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Reise nach Elayaden

Lehrjahre sind keine Herrenjahre
von

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Und jeden Tag das Selbe

DING DING DING DING !!! schepperte der Wecker penetrant. Reflexartig schlug der verschlafene Mann auf das lärmende Gerät. Als dieses wieder verstummt war, setzte er sich seufzend auf und blickte zu seinem Bettnachbarn, der noch immer tief schlief. Mit einem Lächeln streichelte der Erwachte seinem Freund vorsichtig über die Wange, ehe er sich auf Zehenspitzen erhob und ins Badezimmer begab. Zuvor jedoch, kochte er sich schon einmal seine allmorgendlich Tasse Tee auf.

Müde gähnend blickte er in den Spiegel. Seine grünbraunen Augen waren verquollen und sein dunkelblondes Haar stand ihm in alle Himmelsrichtungen ab. Schnaubend begann er sich zu richten. Putzte sich die Zähne, wusch sich und bändigte seine Haare. Als er einigermaßen zufrieden war, setzte er seine Brille auf und trottete in die Küche um seinen durchgezogenen Tee zu trinken und sich zwei Brote zu schmieren. Mit seinem Frühstück setzte er sich auf den Balkon und betrachtete die Stadt, die, wie er, allmählich zum Leben erwachte. Hier und da konnte er Arbeiter der Stadt ausmachen, die Müll zusammenräumten oder die Grünanlagen in Schuss hielten oder Frauen, die zum Bäcker hetzten, damit ihre Kinder ein anständiges Pausenbrot hatten. Er sah den ersten Bus vorbeifahren und es graute ihm bei dem Gedanken, dass er den nächsten nehmen und in seine Arbeit fahren musste.
 

Es war nicht so, dass er seine Arbeit hasste, nein im Gegenteil. Eigentlich liebte er sie. Er war Landschaftsgärtner, hatte also einen Job, der viel Abwechslung bot. Seit einiger Zeit nur, hatte er eine Unruhe in sich verspürt. Er fühlte sich gelangweilt von seiner Arbeit, dem Alltag und seiner Umgebung. Oft ertappte er sich dabei, wie er darüber nachdachte, wie es wohl wäre, wenn es andere Welten gäbe oder Magie, irgendetwas, dass anders war. Dass den Alltag störte und Abenteuer, Neuerung, vielleicht sogar ein wenig Chaos versprach. Während er so gedankenverloren vor sich hin sinnierte, vergaß er die Zeit und schrak auf, als die Kirchenuhr sieben läutete.

Verflixt! Mein Bus fährt in fünf Minuten, dachte er sich und eilte in seine Wohnung. Eilig schlüpfte er in seine Arbeitsklamotten und verstaute das Geschirr in der Spüle. Danach hastete er in Schlafzimmer, gab seinem Geliebten einen Kuss auf die Wange und verschwand sogleich aus der Haustür.
 

Schnellen Schrittes überquerte er die Straße und erreichte die Bushaltestelle gerade als das Öffentliche Verkehrsmittel seine Türen öffnete. Geistesabwesend setzte er sich auf den ersten freien Platz und wartete darauf, dass die Fahrt losging.
 

Ein leises Klopf-klopf, dass er aus seiner Hosentasche vernahm, eröffnete ihm, dass er soeben eine Nachricht via WhatsApp erhalten hatte. Er kramte nach seinem Handy und öffnete den Chatverlauf. Es war eine Message von Dominik, seinem Partner.
 

[Guten Morgen Schatz. Hast es wohl gerade noch in den Bus geschafft ;-P Das nächste Mal solltest du vielleicht etwas früher aufstehen. Ich wünsche dir einen schönen Tag. Bis heute Abend. Ich liebe dich.]
 

Der Mann sah schmunzelnd von seinem Handy auf und blickte in Richtung ihres Balkons. Dort machte er seinen Freund aus, der ihm grinsend winkte, als sich der Bus in Bewegung setzte.

Die Fahrt zur Arbeit dauerte eine halbe Stunde und war so trist wie jeden Morgen. Wie üblich verlor sich der Landschaftsgärtner in seine Fantastereien. Er träumte von einer Welt der Magie, in der jeder Tag ein neues Abenteuer bot. In der man nicht dem alltäglichen Trott verfallen war und nicht tagein tagaus das selbe tat.

Wie schön das doch wäre, seufzte er in sich hinein und starrte aus dem Bus. Die Landschaft zog an ihm vorbei. Die Stadt wandelte sich in eine ländliche Gegend und er wusste, dass er bald sein Ziel erreicht hatte. Ein plötzliches Widerstreben ergriff Besitzt von ihm und er nahm sich vor, nicht auszusteigen, wenn die Haltestelle erreicht war. Stattdessen wollte er in die nächste Stadt fahren und sich den Tag anderweitig vertreiben, etwas tun was er nicht immer tat. Leute treffen, die er nicht kannte und einfach mal dem Trott entfliehen.
 

Kurzerhand griff er zu seinem Handy und wählte die Nummer seines jüngeren Bruders Sebastian.

Es wählte und wählte.

Typisch Basti, dachte er sich während er ungeduldig darauf wartete, dass sein Gesprächspartner ab nahm. Gerade als er wieder auflegen wollte, ertönte die verschlafene Stimme seines Bruders: „Guten Morgen Andre. Was gibt’s?“, fragte er kurz angebunden.

„Ich wollte dich nur bitten, dem Chef zu sagen, dass ich heute nicht komme. Mir geht’s nicht besonders gut und ich werde jetzt erst mal zum Arzt fahren“, log er seinen Bruder und gleichzeitigen Arbeitskollegen an.

„Hm ok“, kam es etwas ungläubig von seinem Gegenüber. „Ich hoffe du hast nichts schlimmes.“

„Nein, nein. Nur ein wenig Kopfschmerzen und meine Schulter macht mir etwas zu schaffen, aber ich denke, dass das alles nicht so wild ist.“

„Na gut, ich richte es dem Chef aus“, versicherte Sebastian. „Gute Besserung und bis bald.“

„Bis bald“, beendete Andre das Gespräch.
 

Nach dem Telefonat öffnete er den WhatsApp-Dialog mit Dominik und schrieb ihm.
 

[Hey Dom. Es könnte sein, dass mein Chef nachher anruft. Ich habe mich gerade entschuldigen lassen. Werde einen Tag blau machen. Falls er fragt, sag ihm einfach ich habe Kopf und etwas an der Schulter und dass ich auf dem Weg zum Arzt bin. Die Aussage deckt sich dann mit dem was ich Basti erzählt habe.

Wenn du Lust hast, können wir ja heute auf einen Kaffee gehen ;-)]
 

Es dauerte keine Minute, da bekam er seine Antwort
 

[Okeeeeyyy. Du und blau machen, dass kennt man ja gar nicht von dir O.o Ist alles in Ordnung?]
 

Grinsend über die Nachricht versicherte Andre, dass alles gut wäre und er seinen Kopf nur etwas frei bekommen wollte.
 

[Na gut Schatz. Aber lass das nicht einreißen. Das Angebot mit dem Kaffee muss ich leider ablehnen, denn im Gegensatz zu dir, kann ich als Abteilungsleiter nicht einfach mal eben so blau machen. Wir sehen uns dann einfach heute Abend.]
 

Andre hatte fast schon mit einer solchen Absage gerechnet. Aber er konnte sie Dominik nicht verübeln, denn er war erst vor wenigen Wochen zum Abteilungsleiter in der Metzgerei einer Großmarktkette befördert worden und wollte seinen Vorgesetzten beweisen, dass sie die Stelle richtig besetzt hatten.
 

In der Stadt angekommen, verließ er den Bus und trottete ziellos durch die Fußgängerzone. Etliche Menschen drängten sich dort herum und Andre bummelte durch jeden Laden. Er wollte zwar nichts kaufen, aber er wollte der Menge entgehen und fand durch Zufall ein Buch das er sich dann doch gönnte.

Als er der Meinung war, genug gebummelt zu haben, setzte er sich in ein Cafe und genehmigte sich eine Tasse Grünen Tee und ein süßes Teilchen. Während er so dasaß las er in dem neuen Fantasie-Roman, den er sich soeben gekauft hatte. In seinen Gedanken malte er sich die Welt aus und durchlebte die Abenteuer des kleinen Heldentrupps, die die Welt vor einer dunklen Macht befreien mussten. An einer besonders interessanten Stelle wurde er aus dem Buch gerissen, als er angesprochen wurde.
 

„Entschuldigung. Ich möchte Sie nicht stören, aber ich habe gesehen, dass Sie 'Die Blutschwert Saga' lesen. Ich hatte mir auch überlegt es zu holen, war aber unschlüssig. Würden Sie es denn weiterempfehlen?“

Verdutzt blinzelte Andre einige Male, um sich in der Realen Welt wieder zurecht zu finden. Er nahm seine Brille kurz ab und setzte sie sogleich wieder auf. Dann betrachtete er den jungen Mann der ihn angesprochen hatte. Er war Anfang zwanzig, hatte hellblondes kurz geschorenes Haar und moosgrüne Augen. Er wirkte recht unsicher und kindlich. Nervös hatte er seine Hände gefaltet und trat von einem Bein auf das Andere. Andre musste sich ein Grinsen verkneifen und bot dem Jüngeren einen Platz an. Dieser setzte sich nach kurzem Zögern und wartete auf die Antwort auf seine Frage.

„Also ich habe das Buch heute erst selbst gekauft, deshalb kann ich noch nicht zu viel dazu sagen. Aber bisher ist es ganz gelungen. Man muss natürlich auf die Fantasie-Schiene stehen, sonst langweilt einen diese Geschichte, aber für mich ist sie goldrichtig.“

Gierig hafteten die Augen des Jungen auf dem Cover des Buches und er stellte einige Fragen über den bisherigen Inhalt. Gerne beantwortete Andre diese und es baute sich allmählich ein interessantes Gespräch über diverse Bücher, die sie gelesen hatten, auf. Beide waren absolute Fantasie-Fans und hatten schon das ein oder andere selbe Buch gelesen. Die Zeit verflog und als der Unbekannte, der sich im Verlauf der Unterhaltung als Stefan vorgestellt hatte, auf die Uhr schaute, sprang er auf.

„Gott es ist schon fünfzehn Uhr! Ich muss los, mein Boss bringt mich um. Danke für die nette Unterhaltung und ähm ich denke, ich werde das Buch auch kaufen. Vielleicht kann man sich ja dann mal darüber austauschen. Ach ja und wenn es dich interessiert, hier in der Nähe gibt es einen kleinen Laden. Dort werden interessante Sachen, wie Schwerter, alte Bücher und Edelsteine verkauft. Ich glaub ist so eine Art Mittelalterladen. Der ist echt cool. Den solltest du unbedingt besuchen.“

Bevor Stefan letztlich davoneilte beschrieb er Andre, wie er den Laden finden konnte und tauschte mit ihm die Handynummern.
 

Nachdem der Jüngere wieder verschwunden war, wollte der Zurückgebliebene sich wieder der 'Blutschwert Saga' zuwenden, doch sollte ihm dies nicht so ganz gelingen. Seine Gedanken kreisten um den Laden, den Stefan erwähnt hatte.

Andre interessierte sich sehr für mittelalterliche Waffen und auch wenn sie nur Attrappen waren, vielleicht fand er ja das ein oder andere coole Zauberbuch.

Von seiner Neugier angestachelt, klappte er das Buch zu, bezahlte seine Rechnung und machte sich in die beschriebene Richtung auf.
 

Es war wie von Stefan angegeben. Der kleine Laden befand sich im Untergeschoss des Bücherladens, den Andre zuvor besucht hatte. Ihm war das Schild mit den zwei gekreuzten Schwertern vor einer Kristallkugel gar nicht aufgefallen. Zugegebenermaßen war es auch etwas unvorteilhaft angebracht. Der Landschaftsgärtner bezweifelte, dass der Inhaber des Ladens viele Kunden hatte, aber letztlich war es ihm auch egal.
 

Er trat durch die knarzende Tür ein. Das Verkaufszimmer war nur durch Kerzenschein beleuchtet und an den Wänden standen wuchtige und dunkle Regale, die bis zu den Decken reichten. Gefüllt waren diese mit einer Vielzahl an Büchern, die in verschiedenste Kategorien unterteilt waren. Es gab Magische Wesen, Zaubersprüche der Alten Zeit, Verbotene Magiearten, Heldensagen, Kampflehrbücher, Wahrsagen, Kräuterkunde, Auswirkungen des Spiritakreislaufs auf die Menschen und viele mehr. Die Mitte des Raumes enthielt eine Vielzahl an Glasvitrinen in denen die unterschiedlichsten mittelalterlichen Waffen zum Verkauf angeboten wurden. Hinter der Kasse, die sehr unscheinbar in der hintersten Ecke des Ladens verstaut war, ragten wiederum Regalbretter auf, in denen Relikte, Edelsteine und eine Vielzahl an Krusch verstaut worden waren. Der Boden und die Wände waren aus kahlem Stein und überall in den Ecken der Decke hingen dicke Spinnenweben. Alles in allem hatte Andre wirklich das Gefühl in einer anderen Zeit gelandet zu sein, während er fasziniert durch den Raum wanderte.
 

Er wusste nicht wo er zu erst hingehen und schauen sollte. Es war alles so faszinierend.

Die Besitzer haben sich wirklich Mühe gemacht. Hier wirkt alles so authentisch, dachte der junge Mann bei sich, während seine Finger über die ledrigen Einbände der Bücher strichen. Es fühlte sich so anders an als die Bücher, die er zu Hause hatte. Mit einem mal hielt er inne, als sein Blick auf einen schlichten Holzstab fiel. Dieser war aus tiefschwarzem Ebenholz gefertigt, doch eine silbern-blaue Line zog vom oberen Teil bis zum unteren in einem steten Fluss an ihm entlang. Ungläubig schritt er auf dieses Prachtstück zu und fragte sich, wie das nur möglich war. Wie ein kleines Kind wollte er nach dem Stab greifen, als ein Räuspern ihn zurückschrecken ließ.
 

„Guten Tagen. Ich heiße dich herzlich in meinem Laden willkommen. Was kann ich für dich tun?“, wollte der vermutliche Ladenbesitzer mit tiefer und hallender Stimme von Andre wissen.

Dieser wandte sich verdutzt zu der Stimme um. Erst jetzt machte er einen älteren Herren aus, der in einer dunkelbraunen Kutte hinter der Kasse saß. Durch das fahle Kerzenlicht war er Andre erst nicht aufgefallen, obwohl er direkt an ihm vorbeimarschiert war. Etwas verlegen antwortete dieser: „Verzeihen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein, aber dieser Laden hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Es ist als wäre man in einer anderen Welt.“

Der Alte lachte zufrieden auf und warf seine Kapuze zurück. Er hatte einen schlohweißen Vollbart und ebenso weißes schulterlanges Haar. Ein Auge kniff er zusammen und Andre machte eine Narbe aus, die sich von der Stirn bis zur Nase über das Auge zog. Das Andere beobachtete den Jüngeren wie durch die Augen einer Katze. Er hatte stahlgraue Augen, die wirkten als könnten sie direkt in die Seele seines Gegenübers blicken.

„Ich danke dir mein Junge“, entgegnete der Verkäufer. „Ich gebe mir alle Mühe. Leider hat dies wohl den Nachteil, dass kaum jemand hier her findet.“ Wieder lachte er auf. Er wirkte weniger bedrückt, als vergnügt darüber.

„Das ist sehr schade, denn ich finde, jeder, der sich für das Mittelalter oder Fantasie interessiert, würde sich hier sicher wohl fühlen. Es ist so, als wären manche Dinge hier tatsächlich magisch“, sinnierte Andre vor sich hin und streichelte derweil über den Griff eines Schwertes, dass es ihm besonders angetan hatte.
 

Der Blick des Alten wurde neugierig. „Wie meinst du das?“, fragte er beiläufig, doch sein Auge funkelte herausfordernd.

„Nun“, Andre schritt fast geistesabwesend durch den Raum. „In einigen Ecken dieses Zimmers fühlt es sich fast so an, als wäre die Sachen anders als der Rest. Ich habe das Gefühl bei einigen Büchern gehabt, dann bei dem Schwert eben, einige der Relikte dort oben haben die selbe Aura, wenn ich es so nennen darf und vor allem dieser...“ Der Landschaftsgärtner sprach nicht weiter sondern starrte wieder in Richtung des fremdartigen Stabs.

Raschelnd schlurfte der Weißhaarige mit gebeugtem Rücken auf den Stab zu und ergriff ihn. Kaum hatte er ihn berührt veränderte sich der Fluss der blau-silbernen Linie. Sie bewegte sich nicht mehr ruhig sondern schien zu pulsieren. Auch veränderte sich allmählich die Farbe in ein gold-weiß.

Der Mann schlug dreimal mit den Stab auf dem Boden und wie von Zauberhand öffnete sich hinter ihm eine Schublade.

Er wandte sich um und holte eine kleine schwarze Schatulle hervor, auf deren Deckel fremdartige Symbole eingeritzt waren. Sie waren in Blattgold getaucht.

„Wenn du schon so von diesen Dingen angezogen wirst, was meinst du dann dazu?“, wollte der Händler neugierig, fast drängend vom völlig verblüfften Andre wissen. Er versuchte noch immer zu verdauen, was er da eben gesehen hatte. Perplex starrte er von der Schatulle in das Gesicht des Alten. Es hatte einen wissbegierigen fast fordernden Ausdruck. Durch die Schatten, die auf dem faltigen Gesicht des Alten flackerten, gruselte es den Jüngeren ein wenig und er musste unweigerlich Schlucken.
 

Lachend öffnete der Mann die kleine Kiste, die mit weinrotem Stoff gesäumt war und offenbarte dem Brillenträger einen kleinen mandarinengroßen Juwel, der dunkelviolett schimmerte. Schwarze Blitze zuckten auf seiner Oberfläche.

Andre war wie elektrisiert. Es war, als würde der Edelstein ihn zu sich rufen, ihn auffordern ihn zu berühren. Unweigerlich griff er nach dem Stein, eine Macht zerrte an seinem Innersten. Es gab keinen Zweifel. Dieser Juwel war nicht von dieser Welt, niemals.

Ehe Andre den Schatz anfassen konnte klappte der Alte die Schatulle zu. Das Knallen, das darauf folgte, holte auch den Kunden in die Realität zurück.

„Also, was meinst du?“, fragte der Alte, dessen gesundes Auge nur noch ein Schlitz war.

„Dieser Juwel. Ich weiß nicht wie ich es sagen soll......Aber er ist definitiv nicht von dieser Welt. Wo haben Sie ihn her?“

Der Händler legte das Kästchen behutsam auf den Tresen und fuhr sanft über die Symbole.

