment lang.

 

Er findet mich hübsch?

 

Jetzt brennen meine Wangen.

 

„Gott, ich rede mich hier um Kopf und Kragen! Was ich eigentlich sagen will – sorry, falls ich dich beleidigt hab – ich suche hier nach jemandem, der in meine Klasse geht und dazu in der Lage ist, mir Nachhilfe zu geben.“ Mir wird flau im Magen. Kann er wirklich mich meinen? Außer uns ist niemand hier – abgesehen von seinem besten Freund, und den kann Kakashi sicherlich nicht gemeint haben.

 

„Sasuke“, antworte ich ihm, nachdem er aufgehört hat, wild vor sich hinzureden und er blickt mich so an, als wären mir gerade graue Flügel aus dem Rücken gewachsen.

 

„Huh?“

 

„Ich heiße Sasuke.“

 

„Ah! Dein Name! Jetzt fällt es mir wieder ein! Sasuke Uchuhu?“ Mein Auge zuckt.

 

„Uchiha.“

 

„Cool! Ich bin Naruto!“ Er streckt seine Hand aus, wahrscheinlich, damit ich sie entgegennehme – was ich auch tue, nachdem mein zitternder Arm mir wieder gehorcht.

 

Ich weiß, wer du bist. Naruto Uzumaki. Naruto, der in dem Haus gegenüber von mir wohnt. Unsere Schlafzimmer sind auf derselben Höhe. Ich beobachte dich. Schon lange. Bei fast jeder Aktivität, die in deinem Zimmer stattfindet. Ich kenne dich. Ich kenne dich schon so lange. Auch wenn du mich nicht bemerkst.

 

„Sasuke“, erwidere ich und versuche dabei schief zu grinsen. Sieht wahrscheinlich seltsam aus. So seltsam wie es wahrscheinlich auch klingt, denn ich habe mich bereits vorgestellt.

 

„Heh, das sagtest du bereits.“ Auch er hat es bemerkt. Doch er schmunzelt. Und lässt dann meine Hand wieder los. Meine Finger kribbeln, ein Kribbeln, das meinen gesamten Arm hinaufzieht, über meinen Nacken kriecht und meine Kopfhaut streichelt.

 

Es ist der reinste Wahnsinn, was diese einfache Berührung in mir auslöst.

 

„Also, kannst du mir helfen?“, hakt er nach und zieht dann den Stuhl, der mir gegenüber steht nach hinten, um sich hinzusetzen. Mein Blick fällt nur kurz zu seinem besten Freund, der offensichtlich mit seinem Handy beschäftigt ist.

 

„Wobei?“, frage ich, als meine Augen wieder auf ihn treffen.

 

„Bei Geschäftsprozessen. Das ist so ein Scheiß-Fach, dass ich am liebsten im Dreieck kotzen will.“

 

Ich weiß, dass ihm dieses Fach nicht gefällt. Seine Qualitäten liegen eher im mathematischen Bereich – auch wenn man das womöglich nicht von ihm erwartet.

 

„Und Kakashi hat gesagt, dass du darin gut bist. Sogar einer der Besten – oh Mann, ich komm mir gerade so dumm vor. Wieso hab ich dich nie bemerkt? Seit wann gehen wir überhaupt in eine Klasse?“ 43 Tage. Vor 43 Tagen hat man mir dieses Geschenk gemacht, ihn noch außerhalb des Sportunterrichts oder der Pausen betrachten zu dürfen. Ich war glücklich. So glücklich ...

 

„Seit zwei Monaten.“

 

„Krass! Mit wem hängst du ab?“ Mein Kopf neigt sich leicht zur Seite.

 

„Mit wem ich abhänge?“ Er gestikuliert mit den Händen.

 

„Naja, du weißt schon, wer sind deine Freunde?“ Oh, das meint er also.

 

„Ich habe keine Freunde.“ Weil ich ein Misanthrop bin. Ich hasse menschlichen Kontakt. Für mich sind Interaktionen genau schön wie Wasser für Katzen.

 

Mit einigen Ausnahmen, so wie er eine ist.

 

„Kein Scheiß? Wieso nicht? Du scheinst doch voll in Ordnung zu sein!“ Wenn er nur wüsste. Der Psychologe meiner Mutter hat mich nach der zweiten Sitzung aus seiner Praxis geschmissen. Man könnte mir nicht helfen, hat er gesagt. Dabei wollte ich seinen Besseres-Leben Formeln wirklich eine Chance geben. Nicht.

 

„Warum grinst du?“, fragt er mich auf einmal und ich blinzle, da mir für kurze Zeit entfallen ist, dass der Mann meiner Träume direkt vor mir sitzt und mit mir redet.

 

Wir führen eine Konversation.

 

„Sasuke?“ Und auf einmal ist dieses Rauschen zurück. Es beeinträchtigt sogar meine Sicht. Mein Herzschlag steigt. Und mein Körper fühlt sich leicht an.

 

Er hat mich angesprochen. Von sich aus. Weil er meine Hilfe braucht. Er braucht mich. Mich!

 

„Hey, du bist auf einmal so blass, ist alles okay bei dir? Sasuke!“

 

 

Ich habe hyperventiliert. Und das geschätzte zwei Minuten lang. Meine Schläfe schmerzt und mein Magen fühlt sich noch immer flau an. Mein Blick fixiert die graue Decke der Krankenstation. Es ist so unsagbar peinlich. Nicht nur, dass es dumpf unter meiner Schädeldecke pocht, nein, ich habe mich auch noch unendlich vor dem Mann meiner Träume blamiert.

 

„Geht es dir schon besser?“, fragt die Krankenschwester, die an mein Bett herangetreten ist, und da ich mich nicht dazu in der Lage fühle, verbal zu antworten, nicke ich.

 

„Dein Klassenkamerad holt gerade eure Befreiungen. Hast du Schmerzen?“ Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Wer holt Befreiungen? Mein Blick fällt auf die große runde Uhr, die über der Tür der Station hängt. Ich habe noch zwei Stunden Mathematik. Um genau zu sein, sollte ich jetzt im Klassenzimmer sitzen.

 

„Sasuke?“ Wieder sehe ich die Krankenschwester an. „Geht es dir wirklich gut? Kannst du sprechen?“ Ich widerstehe dem Drang, meine Augen zu verdrehen.

 

Natürlich kann ich sprechen, du einfältiger Idiot.

 

„Mir geht es gut. Nur Kopfschmerzen“, erbarme ich mich zu sagen und richte mich dann auf, was im Nachhinein betrachtet keine gute Idee ist, denn der Raum fängt an sich um mich zu drehen.

 

„Du solltest dich noch ausruhen, zumindest solange, bis dein Klassenkamerad hier ist, um dich nach Hause zu bringen.“ Bestimmend drückt sie mich zurück in die modrig riechenden Laken des Betts.