„Was würdest du denken, wenn ich dir sage, dass dieser Stein in der Lage ist, dich in eine andere Welt zu bringen? Du würdest mich für verrückt halten nicht wahr?“

Andre trat neben den Alten und ließ die Worte auf sich wirken. Natürlich würde er ihm nicht glauben. Es gab doch nur diese eine Welt und Magie gab es schon gar nicht. Und doch flammte ein Funke des Glaubens an die Worte des Verkäufers in ihm auf.

Er hatte noch nie gefühlt, was er eben verspürt hatte und es war eine Wahrnehmung, die alles überschritt, was er sich je vorstellen konnte.

„Also es klingt unglaubwürdig und doch“, er hielt kurz inne und suchte den Blick zu dem Anderen. „Und doch würde ich ihnen glauben.“

Vergnügt schnalzte der Verkäufer mit der Zunge.

„Dann ist es beschlossen.“

„Beschlossen? Was?“, hackte Andre verwirrt nach, als der Verkäufer ihm die Schatulle entgegenhielt.

„Na er gehört dir. Ich möchte dir diesen Stein schenken.“

„Wie bitte!“, entfuhr es Andre. „Das kann ich nicht annehmen. Der ist sicher einige hundert bis tausend Euro wert.“

„Geld interessiert mich nicht. Es ist wichtig, dass jemand das Juwel erhält, der den Glauben an das, was man nicht sehen, sondern spüren kann in sich trägt. Bisher war dies erst bei wenigen der Fall und bei dir habe ich ein gutes Gefühl. Ich glaube, du bist es wert, diesen Schatz zu bekommen.“

Mit Nachdruck presste er die Schatulle in Andres Hände. Sofort verspürte dieser das Verlangen den Stein zu berühren.

„Sei jedoch gewarnt. Wenn du dich entschließt das Juwel zu berühren, gibt es kein zurück mehr. Du wirst in eine fremde Welt geraten und kannst nicht hier her zurückkommen. Du wirst aus der Geschichte dieser Welt getilgt und niemand wird je wissen, dass es dich gab. Du musst alles hinter dir lassen. Freunde, Familie, womöglich die Liebe, Geld, einfach alles.“
 

Dem Landschaftsgärtner stockte der Atem. Kein Zurück. Ich werde sie nie wieder sehen? Dominik. Basti, Teresa, Mom, Dad und die anderen...

Zweifel bohrten sich in das Herz des jungen Mannes und auf einmal hielt er die Schatulle fest umschlossen, als befürchte er, dass das Juwel ihn augenblicklich in die fremde Welt zerren könnte.

„Denk also in Ruhe darüber nach, was du tun wirst“, ermahnte der Händler, als er Andre bestimmt aus seinem Laden führte. „Und nun solltest du sehen, dass du nach Hause kommst. Es wird bereits dunkel.“
 

Mit rasenden Gedanken macht sich Andre auf den Heimweg. In Händen seinen neuen Besitz und sein Handy. Ein Entschluss reifte in ihm und er musst ihm den mitteilen, der ihm am wichtigsten war.
 

[Hey Dominik. Ich habe etwas wunderbares erstanden. Wir müssen unbedingt miteinander reden. Du wirst Augen machen.]
 

[Was hast du denn gekauft?]
 

[Das verrate nicht nicht. Wirst du bald sehen ;-)]
 

[Da bin ich ja mal gespannt...O.o]
 

Zufrieden über seine Entscheidung warf Andre den Kopf gegen die Lehne seines Sitzes und beobachtete vergnügt die Umgebung, die an ihm vorbeizog.
 

Ich nehme dich ganz einfach mit, zuckte es durch seine aufgewühlten Gedanken und eine Grinsen huschte über sein Gesicht.

Wunder, Zorn und ein Versehen

Ungeduldig wartend saß Dominik auf dem Sofa. Er konnte es nicht leiden, wenn man ihn auf die Folter spannte. Und eben dies hatte sein Freund gerade mit ihm gemacht.

Andres Nachricht ließ verlauten, dass dieser vollkommen aus dem Häuschen war.

Ob es mit dem Gegenstand zu tun hat, den er sich heute gekauft hat, fragte sich Dominik.

„Wir müssen unbedingt miteinander reden“, las er die Nachricht, für sich, noch einmal vor.

Unbeabsichtigt zog sich der Magen des Abteilungsleiters zusammen.

Was wenn es uns betrifft? Wenn er mit unserer Situation nicht mehr zufrieden ist. Er wirkt zur Zeit so abwesend und nachdenklich. Vielleicht brauchte er diesen Tag heute um sich Klarheit zu verschaffen? Doch Klarheit worüber? Es läuft doch alles ganz gut.

Vehement Kopf schüttelnd verbannte er diese Gedanken aus seinem Kopf und zündete sich ein Zigarette an.

Mit einem kräftigen Zug sog er den Rauch tief in seine Lungen. Dabei schloss er die Augen, warf den Kopf in den Nacken und behielt den Qualm so lange in seinen Lungen, wie er konnte. Als er schließlich ausblies flüsterte er sich beruhigend zu: „Alles ist gut. Ich weiß es. Ich sollte mir nicht immer so viele Gedanken machen.“
 

Kaum hatte Dominik seinen Glimmstängel auf geraucht, hörte er auch schon, wie sich sein Lebenspartner an der Tür zu schaffen machte und wenige Sekunden später mit einem aufgeregten - „Hey Dom, ich bin zu Hause.“ - in das Wohnzimmer trat. Er eilte auf den Wartenden zu, küsste ihn und grinste ihn breit an.

Der Abteilungsleiter schalte sich sofort einen Idioten. Wie hatte er nur glauben können, dass Andre unglücklich wegen ihm war.

Trotzdem hatte er sofort bemerkt, dass sein Freund etwas hinter seinem Rücken versteckte.

„Hey Schatz. Schön das es dir so gut geht“, erwiderte Dominik so cool er konnte. „Was gibt es denn so wichtiges zu besprechen?“

„Du wirst es nicht glauben“, platzte es aus Andre heraus, der sich vergnügt auf das Sofa setzte, immer darauf bedacht seinen Schatz im Verborgenen zu bewahren.

Der Abteilungsleiter konnte seine Neugier nicht länger zügeln und versuchte einen Blick auf das Versteckte zu erhaschen.

„Neugierig?“, kam es nur amüsiert vom Landschaftsgärtner, der seinen Freund musterte und an zwinkerte.

Für einen Moment dachte Dominik darüber nach, sich auf Andre zu stürzen und ihm den Gegenstand zu entreißen. Seine Beherrschtheit siegte jedoch und er ließ nur gelangweilt verlauten: „Na ja ich dachte eher, dass du mir was mitteilen wolltest, aber wenn es gar nicht so wichtig ist werde ich mich bettfertig machen. Morgen habe ich schließlich einen langen Tag.“

Mit einer arroganten Geste erhob er sich vom Sofa und wollte aus dem Wohnzimmer marschieren, als er von Andre am Handgelenk gepackt wurde.

„Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt. Ich habe doch nur Spaß gemacht. Ich erzähl es dir ja schon. Aber setz dich erst wieder. Ich weiß nämlich nicht, ob du mir das glauben wirst.“
 

Verdutzt drehte sich Dominik zu seinem Freund um.

Wie er weiß nicht ob ich ihm glauben werde?

Wieder ergriff die Neugier von ihm Besitz und er hockte sich neben seinen Freund, der langsam eine schwarze Schatulle zu Tage förderte und sie auf dem Tisch abstellte. Auf ihrem Deckel waren seltsame Symbole in Blattgold eingeritzt. Alles in allem wirkte sie sehr eigenartig.

„Was ist das?“, kam es knapp und etwas genervt von Dominik, der sich eindeutig mehr von dieser 'Ach so tollen Überraschung' erwartet hatte.
 

Andre konnte erkennen wie missgelaunt sein Partner war. Vielleicht hatte er das ganze zu lange auf die Spitze getrieben, aber wenn er ehrlich war, mochte er es einfach seinen Geliebten zu necken.

Dieser hatte die Arme vor der Brust verschränkt und klopfte mit seinen Fingern auf seinem Oberarm herum. Seine wunderschönen dunkelbraunen Augen funkelten Andre bedrohlich entgegen. Wie gewöhnlich, wenn er etwas verärgert war, zuckten seine Augenbrauen etwas und er biss leicht auf sein Unterlippenpiercing.

Ein entzückender Anblick, wie der Landschaftsgärtner dachte. Am liebsten hätte er Dominik jetzt geküsst, aber dieser wäre davon wohl im Moment weniger begeistert.

„Ganz ruhig“, begann er deshalb beschwichtigend. „Wie du ja weißt, war ich heute in der Stadt und dort wurde ich auf einen kleinen Laden aufmerksam gemacht. So ein mittelalterlicher Shop. Da wurden alle möglichen und unmöglichen Sachen angeboten...“

Ein lautes Seufzen von Seiten Dominiks verriet, dass er zunehmend die Geduld verlor.

Das er auch immer so ungeduldig sein muss, dachte Andre etwas beleidigt, während sich sein Freund eine Zigarette ansteckte und sich in Richtung Balkon erhob.

Der Landschaftsgärtner sah seinem Geliebten hinterher. Dieser war einen Kopf größer als er selbst und auch etwas schmaler. Er hatte seine Haare kurz geschnitten, sie oben hellblond gefärbt und gekonnt nach oben gegelt.

Unbeirrt fuhr der Erzählende fort: „Um es kurz zu machen. Der Ladenbesitzer hat mir diese Schatulle geschenkt. In ihr befindet sich ein Juwel, das in der Lage sein soll, einen in eine andere Welt zu bringen.“
 

Dominik, der gerade Rauch in seine Lungen gesogen hatte, prustete und musste stark husten. Keuchend wandelte sich das Prusten in Lachen. Der Abteilungsleiter musste so sehr lachen, dass er sich krümmte und den Bauch hielt. Tränen traten ihm in die Augen und er erwiderte japsend: „In eine andere Welt bringen. Schatz hättest du dir keine bessere Geschichte ausdenken können?“

Da er scheinbar nicht aufhören konnte zu lachen, verschränkte Andre beleidigt seine Arme vor der Brust und dachte: Ich hätte es mir ja denken können. Ich selbst habe es doch auch nicht geglaubt.
 

Es gab nur eine Möglichkeit seinen Freund zu überzeugen. Also nahm der Kleiner seine Schatulle in die Hände und öffnete sie in Richtung Dominiks. Sofort ergriff Andre wieder das Verlangen den violetten Stein zu berühren. Auch sein Partner hatte zu lachen aufgehört und man konnte eine Veränderung in seinem Blick erkennen. Das Juwel spiegelte sich in seinen Augen. Die schwarzen Blitze zuckten nach wie vor über den Stein und Dominik streckte seine Hand voller Begierde nach ihm aus. Wie es zuvor der Ladenbesitzer bei ihm gemacht hatte, so ließ Andre den Deckel zu schnellen und der merkwürdige Bann war wieder von ihnen genommen. Das beklemmende Verlangen war abgeflaut und ihr Verstand befreite sich allmählich von der Anziehungskraft des Steins.
 

„Was war das?“, frage der Abteilungsleiter verdutzt.

Siegessicher grinsend antwortete sein Geliebter bereitwillig: „Wie schon gesagt, dieser Stein scheint in der Lage zu sein, uns in eine andere Welt zu bringen.“

Eine wahnsinnige Begeisterung strahlte in Dominiks Blick und Andre war überzeugt, dass dieser ihm nun glaubte.

„Das ist ja der Wahnsinn Schatz. Stell dir nur vor, was uns erwarten könnte!“, entfuhr es dem sonst eher beherrschten Dominik. Man konnte förmlich sehen, wie er sich vorstellte, welche Abenteuer sie durchlebten.

„Wollen wir es ausprobieren?“, fragte er euphorisch.

Andre fasste seinen Freund fest in seinen Blick. „Da gibt es noch etwas, dass du wissen solltest. Wenn wir uns wirklich dazu entscheiden zu gehen, gibt es kein zurück mehr für uns. Wir werden aus dieser Welt gelöscht und niemand wird sich je wieder an uns erinnern. Es ist wohl so, als hätte es uns nie gegeben.“

Die anfängliche Begeisterung bekam einen jähen Dämpfer und Dominik kämpfte mit sich.

Aus dieser Welt gelöscht? Nie mehr nach Hause kommen? Aber was wird dann aus meinen Freunden? Und aus meinem Job? Ich habe so lange und hart daran gearbeitet und endlich bin ich befördert worden. Will ich das wirklich aufgeben? Wer weiß in was für eine Welt wir geraten und woher sollen wir wissen, dass es tatsächlich funktioniert?
 

Andre erkannte wie Dominik mit sich haderte. Liebevoll legte er ihm eine Hand auf dessen Schulter.

„Wir müssen nicht gehen weißt du. Es ist mir schon klar, dass es eigentlich eine dumme Idee war und ich glaube, dass ich mich einfach von der Vorstellung habe mitreißen lassen. Wie sollte dieser Stein uns auch woanders hinbringen können und dann noch unsere Spuren in dieser Welt löschen? Und selbst wenn er es kann, sind wir im Stande alles hinter uns zu lassen?“

Traurig blickte der Landschaftsgärtner auf seinen Freund nieder. Dieser erkannte sofort, dass seine Große Liebe bereit war es zu riskieren, dass er diese Welt verlassen wollte.

Und doch ist er erst zu mir gekommen, weil er mich nicht zurücklassen wollte, schoss es dem Abteilungsleiter durch den Kopf und sein Herz machte einen freudigen Sprung.

Der Größere schloss die Augen und atmete einmal tief durch, bevor er sagte: „Na dann lass es uns probieren. So lange wir zusammen sind, bin ich überall zu Hause.“

Ungläubig starrte Andre seinen Freund an und als er nach einer schieren Unendlichkeit verstand, dass sie es tatsächlich wagen wollten, umarmte er diesen und zog ihn mit sich in Richtung der Schatulle.
 

„Dann wollen wir mal.“ Behutsam öffnete er den Deckel und die Anziehung des Steins ergriff die beiden. Mit einem Nicken ergriffen sie das Juwel und sofort wanderten die schwarzen Blitze auf die beiden über. Ein schrecklicher Schmerz breitete sich in den beiden aus und sie konnten ihre Schreie nicht unterdrücken. Es war, als würden sie von innen heraus zerrissen. Immer stärker pulsierten die Blitze auf ihren Körpern und ein unheimlicher Druck baute sich um sie auf.

Was soll das? Weshalb diese unerträglichen Schmerzen? Hat der Alte gelogen? War es nur ein Trick um mir zu schaden? Ob das unser Ende bedeutet?, fuhr es Andre durch den Kopf. Durch flirrende Augen blickte er zu seinem Partner, der sich unter den selben unerträglichen Schmerzen wand und unter Leibeskräften aufschrie. Es tut mir Leid Dominik.
 

~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
 

„Ich weiß immer noch nicht warum du mitkommen wolltest“, sprach Sebastian genervt, als er sein Auto parkte.

„Ich mache mir halt Sorgen. Andre ist nie krank. Vielleicht hat er sich ja bei der Arbeit die Schulter verletzt und diese Verletzung ist so schlimm, dass er dadurch Kopfweh bekommen hat. Wer weiß vielleicht ist es doch schlimmer als er sagt. Er hat sich heute ja auch gar nicht mehr gemeldet“, erklärte Teresa ihrem Bruder bereitwillig.

Wieso musste ich auch auf Lautsprecher mit Andre telefonieren?, ärgerte sich Basti derweil.

Schon den ganzen Tag hatte sie ihn mit WhatsApp-Nachrichten bombardiert und abends damit begonnen ihm in den Ohren zu liegen, um ihn dazu zu drängen zu ihrem Bruder zu fahren.

Es störte Sebastian total, dass ihre kleine Schwester immer so übertrieben ängstlich war, selbst wenn es nicht einmal um sie selbst ging.

Schließlich hatte er ihr nachgegeben und sie waren zu Andres und Dominiks Wohnung gefahren.

Seufzend tätschelte er nun ihren Kopf.

„Na dann komm. Gehen wir hoch“, forderte er sie auf.

Sie verließen das Auto und läuteten zur Wohnung, doch niemand öffnete.

„Oh Gott, ob ihnen was passiert ist“, kreischte Teresa und schlug besorgt ihre Hände vors Gesicht.

„Ach Quatsch! Übertreib doch nicht immer so, vielleicht schlafen sie ja schon“, entgegnete Basti vergeblich.

„Das glaube ich nicht, schau, da oben blitzt es doch,“ keifte die Dreizehnjährige und deutete in Richtung der Wohnung der beiden.

Blitzt? Verwundert blickte nun auch der Bruder zum Balkon empor.

Es zuckte tatsächlich unheimlich schwarzes Licht in der Wohnung der beiden. Ein ungutes Gefühl ergriff nun von Basti Besitz und er läutete alle Glocken des Wohnhauses. Ängstlich klammerte sich seine Schwester an seinem Hosenbein fest.

Nach einer gefühlten Ewigkeit eröffnete ihnen ein lautes 'Surrr', dass sie eintreten konnten. Sofort stürzten die beiden los.

Teresa stürmte eiliger davon.

„Basti, Basti. Schneller! Ich krieg sie nicht auf!“, kreischte das Mädchen. Etwas außer Puste erreichte nun auch ihr Bruder die Tür. Von drinnen konnte er Schreie vernehmen. Was geht da vor?

„Ich habe Angst“, weinte Teresa. „Die Schreien, die haben sicher Schmerzen! Ob sie überfallen werden? Wir müssen rein!“

Ihr Geflenne nervte Basti ungemein, aber sie hatte recht. Irgendetwas stimmte nicht und je länger sie warteten, desto unwahrscheinlicher war es, dass sie ihnen helfen konnten. Mit gemeinsamen Anstrengungen warfen sich die beiden gegen die Tür. Diese wollte aber nicht nachgeben.

Na mach schon!

Wieder und wieder warfen sie sich dagegen, als sie plötzlich mit einem lauten Krach, nachgab. Wieder war es Teresa, die davoneilte und wieder ertönte ein lautstarkes: „Basti!“

Auch dieser stürmte herbei und konnte seinen Augen nicht trauen. Andre und Dominik hingen schreiend in der Luft. Umringt waren sie von schwarzen Blitzen und in ihren Händen hielten sie ein violettes Juwel.
 

„Wir müssen ihnen helfen!“, quiekte seine Schwester und griff nach Andre. Basti wollte sie davon abhalten und packte ihre Schulter, doch es war zu spät. Im selben Moment erreichte Teresas Hand ihr Ziel und nun waren auch die beiden in der Macht des Juwels gefangen. Die Blitze tanzten auch auf ihren Körpern und der selbe Schmerz drohte sie zu zerreißen, als plötzlich der Stein in Händen Andres und Dominiks explodierte und sie aus ihrer Welt riss.
 