 

Welcher Klassenkamerad? Meint sie Naruto? Mir wird warm bei dem Gedanken, doch ich schäme mich auch. Ziemlich sogar.

 

Ob er mich nun für einen Waschlappen hält?

 

„Sasuke!“ Ich schrecke zusammen, als er auf einmal neben dem Bett steht und mich besorgt mustert. „Geht es dir gut? Du bist vorhin einfach weggeklappt. Deine Brille ist dabei kaputtgegangen und eh ... es sah ziemlich schmerzhaft aus ...-“ Während er spricht, mustere ich ihn.

 

Gott, wie kann ein einzelner Mensch nur so schön sein? Seine blauen, strahlenden Augen, die mich ansehen, seine Lippen, die sich bewegen, die weißen Zähne, die sich dahinter verbergen, die feinen Narben auf seinen Wangen – Sechs Stück an der Zahl …

 

„Hörst du mir überhaupt zu?“

 

„Ja.“ Vielleicht. Ganz vielleicht.

 

„Gut. Wie geht es dir? Wenn es dir besser geht, werde ich dich nach Hause fahren.“

 

„Was?“ Vorsichtig richte ich mich wieder auf – dankbar darüber, dass der Schwindel sich nun in Grenzen hält.

 

„Nach Hause! Sicher, dass du dir nicht doch was Ernstes weggeschlagen hast?“

 

„Ziemlich sicher“, erwidere ich monoton. „Ich kann nur nicht nach Hause, weil ich noch zwei Stunden Mathe hab.“ Und nicht nur ich, sondern auch er.

 

„Egal! Du hast dich verletzt, also musst du dich ausruhen. Ist alles schon abgesegnet. Kakashi hat auch nichts dagegen, dass ich dich fahre, weil der Stoff ohnehin langweilig ist.“ Mein kleines, idiotisches Genie. Natürlich sagt er so etwas. Solche Sachen, die mein Blut dazu bringen, auf Hochtouren durch meinen Körper zu pumpen.

 

 

 

 

 

Etwa zwanzig Minuten später sitze ich auf dem Beifahrersitz seines alten Wagens. Das Radio ist an, sein Blick ist auf die Straße gerichtet, während ich versuche, unauffällig aus dem Seitenwinkel seine Bewegungen zu beobachten. Seine Finger tippen im Takt der Musik gegen das Lenkrad – sein Kopf wippt leicht auf und ab.

 

Dabei ist diese Musik schrecklich. Sie hört sich an wie Tafelkratzen. Viel zu rau.

 

„Gott, ich liebe diesen Song!“, sagt er und dreht die Musik dann lauter. Ich schweige lieber. Er würde mich ohnehin nicht hören. Außerdem ist es viel besser, neue Erkenntnisse in Stille zu verarbeiten.

 

Zwar keine Gemeinsamkeit, doch Gegensätze ziehen sich an. Stimmt´s? Ich wette, seine Freundin steht auf diesen Song. Auf diese Art von Musik, die absolut nichts von seinem Hörer fordert. Stumpf klingende Bässe, die den Körper dazu zwingen, Vibrationen in sich aufzunehmen.

 

„Wo wohnst du eigentlich?“, schreit er schon beinahe, ehe er an einer Ampel das Radio wieder leiser dreht.

 

Du bist schon wirklich ein Idiot, mh? Genauso ein großer Idiot wie ich selbst. Gut, ich habe die Ausrede, dass mich der flüchtige Körperkontakt, den wir vorhin, als du mich zu deinem Wagen geschleppt hast, so sehr aus der Bahn geworfen hat, dass mein Gehirn sich für kurze Zeit verabschiedet hat ... doch du?

 

„Fair View 890 B.“

 

„Waaaas?! Alter, du wohnst in meiner Straße! Ich wohne Fair View 888 A!“ Er sieht mich ungläubig an.

 

„Wirklich?“, erwidere ich dennoch, bemüht darum, überrascht auszusehen. Es klappt nur leider nicht so gut wie bei ihm, denn im Gegensatz zu mir muss er nichts vorspielen.

 

„Ja! Krass. Mann, das müsste“, er überlegt und zieht dabei seine Augenbrauen zusammen, ehe er den Gang einlegt, „das müsste direkt gegenüber von mir sein!“ Er spricht weiter. Erzählt, dass er es unfassbar findet, dass wir uns noch nie begegnet sind. Ich würde ihm gerne sagen, dass es seine Schuld ist, doch ich tue es nicht. Manchmal ist er eben Blind. Wie ein Pferd mit Scheuklappen. Zudem fährt er immer später zur Schule als ich. Und ich verlasse selten das Haus, sobald ich es einmal betreten habe.

 

„Shit Mann, Tatsache!“ Er hat vor meinem Haus geparkt und wird deshalb nachher wenden müssen. Vor seinem Zuhause sind nur noch zwei Parkplätze frei.

 

„Ja.“

 

„Mensch Sasuke, wir sind Nachbarn! Wo ist dein Zimmer?“ Wir steigen gemeinsam aus, bevor ich ihm diese Frage in Form von einer Deutung meiner Hand beantworte. Er blickt kurz hoch, dann sieht er zu seinem Fenster herüber.

 

„Krank! Dein Zimmer liegt sogar auf derselben Höhe, direkt gegenüber! Hast du mich schon mal gesehen?“

 

„Ich sehe dich jeden Tag.“ Mein Herz klopft schon wieder viel zu schnell.

 

„Nein, ich meine drüben! Kannst du in mein Zimmer schauen?“ Ich ziehe irritiert die Brauen zusammen. Natürlich nur gespielt, denn ich kenne die Wahrheit bereits.

 

„Warum sollte ich?“

 

„Aww, komm schon, wir sind Nachbarn! Und wir sollten definitiv was zusammen machen!“

 

 

 

Als ich abends im Bett liege, denke ich über seine Worte nach. Er will etwas mit mir unternehmen, abseits des Lernens, das ich ihm zugesichert habe, bevor wir uns voneinander verabschiedet haben.

 

'Vielleicht am Wochenende? Ich hab Konsolen und ne Menge Spiele. Dann können wir uns Samstag durch Zombies munchen. Hast du Bock?'

 

Wie hätte ich auch nein sagen können, nachdem er mich in sein Heiligtum eingeladen hat. An den Ort, den ich bisher nur sehnsüchtig aus der Ferne betrachtet habe.

 

In Gedanken male ich mir bereits mögliche Szenarien aus, die sich abspielen könnten.

 

Er und ich – gemeinsam auf seinem Bett.

 

Ich beiße mir auf die Unterlippe, da ich den weiteren Verlauf in meinem Kopf nicht mehr stoppen kann. So oft schon habe ich es mir vorgestellt. Und jetzt? Jetzt rückt dieser Traum näher. Er ist nur noch wenige Tage entfernt. Und innerlich fühle ich mich aufgekratzt. Die Wellen in meinem Gehirn tanzen frenetisch, übertragen wunderschöne Bilder. Unangemessene Bilder. Pixel. Ausschnitte. Dinge, die niemals eintreffen werden. Nicht, solange sie existiert.