~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
 

„Wie Sie haben den Stein bereits verkauft?“, empörte sich Stefan, der wütend seine geballte Faust dem Ladenbesitzer entgegenhielt. „Sie haben mir versprochen ihn für mich aufzubewahren. Er sollte mir gehören, MIR!“

„Es ist wie es ist“, antwortete der alte Verkäufer und winkte ab. „Wenn du mich nun entschuldigen möchtest, ich schließe jetzt.“

„Halt! Wir sind noch nicht fertig! Sie haben mich belogen und übers Ohr gehauen! Sie haben mir die Chance auf ein neues Leben genommen!“

Wutentbrannt trat er den Alten in die Kniekehle, wodurch er zu Boden stürzte. Ein schmerzhaftes Stöhnen entfuhr ihm.

„Ich kann nicht hinnehmen, dass Sie mich derart getäuscht haben! Sagen Sie mir sofort ob Sie noch so einen Stein haben?“

Gott sei Dank habe ich den nicht, dachte der Verkäufer. So jemanden wie dich kann meine Welt nicht auch noch gebrauchen.

Die Antwort blieb der Ladenbesitzer seinem wütenden Kunden jedoch schuldig.
 

Es stimmte, dass der alte Mann Stefan das Juwel angeboten hatte. Aber im Gegensatz zu demjenigen, dem der Stein nun gehörte, hatte er ein schlechtes Gefühl dabei gehabt. Zwar konnte Stefan ebenfalls die magische Präsenz im Raum spüren, aber in seinem Wesen schwang etwas mit, dass den Verkäufer zwang, ihm das Schmuckstück nicht ohne weiteres anzuvertrauen. Deshalb verlangte er eine horrende Summe an Geld, in der Hoffnung den Jungen zu überzeugen, den Stein nicht zu kaufen. Leider hatte sein Plan nicht funktioniert und Stefan hatte das Angebot angenommen. Sofort war er davon gestürmt um den Betrag aufzutreiben.
 

Der Bankangestellte beugte sich derweil über den Alten und schüttelte ihn am Kragen, als hoffe er so die Antwort aus ihm herauszubekommen.

„Sagen Sie schon. Sagen Sie schon!“

Mit wahnsinniger Inbrunst schlug Stefan nun den Kopf des Alten gegen den Steinboden. Dieser keuchte vor Schmerz. Er konnte nicht fassen, dass er in seiner Welt ein Held gewesen war und hier von einem Jungspund erdrosselt wurde. Die Zeit und das Leben in dieser Welt hatte ihm sichtlich schwach werden lassen, aber dass er gegen einen so schmächtigen Jungen unterliegen könnte, hätte er niemals gedacht.

Mit letzten Anstrengungen versuchte er nach seinem Stab zu greifen. Die ständigen Erschütterungen seines Schädels bereiteten ihn höllische Schmerzen und er bemerkte wie er allmählich das Bewusstsein verlor. Die ungeheure Kraft, die der Jüngere besaß, musste aus seiner fanatischen Besessenheit dem Juwel gegenüber beruhen. Erneut dankte der einstige Held der Vorsehung, dass er ihm den Stein nicht anvertraut hatte.

Mit einem verzweifelten Tritt in die Weichteile des Angreifers befreite er sich gerade noch rechtzeitig. Dieser rollte keuchend von ihm hinunter.

Nun lagen beide am Boden und wanden sich unter Schmerzen. Das Blickfeld des Alten war schummrig und er schmeckte Blut. Sein Schädel pochte und er kämpfte gegen einen aufkeimende Übelkeit an. Eilig tastete er verzweifelt nach seinem Stab. Er musste irgendwo neben ihm liegen.

Endlich spürte er den ersehnten Gegenstand, doch ehe er ihn fest im Griff hatte, konnte er fühlen, wie ihm der Stab entrissen wurde.
 

Stefan hatte sich über ihm aufgebaut, den Stock erhoben und ließ ihn mit dem Schrei -„Sag es mir!“ - in die Brust des Alten niedersausen.

Dieser stöhnte ein letztes Mal auf, als die Waffe sein Herz durchbohrte und zerbarst. Sofort erlosch das Leben des einstigen Helden und sein Blick wurde starr. Rasselnd atmete er ein letzte Mal aus und sein Blut floss aus der Wunde.

Die silbern-blaue Linie des Stabes zuckte auf Stefan zu und umfasste diesen. Schwarze Blitze übersäten seinen Körper und er vernahm einen Schmerz, der ihn von innen nach außen zu zerreißen drohte.

Was ist das!, dachte er entsetzt. Werde ich jetzt sterben? Ich will das nicht!

Noch ehe er einen panischen Schrei von sich geben konnte zerriss es den Stab endgültig und eine gewaltige Explosion vernichtete den Laden. Zurück blieben Trümmer, die verschmorte Leiche des Alten und zerstörte Waffen, Bücher und Relikte. Einzig von Stefan fehlte jede Spur.

Und plötzlich ist alles anders

Keuchend erwachte Andre aus seinem tiefen und unangenehmen Schlaf. Ihm dröhnte der Kopf und sein ganzer Körper fühlte sich an, als wäre er von einer Dampfwalze überrollt worden.

Ich hätte gestern wohl nicht so viel trinken sollen, warf er sich selbst vor, während er sich mühsam aufrichtete und seinen Kopf stützte. Durch geschlossene Augen tastete er nach seiner Brille, die sich irgendwo neben ihm auf dem Nachttisch befinden musste.

Überrascht stellte er fest, dass er nicht in seinem Bett lag, denn er fühlte vom Tau getränkte Grashalme unter seiner Handfläche.

Was. Habe ich etwa in einer Wiese übernachtet? Oh man ich habe es nicht mal nach Hause geschafft? Dominik wird mich umbringen

Zögerlich zwang sich der malträtierte Landschaftsgärtner seine Augen zu öffnen. Schmerzen durchzuckten seine Augäpfel, als sie das gleißende Sonnenlicht einfingen. Unter Tränen verschloss er sie wieder.

Wenigstens hatte er Gewissheit. Er war nicht nach Hause gekommen und wohl in einer Wiese eingeschlafen.

Sein Kopf pulsierte bei jeder noch so kleinen Bewegung und sein Magen rebellierte. Die schmerzenden Glieder wollte er auch nicht wirklich rühren, bis er in seiner unmittelbaren Nähe ein Ächzen ausmachte.

Wer ist da? Ich werde doch hoffentlich keinen Unsinn angestellt haben, durchfuhr es Andres Gedanken. Mühsam richtete er sich auf und durchsuchte, durch zusammengekniffene Augen das Gebiet.

Geschockt stellte er fest, dass neben ihm ein Kerl lag. Er war etwa in seinem Alter, hatte kurzes, strubbeliges, rabenschwarzes Haar. Einzig zwei längere Strähnen rahmten sein markantes Gesicht ein. Der Typ hatte ungewöhnlich helle Haut. Zudem war er sportlich schlanke und etwa einen halben Kopf größer als der Landschaftsgärtner selbst. Der Schlafende trug ein schlichtes graues Baumwollhemd, sowie eine passende Baumwollhose und war Barfuß.

Langsam öffnete dieser seine Augen. Er schien ebenfalls schwer verkatert zu sein und jammerte still vor sich hin. Nach mehrmaligen Versuchen seine Klüsen zu öffnen blickte er direkt zu Andre. Er musterte ihn lange, durch ungewöhnlich violette Augen.

Geschockt erforschte der Landschaftsgärtner die fremdartige Augenfarbe.

Violette Augen? Gibt es so was? Ich habe noch nie davon gehört, geschweige denn einmal welche gesehen.

Was ging hier vor? Andre war total verwirrt, zumal ihm der Mann sehr bekannt erschien. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er ihn erkannte.

Dominik. Es ist Dominik, da besteht gar kein Zweifel.

Sein Puls beschleunigte sich. Wie konnte das sein? Sein Freund sah doch ganz anders aus und trotzdem spürte er es, tief in seinem Inneren, dieser Mann, der ihn ebenso fassungslos ansah, war sein Geliebter.

„Smith, bist du es?“, fragte der Schwarzhaarige mit einer tiefen, düsteren Stimme.

Smith. So hatte er ihn genannt. Doch warum, sein Name war doch And.... nein Smith war richtig. Und vor ihm saß nicht Dominik sondern.

„Ja. Ich bin es. Geht es dir gut Kyth?“, entgegnete der verwirrte Landschaftsgärtner mit einem fremdartig harmonischen Klang.

„Es hat wohl geklappt“, schlussfolgerte der Mann mit den violetten Augen.

Smith brauchte einen Moment um zu verstehen, was sein Freund meinte. Doch dann traf es ihn, wie ein Hammerschlag. Er erinnerte sich wieder an die vergangenen Ereignisse.

Er war gar nicht feiern gegangen und auch nicht verkatert. Die Schmerzen rührten woanders her.

Richtig. Er war in die Stadt gefahren und hatte blau gemacht. Dort fand er den Laden und gelangte in den Besitz des Juwels. Des Juwels, das in der Lage war, sie in eine andere Welt zu bringen. Sie hatten es berührt und er hatte befürchtet, dass dies ihr Ende sei. Dass sie sterben würden, denn sie waren von bedrohlichen schwarzen Blitzen übersät gewesen und eine enorme Kraft drohte sie zu zerreißen. Doch sie waren nicht Tod. Nein sie waren aus ihrer Welt gerissen worden und nun hier.

Wieso er sich sicher war, dass sie nicht Verstorben waren? Ganz einfach. Er spürte die feuchten Halme unter seinen Handflächen und an seinen nackten Füßen, die angenehme Brise, die sein Gesicht streifte und den kratzigen Stoff, der Baumwollkluft, die er trug.
 

„Ja, es hat wohl funktioniert“, pflichtete er nachdenklich bei. Wieso hießen sie hier aber Smith und Kyth und nicht Andre und Dominik? Wieso brachten sie nicht einmal diese Namen über ihre Lippen obwohl sie doch genau wussten, wer sie waren. Und warum sah Dominik - nein Kyth – so anders aus?

„Was ist los?“, wollte der Schwarzhaarige wissen.

Ob ihm die Veränderungen gar nicht aufgefallen waren?

„Nun ja, findest du es nicht seltsam, dass ich dich Kyth nenne, obwohl du …. anders heißt?“,setzte er dagegen.

Der Angesprochene verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. Er dachte über etwas nach und als er seine Gedanken in Worte fassen konnte, bohrten sich diese mysteriösen Augen wieder in das Blickfeld seines Partners.

„Ich glaube, dass dies eine Reaktion auf die Sache mit dem 'aus unserer Welt gelöscht werden' ist. Wenn wir dort nicht mehr existieren, wieso sollten wir dann auch noch unsere alten Namen haben oder unser altes Aussehen. Ich meine, es ist schon komisch, dass du jetzt weizenfarbenes Haar und goldene Augen hast, aber ich habe dich sofort wiedererkannt. Es ist auch seltsam, dass ich noch alles weiß, was vor der Reise war, aber unsere Namen und unser Aussehen wollen mir nicht mehr so wirklich in den Kopf.“

Interessiert lauschte Smith den Ausführungen seines Geliebten und erst als dieser auf seine äußerliche Veränderung zu sprechen kam, schweifte er für einen Augenblick ab.

Also habe auch ich mich verändert?

Je länger er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihm die Erklärung Kyths.

Sie existierten nicht mehr in ihrer Welt und vermutlich passten diese Erscheinungen und Namen besser in diese.
 

„Es hat also geklappt“, jubelte Smith nun und sprang begeistert auf. Seine Schmerzen waren über die Freude vollkommen vergessen und er sog die frische Luft tief in sich ein. Der Geruch von Wildkräutern und Gräsern drang in seine Nase und er spürte die wohlige Wärme der Sonne auf seiner Haut. Es war totenstill. Hier gab es keinen Fahrzeuglärm und auch sonst schien sich in näherer Umgebung nichts aufzuhalten. Sein Blick schweifte über eine weite fruchtbare Ebene, die weit im Westen an einen Wald angrenzte. Nach Osten und Süden blickend reichte sie bis zum Horizont und im Norden konnte er in großer Ferne eine gewaltige Mauer ausmachen. Anscheinend waren sie in eine eher rückständige Welt geraten, was Smith sehr freute.
 

Da das Gras kniehoch war, bemerkte er erst jetzt ein Rascheln in unmittelbarer Nähe. Sofort beschleunigte sich sein Puls und er baute sich schützend vor Kyth auf. Wer konnte schon sagen, was sie hier erwartete. Sie waren in einer fremden Welt und wussten nichts über sie. Dementsprechend konnte sie dort alles erwarten.

Smith malte sich schon eine schreckliche gehörnte, wolfsartige Bestie aus, die sich mit armlangen Reißzähnen auf sie stürzen würde. Unweigerlich ballte er seine Hände zu Fäusten und ging in eine Angriffsstellung. Wie sehr er sich in diesem Augenblick eine Waffe wünschte. Er spannte jeden Muskel in seinem Körper an, woraufhin er sich der quälenden Schmerzen in seinem Leib wieder gewahr wurde. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Es gab nur eine Sache für ihn und diese war die Sicherheit seines Freundes.

Die Bewegungen im Gras wurden wilder, als sich plötzlich ein schneeweißer Haarschopf daraus erhob. Verdutzt betrachtete der Goldäugige diesen.

Ein Mädchen.

„Hey, du!“, dröhnte die kräftige Stimme Kyth neben ihm. Smith hatte gar nicht bemerkt, dass sein Gefährte ebenfalls neben ihm in Angriffsformation gegangen war.

Das Mädchen drehte sich erschrocken zu den beiden um und rieb sich ihre tränennassen Augen.

„Smith! Kyth! Helft mir. Grahl, Grahl will nicht aufwachen!“, schniefte die Weißhaarige.

Der ehemalige Landschaftsgärtner war wie erstarrt. Nicht weit von ihm saß, ohne jeden Zweifel, seine kleine Schwester, Teresa, und weinte. Es war wie mit Kyth, auch wenn sie jetzt anders aussah, hatte er sie sofort erkannt. Sein Herz schlug heftig in seiner Brust und er war angespannter denn je.

Wie um Himmelswillen ist sie hier gelandet?, fragte er sich immer und immer wieder. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein!

Eine nagende Angst schlug ihre Krallen in seinen Verstand und er war unfähig sich zu bewegen. Alles begann sich um ihn herum zu drehen. Wie zur Statue erstarrt ruhten seine Augen auf der Weinenden. Erst als Kyth eine Hand auf die Schulter seines Partners legte und sie behutsam zusammendrückte, fand er allmählich zurück in die neue Wirklichkeit.
 

Behutsam führte der Schwarzhaarige den Anderen zu dessen Schwester. Allmählich wich der Schock und Smiths weiche Knie festigten sich auch wieder.

„Mia. Wie bist du hierhergekommen?“, bohrte der Goldäugige ungläubig nach und drückte das Mädchen fest an sich. Sofort fing es an aus Leibeskräften zu weinen und zu schluchzend. Sie musste schreckliche Schmerzen haben und total verwirrt sein. Noch ehe sie eine Antwort erwarten konnten, deutete Kyth auf eine weitere Person im Gras. Ein rothaariger Junge lag dort und wand sich keuchend von links nach rechts.

Geschockt riss Smith die Augen auf.

Basti....

Zitternd sackte der Weizenblonde auf seine Knie und umklammerte seine Schwester noch fester.

Was ging hier nur vor. Warum waren sowohl Teresa, als auch Sebastian hier. Er versuchte angestrengt eine plausible Erklärung zu finden, doch in seinem Verstand herrschte nur großes Chaos vor. Ihm wurde gewahr, dass sie in einer fremden Welt waren und nichts über sie wussten und dass er nun auch noch auf seine zwei jüngsten Geschwister aufpassen musste, die ebenfalls hier gelandet waren.

„Er hat Fieber“, erklärte Kyth, der sich neben Basti, oder besser gesagt Grahl, niedergelassen hatte und ihn untersuchte. „Wir müssen ihn hier wegbringen. Am besten zu einem Arzt.“

Smith reagierte nicht. Er hielt einfach seine Schwester fest, die nach wie vor weinte und verlor sich in den Wirrungen seiner Gedanken. Mit leeren Augen starrte er dabei auf Grahl und Kyth.

Das kann nicht sein. Das kann doch alles nicht sein. Wieso? Wieso sind die beiden hier? Was hat das zu bedeuten? Das ist unmöglich. Sind dann die anderen, Mom und Dad, sowie der Rest auch hier? Nein, nein, nein....
 

Mit einer beherzten Ohrfeige wurde Smith auf den Boden der Tatsachen zurückbefördert.

„Reiß dich zusammen. Wir müssen Grahl jetzt erst einmal helfen. Danach können wir immer noch nachforschen warum sie hier sind.“

Verdutzt rieb sich der Geschlagene die Wange. Kyth hatte Recht. Es half nichts den Kopf zu verlieren. Sie mussten etwas tun. Niemandem würde geholfen sein, wenn sie ewig in der Pampa herumsaßen. Vorsichtig hob Smith Mia auf die Arme, während Kyth den keuchenden Grahl schulterte.

„Im Norden habe ich eine Mauer gesehen, vermutlich wird dort eine Stadt sein“, mutmaßte der Goldäugige.

Sein Freund nickte und sie machten sich auf den Weg.
 

Eine unangenehme Stille hatte sich über die Gruppe gelegt, die einzig durch das beständige Schniefen Mias und das Stöhnen Grahls durchbrochen wurde. Smith und Kyth hingen ihren Gedanken nach und wanderten, in Richtung Norden voran.

Die anfängliche Freunde über die erfolgreiche Reise war jäh unterbrochen worden und nun überwogen Sorge und Verwirrung. Zu gern hätte der Blondschopf erfahren, wie seine Geschwister in diese Sache hineingeraten waren. Leider war Grahl nicht ansprechbar und Mia so geschockt, dass sie außerstande war auch nur ein vernünftiges Wort von sich zu geben. Noch niemals zuvor hatte Smith sich so machtlos gefühlt. Die gesamte Sache schien ihm schon jetzt über den Kopf zu wachsen.

War es wirklich eine gute Idee? Vielleicht ist es ja meine Schuld. Vielleicht sind sie nur wegen mir hier. Schuldig drückte er seine Schwester an sich und streichelte ihr beruhigend über das nun schneeweißes Haar.

„Alles wird gut“, tröstete Kyth seinen Partner. Er war die gesamte Zeit schweigend neben seinem Geliebten her marschiert und beobachtete, wie er sich selbst quälte. Es zerriss ihm das Herz und am liebsten hätte er ihn nun an sich gedrückt. Doch dazu blieb keine Gelegenheit. Sie mussten sich sputen, denn Grahl brauchte dringend Hilfe. Er hatte hohes Fieber und sein Atem wurde allmählich flacher. Zudem kam, dass die Sonne unterging und sie nicht wussten, ob sie auf der freien Fläche bei Nacht in Sicherheit waren.

„Vielleicht hast du recht“, antwortete Smith etwas matt. „Ich verstehe nur nicht, wie das sein kann. Die beiden haben den Stein doch überhaupt nicht berührt. Wir waren doch ganz allein.“

„Wi-wir wollten euch helfen“, heulte die Weißhaarige und blickte durch ihre tränennassen, rubinroten Augen zu ihrem Bruder auf.

„Ich verstehe nicht“, meinte dieser verwirrt und wischte ihr Gesicht trocken.

„Nachdem du dich krankgemeldet hast, habe ich mir Sorgen um dich gemacht. Deshalb habe ich Grahl überredet abends zu dir zu fahren und dich zu besuchen. Naja und als ich es dann endlich geschafft habe, fanden wir euch schreiend und blitzend in eurer Wohnung schweben. Ich wollte doch nur helfen.....und dann...und dann sind wir hier aufgewacht.“ Wieder brach das Mädchen in Tränen aus und gab sich ihrem Kummer und Schmerz hin. „Ich will zu Mama und Papa. Ich will nach Hause.“

Smith wurde schwer ums Herz und er fühlte sich als würde er jeden Halt verlieren. Es war seine Schuld! Wegen ihm würden Mia und Grahl nie mehr zurück können. Sie würden gezwungen sein hier zu leben. Sie hatten keine Wahl und er hatte dies zu verantworten. Er und er ganz allein.

„Mia....ich...also...“, stammelte er vor sich hin. Er wollte versuchen es ihr zu erklären.

„Smith. Das hat Zeit. Wir sollten erst einmal zusehen, dass wir in eine Stadt kommen“, mischte sich Kyth besorgt ein.

„Nein!“, bellte sein Freund zornig. Sein gesamter Körper zitterte und er kämpfte gegen seine eigenen Tränen an. „Es ist meine Schuld! Wegen mir werden die beiden NIE MEHR nach Hause zurückkehren können. Wir haben uns entschieden zu gehen. Aber....ABER sie...sie wussten doch nicht, dass wir es so wollten. Sie wollten helfen und jetzt...jetzt existieren sie nicht mehr in unserer Welt. Mom und Dad und die anderen sind für immer für sie verloren. Es gibt einfach keinen Rückweg!“

Mias Augen weiteten sich und sie starrte ihrem Bruder fassungslos entgegen. Tränen rannen an ihren Wangen entlang, sammelten sich am Kinn und tropften auf ihre Klamotten.

„Wir kommen nicht mehr heim? Mama und Papa, Marco, Gregor, Chris und Connor werden wir nie wieder sehen. Und...und du bist Schuld?“, fassungslos wiederholte sie das gesagte und obwohl sie nicht richtig verstand, so begriff sie, dass es die Schuld ihres Bruders war. Das sie wegen ihm hier war und es kein zurück mehr gab und dass Grahl wegen ihm litt.

Das Mädchen wand sich aus seiner Griff und funkelte ihn böse an.

„Wegen dir! Alles wegen DIR!“

Ihre Augen blitzten unheilvoll auf und mit einem mal schossen Kristallsplitter auf Smith zu. Dieser war erstarrt von ihren Worten und unfähig auszuweichen. Die funkelnden Geschosse hätten fast ihr Ziel erreicht, wäre nicht Kyth gegen ihn gelaufen und hätte ihn mit sich umgerissen.

„Verdammt was war das?“, zischte er und sah fassungslos das Mädchen an. Dieses hatte den Kopf gesenkt und die Fäuste geballt. Der Schwarzhaarige konnte sehen, dass die Kleine immer noch weinte und er konnte sie nur zu gut verstehen. Dennoch konnte er nicht zulassen, dass sie jetzt Amok lief.

Smith war, nach wie vor, wie gelähmt und blickte durch seelenlose Augen. Die Erkenntnis, dass er seine Geschwister in ein Abenteuer zog, dass sie nicht wollten und dass sie diesen grausamen Preis dafür zahlen mussten, traf ihn hart.

Deshalb war es nun an Kyth Mia zu beruhigen oder sie wenigstens außer Gefecht zu setzen.

„Deine Schuld. Deine Schuld. DEINE SCHULD!“, heulte das Mädchen.

Und wieder bildeten sich kristallene Splitter um das Kind. Obwohl sie so klein und zierlich war, wirkte sie im Moment wie ein bedrohliches Monster.

Verdammt. Was soll ich nur tun?, dachte Kyth besorgt nach. Er konnte sie doch nicht niederschlagen. Sie war doch erst dreizehn und die kleine Schwester seines Freundes. Aber konnte er zulassen, dass sie Smith, Grahl oder ihn verletzte?

Als er sich für einen Angriff entschied, ging alles ganz schnell.

Noch ehe der Violettäugige einen Schritt nach vorne starten konnte, verschwanden die Kristalle um das Mädchen und sie ging keuchend in die Knie, wurde aber von einem muskulösen Arm aufgefangen. Unbekannte hatten sich unbemerkt genähert und die heikle Situation entschärft. Einer der beiden Männer hatte Mia mit einem Schlag ins Genick bewusstlos geschlagen, während der andere das Mädchen interessiert begutachtete.
 

Kyth und Smith waren sofort auf den Beinen und wollten Mia zu Hilfe eilen. Schließlich wussten sie nicht, was die Fremden mit ihr vor hatten und ob ihr Gefahr drohte. Von der Situation unbeeindruckt vernahmen sie von dem Beobachtenden:

„Es ist unglaublich. Ihre Spiritakreisläufe.... Es besteht kein Zweifel. Sie muss eine Heldin sein.“

Der blondhaarige Mann, mit den bernsteinfarbenen Augen musterte das Mädchen weiterhin und anschließend die drei anderen Fremden. Seine Augen ruhten auf jedem einzelnen von ihnen. Sein kalter Blick verriet kaum eine Emotion. „Sie alle. Sie alle sind Helden!“, stieß er hervor und wandte sich an seinen Begleiter, der das Mädchen aufgefangen hatte.

Er nickte bloß, wandte sich um, trug das Mädchen in Richtung einer Kutsche, die in einiger Entfernung angehalten worden war, und meinte: „Wir bringen sie in die Stadt.“

Der Blonde hatte verstanden.

„Na los ihr Drei. Wir werden euch mit in die Stadt nehmen. Dort werdet ihr uns einige Fragen beantworten.“

Smith erhob sich und schritt auf den Fremden zu.

„Wir werden mit euch kommen, doch wir müssen dringen zu einem Arzt. Mein Bruder, er hat Fieber und wir müssen ihm dringend helfen“, flehte der Goldäugige.

„Merkwürdig, wieso heilt eure kleine Begleiterin nicht einfach seine Wunden?“, fragte der Fremde, mehr zu sich, als zu seinem Gegenüber. „Schließlich besitzt sie Heilkräfte.“
 

Verdutzt blinzelten Kyth und Smith ihn an. Noch ehe sie etwas auf sein Gemurmel erwidern konnten, fuhr er fort: „Na gut, dann bringen wir euch erst zu einem Arzt. Aber danach werdet ihr unsere Fragen beantworten.“

Smith nickte schlicht und bedeutete Kyth einzusteigen. Sie hatten ohnehin keine Wahl. Zum einen musste Grahl geholfen werden und mit einer Kutsche kamen sie schneller voran. Zudem wussten die Fremden wo es lang ging. Und zum anderen waren sie nicht sicher, ob sie Gegenwehr leisten sollten. Schließlich konnten diese Männer gefährlich sein und sie hatten Mia in ihrer Gewalt.

Gemeinsam hoben sie deshalb den Kranken auf und marschierten zu der Kutsche, in der der andere Unbekannte und die bewusstlose Mia schon warteten.

Rede und Antwort stehen

Drei Tage waren nun vergangen, seit Smith und die anderen von ihren 'Gönnern' in die Stadt gebracht worden waren. Schnell stellte sich heraus, dass diese nicht vor hatten, die seltsame Truppe aus den Augen zu lassen. Denn ohne sie zu fragen, verfrachtete man die Vier in ein gewaltiges Herrenhaus.

Grahl und Mia wurden zwar augenblicklich zum Hofarzt gebracht, aber Smith und Kyth hatte man in einem der vielen Zimmer untergebracht. Den beiden war es strikt untersagt gewesen, dieses zu verlassen. Zudem hatte man eine Wache vor ihrem Raum postiert.

Dieser Umstand machte ihnen klar, dass sie keine Gäste, sondern Gefangene waren. Zum Wohle ihrer verwundeten Gefährten, kamen sie überein nichts Dummes anzustellen. Es war ohnehin zwecklos einen Ausbruchsversuch zu wagen. Sie waren Fremde und wussten nichts über diese Welt. Geschweige denn wo sie überhaupt waren.
 

Der erste Tag verging ohne, dass sie etwas von ihren Anhängseln erfahren hatten und auch sonst kam niemand zu ihnen. Smith fühlte sich nach wie vor schuldig. Es war allein seine Schuld, dass seine jüngeren Geschwister in diese Sache verwickelt worden waren. In dieser Nacht machte er kein Auge zu. Stattdessen saß er vor der Tür und wartete darauf, dass man ihm verriet, wie es den beiden ging. Kyth hatte vergeblich versucht seinen Partner zu beruhigen, doch es war, als redete er gegen eine Wand. Beruhigend hatte er sich deshalb einfach neben Smith niedergelassen und war letztlich an ihn gelehnt eingeschlafen.
 

Auch als sich der nächste Tag allmählich dem Ende neigte, hatten die beiden nichts weiter von den anderen gehört und ein ungutes Gefühl machte sich in ihnen breit. Nervös spazierten sie in ihrem Zimmer auf und ab, wie gefangene Tiere in ihren Käfigen. Sie warfen sich besorgte Blicke zu und auch Kyth hatte allmählich aufgegeben unbekümmerte Gedanken zu hegen.

Sie sahen sich verstehend an, nickten einander zu und gerade als sie versuchen wollten aus ihrem Gemach zu türmen und nach ihren Freunden zu sehen, hatte sich die Tür geöffnet und der blonde Mann mit den bernsteinfarbenen Augen war eingetreten. Er hatte sich ihnen als Ryu, der Arkane Berater des Prinzen von Xändyr, vorgestellt und ihnen Kunde über den Zustand ihrer Gefährten gegeben.

Mia war bereits wieder auf dem Damm, weigerte sich aber von Grahls Seite zu weichen. Dieser war ebenfalls auf dem Wege der Besserung, aber immer noch Bewusstlos. Erleichterung hatte sich in den beiden Männern breit gemacht und sie fühlten sich, als würde ein gewaltiger Stein von ihren Herzen fallen. Als sie Ryu fragten, ob sie zu ihnen dürften, verneinte er die Bitte schlicht und erklärte, dass man morgen nach ihnen schicken würde.

„Schließlich müsst ihr uns noch Rede und Antwort stehen“, hatte er mit einem neugierigen Blitzen in den Augen gesagt, ehe er sich von ihnen abwandte und sie wieder allein ließ. Ein wenig später brachte der Wachmann ihnen ein kleines Abendessen und etwas zu trinken.
 

Nachdem sie die Mahlzeit verspeist hatten, berieten sich die beiden, wie sie am nächsten Tag verfahren sollten. Es war ihnen sofort klar, dass sie niemals ihre wahre Herkunft preisgeben konnten. Wer würde ihnen schon glauben und wie sollten sie eine solch unglaubwürdige Geschichte auch beweisen? Sie wollten jedenfalls erreichen, dass nur sie beide befragt wurden. Mia und Grahl hatten bereits genug durchgemacht und diese Situation würde alles nur noch verkomplizieren, wenn sie aus versehen etwas erzählten, was sie noch verräterischer erscheinen ließ.

Auf ihre Unterredung folgte eine weitere schlaflose Nacht und als sie am Morgen tatsächlich abgeholt wurden, sahen sie beide sehr erschöpft aus. Mit großen Augenringen und schweren Lidern marschierten sie hinter dem Wachmann her, der sie zum Audienzsaal geleiten sollte.
 

Er führte sie durch etliche Korridore an deren Wänden unzählige Gemälde hingen. Viele waren Portraits von Adligen, wie Smith vermutete. Der weiße Steinboden war mit rotem Teppich ausgelegt und viele Fenster gewährten die Blick in einen wunderschönen Hofgarten. Zum ersten Mal seit drei Tagen konnten sie nach draußen sehen. Man hatte nämlich darauf geachtet, dass ihr Zimmer keinen Ausguck hatte, den sie hätten erreichen können. So waren sie sich nie ihrer tatsächlichen Lage bewusst, was eine Flucht eindeutig erschwerte. Das Herrenhaus war totenstill. Einzig ihre Schritte hallten in den Gängen wieder.
 

Plötzlich blieb der Wachmann vor einer Tür stehen und öffnete diese. Smith und Kyth erkannten, dass es sich hier um ein Behandlungszimmer handelte. Viele Betten waren an den Wänden aufgereiht und durch Wollvorhänge voneinander abgetrennt. In etlichen Regalen standen Tinkturen, Medizin, Verbände, Nähzeug und vielerlei anderes ärztliches Gerät. Ärztliche Helferinnen eilten von einem Krankenbett zum nächsten und als eine der jungen Frauen die Ankömmlinge sah, führte sie Smith und Kyth, zu einem der Betten. Dabei hatte sie einen Finger an ihren Mund gehoben, um ihnen zu bedeuten, dass sie ruhig sein mussten.

Der Wächter verharrte an der Tür, während sich die anderen davon machten.
 

Kaum war der Vorhang zurückgeschoben, machte das Paar auch schon Mia und Grahl aus. Der Rothaarige lag tief schlafend im Bett. Er atmete wieder normal und wirkte äußerst friedlich. Seine kleine Schwester saß in einem Stuhl neben seiner Ruhestätte und schlief ebenfalls. Man hatte sie in eine Decke gewickelt. Obwohl sie ruhte, wirkte sie erschöpft. Ihre Augen waren verquollen und ihr Haar zerzaust.

Sie ist immer noch ziemlich mitgenommen, dachte Smith schuldbewusst und trat auf die Weißhaarige zu. Behutsam streichelte er über ihren Kopf und fragte die Helferin leise: „Wie geht es den beiden?“

„Das Mädchen ist eigentlich wieder kerngesund. Nur spricht sie kein Wort mit uns. Das einzige Mal als sie etwas sagte, war als wir sie zu Ihnen verlegen wollten. Sie beharrte darauf bei ihrem Bruder zu bleiben. Wir kamen überein ihren Wunsch zu erfüllen. Das arme Ding sieht sehr erschöpft aus. Sie weigert sich jedoch uns zu verraten, was vorgefallen ist oder wo ihr herkommt. Und was den anderen Patienten betrifft, es sieht so aus, als wäre er einem starken magischen Angriff ausgesetzt gewesen, der ihn so sehr geschwächt hat, dass es ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Sie können der Vorsehung danken, dass Sie noch rechtzeitig gefunden wurden. Es ist uns gelungen seinen Zustand zu stabilisieren und sein Fieber zu senken. Heute Nacht ist er sogar schon einmal kurz aufgewacht. Ich denke, dass er bald wieder aufstehen kann.“
 

Smith blickte erleichtert von Mia zu Grahl und endlich konnte er sich wieder ein wenig entspannen. Es kam ihm vor, als wäre in seinem Inneren ein Knoten geplatzt.

Zuversichtlich drückte er sich an seinen Geliebten und schloss einen Moment die Augen. Nur einen kurzen Augenblick wollte er diese frohe Kunde auskosten, ehe er auf den Boden der Tatsachen zurückkehren musste. Als hätte Kyth in seine Seele geblickt, küsste er die Stirn seines Gefährten und drückte ihn fest an sich.

Dann, so schnell wie dieser heitere Moment gekommen war, verebbte er wieder. Der Goldäugige löste sich vom Schwarzhaarigen und sah die ärztliche Helferin eindringlich an.

„Dürfen wir kurz alleine mit den beiden sein?“

Die Frau wollte protestieren, musterte die beiden aber genau und stellte auch bei ihnen einen tiefsitzenden Kummer fest. Unwillkürlich fragte sie sich, was so junge Mensch schon erlebt haben mussten, dass sie so ermattet und niedergeschlagen waren. Jeder einzelne wirkte, wie ein Schatten einer Person, die jeglichen Grund zur Freude verloren hatte. Am Stärksten war ihr dies bei dem kleinen, rotäugigen Mädchen aufgefallen.

Ein hartes Schicksal musste ihnen zu schaffen machen und deshalb nickte sie schlicht, wandte sich zum Gehen und schloss den Vorhang hinter sich.
 

Kaum waren sie allein, machten sich Kyth und Smith daran, Mia und Grahl zu wecken. Wie üblich dauerte es nicht lange, bis Mia erwachte. Bei Grahl war es anders. Es brauchte schon kräftige Schüttelversuche und leichte Ohrfeigen, bis der Rothaarige endlich seine kristallblauen Augen aufschlug. In diesen blauen Augen schimmerten hellgrüne Linien, wie Seepflanzen die in den Wellen tanzten.

„Smith, Kyth. Schön euch zu sehen.“, begann er gähnend, ehe er sich aufsetzte. Es war ihm sichtlich anzusehen, dass er sich freute, die beiden wohlbehalten wiederzusehen.

Ob er schon weiß, dass wir nicht mehr in unserer Welt sind?, fragte sich Smith unweigerlich und wieder einmal überrollte ihn eine Woge der Schuldgefühle. Angestrengt unterdrückte er seinen Kummer, ballte aber instinktiv seine Hände zu Fäusten.

„Grahl, es tut mir Leid. Es ist meine Schuld. Du musst wissen...“

„Ich weiß es schon. Mia hat mir gestern Nacht alles erzählt“, fiel ihm der Rothaarige ins Wort. Er wirkte gleichgültig. Aber Smith meinte einen Schatten über seines Bruders Gesicht huschen zu sehen. Eine Erscheinung von Kummer und Schmerz. Dieser war jedoch nur flüchtig wahrzunehmen, dann setzte der Rothaarige wieder sein altbekanntes Gesicht des Desinteresses auf.

„Ob man euch belauscht hat?“, mutmaßte Kyth, der mit verschränkten Armen vorm Krankenbett stand und angestrengt nachdachte.

„Ich glaube nicht. Wir haben geflüstert, außerdem waren der Arzt, sowie seine Helferinnen mit den anderen Patienten beschäftigt“, berichtete Grahl leise.

Die Anspannung des Violettäugigen wich ein wenig.

„Gut. Das spielt uns in die Karten. Je weniger sie über uns wissen, desto besser. Es wird schon schwer genug, die Unterredung irgendwie zu überstehen. Da sollten wir jetzt nicht unvorsichtig werden.“

„Unterredung? Wovon sprecht ihr?“, mischte sich nun auch Mia ein, die Smith vernichtend anfunkelte. „Haben wir etwa noch mehr Ärger am Hals?“

Es verletzte Smith, wie seine Schwester ihn ansah. Ganz offensichtlich hatte sie ihm nicht verziehen und womöglich würde sie dies niemals tun.

Um sich dieser Tatsache zu entziehen pflichtete er Kyth bei. Sie mussten vorsichtig sein, weshalb sie endlich auf den Punkt kamen.