Doch selbst wenn es sie nicht gäbe, sind meine Chancen rein rechnerisch betrachtet gleich Null.

Er ist nicht wie ich. Er steht nicht auf das gleiche Geschlecht. Seine Worte waren immer eindeutig, wenn es um dieses Thema ging.

 

'Ekelhaft'

 

'Widerlich'

 

'Abartig'

 

Er findet es krank. Er würde mich krank finden. Und deshalb darf er es niemals erfahren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lassen Sie uns über die Corporate Identity sprechen. Herr Inuzuka, was wissen Sie darüber?“

 

Der Unterricht am nächsten Tag zieht sich unendlich in die Länge, was nicht zuletzt an den Themen liegt, die der Lehrer vorführt. Dabei sind es immer dieselben Leuten, denen er dazu Fragen stellt.

 

Keine Ahnung, ist ne Identität?“

 

Und welche Identität?“

 

Weil unser Lehrer genau weiß, wer nichts weiß. Schon nach dem Voreinstufungstest hat sich deutlich herauskristallisiert, wer für das kommende Jahr mündlich einiges beizutragen hat.

Zum Glück falle ich nicht in diese Kategorie. Eher im Gegenteil. Der Dozent blickt noch nicht einmal in meine Richtung, wenn er anfängt, Fragen zu stellen.

 

Ja ,halt die Identität der Kooperation?“

 

Herr Inuzuka, haben Sie sich überhaupt mit dem Thema befasst?“

 

Jain?“

 

Bis zum nächsten Mal möchte ich eine fünfseitige Ausführung über das Thema Corporate Identity und den Teilbereichen, die sich daraus ergeben. Das gilt für alle.“ Die Klasse stöhnt, doch unser Lehrer grinst nur. „Bedanken Sie sich dafür bei Ihrem Mitschüler, der mir gezeigt hat, dass selbstständiges Lernen in Ihrer Klasse scheinbar nicht funktioniert.“

 

Dank dem Idioten habe ich jetzt noch zusätzliche Arbeit.

 

 

 

 

 

 

Mann, du bist so ein blöder Penner, warum hast du nicht gelernt? War doch klar, dass er wieder abfragt.“ Während sich Kiba den Schlägen der Mädchen aussetzt, die gemeinsam mit ihm am Tisch sitzen, beobachte ich Naruto, der genervt zu sein scheint. Wäre ich an seiner Stelle vermutlich – nein, mit ziemlicher Sicherheit auch, denn die Stimmen der Weiber kratzen unangenehm im Gehörgang.

 

Beruhigt euch mal, ihr wärt genauso aufgeschmissen gewesen.“ Ich finde es schön, wie er sich für seine Freunde einsetzt, auch wenn er sich mit dieser Aussage keinen Gefallen tut, denn die Hyänen stürzen sich sofort auf ihn.

 

Das sind solche Momente, in denen ich mir wünsche, dass Blicke töten können. Wie können sie es nur wagen, ihn zu schlagen? Nicht einmal seine Freundin unternimmt etwas dagegen – sie lacht nur. Sie ist so unnütz. Für nichts zu gebrauchen.

 

Ah, hört auf, ich hab nachher noch Training!“, fleht er beinahe, doch sie hören nicht auf, sondern beschimpfen ihn noch zusätzlich, während sich spitze, falsche Fingernägel in seine Seiten bohren. Dabei sind die Verletzungen, die er von der gestrigen Schlägerei davongetragen hat, noch sichtbar – zumindest die in seinem Gesicht, - und mit Sicherheit sind sie auch schmerzhaft.

 

Schnaubend wende ich den Blick von ihm ab. Wenn ich es mir recht überlege, hat er diese Spitzen im Moment verdient. Verdient dafür, dass er bereits heute wieder vergessen hat, dass ich existiere.

Nicht eines Blickes hat er mich gewürdigt. Nicht einmal, als seine Augen heute morgen nach dem Zuspätkommen durch den Raum gewandert sind.

 

Unsensibler Idiot …

 

 

 

 

 

Ich mag Freistunden. Sie lassen mich das erledigen, was während des Unterrichts zu viel Zeit kosten würde.

Die Bibliothek ist der perfekte Ort dafür, schlampige Notizen neu aufzusetzen, damit der Stoff sich besser festigen kann. Nebenbei lerne ich auch noch neue Dinge zu Themen, mit denen sich die Klasse bald befassen muss. Auch Strafarbeiten lassen sich so wunderbar erledigen.

 

„Buh!“ Mit einem erschrockenen Laut fahre ich herum und blicke geradewegs in Narutos grinsendes Gesicht. Er steht direkt hinter mir.

Wann ist er hier reingekommen? Normalerweise hätte ich ihn sehen müssen. Ich sitze direkt neben der Tür …

Und warum gluckst er so blöd?

 

Mein schneller Herzschlag ist nichts im Vergleich zu flatterhaften Gefühl in meinem Bauch.

 

„Warum schleichst du dich an?“, brumme ich und bin erstaunt, wie neutral meine Stimme klingt. Dabei bin ich alles andere als neutral, wenn es um ihn geht.

 

„Ich hab dich gesucht und dachte mir, dass du vielleicht hier bist“, erwidert er und zieht dann den Stuhl, der neben mir steht, nach hinten, um sich zu setzen. „Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht Lust hast, mit mir zu lernen?“

 

Lernen? Nur das? Ich will viel mehr mit dir tun, als nur das …

 

Ich räuspere mich und kämpfe gegen das warme Gefühl in meinem Bauch an, ehe ich ihm antworte:

 

„Was genau willst du lernen?“ Er blinzelt, dann grinst er.

 

„Na Geschäftsprozesse. Du weißt schon, das Fach, in dem ich abkotze.“

 

„Abkotze“, wiederhole ich leise. Seine Ausdrucksweise fasziniert mich mindestens genauso sehr, wie sie mich abstößt.

 

„Jaha. Ich kotz richtig ab. Vor allem, weil Kiba uns ne Scheiß-Strafe eingehandelt hat. Hast du dazu schon was geschrieben?“ Er greift einfach nach meinen Notizen, ohne mich vorher zu fragen, ob es mir überhaupt passt.

 

Dieser Tölpel.

 

„Hab ich.“

 

„Mhmh“, er blickt konzentriert auf meine Schrift, „ich seh´s. Sieht kacke aus. Und viel zu kompliziert. Corporate Design. Wie viel Seiten kannst du dazu bitte schreiben?“

 

Ich verdrehe die Augen. „Eine Menge. Du kannst noch viel mehr als fünf Seiten zu dem Thema schreiben, wenn du dich mit der Materie befasst.“

 

„Woah, Sasuke, du klingst wie Ebisu. Das Thema ist doch völlig langweilig! Wer braucht das später überhaupt?“

 

„Menschen, die sich für die Wirtschaft interessieren“, erwidere ich trocken und ziehe ihm meine Unterlagen wieder weg. Wenn er es nicht wertschätzt, dann … dann muss er es ja nicht lesen.

Er blickt für mich einen Moment lang von der Seite an und sieht dabei ziemlich ernst aus. Habe ich etwas Falsches gesagt? Stört es ihn, dass ich ihm meine Notizen weggenommen habe? Zusätzlich zieht er noch eine Augenbraue in die Höhe.

 

„Du hast eine neue Brille“, sagt er dann, völlig aus dem Zusammenhang gerissen und tippt mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand gegen das schwarze Gestell, direkt neben meiner Schläfe.

 

„Die Andere war kaputt.“

 

„Mhh.“ Er sieht mich noch zwei, drei Sekunden lang an, dann seufzt er und legt seinen Kopf auf der Tischplatte ab.

Was ist mit ihm los? Und was war das für ein Moment zwischen uns? Er verhält sich seltsam. Anders als gewohnt. Nachdenklicher.

Es verwirrt mich. Dieser Stimmungsumschwung. Er regelt auch nicht die Nervosität, die ich in seiner Präsenz verspüre. Eher im Gegenteil. Seine Art lässt mich unsicherer werden. Mehr als ich es ohnehin schon bin.

 

„Ich weiß echt nicht, wie ich das alles schaffen soll“, murmelt er leise und schließt dabei die Augen. „Ich hasse dieses Fach so sehr, dass mich schon der Gedanke daran abturnt, irgendwas darüber zu hören.“

 

„Aber es ist wichtig“, argumentiere ich dagegen, obwohl ich mir gar nicht sicher bin, ob er es überhaupt hören will. Er sieht jedenfalls nicht danach aus.

 

„Ist es nicht. Wichtig ist, dass man das tut, was man wirklich liebt und worin man gut ist. Nur darauf kommt es an. Egal, was andere dazu sagen. Und wenn du wirklich gut bist, dann kannst du alles schaffen.“ Jetzt fixieren mich seine blauen Augen wieder und ich bilde mir ein, dass sie noch heller strahlen als üblich.

 

„Wunschdenken“, antworte ich, unfähig, meinen Gedanken für mich zu behalten. Er hat eine naive Sicht, Dinge zu betrachten. Die Welt funktioniert nicht so, wie er sie sich zeichnen will. Das wird sie nie.

 

„Wünsche können in Erfüllung gehen“, sagt er grinsend und richtet sich dann wieder auf. „Glaub mir, Wünsche und Träume sind dazu da, um verwirklicht zu werden. Man muss sich nur trauen.“

 

„Und doch bist du hier, weil du mit mir lernen willst.“

 

„Pfff.“

 

Ich schüttle schmunzelnd den Kopf. Dieser kleine Idiot.

 

„Ich muss lernen, weil meine Eltern mir sonst was aufreißen, okay? Aber sobald ich die Schule fertig hab, werd ich mein eigenes Ding durchziehen.“

 

„Aha? Und was ist dein eigenes Ding?“ Es kribbelt angenehm in meinem Bauch. Voller vorfreudiger Erwartung darüber, was er mir erzählen könnte. Auch wenn seine Vorstellungen wahrscheinlich, nein, mit ziemlicher Sicherheit an Utopie grenzen – sie interessieren mich. Seine Wünsche, seine Träume; ich will alles von ihm wissen.

 

Leider hält ihn das Klingeln seines Handys davon ab, mir eine Antwort zu geben. Er beachtet mich schon gar nicht mehr, als er das schwarze Stück Plastik aus seiner Jacke zieht, um den Anruf zu beantworten.

 

„Hey Babe.“ Unwillkürlich spannt sich mein Kiefer an. Warum stört sie uns?

 

„Nein, ich bin mit Sasuke in der Bibliothek. Mh. Was? Mit Sasuke. Dem Nerd“, er sieht mich dabei entschuldigend an, „der mit uns in die Klasse geht. Ich wollte lernen.“ Mit jedem weiteren Wort, das aus seinem Mund dringt, verfinstert sich meine Miene. Meine Laune sinkt, Silbe für Silbe.

 

Er will gar nicht hier sein. Seine Art zu sprechen verrät ihn. Das hier ist Pflicht. Ein Programm, das absolviert werden muss. Und ich soll ihm dabei helfen. Dabei bedeute ich ihm nicht das Geringste. Meine Anwesenheit ist nur so lange wichtig, bis er den Stoff verstanden hat.

 

Während er weiter mit ihr spricht, packe ich meine Tasche. Stopfe achtlos die vorhin so sauber geschriebenen Blätter in den Rucksack, weil hässliche Wut meine Zellen flutet.

 

Ich bin ihm nicht wichtig. Ganz egal bin ich ihm. Nur sie zählt.

 

Sasuke – der Nerd. So hat er mich genannt.

 

„Ich ruf dich später wieder an, okay? Ich will erstmal mit Sasuke das Programm besprechen.“ Er sieht mich fragend an, als er auflegt.

 

„Was ist los? Warum packst du?“

 

„Weil ich noch etwas zu tun hab. Weißt du, Naruto, ich glaube, ich bin nicht der Richtige dafür.“

 

„Hä?“

 

„Mit dem Lernen“, meine ich, während ich nebenbei mein Zeug weiter einräume. Ich will hier raus. Weg von ihm und dem Gedanken, nur benutzt zu werden.

 

Es ist mir nicht recht. Ganz und gar nicht.

 

„Aber du hast doch schon zugesagt.“

 

„Hab ich“, sage ich und schließe dann meinen Rucksack. „Allerdings denke ich, dass das nichts wird. Ich kann dir nichts beibringen. Ich bin nicht gut in sowas.“

 

„Aber du hast es doch gar nicht probiert! Hey“, meint er und greift nach meinem Handgelenk, als ich aufstehe.

 

Warum berührst du mich, du Idiot?

 

„Hey, Sasuke. Hab ich irgendwas gesagt, das dich verletzt hat? Das mit dem Nerd?“

 

Und wie, du Idiot. Es tut weh. Sehr sogar. Allerdings sage ich nichts, sondern drehe den Kopf zur Seite und presse die Lippen aufeinander, während ich mich darauf konzentriere, mich nicht darauf zu fixieren, dass seine Finger über mein Handgelenk streifen.

 

„Das hab ich nicht so gemeint ...“, haucht er. „Das war nur, weil Sakura-chan … naja, weil sie nicht weiß, wer du bist … und ich dachte“, druckst er herum, und streichelt im selben Moment über meine Haut.