„Wir werden heute befragt. Leider wissen wir nicht, was uns erwartet und deshalb möchten wir, dass ihr beide hier bleibt. Lasst mich und Kyth das regeln. Es ist ganz offenkundig, dass wir hier nicht als Gäste geladen sind. Während ihr gesund gepflegt wurdet, wurden wir unter Bewachung gestellt. Es war uns untersagt unser Gemach zu verlassen. Gestern Abend dann, bekamen wir Besuch vom Arkanen Berater des Prinzen, der uns mitteilte, dass heute ein Verhör statt finden würde.“

Mia kicherte laut auf.

„Arkaner Berater des Prinzen. Wir sind also Gefangene eines Prinzen. Klingt ja wie in einem Buch.“

Das Mädchen gackerte verbittert weiter.

„Dabei dachte ich immer, dass in Büchern die Prinzen auf weißen Rössern angeritten kommen und die holde Maid retten. Aber ich bin doch eine Maid oder? Warum....Warum werde ich also nicht gerettet? Warum stecke ich dann in dieser Klemme? Warum...“

Es war Kyth, der nun die Beherrschung verlor. Er konnte das Leid des Mädchens ja verstehen. Aber er konnte nicht tolerieren, dass sie ihrem eigenen Bruder bei jeder Gelegenheit selbst einen immensen Schmerz zufügte. Smith litt. Es war ihm klar, dass er den größten Anteil an der Situation Mias und Grahls hatte, aber wie konnte sie nur so egoistisch sein.
 

„Sei still!“, fuhr er sie deshalb an und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Wir versuchen alles, damit wir aus dieser Lage so leicht wie möglich entwischen können, aber du kannst nichts anderes, als uns Vorhaltungen zu machen. Ich schlage vor du bleibst einfach mit Grahl hier und siehst zu, dass du dich zusammenreißt. Du wirst uns sowieso nur Ärger einhandeln, wenn du so hitzköpfig vor dich hingackerst. Und glaub nicht, dass du die Einzige bist, die leidet! Grahl wollte auch nicht hier sein und Smith fühlt sich ohnehin schon schuldig genug, da wäre es doch gut, wenn du ihm nicht auch noch so zusetzt!“

Entsetzt starrte sie den sonst so freundlichen Freund ihres Bruders an, konnte aber nicht gegen ihn angehen, weshalb sie beleidigt die Arme verschränkte und sich von den beiden abwandte.

„Pah! Macht doch was ihr wollt. Noch viel schlimmer kann es ja nicht werden.“
 

Seufzend setzte sich Grahl auf und fasste die beiden Älteren streng ins Auge.

„Na gut. Mia und ich bleiben hier. Es wird mir nicht allzu schwer fallen, einen Schwächeanfall vorzutäuschen und die kleine Zicke will ja sowieso lieber bei mir bleiben, als bei euch.“

Die beiden nickten zustimmend und der Rothaarige begann sein Schauspiel. Mit einem lauten Stöhnen und Seufzen sank er in die Kissen.

Sofort stürmte Kyth zum Vorhang und rief: „Schnell hierher. Mein Freund braucht Hilfe. Er ist wieder zusammengebrochen. Bitte beeilt euch!“

Es war erstaunlich wie gekonnt die beiden ihre Sache spielten. Einzig Mia saß, nach wie vor, mit dem Rücken zum Geschehen und schmollte. Smith und Kyth verließen das Krankenbett als der Arzt sowie zwei Helferinnen hereineilten.

Ihm war wieder schwer ums Herz. Seine Schwester hatte sich von ihm abgewandt und sie wollte ihn wohl nie mehr in die Augen sehen.
 

Während die medizinischen Fachleute sich um den Rothaarigen kümmerten und die beiden anderen Männer der Vierertruppe zum Wachmann zurückkehrten, verspürte die Weißhaarige einen Drang. Sie wollte sich zu ihnen umdrehen. Dieses Gefühl lag im Widerspruch mit ihrer Wut, der Trauer und der Enttäuschung über ihren Bruder. Und obwohl sie all diesen Groll hegte, flammte ein Funke der Einsicht auf und dieser wollte, dass sie sich nicht weiter abwandte. Leider war der Funke eher ein Glimmen und wurde schon im nächsten Moment von den negativen Gefühlen verzehrt.

Niemals würde sie ihm verzeihen.
 

„Was geht da vor?“, wollte der Wachmann bestimmt erfahren.

„Unser Gefährte ist nach wie vor sehr schwach. Er ist gerade zusammengebrochen. Er wird nicht an der Unterredung teilnehmen können“, erklärte Smith gespielt besorgt.

„Und die Kleine?“, bohrte der Wächter nach.

„Sie steht unter Schock. Seit sie hier ist, hat sie kein Wort gesprochen. Selbst mit uns hat sie nicht geredet“, erklärte Kyth geistesgegenwärtig. „Ich fürchte, Sie müssen mit uns vorlieb nehmen.“

Der Aufseher knurrte leise vor sich hin und forderte die beiden auf ihm zu folgen.
 

Ohne weitere Zwischenstopps wurden sie in einen gewaltigen runden Raum geführt. Er hatte etliche Fenster. Diese gewährten Ausblick auf eine gewaltige Stadt. Anscheinend musste dieses Gebäude sich auf einer Anhöhe befinden, denn man konnte die gesamte Stadt von hier aus überblicken. Es war ein atemberaubender Anblick. Alte Fachhäuser standen eng an eng um die mit Kopfstein gepflasterten Straßen. Eine riesige Kathedrale ragte im Osten der Stadt empor und im Süden befand sich ein großer Marktplatz, auf dem Händler an etlichen Ständen ihre Waren anboten. Auch konnte man die enorme Mauer, die die Stadt schützte erkennen.
 

Der Raum selbst war schlicht gehalten. In seinem Zentrum befand sich ein ebenfalls runder Tisch und um diesen herum waren Stühle aufgestellt. Die Wände waren kahl und einzig ein kristallener Kronleuchter verzierte das Zimmer.

Kyth und Smith wurden aufgefordert sich zu setzen. Dann wurden sie allein gelassen. Eines war beiden bewusst, der Wachmann würde sicher vor der Tür stehen.

Die beiden mussten nicht lange warten, als drei Männer eintraten. Zwei davon waren ihnen bereits begegnet.

Es handelte sich um Ryu, den Arkanen Berater des Prinzen und den anderen Mann, der Mia niedergeschlagen und somit eine größere Katastrophe verhindert hatte. Er hatte braunes, volles Haar und strenge schwarze Augen. Sein markantes Gesicht verlieh ihn ein autoritäres Auftreten und er war in eine elegante, grüne Lederrüstung gewandet. Zudem hing ein Katana zu seiner Rechten, auf dem seine Hand ruhte. Er war groß gewachsen und relativ muskulös.

Neben ihm stand ein anderer Mann. Dieser war etwas kleiner als der Braunhaarige, aber muskulöser als dieser. Zudem hatte er stahlgraue Augen und schulterlanges pechschwarzes Haar. Er trug einen offenen schwarzen Ledermantel und eine ebenso schwarze Lederhose. Seine nackte Brust zierten zwei Ketten mit Kreuzanhängern und ein Tribaltattoo, dass sich von seiner rechten Brust über die rechte Seite bis zur Hüfte zog. Seine Hände steckten in passenden Handschuhen. Er war recht attraktiv und dies schien er nur zu gut zu wissen, denn warum sonst, würde man so herumlaufen, dachte sich Smith.

Als hätte der muskulöse Kerl seine Gedanken gelesen, zwinkerte er ihm freundlich zu und schenkte ihm ein ansehnliches Lächeln.
 

„Wir heißen euch herzlich Willkommen. Ich bin Kogar, treuer Berater des Prinzen von Xändyr und dies sind Ryu, Arkaner Berater des Prinzen, sowie Lelou, Oberhaupt der Leibwache des Prinzen. Es tut mir sehr leid, dass Ihre Majestät der Prinz nicht persönlich anwesend sein kann. Aber er ist mit wichtigen Staatsangelegenheiten beschäftigt.“

Die Vorgestellten verbeugten sich und setzten sich ebenfalls an die runde Tafel.
 

Alle Augen ruhten auf dem Paar, das von all den Titeln und fremdartigen Begriffen sehr verwirrt war. Während Kogar und Ryu eine undurchschaubare Miene aufsetzten, stützte Lelou seinen Kopf lässig auf einer Hand ab und grinste Smith unverhohlen an. Dieser wusste nicht, wie er damit umgehen sollte und wandte sich hilfesuchend an seinen Gefährten.

„Wir sind Kyth und Smith“, stellte sich der Violettäugige vor, während er dem Leibwächter des Prinzen herausfordernd anfunkelte und dabei einen Arm um seinen Geliebten legte.

„Nun gut. Kyth. Smith. Ihr werdet sicher verstehen, dass wir einige Fragen an euch haben“, fuhr Kogar fort, ohne auf die albernen Anmachversuche des Leibwächters einzugehen. Wie sehr sich der Berater wünschte, dass Lelou etwas ernsthafter wäre. Er konnte es manchmal nicht fassen, dass dieser Mann für die Sicherheit des Prinzen verantwortlich war. Glücklicherweise war er als Leibwächter sehr fähig, auch wenn er privat jeden Mann hinterhergaffte, der ihm gefiel.
 

Die beiden nickten. Man hatte sie schließlich oft genug darauf aufmerksam gemacht.

„Wir möchten uns erst einmal dafür bedanken, dass Sie uns in unserer misslichen Situation geholfen haben“, antwortete Kyth diplomatisch. „Wir werden Eure Fragen nach bestem Willen beantworten.“

Der Berater des Prinzen lächelte zufrieden.

„Als erstes würde uns interessieren, woher ihr kommt und weshalb es euch nach Xändyr verschlagen hat.“

Smith rutschte besorgt auf seinem Stuhl hin und her. Was sollten sie nur antworten. Sie konnten ja schlecht die Wahrheit erzählen. Wer würde das schon glauben.

Kyth verschränkte die Arme, warf den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Gebannt verfolgte sein Freund, was nun folgen würde.

„Um ehrlich zu sein, wissen wir nicht woher wir kommen. Ich erinnere mich nur daran, wie uns ein mächtiger Zauber erfasste. Glücklicherweise traf er uns beide nicht direkt, weshalb wir uns um unsere Gefährten kümmern konnten. Leider war von diesem Moment, unsere Erinnerung wie ausgelöscht. Einzig an unsere Namen konnten wir uns erinnern.

Wie Ihr ja wisst, wurde unser Gefährte, Grahl, schwerer getroffen. Ohne Eure Hilfe wäre er wohl dieser Macht erlegen. Bei Mia, der anderen Reisenden, sah die Sache ein wenig anders aus. Sie war seit jeher wie ausgewechselt. Sie schien uns nicht wieder zu erkennen. Nein es war schlimmer. Scheinbar traf sie der Zauber ebenso heftig wie Grahl, nur dass ihr Geist verwirrt wurde, denn sie warf uns ständig eine Schuld vor. Wir waren gezwungen sie in Fesseln weiter mit uns zu nehmen, bis irgendjemand sie zur Besinnung brächte. Wer hätte gedacht, dass ein heftiger Schlag ausreichen würde um dies zu bewerkstelligen. Wieder liegt unser Dank bei Euch.“
 

Smith war voller Bewunderung. Niemals wäre ihm eine solche Ausrede eingefallen und schon gar nicht so schnell. Wobei er sich fragte, ob Kyth diese Aussage nicht schon länger vorbereitet hatte, denn eines wusste der Goldäugige ganz genau. Sein Geliebter war ein Mann, der immer alles plante. Womöglich war ein Großteil seiner Ausführung bereits während der Gefangenschaft in ihm herangereift.

Im Gegensatz zu Smith, betrachteten die anderen Drei Kyth argwöhnisch. Sie schienen mit sich zu hadern.

„Ryu, besteht eine Möglichkeit, dass sie die Wahrheit sagen?“, wollte Kogar wissen.

Der Blonde Mann fuhr sich nachdenklich über sein Kinn und schwieg. Er wog tatsächlich den Wahrheitsgehalt der Aussage ab. Wenn er der Arkane Berater war, musste er viel über Magie wissen und wenn es ihnen gelang ihn zu überzeugen, so würden auch die anderen ihnen glauben, dessen war sich Kyth bewusst.

„Wie ich bereits erwähnte, handelt es sich bei diesen Leuten nicht um gewöhnliche Menschen. Sie sind Helden. Ihre Spiritakreisläufe verraten mir, dass durch sie Legendäre Magie strömt. Kein gewöhnlicher Magier, mag er auch noch so stark sein, kommt gegen einen Helden an. Es sei denn, ein anderer Held hat sie angegriffen.“

„Also lügen sie?“, wollte Lelou mit der Zunge schnalzend wissen.

„So einfach ist das nicht“, fuhr der gepiercte Blondschopf fort. „Wir wissen selbst, dass es andere, wie sie, gibt und es besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie von jenen angegriffen wurden.“

Plötzlich breitete sich eine unangenehme Anspannung im Raum aus. Die drei Befrager wirkten wie ausgewechselt. Dies lag nicht an Kyth noch an Smith oder ihrer Aussage. Nein etwas anderes bedrückte sie.

Mit seinen Handknöcheln knirschend durchbrach Lelou die unheimliche Atmosphäre.

„Du meinst, dass Kataar dahinterstecken könnte?“

Der Arkane Berater nickte und erhob sich von seinem Platz.
 

Er schritt um den Tisch herum, auf die beiden Befragten zu und legte einem jeden von ihnen eine Hand auf die Schulter. Plötzlich fühlten sich die beiden wie betäubt. Als würde irgendetwas sie festhalten. Es war beklemmend und fremdartig. Es machte ihnen Angst.

Was zur Hölle tut er?, schoss es Smith durch den Kopf.

„Aufhören!“, ächzte er deshalb verzweifelt.

Sofort ebbte das Gefühl ab und war schließlich gänzlich verschwunden.

„Seltsam. Sie scheinen sich ihrer Kräfte nicht bewusst zu sein. Es wäre mir unmöglich gewesen den Spiritarkreislauf eines Helden zu blockieren. Ich möchte sogar einen Schritt weiter gehen und behaupten, ich hätte ihren Fluss kontrollieren können. Sie verfügen über unglaubliche Macht. Bei dem Mädchen haben wir gesehen, dass sie Kristallmagie beherrscht und ich spürte starke Lebensmagie in ihrem Kreislauf. Aber wenn ich so an die erste Begegnung zurückdenke, muss ich gestehen, dass es wirklich so aussah, als wüsste sie nicht, was sie tat. Ich bin mir sicher, dass ich auch jetzt ihre Kreisläufe blockieren könnte.“

„Du meinst also, sie sagen die Wahrheit?“, bohrte Kogar begierig nach.

„Einen Augenblick“, Ryu hob beschwichtigend seine Hände empor. „Ich möchte ihnen noch eine letzte Frage stellen.“
 

Er baute sich vor Smith und Kyth auf. Seine eiskalten bernsteinfarbenen Augen ruhten auf ihnen, fast so als würden sie jeden Lüge aufdecken können.

„Steht ihr in Verbindung zu Kataar?“

Nun schienen drei Augenpaare sie zu durchbohren. Eine düstere Spannung hatte sich erneut breit gemacht. Die Befrager schienen aufs äußerste konzentriert und bereit sie niederzustrecken, sollten sie eine Antwort erhalten, die ihnen missfiel.

„Kataar? Ist das eine Person? Oder eine Stadt?“, fragte Smith etwas verunsichert und hoffte, nicht etwas falsches gesagt zu haben. Verwirrt blickte er jedem einzelnen, sogar Kyth ins Gesicht. Doch auch dieser war ebenso ratlos wie er.

Einen Moment herrschte Schweigen, das Lelou lauthals lachend brauch und amüsiert in die Hände klatschte: „Entweder sind sie die besten Lügner auf dieser Welt oder sie haben wirklich ihr Gedächtnis verloren. Kataar eine Person oder Stadt.“

Der muskulöse Kerl hielt sich schon den Bauch vor Lachen und Tränen traten in seine Augen.

„Ich mag dich Goldauge“, gellte er.

Durch das schallende Gelächter beruhigten sich auch die Gemüter der anderen beiden.
 

Kogar erhob sich nun auch von seinem Platz und stützte seine Hände auf dem Tisch ab.

„Lelou du solltest nicht über sie lachen. Ihr Schicksal scheint es bisher nicht gut mit ihnen gemeint zu haben. Ich gehe jedoch Recht in der Annahme, dass sie keine Bedrohung für uns und das Reich Xändyr darstellen. Oder Ryu?“

Der Angesprochene nickte zustimmend ohne auch nur zu zögern.

„Das ist richtig. Sie scheinen ihr bisheriges Leben vollkommen vergessen zu haben. Sie wissen nicht einmal um ihre Kraft. Es wäre ein Leichtes für uns, sie hier und jetzt zu töten. Zudem wissen sie nichts über Kataar, was bedeutet, dass ihnen der Kult der Sieben Himmel ebenfalls fremd ist. Es bleibt nun nur eine Frage. Wie werden wir mit ihnen verfahren?“

„Das, ist keine Angelegenheit, die wir zu entscheiden haben. Ryu, wir werden umgehend eine Audienz mit dem Prinzen abhalten. Lelou, wärst du so freundlich, die beiden zu ihren Kameraden zu begleiten? Bis eine Entscheidung getroffen wurde, wirst du die Vier eskortieren. Sie dürfen sich im Herrenhaus, unter deiner Aufsicht, frei bewegen.“
 

Der Grauäugige grinste begeistert.

„Liebend gern.“ Antwortete er knapp und eilte auch schon um den Tisch herum. Dort nahm er die beiden in den Schwitzkasten und sagte vergnügt: „Wir werden eine Menge Spaß miteinander haben.“ Wobei er wieder Smith ein entzückendes Lächeln schenkte, dass Kyth mit einem Todesblick quittierte.

Eine Führung und eine Herausforderung

Obwohl sie die Unterredung ohne größere Schwierigkeiten überstanden hatten, ging es dem Paar jedoch nicht besser. Man glaubte ihnen zwar, dass sie ihr Gedächtnis, aufgrund eines mächtigen Zaubers, verloren hatten, aber nun galt es die anderen beiden darüber in Kenntnis zu setzen, ohne dass ihr neuer Aufpasser misstrauisch wurde.

Was gar nicht so einfach werden dürfte, da er ihre Köpfe, nach wie vor, in seinen Armbeugen gefangen hielt und diese hin und wieder etwas enger zog. Ihn schien es köstlich zu amüsieren, wie die anderen beiden versuchten, aus dieser peinlichen und misslichen Lage zu gelangen.

Und selbst wenn sie es schafften Mia und Grahl auf den neusten Stand der Dinge zu bringen, hatten sie eine Menge zu verdauen. Sie waren also Helden und allen Anschein nach verfügten sie über enorme Fähigkeiten.