 

„Lass gut sein“, brumme ich und entziehe mich seinem Griff.

 

Als ich ihn wieder anblicke, merke ich, dass ich ihm gar nicht böse sein kann. Nicht, wenn er mich so reumütig ansieht.

 

„Hast du deine Unterlagen mit?“, frage ich nach und setze mich wieder neben ihn. Zwar mustert er mich noch einen Moment lang mit ernster Miene, doch dann nickt er und greift neben sich, um seinen zerschlissenen Rucksack zu öffnen.

 

„Ich hab keine Ahnung, was heute Phase war … deshalb dachte ich, wir können vielleicht da anfangen?“

 

 

 

 

 

Ich hätte es mir schlimmer vorgestellt. Wirklich. Ich dachte, dass es womöglich nicht in meiner Macht liegt, ihm Wissen zu vermitteln, doch mit der richtigen Herangehensweise war es einfach.

 

'Du machst das viel besser als Ebisu! Was willst du später mal werden? Lehrer?'

 

Ich schnaube erneut bei der Vorstellung an diese Frage. Lehrer? Ich? Niemals. Ich hasse Menschen. Und ihnen etwas beizubringen liegt nicht in meinem Interesse. Gut, Naruto ist die goldene Ausnahme, und das soll auch so bleiben.

 

'Steht das mit dem Wochenende noch? Freitag will ich mit Sakura-chan ins Kino, aber Samstag hätte ich Zeit.'

 

In was für einer grausamen Welt ich eigentlich lebe wird mir bewusst, als ich darüber nachdenke, wie oft er sie während des Lernens erwähnt hat. Sakura-chan hier, Sakura-chan da. Was ist so besonders an diesem Mädchen? Sie war in den ganzen Monaten, die sie mit ihm zusammen ist, vielleicht sechs oder sieben Mal in seinem Zimmer … und Sex hatten sie dort auch nicht. Also, was ist es? Nicht, dass ich sie überwacht hätte. Gut, ein wenig vielleicht. Doch was zum Teufel ist es, das sie in seinen Augen so besonders werden lässt?

Sie sieht gewöhnlich aus. Hat nicht unbedingt eine weibliche Figur und verhält sich auch alles andere als ein fraulich.

Höchstens wie eine Furie. Eine markante Furie, die bei jeder Kleinigkeit sofort an die Decke geht.

 

 

 

 

Ich bin nervös. Aufgekratzt. Und obwohl man immer sagt, dass die Zeit langsamer voranschreitet, sobald man sich auf ein bestimmtes, in der Zukunft liegendes Ereignis freut, sind die letzten Tage für mich verflogen.

 

Zwischen gemeinschaftlichem Lernen in der Bücherei, dem gewohnten Starren im Unterricht und dem neu eingeführten Grüßen, wenn man sich zufälligerweise – gut, für mich eher geplanterweise – auf dem Flur begegnet, habe ich von Naruto nicht wirklich viel gesehen. Zwar mehr als vorher, wenn man den Kontakt des Lernen zu meiner Rechnung addiert, doch immer noch zu wenig, um mich darauf vorzubereiten, dass ich heute mehrere Stunden mit ihm verbringen werde. In meiner Freizeit. Außerhalb der Unterrichtszeit.

 

Uneingeschränktes Fokussieren, das mir verwehrt bleiben wird, weil ich mich sonst zu auffällig verhalte.

 

„Sasuke, dein Vater und ich haben uns überlegt, dass die Universität in ...-“ Meine Mutter spricht mit mir, während mein Vater sein Gesicht hinter der Zeitung vom heutigen Tag versteckt. Das Frühstück, gepaart mit langweiligem Smalltalk, ist ein Ritual, das sich jedes Wochenende wiederholt.

Doch ich kann den gesprochenen Worten kaum folgen, und ehrlich gesagt, sie interessieren mich auch nicht. Nicht im Moment, da ich damit zu beschäftigt bin, meinen Magen davon zu überzeugen, sich nicht ständig zu verkrampfen.

 

„Sasuke, hörst du mir überhaupt zu?“ Ich blicke meiner Mutter entgegen, sehe in ihre dunklen Augen, gerade in dem Moment, als mein Vater seine Zeitung zusammenfaltet und beschließt, mich zu mustern. Mit einem strengen Blick, wie ich aus dem Augenwinkel wahrnehme.

 

Mein Bruder hingegen isst ungerührt weiter.

 

„Tut mir leid, ich war in Gedanken“, rechtfertige ich mich wie gewöhnlich, wenn eine Konversation nicht zu der Zufriedenheit meiner Eltern verläuft. Dabei ist es unnötig. Sie werden meine Antwort ohnehin in Einzelteile zerlegen und so noch mehr Rechtfertigung fordern.

 

„Aha“, meint meine Mutter bedient.

 

Wenn ich jetzt rückwärts zählen würde, Ziffer für Ziffer.

 

„Deine Mutter hat gerade etwas Wichtiges angesprochen. Gibt es einen Grund, weshalb du der Meinung bist, nicht zuhören zu müssen?“

 

Ja, es gibt viele Gründe. Tausende. Doch ich spreche keinen einzigen davon laut aus.

 

„Nein. Es tut mir leid.“ Stattdessen folgt eine weitere Entschuldigung.

 

„Das ist keine akzeptable Antwort.“ Die natürlich nicht ausreichend ist.

 

„Okay“, erwidere ich und blicke meinem Vater entgegen, dessen Kiefer sich anspannt. Er ist wütend. Vielleicht sogar zurecht, denn bisher habe ich es noch nie gewagt, ihm auf diese Art und Weise zu antworten.

 

Doch manchmal müssen diese Gefühle nach draußen. Egal wie gleichgültig sie sind. Denn so fühle ich im Moment. Es ist mir egal, was sie von mir denken.

 

„Ich möchte, dass du dich erklärst“, bringt er bemüht ruhig hervor, doch an seinen Augen erkenne ich, dass er innerlich tobt. „Ich möchte, dass du mir dieses Verhalten erklärst, Sasuke.“ Dass er zusätzlich meinen Namen nennt, bedeutet nichts Gutes.

 

„Ich habe nicht zugehört.“

 

„Das macht es nicht besser“, erwidert er streng und legt seine Zeitung zur Seite, neben seinen Teller, auf dem zwei Hälften eines Brötchens liegen. Sie sind mit Marmelade bestrichen. Dunkler, nicht unbedingt süßer Marmelade, die nur er gerne isst.

 

„Ich weiß. Aber ich war in Gedanken. Deshalb habe ich nicht zugehört.“ Meine Mutter atmet hörbar ein und ich bin mir sicher, dass sie geschockt aussieht, doch ich fixiere nach wie vor meinen Vater, dessen Nasenflügen sich aufblähen.

 

„Und was beschäftigt dich so sehr, dass du es nicht einmal schaffst, deiner Mutter zuzuhören?“

 

Er.

 

Immer nur er. All die Jahre über. Und jetzt verdrängt er eurer langweiliges Gewäsch noch besser. Ich sehe ihn. Rede mit ihm. Ich habe ihn berührt. Deshalb. Deshalb interessiert ihr mich noch weniger als zuvor.

 

„Die Schule.“ Eine ruhig ausgesprochene Halbwahrheit, die ich ihnen vor die Füße werfe, damit das Thema in eine andere Richtung verlaufen kann.

 

„Hast du Probleme mit dem Unterricht oder den Aufgaben?“, schaltet sich jetzt meine Mutter ein und ich wage es, mich ihr zu widmen, indem ich meine Augen ganz langsam zu ihr wandern lasse.

 

„Unser Lehrer hat mir einen Nachhilfeschüler zugeteilt, der schlecht in unserem Hauptfach ist. Und ich habe mir überlegt, wie ich ihm helfen kann.“

 

Innerlich habe ich den Drang zu grinsen. Denn eigentlich bin ich es es, der Hilfe braucht. Hilfe, um von hier zu flüchten.

 

„Oh“, die Miene meiner Mutter hellt sich augenblicklich auf, „das ist wirklich etwas, worüber man nachdenken sollte.“

 

Ich höre meinen Vater brummen. Es klingt dabei weder nach einem zustimmenden noch nach einem ablehnenden Brummen, doch ich blicke ihn an.

 

„Wenn dich dieser Schüler so sehr ablenkt, dass du unseren Gesprächen nicht folgen kannst, muss ich dann auch davon ausgehen, dass sich das auf deine Noten auswirken wird?“

 

„Nein, Sir.“ Ein schiefes, halb unterdrücktes Schmunzeln schleicht sich bei meiner Aussage über seine Lippen.

 

„Das hoffe ich.“ Er greift nach seiner Zeitung und entfaltet sie wieder. „Und zur Strafe, dass du dich im Ton vergriffen hast, wirst du heute sämtliche Hausarbeiten übernehmen.“ Damit ist das Thema erledigt. Jetzt folgt nur noch der Abschluss. Meine Mutter wird reden – und ich höre zu.

 

 

 

 

Was meine Laune nicht unbedingt steigert sind Dinge, deren Ausführung ich verabscheue. Entkalken, Saugen, Sprühen, Spülen. Immer und immer wieder im Wechsel. Ich hasse diese Aufgaben. Und die Anerkennung, die meine Mutter verdient, weil sie jeden Tag diese Arbeiten für uns erledigen muss.

 

„Wenn du weiter darüber kratzt, wird Mum dir die Haut abziehen.“ Ich halte in meiner Bewegung inne, als ich die Stimme meines Bruders hinter mir vernehme. Nur kurz sehe ich zu dem Fleck, der sich seit einer gefühlten Stunde immer noch an derselben Stelle befindet, ehe ich über die Schulter hinweg zu Itachi blicke. Er schmunzelt.

 

„Was ist?“, frage ich, während ich mich zeitgleich aufrichte und kurz meine Schultern zurückwerfe, da das Shirt, das ich trage, viel zu weit ist.

 

„Ich wollte dir nur sagen, dass Mum und Dad jetzt weg sind, du kannst also damit aufhören, imaginären Dreck zu putzen.“ Ich runzle die Stirn.

 

„Wo sind sie hin?“ Und Itachi schmunzelt erneut.

 

„Irgendein Termin bei einem Klienten und danach ein wichtiges Dinner“, er wedelt abwertend mit seiner Hand, „das wohl vorverlegt wurde.“ Er tritt näher an mich heran. „Wir haben also sturmfreie Bude und unsere Ruhe.“ Jetzt legt sich auch auf meine Lippen ein kleines Lächeln.

 

„Ich bin nachher nicht da.“ Er hebt eine Augenbraue an, mit einem Blick, der mir signalisiert, dass er mehr wissen will. „Ich bin mit einem Freund verabredet … zum Lernen.“

 

„Ich wusste gar nicht, dass du auf Männer stehst.“ Schockiert reiße ich die Augen auf.

 

„Itachi! Das stimmt gar nicht!“ Er gluckst, ehe er noch einen Schritt auf mich zukommt und mir gegen die Stirn schnippt.

 

„Ist schon gut, Sasuke. Ich wusste es bereits.“ Mein Nacken wird warm.

 

„Das stimmt nicht! Er ist nur ein Klassenkamerad! Ich soll ihm beim Lernen helfen! Das ist alles.“

 

„Und das dubiose Paket, das du vor einem Jahr auf meine Kreditkarte bestellt hast?“ Jetzt glühen meine Wangen. Er hat mich eiskalt erwischt. Und doch habe ich das Gefühl, vor Scham zu verbrennen.

 

„Du spinnst doch. Das war ein Buch …“

 

„Sexy Pleasures. Interessantes Buch.“

 

„Itachi, bitte …“

 

„Megalo-Vibroei, Spirit Lifter 20 cm ...“, spricht er weiter und ehe ich mich versehe, landet meine flache Hand auf seinen Lippen. Seine Augen weiten sich nur für einen Augenblick, ehe sich Falten darum bilden. Er grinst.

 

„Das waren Bücher …“, hauche ich, wohlwissend, dass er diese Lüge bereits durchschaut hat, bevor ich sie geäußert habe.

 

Er hat Recht. Vor einem Jahr – es war ein langweiliger Abend, Naruto war unterwegs und ich hatte nichts zu tun – habe ich meinen Laptop für andere Dinge benutzt als zu recherchieren … und dabei bin ich auf diverse Seiten gestoßen. Seiten, mit denen ich mir die Zeit vertrieben habe. Und jeder weiß, wie das mit dem Netz ist. Ist man einmal drin, hört man meistens nicht damit auf, nach weiteren Dingen zu suchen. So wie auch an diesem Abend, an dem ich mich dazu entschlossen hatte, etwas auszuprobieren. Dabei spreche ich nicht von Masturbation. Nein. Ich war auf einer dubiosen Seite, um mir Geräte zu bestellen, die manch ereignislose Abende zu welchen gemacht haben, an die ich mich gerne erinnere.

 

Doch mit 16 Jahren hat man keine Kreditkarte. Ganz im Gegensatz zu meinem älteren Bruder, der seine schon seit vier Jahren besitzt und selten nutzt.

 

Also dachte ich … ich dachte, es würde nicht rauskommen, wenn ich mein Taschengeld, nachdem ich die Bestellung getätigt hatte, auf sein Kreditkartenkonto überweisen würde.

 

Angewidert ziehe ich meine Hand zurück, da Itachis Zunge meine Handfläche berührt hat.

 

„Ich hätte zwar auch gerne darauf verzichtet, doch da ich ungern ersticken wollte ...-“

 

„Wirst du es Mum und Dad sagen?“, unterbreche ich ihn stattdessen und drehe nebenbei den Wasserhahn auf, um meine Hand zu waschen.