Mit einem leichten Schaudern dachte Smith an jenen Abend zurück, an dem Mia ihn mit Kristallspitzen beschossen hatte. Er war sich bewusst, dass sie dies nicht mit Absicht getan hatte, aber dennoch war er erstaunt gewesen, wozu sie im Stande war. Unweigerlich fragte er sich, welche Kräfte in ihm schlummern mochten und wie er sie entfesseln konnte.
 

Ein überraschter Schmerzensschrei holte den Goldäugigen aus seinen Überlegungen zurück.

Anscheinend war es Kyth gelungen, sie zu befreien, denn Lelou sprang mit verzogenem Gesicht auf einem Bein herum, während er das andere mit beiden Händen rieb.

„Du hättest uns einfach loslassen sollen“, erklärte Kyth kühl, verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sein Gesicht unbekümmert vom Leibwächter des Prinzen ab.

Smith musste sich ein Lachen verkneifen, als er die beiden Streithähne so beobachtete.

„Das ist noch lange kein Grund, mir auf den Fuß zu treten“, beschwerte sich der Hüne, wobei er wie ein weinerliches Kind wirkte.

Und das soll allen Ernstes ein Anführer sein, dachte Kyth seufzend, wandte sich jedoch schnell Smith zu und erklärte flüsternd: „Das ist deine Chance. Lauf zum Behandlungszimmer und kläre die anderen beiden auf. Ich werde etwas Zeit schinden.“

Der junge Mann mit dem weizenfarbenem Haar nickte verstehend und eilte den Korridor entlang, den sie gekommen waren.

Hinter sich konnte er nur hören, wie die anderen beiden sich einen verbalen Schlagabtausch boten.
 

Glücklicherweise war sein Bestimmungsort nicht mehr fern und so hatte er die Strecke in kurzer Zeit zurückgelegt. Besorgt fragte er sich zwar, ob es eine gute Idee war, die beiden alleine zu lassen, aber er hatte keine andere Wahl. Schon während der Besprechung war ihm aufgefallen, dass Lelou einen Narren an ihm gefressen hatte, was Kyth so gar nicht passte.

Ich hoffe er macht uns keinen Ärger, grübelte Smith, der genau wusste, wozu ein eifersüchtiger Kyth im Stande war. Bitte nicht, schoss es ihm peinlich berührt durch den Kopf.
 

Als er den Behandlungsraum erreicht hatte, trat er schnell ein. Ihm war bewusst, dass nur wenig Zeit blieb, denn egal wie sehr sich sein Partner auch anstrengen würde, er konnte den erfahrenen Leibwächter nicht ewig in Schach halten.

Ohne Notiz von den ärztlichen Helferinnen oder dem Arzt zu nehmen, stürmte er geradewegs hinter die Wolldecke, hinter der Mia und Grahl sich befanden.
 

„Ah ihr seid schon zurück? Wie ist es gelaufen?“, fragte der Rothaarige mit gedämpfter Stimme. Grahl war wieder vollkommen auf der Höhe und lag gemütlich in seinem Bett. Es freute Smith sehr, dass es ihm wieder gut ging. Er hätte sich niemals verziehen, wäre sein Bruder zu weiterem Schaden gekommen.

„Seid still und hört mir zu. Es bleibt nicht viel Zeit. Wir sind anscheinend keine Gefangen mehr. Wir konnten sie überzeugen, dass wir durch einen mächtigen Zauber unsere Erinnerungen verloren haben und deshalb nicht wissen woher wir kommen, noch warum wir hier gelandet sind. Wir dürfen uns frei im Herrenhaus bewegen, so lange beratschlagt wird, was sie mit uns machen werden. Wir müssen uns also noch ein wenig gedulden, aber ich denke, dass wir bald von hier verschwinden können. Ach und da wäre noch etwas~“
 

Jäh wurde Smiths Ausführung unterbrochen, als die Tür abermals aufdonnerte und wenige Sekunden darauf ein Hüne die Trenndecke zurückwarf und den Goldäugigen wieder in den Schwitzkasten nahm.

„Goldi ich muss doch sehr bitten. Du kannst nicht einfach ohne uns davonlaufen. Ihr dürft euch zwar frei bewegen, aber dennoch sollt ihr unter meiner Beobachtung bleiben“, brummte Lelou vorwurfsvoll und strubbelte Smith wild durchs Haar.

„Lass ihn sofort los!“, bellte Kyth, der sich den Kopf reibend, auf den Leibwächter stürzte.

Verdutzt beobachteten Mia und Grahl die Drei und sahen sich letztlich schulterzuckend an.
 

Das Getöse wurde erst unterbrochen, als der Arzt herbeieilte und die Streitenden wütend anfuhr: „Dies ist ein Behandlungszimmer für Verletzte und Kranke. Sie brauchen dringend Ruhe und wenn Sie nicht sofort mit Ihren Kindereien aufhören, werde ich Sie alle höchstpersönlich ruhigstellen!“

Um seiner Drohung Ausdruck zu verleihen zog er eine Spritze mit einem Beruhigungsmittel auf und richtete es auf die Angesprochenen.

Augenblicklich kehrte Frieden ein. Die Kämpfenden gingen auseinander und verbeugten sich entschuldigend. Auch auf Grahl wirkte die Spritze, denn er war leichenblass geworden und konnte den Blick nicht von ihr lassen, was Mia dazu veranlasste, gellend aufzulachen.

Mit Zorn gerötetem Kopf brüllte der Arzt: „Raus hier! Allesamt! Ein wenig frische Luft wird Ihnen nicht schaden!“
 

Eilig wie der Blitz machten sich die Fünf auf, das Herrenhaus zu erkunden.

„Nun was haltet ihr davon, wenn ich euch ein wenig herumführe. Das Anwesen ist riesig und wenn man sich nicht auskennt, verläuft man sich schnell“, schlug Lelou vor.

Der Rest der Truppe nickte zustimmend.

„In Ordnung, dann wäre das geklärt. Ach ja, ich bin übrigens Lelou, der Anführer der Leibwächter des Prinzen. Es freut mich euch kennenzulernen.“

„Ich bin Grahl und das ist Mia. Freut uns auch“, stellte der Rothaarige sich und seine Schwester vor, die sich verlegen an seiner Hose festklammerte.

Mit einem charmanten Lächeln nickte der Hüne der Weißhaarigen zu, die daraufhin ihr Gesicht peinlich berührt in die Seite ihres Bruders drückte.

„Da wir uns jetzt alle bekannt gemacht haben, können wir ja losziehen“, lachte der Hüne und schritt voran.
 

„Geht es dir gut?“, wollte Smith besorgt von seinem Geliebten wissen, der sich nach wie vor den Kopf rieb und ihren Führer keine Sekunde aus den Augen ließ.

„Ja. Es geht schon. Ich wollte ihm nur verdeutlichen, dass er sich von dir fernhalten soll. Leider hat er mich in einem unerwarteten Moment am Kopf erwischt und ist dann davongezogen. Seltsam, dass er dich ermahnt, nicht allein herumzulaufen, mich aber zurücklässt, nur damit er dich abfangen kann. Ich sag dir, ich kann ich nicht ausstehen.“

Wenig überrascht konnte Smith einen verlegenen Seufzer nicht unterdrücken. Es war schon immer so gewesen, dass der sonst so coole Kyth vor Eifersucht schäumte, wenn sein Partner schöne Augen gemacht bekam. Natürlich war der Violettäugige überhaupt nicht dazu im Stande Eifersucht zu empfinden, wenn es nach ihm ging, nein, hier ging es dann plötzlich immer nur ums Prinzip.

Wie peinlich, schmunzelte Smith in sich hinein und klammerte sich an den Arm des anderen, um ihm zu beweisen, dass keinerlei Grund zur Besorgnis bestand.
 

Lelou hatte sie nun durch etliche Gänge geschleift und ihnen Studierzimmer, Gartenanlagen, die Küche, die Ställe, eine kleine Kapelle und vieles mehr gezeigt und sie mit kleinen Anekdoten unterhalten. Doch mit jeder Geschichte zauberten neue Orts-, Personen-, oder andere Namen Fragezeichen auf die Gesichter seiner Begleiter, weshalb Smith schließlich eine Frage auf der Zunge brannte, die er sogleich stellte:

„Lelou, habt ihr hier vielleicht auch eine Bücherei?“

Zufrieden nickte der Leibwächter und erklärte sofort: „Die größte in ganz Xändyr.“

„Würde es dir etwas ausmachen, mich dorthin zu bringen?“

Wieder erntete der Goldäugige ein Nicken mit einem neckischen Zwinkern.

Ohne weitere Umschweife oder auf den wütenden Blick Kyths zu achten, führte er die Truppe zum gewünschten Ort.
 

Sie waren unzählige Stufen hinab gestiegen und fanden sich nun vor einer gewaltigen doppelflügligen Tür aus massivem Eichenholz. Sie war dunkel lackiert und in schönen Schriftzeichen stand im Rahmen: 'Quell der Freude und Weisheit. Begehrst du Wissen, so tritt ein'

Behutsam stieß der Führer die Tür auf und forderte seine Begleiter, mit einer einladenden Geste, auf einzutreten.
 

Smith war fasziniert vom Anblick all dieser Bücher. In einem gewaltigen Raum, der wohl den gesamten Keller des Anwesens ausmachte waren viele hundert Regale zu fein säuberlichen Reihen aufgestellt worden. In diesen befanden sich wiederum scheinbar unendlich viele Bücher, die das Wissen, die Geschichte, Legenden, Märchen und vieles mehr dieser Welt in sich bargen. Hier und da konnte er Bibliothekare ausmachen, die die literarischen Schätze sortierten oder studierten. Der Boden des Gemäuers war mit weinrotem Teppich ausgelegt und eine Unzahl an kristallenen Kronleuchtern zauberten einen schimmernden Lichtschein in die Halle. Hier und da waren Tische und Stühle aufgestellt, wo die Bücher in der allgegenwärtigen Ruhe gelesen werden konnten. Der Goldäugige sog den einzigartigen Duft dieser Ansammlung in sich ein und fühlte zum ersten mal, wie wertvoll diese Schriftstücke doch sein konnten. Endlich waren sie in der Lage, etwas über ihre neue Heimat in Erfahrung bringen zu können und dies würde er auch sogleich tun.
 

Im Gegensatz zu ihm, waren die anderen weniger begeistert und konnten auch nichts von dem Zauber oder der Fülle an Informationen erkennen, die ihn in freudige Erwartung stürzte. Eher das Gegenteil war der Fall. Die Drei standen vor der Tür, als würde ein übler Fluch sie daran hindern, auch nur einen Fuß über die Schwelle setzen zu können und auch Lelou zog es wohl schon weiter.

„Müssen wir wirklich hierbleiben?“, fragte Grahl gelangweilt, fast schon entsetzt. „Der Arzt meinte doch, dass ich frische Luft brauche und hier riechts stickig.“

„Das ist doch voll langweilig“, beschwerte sich auch Mia. Zum einen um Smith wieder einmal zu ärgern und zum anderen weil sie mit Büchern noch nie etwas anfangen konnte.

„Versteht ihr denn nicht. Hier können wir vielleicht erfahren, was wir vergessen haben. Vielleicht hilft uns ja eins dieser Bücher, uns wieder zu erinnern“, versuchte der Weizenblonde zu erklären und verbarg keine Sekunde seine schiere Begeisterung.

Natürlich verstanden seine Gefährten, worauf er anspielte, aber es lag ihnen fern, die neue Welt aus Büchern kennenzulernen. Sie wollten sie sehen und erleben, wenn sie sich schon damit abfinden mussten hier zu bleiben.
 

Lelou, der sowohl Smith als auch die anderen verstand, hatte die Lösung für ihr Dilemma und wandte sich Stolz an seinen Liebling: „Du kannst hier bleiben und deinen Wissensdurst stillen, während wir uns weiter umsehen. Natürlich kann ich dich nicht ohne Aufsicht hierlassen, weshalb ich einen meiner Leute nach dir schicken werde. Versprich mir also, dass du dich nicht wieder davon stiehlst, sobald wir weg sind.“

Smith nickte verstehend, wanderte aber sogleich, wie hypnotisiert davon und verschwand in den Reihen der Regale.

Kyth wusste genau, dass keine tausend Pferde seinen Freund nun dazu bewegen konnten, diesen Quell des Wissens zu verlassen. Lächelnd sah er ihm hinterher und war dem Leibwächter zum ersten mal, für diese Idee, dankbar.

Viel zu lange hatte Smith sich mit Vorwürfen und Schuldgefühlen gequält. Vielleicht war jetzt endlich der Moment gekommen, da die schönen Seiten ihrer Reise beginnen würden. Der Schwarzhaarige hoffte es sehr und war trotzdem froh, jetzt nicht hier versauern zu müssen.

Jeder erfreut sich eben anders an den Dingen, grübelte er nur.
 

„Und was machen wir jetzt?“, wollte Mia aufgedreht wissen. Sie war plötzlich wie ausgewechselt. Bis eben war sie stillschweigend und eng an Grahl geschmiegt der Führung gefolgt und nun, da Smith die Truppe verlassen hatte, konnte sie wieder sprechen und tänzelte sogar um ihre Begleiter herum. Es war unübersehbar. Sie hatte mit ihrem älteren Bruder gebrochen, fühlte sie unwohl in seiner Nähe – ertrug sie scheinbar kaum. Sie würde ihm niemals verzeihen, dessen wurde sie Kyth allmählich schmerzlich bewusst und obwohl sein Partner nicht vorhatte, die beiden mit hineinzuziehen, waren sie nun einfach hier. Smith tat Kyth leid. Waren Mia und Grahl ihm doch so wichtig, wie er selbst. Er musste einen Weg finden, dass sie ihrem Bruder wieder verzieh, sich ihm annäherte. Doch wie?

Vielleicht müssen wir ihr ja auch nur etwas Zeit geben., dachte er und wusste bereits, dass diese Wunde auch nicht durch die Zeit geheilt werden konnte. Sie musste Smith von ganz allein verzeihen und niemand würde daran etwas ändern können.
 

„Ihr wolltet an die frische Luft? Da hätte ich eine großartige Idee“, meldete sich Lelou zu Wort, nachdem er einen Boten beauftragt hatte, einen Wachmann für Smith zu organisieren. Dabei grinste Kyth unheilvoll an. In seinen Augen blitzte der Schalk.

Was mochte nun wieder in dem Hünen vorgehen.

„Folgt mir“, forderte er sie winkend auf, woraufhin sie die Bücherei hinter sich ließen und wieder einige der Stufen bewältigten. Mia quasselte jetzt ungehalten mit Grahl und Kyth. Sie mutmaßte was sie alles erleben würden, tat ihre Meinung über das bereits Gesehene kund oder fragte sich wo sie jetzt hingingen, wie der Prinz wohl so war oder ob sie in königlichen Gemächern schlafen durften.
 

Der Leibwächter führte die Truppe durch einen der schönen Gärten. Viele verschiedene Blumen blühten in gepflegten Beeten, die links und rechts der Kopfsteinwege angelegt waren. Ein kristallklarer Teich war ebenfalls, im Zentrum, auszumachen, in dem wunderschöne perlweiße Fische schwammen. Eine Brücke führte über den Teich auf eine kleine Insel, auf der ein gewaltiger Eichenbaum Schatten spendete. Unter diesem Baum hatte man eine Bank aufgestellt. Das Zwitschern der Vögel und das Zirpen und Summen der Insekten war allgegenwärtig und die Sonne tauchte den Ort in ein warmes und angenehmes Licht. Es wirkte fast als tanzten kleine Kristalle auf dem Teich.

Dem Weg weiter folgend verließen sie den Garten und beschritten einem kleinen Trampelpfad, der zwischen dichten Hecken hindurchführte. Es war gerade genug Platz, dass der breitschultrige Lelou die Sträucher nicht berührte. Der enge Pfad, dem sie nun schon einige Minuten gefolgt waren, öffnete sich letztlich vor ihnen und sie betraten einen merkwürdigen Bereich. Er hatte nichts von der Schönheit der Gärten. Im Gegenteil. Er wirkte trostlos und schäbig. Sie befanden sich auf einer kreisrunden, freien, abgetrampelten Fläche. Sie umfasste etwa fünfzig auf fünfzig Meter und wurde von der riesigen Hecke abgeschirmt. Ein kleiner Grünstreifen trennte die Hecke von dem Platz. Dort standen einige Bäume, die traurig die Köpfe hängen zu lassen schienen. An einer der Seiten des Kreises waren einige Baumstämme platziert worden, auf denen man wohl platz nehmen konnte.
 

„Tada!“, gab Lelou vergnügt von sich. „Das ist der Trainingsplatz der Leibwache des Prinzen. Ich dachte mir, vielleicht würde es euch Spaß machen ein wenig eure Fähigkeiten auszutesten.“

Seine drei Begleiter sahen sich verdutzt an. Schließlich wusste keiner von ihnen, wie man die Kraft in ihrem Innern befreien konnte. Nicht einmal Mia, die es bereits geschafft hatte. Damals war es jedoch etwas anderes gewesen. Ihre Emotionen hatten sie übermannt und sie selbst wusste nach wie vor nicht, wie ihr geschehen war. Wenn sie ehrlich war, war sie etwas über sich erschrocken gewesen. Sie war bereit gewesen ihrem Bruder zu verletzen, ihn womöglich zu töten. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken, als sie sich erinnerte. Kopfschüttelnd versteckte sie sich hinter Grahl und klammerte sich an ihm fest.

„Ich glaub wir passen“, erklärte dieser trocken. „Ich bin grad wieder gesund und Mia hat auch keine Lust.“

„Na fein“, entgegnete der Leibwächter gelassen und schenkte nun seine ganze Aufmerksamkeit Kyth. Wieder hatte er dieses schelmische Funkeln in den Augen und er feixte den anderen an. „Wie sieht es bei dir aus? Hier wäre der ideale Ort, um unsere Differenzen aus der Welt zu schaffen.“

„Differenzen?“, wiederholte der Violettäugige gekonnt gelassen. „Ich wusste gar nicht, dass wir welche haben.“

„Ach wirklich? Nun dann macht es dir also nichts aus, wenn ich Goldi weiter auf den Zahn fühle?“ Herausfordernd starrte der Grauäugige sein Gegenüber an. „Vielleicht kommen er und ich uns ja sogar ein wenig näher. Das würde mir schon gefallen. Ich finde ihn durchaus anziehend und seine Art gefällt mir auch.“

Kyth ballte die Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen. Allein der Gedanke, dass dieser arrogante Typ sich an Smith heranmachen könnte, versetzte ihn in Rage. Er wollte ihm jedoch nicht die Genugtuung geben und auf seine Provokationen hereinfallen.

„Ich frage mich wie es wohl ist ihn im Arm zu halten oder zu küssen“, bohrte Lelou unverhohlen weiter, da er spürte, wie sein Kontrahent sich anspannte. „Ich wäre auch ganz gut zu ihm.“
 

Ein Feuer entbrannte in Kyth, dass er nicht mehr zu unterdrücken im Stande war. Sein Herz raste und plötzlich vernahm er ein Rauschen in seinem Inneren, wie ein beständiger Fluss, der von einem Damm zurückgehalten worden war, nun aber den Wall durchbrach.