 

Wenn er es ihnen sagt, wird mein Tod ein grausamer sein. Selbst wenn die Chance besteht, dass sie es akzeptieren, ich würde auf der Stelle sterben.

 

„Nein. Ich halte schon seit einem Jahr dicht, vergessen?“

 

„Und was willst du dafür?“

 

„Nichts. Es ist deine Sache. Solange du immer schön bezahlst was du bestellst …“

 

„Mhh.“

 

„Also, wer ist der Glückliche?“

 

„Itachi, können wir bitte nicht darüber sprechen?“

 

„Warum? Ist es dir peinlich?“

 

Peinlich ist nicht der richtige Ausdruck dafür. Dieses Gespräch weckt nur eine gewisse Todessehnsucht in mir. Wenn ich jetzt aus dem Fenster springen würde …

 

„Nein. Ich will nur nicht darüber reden. Bitte.“ Nachdem ich der Meinung bin, dass meine Hand von Itachis Spucke befreit ist, stelle ich das Wasser wieder ab und trockne meine Finger an dem blauen Handtuch, das an der Wand hängt.

 

„Okay.“

 

 

Als mein Bruder das Badezimmer verlassen hat, verharre ich noch einige Minuten hier, um mich von dem Schock der Offenbarung zu erholen. Es ist meine Schuld, keine Frage. Ich hätte vorsichtiger sein müssen. Nach einer anderen Lösung suchen müssen, um an die gewünschten Sachen zu kommen.

 

Wie konnte ich auch nur davon ausgehen, dass diese Bestellung unentdeckt bleibt?

 

Seufzend verlasse ich ebenfalls das Bad, nachdem ich die Putzutensilien an ihren Platz verfrachtet habe, um in mein Zimmer zu gehen und mich umzuziehen.

 

Es ist bald soweit. In einer halben Stunde. Die verdammt schnell vorbeigeht, wie ich mit Schrecken feststelle, als ich das nächste Mal auf die Uhr blicke.

 

Dabei habe ich mich gerade erst für ein Outfit entschieden, das ich jetzt schleunigst anziehe, um nicht doch noch zu spät zu kommen.

 

„Bis später“, rufe ich oben in den Flur, hoffe jedoch darauf, dass Itachi sich nicht mehr blicken lässt. Die Treppe nach unten sprintend, blicke ich noch einmal kurz in den Spiegel, der neben der letzten Stufe hängt und verlasse dann das Haus.

 

Jetzt muss ich tief durchatmen. Es ist alles gut. Es wird nichts passieren, das schlimm für mich wäre. Einfach nur ein Treffen unter Schulkameraden. Das tun normale Jugendliche. Sie tun es ständig. Sich treffen …

 

Noch ein letzter, tiefer Atemzug, dann überquere ich die Straße und richte meinen Fixpunkt auf den kleinen Knopf, den ich betätigen muss, damit Naruto weiß, dass ich angekommen bin.

 

Will ich das überhaupt?

 

Bin ich wirklich dafür bereit?

 

Nein. Nein, das bin ich nicht. Doch wenn ich mich jetzt nicht traue, wann dann? Es wird alles gutgehen. Alles ist gut. Es ist nur ein-

 

„Willst du zu uns?“ Blinzelnd blicke ich nach oben. Durch das Fixieren der Klingel ist der Rest meines Umfeldes verschwommen – ich habe nicht einmal mitbekommen, dass jemand die Tür geöffnet hat. Ein Mann in Uniform, bei näherer Betrachtung nicht nur irgendein Mann, sondern Narutos großer Bruder.

 

„Ja.“ Bei meiner Antwort runzelt er die Stirn. Was auch völlig verständlich ist. „Ich wollte zu Naruto“, füge ich hinzu und hoffe, dass seine grünen Augen damit aufhören mich zu durchleuchten.

 

„Aha. Bist du ein Freund von ihm?“

 

„Klassenkamerad.“ Er tritt zur Seite und nickt mit seinem Kopf, signalisiert mir so, dass ich eintreten soll.

 

„Warum hab ich dich noch nie hier gesehen?“ Weil ich ein Einsiedler bin?

 

„Ich wohne gegenüber.“

 

„Seit wann?“

 

„Seit ich denken kann.“

 

„Und du gehst mit ihm in eine Klasse … wie habt ihr euch kennengelernt? Bist du der Typ, der meinem Bruder Wissen einprügeln soll?“

 

Er ist Polizist. Das ist mir bewusst. Und diese Erkenntnis liegt nicht an der Tatsache, dass er eine Uniform trägt, sondern viel mehr an der Art und Weise, wie er versucht mich mit seinen Fragen zu löchern.

 

„Mein Name ist Sasuke … und ja, ich helfe Naruto bei ein paar Projekten.“

 

„Projekte nennt man das also heutzutage.“ Ich runzle die Stirn. Dass er jetzt auch noch schmunzelt, irritiert mich zusätzlich.

 

„Sasuke!“ Ich zucke minimal zusammen, da Narutos Stimme mich überrascht. Und seine Hand, die auf meiner Schulter landet, lässt mich halb erstarren. Langsam drehe ich meinen Kopf zur Seite, versuche so gut es geht gelassen zu wirken, auch wenn ich innerlich rotiere.

 

„Hey.“ Wirklich. Ein besserer Einstieg ist mir nicht eingefallen? Ich bin enttäuscht von dir, Gehirn.

 

„Na, hast du gut hergefunden? Hat dich mein Bruder genervt?“ Seine Finger verschwinden wieder von meiner Schulter, stattdessen boxt er mir leicht gegen die Rippen. Er grinst, er riecht gut. Und er sieht so verdammt schön aus.

 

„Ja …“, erwidere ich, und erst als ich das Räuspern von Narutos Bruder vernehme, wird mir bewusst, dass ich gerade der Aussage zugestimmt habe, genervt worden zu sein. Naruto hingegen lacht nur.

 

„Ich werde jetzt gehen. Bleibt safe, Jungs.“ Abrupt verstummt die Stimme meines blonden Idioten. Er sieht angewidert aus. Und vorsorglich richte ich meinen Blick auf seinen Bruder, der grinsend seine schwarzen Schuhe schnürt.

 

„Als ob. Du bist doch der Fag in der Familie. Bleib du lieber safe“, zischt Naruto und ich kann gar nichts dagegen tun, dass sich meine Augen weiten.

 

Sein Bruder ist schwul?

 

„Jaja. Also, bis später ihr kleinen Scheißer.“ Der Mann verschwindet, ohne noch weiter auf Narutos leise Fluchwörter einzugehen und schmeißt stattdessen die Tür hinter sich ins Schloss.

 

Okay?

 

„So eine dreckige Schwuchtel … immer mit seinen Scheiß-Kommentaren. Kannst du dir das vorstellen?“ Ich spüre Narutos Blick auf mir und drehe meinen Kopf wieder zur Seite, versuche dabei aber, nicht direkt in seine Augen zu sehen und lächle schief.

 

„Mhh, klingt ätzend.“

 

„Ätzend? Ständig haut er so ne Scheiße raus! Ich hasse es. Du müsstest mal sehen, wie er abgeht sobald Kiba da ist! Und weißt du was? Er hat mal allen Ernstes gefragt, ob Sakura-chan ne Transe ist! So abartig ist er! Uhg. Ich hasse ihn einfach!“ Mit Mühe unterdrücke ich das Glucksen, das in mir aufkeimen will.

 

Irgendwie ist mir sein Bruder doch sympathisch.

 

 

 

Nachdem Naruto sich den Weg über, den wir in sein Zimmer gebraucht haben, darüber ausgelassen hat, wie sehr er seinen Bruder hasst, ist es still zwischen uns. Mir würde auch nichts einfallen, das angepasst wäre. Außerdem bin ich viel mehr damit beschäftigt, alles, was meine Augen erfassen, in meinem Gehirn zu speichern. Es ist definitiv etwas anderes, wenn man auf dieser Seite steht. All die Eindrücke, die sich hier bündeln, sind anders, als ich erwartet habe. Es riecht dezent nach Rauch und billigen Duftkerzen – die weiße Farbe an der Wand ist leicht vergilbt – und der Boden, von dem ich bisher immer ausgegangen bin, dass es Teppich ist, besteht aus Laminat. Sein Schreibtisch, der von meinem Zimmer aus kaum einsehbar ist, sieht unordentlich aus. Doch das war mir klar. So hab ich es mir vorgestellt. Die Bildercollage, die darüber hängt, eher weniger. Fotos von seinen Freunden … und ihr.

 

„Sasuke?“

 

„Mh?“ Ich blicke zu Naruto herüber, der mittlerweile am Fenster steht und eine Schachtel Zigaretten in den Händen hält.

 

„Ich hab gefragt, worauf du Bock hast. Ich hab Zombielypse 2, LostHeros 4 und ...-“ Seine Stimme verschwindet für einen Moment lang aus meinem Bewusstsein, wird nur am Rande wahrgenommen. Wie eine Geschichte, die man abends hört, um besser schlafen zu können.

 

Ich bin wirklich hier. Nach all den Jahren stehe ich wirklich an dieser Stelle. Keine Mauer, die uns trennt. Kein Glas, durch das ich blicke. Ich bin hier. Ich sehe alles. Seine Möbel, die definitiv schon bessere Zeiten gesehen haben, sein Chaos. Ich sehe alles. Und ich sehe ihn. Bin ihm nahe.

 

„Sasuke?“ Seine Augenbrauen sind zusammengezogen. Gott, er hält mich sicherlich für einen Spinner.

 

„Sorry, ich war gerade nicht anwesend.“ Er schnaubt, schmunzelt jedoch, ehe er sich eine Zigarette aus der Schachtel zieht und sie anzündet.

 

„Du bist oft abwesend, kann das sein?“, sagt er, während er einem Zug nimmt.

 

„Gelegentlich.“ Er zieht eine Augenbraue in die Höhe.

 

„Eigentlich immer, wenn ich dir was erzähl. Bin ich so langweilig, dass man mich ausblenden muss?“, grinst er und ascht dann ab.

 

Wenn du nur wüsstest. Du bist alles andere als langweilig. Du bist so weit entfernt davon, dass es in meiner Brust zieht, sobald es darum geht, mehr von dir zu erfahren. Fast schon schmerzhaft ist dieses Verlangen, alles über dich wissen zu wollen. Jede Einzelheit. Ich will sie. Stück für Stück. Ganz. Zusammengesetzt, aneinander gekettet. In jeder Facette.

 

„Nein. Ich hab mich nur gewundert, dass es so ordentlich ist.“ Denn wenn man davon absieht, dass sein Zimmer schmuddelig aussieht, herrscht – mit Ausnahme seines Schreibtischs – eine gewisse Ordnung. Schlampige Ordnung, die man nicht vermutet. Nicht bei ihm. Ich habe mir vorgestellt, dass sein Boden mit Klamotten gefächert ist, doch da ist nichts. Nicht einmal Socken liegen herum.

 

Gott, dieser Gedanke …

 

„Heh. Meine Ma meckert auch immer. Aber solange es nicht aussieht wie im Arbeitszimmer von meinem Dad ist alles gut.“ Er zieht noch immer an seiner Zigarette – gräulicher Rauch fließt über seine Lippen, steigt aus seinem Mund – und obwohl ich sein Gesicht nicht richtig sehen kann, da der Nebel mir die Sicht erschwert, muss ich zugeben, dass er atemberaubend aussieht. Wie lässig er an der Fensterbank lehnt, mit seinen Lippen Ringe formt – ich habe das Gefühl, dass mein Herz im Sekundentakt schneller schlägt.

 

„Also, sag an, welches Spiel?“

 

 

Ich entscheide mich für das dritte Spiel, das er mir vorschlägt, nachdem er seine Zigarette in dem schwarzen Aschenbecher ausgedrückt hat und zu seinem Fernseher gegangen ist, um die Konsole darunter anzumachen.

 

„Exzellente Wahl, Sasuke!, sagt er grinsend und macht dann noch den Fernseher an. „Willst du was trinken?“ fragt er und fügt dann hinzu, nachdem er sich umgedreht hat: „Du kannst dich übrigens auf meinem Bett ausbreiten.“

 

Trommelwirbel, ausgeführt von meinem Herzen.

 

Er ist so lieb … und so ahnungslos.

 

„Danke, erwidere ich leise und setze mich dann auf den Rand der Matratze. Sie fühlt sich weich an. Nicht so hart wie meine eigene.

 

Wenn ich mich jetzt hinlege, werde ich dann versinken?

 

„Ist alles okay bei dir? Du wirkst so abwesend.“ Innerlich zucke ich zusammen – und zum Glück nur innerlich – da Naruto sich direkt neben mich setzt und mich besorgt mustert.

 

Seine Züge – sie sind so emotionslastig. Er zeigt allen, was er empfindet. Er legt offen, was er fühlt. Ganz anders als ich. Er muss sich nicht verstecken. Und das tut er auch nicht.

 

„Ja, ich hab nur Stress mit meinem Bruder …“

 

Diese Lüge ist es wert. Wenn ich in sein Gesicht blicke und die Verbundenheit entdecke, dann ist sie es definitiv wert.

 

„Großer Bruder?“

 

„Ja.“

 

„Große Brüder sind ätzend, echt jetzt!“ Ein Schmunzeln legt sich auf meine Lippen. Ja, große Brüder können manchmal wirklich nervend sein.



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