„Genug!“, brüllte er, richtete eine geballte Faust auf Lelou und öffnete diese. Durch diese Bewegung setze er eine Energie frei, die tief in seinem Inneren geruht hatte. Das Rauschen schwoll an und plötzlich schossen fünf Lichtkugeln aus seiner Hand, die allesamt blitzschnell auf den Leibwächter zu schossen. Dieser machte einen perfekten Rückwärtssalto, ehe die Geschosse im Boden einschlugen.

Staub wirbelte auf und Mia entfuhr ein Kreischen. Grahl starrte gebannt auf den Partner seines Bruders, der mit wütender Miene auf dem Trainingsplatz stand und ihren Aufpasser angriff. Etwas an ihm hatte sich verändert. Erst wusste er nicht genau was, doch dann bemerkte er es.

„Mia, sieh mal. Kyth Augen. Sie sind nicht mehr violett. Sie sind weiß.“

Das Mädchen, dass sich erschrocken an ihn gepresst und ihr Gesicht in seinem Hemd vergraben hatte, blickte zögerlich auf und sah es nun auch.

„Du hast recht. Was hat das zu bedeuten?“, piepste sie kaum hörbar.

„Wenn ich das wüsste.“

Gespannt setzten sich die beiden auf einen der Holzstämme und beobachteten, wie es weitergehen würde.
 

Kaum hatte die Staubwolke sich gelichtet, musste Kyth feststellen, dass keiner seiner Angriffe Lelou getroffen hatte. Er war ganz einfach ausgewichen und kniete dumm grinsend am Boden. Lässig richtete er sich auf, fuhr sich arrogant durchs Haar und brüllte freudig: „Na also. Willst du doch unsere Differenzen aus der Welt schaffen. Wenn es dir gelingt mich zu treffen oder zu Boden zu ringen, verspreche ich dir, die Finger von Goldi zu lassen. Sollte ich dich aber niederstrecken garantiere ich für nichts. Du musst dich nicht zurückhalten. Ich bin gespannt, was du so drauf hast.“

Seine Knöchel knirschend ging Lelou in Angriffsstellung und winkte Kyth zu sich her.

Na warte. Dir werde ich es zeigen, dachte der Geliebte Smiths. Fest entschlossen zu siegen und diesem Kerl eine Lektion zu erteilen.

Licht und Dunkelheit

Kyth war berauscht von der Kraft, die seinen Körper durchflutete und die ihn solch unglaubliche Dinge wirken ließ. Verblüfft sah er auf seine Hand, als versuchte er herauszufinden, wie er dies gemacht hatte. Zum ersten Mal seit sie in dieser Welt gestrandet waren, fühlte er diese fremdartige Energie in sich. Und doch kam es ihm so vor, als wäre sie schon immer mit ihm verankert gewesen. Zwar wusste er nicht wirklich, was er zu tun hatte um sie zu entfesseln, doch dieser Kampf wäre die ideale Gelegenheit es herauszufinden.
 

„Wie du willst, ich werde mich nicht zurückhalten!“, konterte Kyth und hoffte, dass er weitere Zauber wirken konnte und dies nicht bloß ein Zufall war.

Lelou nickte zufrieden und sein sonst so gelassenes und großspuriges Wesen, war einem Hochkonzentrierten und Vorsichtigen gewichen. Noch immer stand er in seiner Angriffsstellung und winkte seinen Gegner zu sich her.
 

Wie sehr Kyth sich über den Anderen aufregen konnte. Abermals spürte er die Woge seiner Macht aus seinem Inneren preschen. Diesmal wedelte er gelassen mit der Hand vor sich her und entfesselte eine Lichtwelle, die rasant auf Lelou zu rollte. Dieser warf sich mühelos zur Seite und rollte sich am Boden ab, dann stieß er sich mit voller Kraft ab und rauschte mit ausgestreckter Faust auf seinen Kontrahenten zu. Völlig überrascht von der Reaktion des Leibwächters, trat Kyth einen Schritt zurück und geriet dabei versehentlich ins Straucheln, was ihn dazu verleitete unsanft auf seinen Hintern zu stürzen.

Dieses Unglück jedoch verhinderte seine Niederlage, denn vor ihm war wieder, mit einem schallenden Krachen, eine gewaltige Staubwolke aufgewirbelt worden, als Lelou mit einem kraftvollen Schwung auf die Stelle eingeschlagen hatte, an der er sich vor wenigen Sekunden noch befunden hatte. Die schlechte Sicht ausnutzend, zog sich Kyth wieder etwas von seinem Gegner zurück, der sich wohl noch immer in der Aufwirbelung befand.

Das war knapp, gestand sich Kyth ein. Ich darf nicht vergessen, dass er wesentlich mehr Kampferfahrung als ich mitbringt, auch wenn er kein Held ist.
 

„Geht es dir gut?“, erkundigte sich die besorgte Mia, die den Kampf aufgeregt mitverfolgte, während ihr Bruder diesem Spektakel eher gelangweilt beiwohnte. Er gähnte erschöpft und rieb sich die Augen.

„Alles in Ordnung. Ich konnte ihm irgendwie ausweichen“, versuchte Kyth sie zu beruhigen und hoffte, dass niemand durch den Staub erkennen konnte, dass er in Wirklichkeit gestolpert war.

„Nicht schlecht“, ertönte die bebende Stimme Lelous. „Mal sehen ob du das nächste Mal auch so viel Glück hast.“

Der Staub begann sich allmählich zu legen, doch Kyth konnte sein Gegenüber trotzdem noch nicht ausmachen, weshalb er verunsichert in die Schwaden aus Dreck spähte.
 

„Niemals die Deckung vernachlässigen“, ertönte abermals Lelous Stimme, als dieser geradewegs aus der aufgewirbelten Wolke auf Kyth zu stürmte. Für einen Moment blieb dem Weißäugigen das Herz stehen, da er nicht fassen konnte, wie gewandt und kampfeslustig der andere war. Zweifel, dass er ihn treffen würde, keimten in ihm auf und doch wollte er diesen keinesfalls Gehör schenken. Er musste es schaffen. Für sich und für Smith.

Wieder hieb der Leibwächter mit seiner Faust nach dem Anderen, doch dieser konnte gerade noch eine Lichtwelle von sich schleudern, die sein Gegenüber zum Zurückweichen zwang.
 

Da Lelou so abrupt abbremsen musste, schlitterte er einige Meter weiter von seinem Gegner weg.

Er ist gar nicht schlecht. Ich frage mich nur ob er mehr Glück als Verstand hat. Seine Aktionen sind viel zu unkontrolliert und abgehackt. Mit flüssigen aufeinanderfolgenden Zaubern würde er es mir viel schwerer machen. Ob diese Amnesie auch ihre gesamte Kampferfahrung gelöscht hat?

„Glaubst du wirklich, dass du mich so besiegen kannst?“, spottete der Hüne und warf seinen Kopf in den Nacken. „Ich glaube fast, dass Goldi viel sicherer bei mir wäre. Möchtest du uns diese Peinlichkeit nicht einfach ersparen und eingestehen, dass ich mich um in kümmern soll.“

Zwinkernd leckte er sich über die Lippen, während er erneut seufzend - „Ach ja Goldi.“ - von sich gab.

Mal sehen, ob ich ihn damit nicht noch ein wenig aus der Reserve locken kann.
 

Wie erwartet, zeigten Lelous Provokationen die gewünschte Wirkung. Bedrohlich funkelten ihn die Augen seines Gegenübers an, was zwar nicht wirklich Besorgnis in ihm erweckte, aber ein wenig ernst zu nehmend aussah.

Dann zeig doch mal, was du noch so drauf hast

Abermals hetzte der Hüne auf Kyth zu, seine Faust zum Schlag erhoben und durch seine Auramagie verhärtet.

Es war ein Glück, dass er diese Fähigkeit besaß, denn so konnte er ohne größere Verletzungen davonzutragen, wie ein Berserker alles kurz und klein schlagen und brauchte nicht einmal eine Waffe um immensen Schaden anzurichten. Dies bezeugte der Krater, den sein erster Angriff zurückgelassen hatte und den Mia und Grahl mit großen Augen anstarrten, als die Staubwolke sich endlich vollständig gelichtet hatte.

Lelou bediente sich mittels seiner Magie seiner Körpereigenen spirituellen Energie, bündelte sie beispielsweise um seine Hand, was diese schützte und gleichzeitig zu einer gefährlichen Waffe machte. Während er austeilen konnte, nahm er selbst an Stellen, die er mit seiner Aura schützte keinen Schaden.
 

Noch ehe der Leibwächter sich Kyth groß nähern konnte, streckte dieser beide Hände von sich und entlud unzählige Lichtkugeln auf seinen Gegner.

Das Herz des Weißäugigen schlug ihm bis in den Hals. Es war so laut, dass das Pochen in seinen Ohren widerhallte. Er war aufs äußerste konzentriert und wollte nun endlich seinen vorlauten Gegner auf die sprichwörtlichen Bretter schicken. Mehr und mehr Lichtbälle schossen aus seinen Handflächen und mit jedem weiteren Geschoss, ergriff eine anstrengende Müdigkeit von ihm Besitz. Seine magische Energie neigte sich wohl allmählich dem Ende zu, wie er vermutete.

„Verdammt“, flüsterte er in sich hinein, während ihm Schweißperlen von der Stirn rannen. Ich darf nicht verlieren. Ich muss ihn besiegen. Er soll Smith in Ruhe lassen! Er soll seine dreckigen Hände von ihm lassen!

Plötzlich ließ die Erschöpfung etwas nach und er fühlte, wie seine Kraftreserven sich wieder aufluden. Die Gedanken an seinen Geliebten ließen ihn neue Kraft schöpfen. Mit einem kehligen Aufschrei, riss er die Hände nach oben und ballte die gesamte Energie, die er auf die kleinen Lichtkugeln aufgeteilt hatte, zu einer einzigen Kolossalen, die er anschließend blitzschnell in das Zentrum des Lichtregens entließ.
 

Donnernd schlug sie an der gewünschten Stelle ein und entfesselte eine gewaltigen Druckwelle, die das komplette Areal in eine dichte Dreckwolke hüllte, die Bäume schmerzhaft knarzen ließ und auch Mia und Grahl unsanft von ihren Sitzplätzen riss. Sofort gingen die beiden hinter dem Baumstamm im Deckung, da noch immer Steine, Äste und Blätter durch die Luft gewirbelt wurden. Der Blick auf den Kampfplatz war gänzlich verwehrt. Weder Lelou noch Kyth waren auszumachen. Man konnte nicht einmal seine eigene Hand vor Augen sehen.

„War das wirklich Kyth?“, brummelte Grahl verwirrt und war auf einmal gar nicht mehr so müde und gelangweilt.

Die Weißhaarige konnte nur verdutzt nicken.

„Ob es ihm gut geht?“

Noch immer schwoll der Lärm des Aufschlags nicht ab und Mia begann sich Sorgen zu machen. Gegen die Druckwelle ankämpfend blickte sie über den Stamm, wobei sie sich, mit voller Kraft, daran festhielt. Ihr Haar peitschte ungehalten herum und sie rief aus vollem Halse: „Kyth! Geht es dir gut! Kyth!“

Das Grollen verschlang ihre Rufe und da sie durch all den Staub und Dreck nichts erkennen konnte kehrte sie zu ihrem, am Boden kauernden Bruder zurück.

„Er hört mich nicht“, jammerte sie und ihre Augen wurden feucht. Ihm darf nichts passiert sein. Bitte.

Als hätte Grahl ihre Gedanken gelesen, streichelte er über ihren Rücken und entgegnete beruhigend: „Ich bin sicher, dass es ihm gut geht. Wir müssen einfach warten, bis das Chaos sich wieder auflöst.“

Abermals nickte das Mädchen knapp und faltete die Hände wie zum Gebet. Es wäre schrecklich für sie, wenn ihm etwas zugestoßen wäre, da sie ihn sehr ins Herz geschlossen hatte und weil – auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte – es sie zerreißen würde, sollte Smith darunter zu leiden haben, wenn Kyth etwas zugestoßen war.
 

~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
 

Smith hatte sich nicht entscheiden können, was er nun als erstes lesen sollte und sich deshalb mit einem riesigen Stapel Bücher zu einem der vielen freien Tische begeben. Es war seltsam. Zwar war er nicht der Einzige hier, aber die Bibliothekare strahlten eine fremdartige Präsenz aus. Fast so als wären sie nicht wie er oder die anderen. Irgendwas an ihnen war anders und das fühlte er mit einer tief in ihm verankerten Gewissheit.

Erst hatte er es nicht wirklich wahrgenommen, doch seit ihrer Zeit im Herrenhaus, war ihm, als könne er die Energien jener fühlen, die in seiner Nähe waren.

Diese befremdliche Wahrnehmung verleitete ihn auch dazu, zu glauben, dass diese Leute in der Bibliothek anders waren, wenngleich er nicht sagen konnte wie. Sie sahen aus wie gewöhnliche Menschen, bewegten sich wie solche und verhielten sich auch nicht anders. Na gut sie waren sehr beschäftigt und würdigten ihn keines Blickes, aber dies begründete er damit, dass sie sicher sehr konzentriert sein mussten. Seine Wahrnehmung bestärkte sich abermals, als der Wachmann, der ihm unterstellt worden war, zu ihm trat. Seine Energie war viel wärmer und lebendiger, als die der anderen im Raum. Sich nicht weiter auf sein Gefühl versteifend, griff er zufällig in den Bücherstapel und zog einen dicken Wälzer heraus.

Er war in einen grün gegerbten Ledereinschlag gebunden und sehr schwer. Behutsam schlug er den alten Schinken auf und las den Titel, der auf der ersten Seite stand.

'Die Großreiche Elayadens'

Volltreffer. Gleich ein Buch, dass mir wirklich weiterhelfen kann.

Elayaden. So heißt also die Welt, in der wir uns jetzt befinden. Sehr interessant.

Völlig gebannt las er das Inhaltsverzeichnis durch und er stellte fest, dass Xändyr und Kataar auch darunter waren. Sie zählten also zu den zehn Großreichen.

Neugierig schlug er das Kapitel über Kataar auf, da Kogar und die anderen sehr erpicht darauf waren, zu erfahren, ob sie etwas darüber wussten. Daraus schloss er, dass Xändyr und Kataar einen schweren Konflikt miteinander austrugen.

Zwar wäre es leichter gewesen seinen Aufpasser zu befragen, doch wollte er sich mit seinem Unwissen nicht blamieren und außerdem befürchtete er, dass die Bibliothekare ihn womöglich herauswerfen könnten, wenn sie Lärm veranstalteten.
 

Als er gerade seine Studien über ihre neue Heimat beginnen wollte, durchdrang ihn eine starke energetische Kraft, die aus einiger Entfernung herrührte. Sie durchfuhr seinen gesamten Körper, der wie elektrisch aufgeladen, zu kribbeln anfing.

Was ist das für eine unbeschreibliche Energie?, fragte er sich verwundert, als plötzlich der Raum erschüttert wurde. Smith als auch sein Aufseher, schraken zusammen und hielten sich am Tisch fest, bis das Beben schwächer wurde. Überall wurden Bücher aus den Regalen geworfen und die Kronleuchter klirrten, fast kreischend, aneinander. Unterbewusst lokalisierte Smith den Ausgangspunkt der Erschütterung, die ganz offensichtlich von dieser Energie ausgelöst worden war. Neben dieser unsäglichen Kraft, empfing er eine Weitere, die zwar etwas weniger ausgeprägt, aber nicht minder beachtlich war. Diese war punktuell ausgerichtet und wirkte der Anderen entgegen.

Was geht da nur vor sich?], wollte er wissen.
 

Das Rütteln verebbte allmählich und vorsichtshalber blickte sich das Goldauge nach potenziellen Verletzten um, doch die Bibliothekare gingen ihrer Arbeit, gewohnt unberührt, nach. Es hatte den Anschein, als hätten sie von der Erschütterung kaum etwas mitbekommen, auch wenn sie die heruntergefallenen Bücher sorgsam zurück an ihren Ursprungsort stellten. Einzig der Wachmann wirkte ein wenig erschrocken und überfragt, doch raffte sich schnell wieder, da er vor Smith keine erbärmliche Figur abgeben wollte.

Nach wie vor flimmerte Smith, wie aufgeladen, da die Energien nicht zu verschwinden neigten. Im Gegenteil, die Mächtigere schwoll erneut an und da fühlte er plötzlich, von wem sie ausging.

„Kyth!“, keuchte er und stürmte, ohne auf seinen Aufpasser zu warten, in jene Richtung davon, aus der er seinen Partner wahrnahm.
 

~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
 

Keuchend stand Kyth in dem Chaos, das er selbst herbeigeführt hatte. Er war kaum noch im Stande sich auf seinen Beinen zu halten. Sein Blick schwirrte. Der Schweiß rann seinen Körper hinab und ihm war übel. Angespannt starrte er durch den dichten Staub und hoffte, Lelou getroffen zu haben. Es musste einfach so sein. Er hatte schließlich, alles aufgeboten, was er konnte. Vermutlich sogar mehr, als gut für ihn war.

Er wusste nicht ob die Erde bebte oder seine Beine einfach nicht mehr wollten. Das Rauschen der Druckwelle verklang nach und nach und auch die Staubschwaden lösten sich auf. Mit noch immer flirrendem Blickfeld, offenbarte sich Kyth allmählich, die Silhouette Lelous, der ungerührt, noch immer da stand, wo er angegriffen worden war und begann unerwartet zu klatschen.
 

„Gut gemacht. Um ein Haar hättest du mich wirklich erwischt. Hätte ich nicht schnell genug reagiert, hätte dein Angriff mich wohl auch umbringen können. Vielleicht hätte ich dir nicht erlauben sollen mit voller Kraft zu kämpfen“, gestand der Hüne, ebenfalls etwas außer Puste.

Kyth konnte es nicht fassen. Der Staub war gänzlich verzogen. Lelou stand ungerührt in dem gewaltigen Krater und schüttelte sich den Dreck vom Leib. Abgesehen von diesem hatte er weder eine Schramme noch einen Kratzer davongetragen.

„Wie ist das möglich“, keuchte Kyth schwankend. „Der gesamte Platz ist zerstört, aber du benimmst dich, als hätte ich dich überhaupt nicht erwischt. Wie? Wie? SAG MIR WIE!“

Der Hüne lachte und besah sich selbst demonstrativ auffällig, nach Verletzungen.

„Du hast recht. Nicht ein Kratzer. Vielleicht solltest du dir nächstes Mal etwas mehr Mühe geben.“

Wieder lachte er herzlich über Kyth und dankte der Vorsehung, dass er ein Meister des Auraschildes war. Schon als der Lichtregen auf ihn niederging, hatte er seinen Schild auf seinen gesamten Körper ausgebreitet und als die gigantische Lichtattacke folgte, musste er nur noch seine spirituelle Energie aufrecht erhalten.

Ein wenig länger und mir wären die Kraftreserven ausgegangen. Noch so einer Attacke werde nicht nicht standhalten können. Am Besten ich bringe es jetzt zu Ende.
 

Mia und Grahl standen ungläubig am Rande des Kampfplatzes, der nun eher einem riesigen Loch im Boden gleichkam und darin stand der unverletzte Leibwächter. Wenn sie die Umgebung betrachteten, konnte es einfach nicht sein, dass ihm nichts fehlte. Die Bäume waren schwer in Mitleidenschaft gezogen, die Hecke zerrupft, kein Stein war auf dem anderen geblieben und sie hatten Glück, dass sie hinter den Baumstämmen Schutz gefunden hatten, obwohl diese auch massiv geschwankt hatten.

„Ich verstehe das nicht“, hauchte Mia, kaum hörbar, aus. „Ist er unverwundbar?“

Grahl, der den Kontrahenten seines Freundes genau musterte, schüttelte schlicht den Kopf.

„Das muss seine Magie sein. Wenn du genau hinschaust, siehst du, dass er leicht schimmert. Er muss sich schützen oder so. Frag mich aber nicht wie“, erklärte er.

Als das Mädchen nun genauer hinsah erkannte sie es auch. Es war, wie ihr Bruder sagte, Lelous Körper schimmerte in einem, kaum wahrnehmbaren, Blau.

Was ist das?

Noch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, bemerkte sie, dass der Hüne sich anspannte und zum Angriff ansetzte.
 

Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein. Ich bin am Ende und er ist noch frisch wie der Morgentau. Was ist nur mit diesem Kerl los? Allmählich glaube ich nicht mehr, dass man ihn besiegen kann. Er ist selbst ein Held. Anders kann es gar nicht sein.

Kyths Verstand arbeitete auf Hochtouren, während er sich abmühte nicht zusammenzubrechen. Er wollte verstehen wie Lelou seinen Angriffen entging. Er wollte hinter sein Geheimnis kommen, doch ihm kam keine logische Erklärung in den Sinn. Wenn er ehrlich war, setzte sich alles, was hier geschah, sich über jegliche Logik hinweg. Zumindest über die in ihrer Welt. Er musste einsehen und lernen, dass die Logik dieser Welt eine ganz andere war und viel größere Dimensionen einnahm. Es gab zu vieles, dass sie nicht kannten oder verstanden. Lelou hingegen war mit all dem aufgewachsen. Für ihn war es die natürlichste Sache der Welt, dass alles so war wie es nun eben war.
 

Plötzlich riss ihn ein greller Aufschrei Mias aus seiner Verzweiflung.

„Achtung Kyth. Er greift an!“

Der Freund ihres Bruders konnte es nicht glauben. Er selbst konnte sich kaum auf den Beinen halten, doch sein Kontrahent stürmte mit dem selben Eifer auf ihn zu, wie zuvor. Zu schwach um noch etwas entgegenzusetzen, wartete er auf den Schlag, der allem ein Ende setzen würde.

„Du kannst gewinnen. Er schützt sich nur“, drang abermals die Stimme der Weißhaarigen an sein Ohr. Er konnte bereits spüren, wie Lelou seine Faust auf ihn niedergehen ließ, als ihn die Erkenntnis traf.

Er schützt sich nur?

Zorn kochte in ihm auf. Er hat sich also geschützt. Und ich habe mich zur vollkommenen Erschöpfung getrieben. Er stand nur da und hat gewartet und jetzt will er mich einfach schnell weg hauen. Nein! Das lasse ich nicht ZU!

Kyths Augen trafen auf Lelous.

Nur noch wenige Millimeter trennten die Faust des Hünen vom Gesicht des Anderen, als sich dessen Augenfarbe erneut änderte. Das Weiß, das sie den gesamten Kampf über gehabt hatten, wichen einem tiefen Schwarz und mit einem mal, erwachte ein gänzlich andere Kraft in Kyth. Sie war bedrückender und düsterer. Im Gegensatz zu ihr war die Andere leicht und schenkte in gewisser weise Hoffnung. Diese neue Kraft hingegen war das komplette Gegenteil und doch, so wusste er, würde er nur mit ihr siegen können.
 

Lelou erschauderte innerlich, als er diese leeren und bedrohlichen Augen sah. Das erste mal in diesem Kampf fühlte er sich, als müsste er sich fürchten, doch dazu war es zu spät. Er würde Kyth niederschlagen, dieser würde keine Kraft mehr aufbringen können und der Kampf wäre vorbei. Doch die Faust des Leibwächters, traf ihr Ziel nicht. Sie verharrte vor dem Gesicht des Anderen. Etwas hielt sie fest. Nein nicht nur seine Hand, sondern seinen gesamten Körper. Der Hüne spürte, wie etwa ihn umklammerte. Verwirrte blickte er sich um, als er geschockt feststellte, dass sein eigener Schatten ihn an Ort und Stelle hielt.

„Was?“, bellte er überrascht. „Du beherrscht nicht nur das Licht, sondern auch die Dunkelheit?“

Kyth nickte apathisch.

„Ganz recht und mit der Kraft der Dunkelheit werde ich dich jetzt besiegen. Ich habe die Nase voll von deinen großspurigen Ansprachen und schlechten Witzen. Du wirst verlieren und mich und Smith in Ruhe lassen.“

Der nun Schwarzäugige erhob eine offene Hand über seinen Kopf und schloss diese, woraufhin sämtliche Schatten sich über seiner Faust sammelten und zu einer enormen Säule heranwuchsen. Eine bedrohliche Aura ging in diesem Moment von Kyth und noch mehr von diesem Schattengebilde aus.

Lelou wollte entkommen, doch sein eigener Schatten war zurückgeblieben und verweigerte ihm die Kontrolle über seinen Körper.

Verdammt. Das ist nicht gut
 

Kyth hielt dem Leibwächter die geschlossene Faust entgegen und drehte sie so, dass sie einen Daumen nach unten signalisierte.

Mit dieser Geste, stürzte die Säule allmählich, wie ein Wasserfall, über Lelou ein und drohte ihn zu erdrücken.

Da er jedoch seinen Auraschild, nach wie vor, aufrecht erhalten hatte, blieb er vorerst vor Schaden bewahrt. Vorerst, denn diese Attacke griff nicht nur seinen Körper an, sondern schadete auch seinem Gemüt. Bleierne Schwere drückte auf sein Wesen ein und versuchte seine Selbstbeherrschung zu unterjochen. Angst, Zweifel, Schmerz füllten seinen Verstand und brachten ihn um den Verstand und dann war da noch die Attacke an sich. Sein Schild wurde schwächer. Er wurde schwächer.

Ich muss mich befreien

Sprach er in seinem Inneren zu sich, um sich Mut zuzusprechen und zu entkommen.
 

Der Schwarzäugige stand ungerührt da, während sein Gegenüber verschlungen wurde. Es kümmerte ihn nicht. Er fühlte sich leer, so als würde er neben sich stehen. Er war außerstande etwas zu tun. Zorn und Verzweiflung hatten sich mit seiner Dunkelheitsmagie verbunden und befielen ihn und seinen Gegner. Der Fluch des Spruchs würde erst abflauen, wenn Lelou besiegt war. Besiegt bedeutete in diesem Fall tot.

Unentwegt stürzte die Dunkelheit auf Lelou hernieder. Er war nicht mehr auszumachen und niemand konnte sagen, ob er noch immer standhielt.

Mia schrie wie verrückt. Auch Grahl versuchte irgendwie zu seinem Kumpel durchzudringen, doch Worte erreichten ihn im Moment scheinbar nicht.

Die beiden Zuschauer fühlten die Bedrohung, die von der Attacke ausgingen und beide waren sich bewusst, dass Kyth die Kontrolle verloren hatte. Wie Mia damals und es gab niemanden, der ihn nun stoppen könnte.

„Wir müssen etwas tun!“, schluchzte das Mädchen voll Kummer und Sorge. „Er wird ihn töten. Man kann es spüren.“

„Wir können ihn aber nicht aufhalten. Wir wissen doch gar nicht wie wir unsere Kräfte freisetzen können. Außerdem würden wir vielleicht alles viel schlimmer machen“, setzte Grahl, ausnahmsweise einmal besorgt, dagegen. Er hielt Mia fest an sich gedrückt, damit sie nicht wieder Hals über Kopf in Gefahr geriet.

„Lass mich los. Wir müssen~“

„Kyth stopp!“, erklang plötzlich die warme und durchdringende Stimme Smiths an die Ohren seiner Kameraden. „Du musst aufhören. Du wirst ihn umbringen!“
 

Smith hatte sich von der energetischen Ausstrahlung Kyths führen lassen, die sich akut verfinstert hatte. Als er den Kampfplatz erreichte, traute er seinen Augen nicht. Mia und Grahl waren gezwungen mitanzusehen, wie Kyth Lelou umzubringen schien. Noch, das konnte Smith spüren, erhielt dieser seinen Zauber aufrecht, der den Leibwächter irgendwie schützte. Aber er geriet an seine Grenzen und es war an dem Goldäugigen, zu verhindern, dass sein Geliebter etwas tat, dass er bereuen würde.

„Hör auf!“, drang er wieder auf seinen Freund ein, was zur Folge hatte, dass die Attacke tatsächlich ein wenig abschwächte. Ein wenig, aber nicht genug.

„Du kannst ihn doch nicht töten wollen“, fuhr Smith milde fort. „Das ist bestimmt nicht was du willst.“

„Nein. Aber ich kann es nicht aufhalten. Es hält mich fest.“, erklärte der Andere.

„Versuch es. Du musst es einfach schaffen. Oder willst du, dass man dich für einen Mörder hält? Du kannst es beenden. Ich weiß es. Tu es für uns.“

Die liebevollen Worte durchdrangen den Wall der Finsternis, der Kyths Herz fest im Griff hielt und plötzlich keuchte er ermüdet auf. Er kämpfte gegen diese negativen Gefühle an. Füllte sein Herz wieder mit positiven Emotionen und verdrängte das Dunkel. Seine schwarzen Augen fanden zu ihrem gewöhnlichen Violett zurück und der Strom des Angriffs schwächte merklich ab.
 

„Gut gemacht“, meldete sich ein kühle Stimme hinter Smith zu Wort. „Überlasse den Rest jetzt einfach mir. Er wird die Attacke nicht alleine stoppen können. Ich werde ihm helfen.“

Es war Ryu. Er musste ebenfalls bemerkt haben, dass etwas vor sich ging und war zu ihnen geeilt. Schnellen Fußes rannte er auf Kyth zu und presste ihm eine Hand in den Rücken.

Es dauerte nur einen Wimpernschlag und der Zauber war gebannt. Erschöpft fiel Kyth zu Boden, während Ryu sich auf den Weg zu Lelou machte. Dieser war ebenfalls niedergerungen worden, jedoch unverletzt.

Der Arkane Berater kniete sich neben den Leibwächter und erkundigte sich:

„Wie geht es dir?“

Dieser grinste ihn breit an und antwortete mit gespielter Lässigkeit:

„Ausgezeichnet. Mir geht es prima und ich habe keinen Kratzer abbekommen.“

„Du Idiot“, seufzte sein Gesprächspartner genervt und half dem anderen auf.
 

Smith, der wie Mia und Grahl zu Kyth geeilt war, spürte deutlich, dass Lelou nicht viel länger durchgehalten hätte und er war froh, dass er und Ryu noch rechtzeitig eingetroffen waren, um das Schlimmste zu verhindern.
 

„Macht euch keine Sorgen. Er ist nur völlig entkräftet, aber ihm fehlt nichts weiter. Ich habe seine Spiritakreisläufe blockiert, wodurch ich seinen Zauber brechen konnte. Dies wäre mir jedoch nicht möglich gewesen, wenn du ihn nicht vorher beruhigt hättest. Danke dir, Smith.“, erklärte Ryu, der nun neben sie getreten war und sie tröstend ins Auge fasste. „Lelou, du solltest dich entschuldigen. Ich weiß zwar nicht, wie du ihn derart zur Weißglut gebracht hast, aber es ist definitiv deine Schuld.“

Empört gestikulierte der Hüne vor dem Berater herum und versuchte sich zu verteidigen. Da seine Ausreden jedoch nicht fruchteten, entschuldigte er sich kurz angebunden bei den Anwesenden und sprach seinen Dank gegenüber Smith aus, bevor er sichtlich erschöpft in das Herrenhaus zurückkehrte.

Über seine Schulter meinte er noch lachend aber etwas schwankend: „Ich freue mich jedenfalls darauf, mich weiter mit deiner Gegenwart begnügen zu dürfen, Goldi.“
 

Die Augen des Arkanen Beraters funkelten argwöhnisch auf.

„Das er es nie gut sein lassen kann. Kommt, ich führe euch in eure Gemächer. Morgen solltet ihr alle ausgeruht sein, denn es wurde ein Beschluss, euch betreffend, gefasst.“

Ryu führte Smith und Grahl, die Kyth zwischen sich genommen hatten, sowie Mia, in ihre Gemächer. Auf ihrem Weg schwiegen sie andächtig und kamen nicht umhin, sich zu fragen, was aus ihnen wurde und ob die heutigen Ereignisse irgendwelche Auswirkungen auf die Entscheidung hatten.

Getrennte Wege

Nach einem reichhaltigen Abendmahl, dass Smith, Mia und Grahl mit Ryu, Lelou und Kogar genossen hatten, zogen sich die Drei in ihre Gemächer zurück.

Mia und Grahl teilten sich ein Zimmer, sowie Smith und Kyth. Der Violettäugige schlief noch immer. Der Kampf hatte ihn seine gesamte Kraft geraubt. Besorgt setzte sich sein Partner zu ihm ans Bett und hielt seine Hand.

Wenn du wüsstest, wie Kogar Lelou gerügt hat, würdest du dich jetzt noch vor Lachen krümmen., dachte Smith, während er vorsichtig eine Strähne, des rabenschwarzen Haars, seines Partners von dessen Stirn strich.
 

Verantwortungslos hatte der Berater des Prinzen den Leibwächter genannt und ihm zu erklären versucht, was hätte geschehen können, wenn die Kraft des Helden außer Kontrolle geraten wäre.

Der Hüne jedoch hatte all die Argumente abgewunken und gemeint, er wollte nur testen, ob sie denn wirklich Helden seien und dass alles doch gar nicht so schlimm gewesen war. Scheinbar hatte er das vollkommen zerstörte Trainingsgelände, die Erschütterung, die das gesamte Herrenhaus ins wanken gebracht hatte und sein fast vorzeitiges Ableben wieder einfach ausgeblendet. Kogar hatte schließlich resigniert und sich den Gästen zugewandt. Nachdem er ihnen versichert hatte, dass dieser Zwischenfall sich nicht negativ auf ihre Beziehung auswirken würde, fragte er sie, ob sie noch wüssten, welche Waffen sie beherrscht hatten. Da sie darauf keine Antwort hatten, mutmaße er, dass sie auch dies nicht mehr wussten und so wollte er erfahren, mit welchen Waffen sie denn ausgestattet werden wollten.

Smith entschied sich, ohne lange nachdenken zu müssen, für den Bogen, Grahl, nach einiger Überlegung, für einen Kriegshammer. Groß und schwer sollte er sein. Einzig Mia weigerte sich, eine Waffe auszuwählen. Sie argumentierte, dass sie niemanden schaden wollte. Selbst nachdem Ryu, Lelou und Kogar ihr erklärt hatten, dass diese Welt viel zu gefährlich sei, um ohne eine Waffe durch sich zu reisen, blieb sie bei ihrer Antwort. Sie würde kein Werkzeug des Todes akzeptieren.
 

Dickköpfig wie eh und je., seufzte Smith, als er an seine starrköpfige Schwester dachte. Nach wie vor, vermied sie es, sich mit ihm zu unterhalten oder allein in seiner Gegenwart zu bleiben. Sie war wie ein Schatten Grahls geworden. Es war hart für den Goldäugigen und doch, so glaubte er, würde er sie einfach gewähren lassen müssen. Denn nur dann, könnte sie ihm vielleicht, eines Tages, verzeihen. Schließlich waren sie Geschwister und für Mia war die Familie der größte Schatz auf Erden.
 

Schläfrig erhob sich Smith von der Ruhestätte seines Geliebten und entkleidete sich. Er war erschöpft und wollte einfach schlafen. Langsam schlenderte er auf sein Bett zu und ließ sich in die weichen Federn fallen. Nachdem sich ihre Gastgeber entschieden hatten, ihnen zu vertrauen, waren ihnen wunderschöne Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt worden. Der Boden war mit weißem Marmor belegt und große Fenster gewährten Ausblick auf die Stadt und das Umland. Zwei große Himmelbetten, sowie ein Tisch und Stühle befanden sich in jedem Raum. Ein Kamin gehörte ebenfalls zur Ausstattung und beleuchtet war die Stube, wieder einmal, mit einem kristallenen Kronleuchter.
 

Es dauerte nicht lange, da versank der junge Mann in einen tiefen und traumlosen Schlaf. Viel zu früh jedoch wurde dieser, seiner Meinung unterbrochen, als eine Frauenstimme ihn aus diesem zurückholte.

Verschlafen rieb er sich die Augen und stellte mit einem angestrengten Blick nach draußen fest, dass die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Seiner Meinung nach, musste es etwa zehn Uhr am Morgen sein.

„Guten Morgen die Herren“, begrüßte die Frau die beiden Männer. Sie wirkte nicht wie eine Dienstmagd. Im Gegenteil. Ihre Kluft erinnerte an die einer Kriegerin. Sie trug schwarze Lederstiefel, die ihr bis zu den Oberschenkeln reichten, eine sehr knappe schwarze Lederrüstung, die ihrer weiblichen Figur sehr schmeichelte, sie betonte und sogar Blick auf ihre Unterwäsche zuließ, sowie weiße Handschuhe. Zu ihrer Linken und Rechten hing jeweils ein schmales Katana. Ihr dunkelgraues, hüftlanges Haar, hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Strenge braune Augen blickten, aus dem schmalen Gesicht der Frau, auf die beiden Faulpelze.

„Ich bin Kira, Vizekommandantin der Leibwache des Prinzen. Ich soll euch zum Audienzsaal geleiten.“ Ihre Stimme war melodisch und doch gebot sie eine gewisse Strenge, die niemanden daran zweifeln ließ, dass sie durchaus ernst zu nehmend war.

„Ich gebe euch fünf Minuten, um euch fertig zu machen. Wenn ihr danach nicht bereit seid, werde ich euch, von mir aus, auch nackt dorthin schleifen. Also sputet euch.“

Mit diesen Worten machte sie kehrt und verließ den Raum.
 

Seufzend setzte sich Kyth auf. Er hielt sich den Kopf und wirkte noch immer ein wenig matt. Erschrocken sprang Smith aus seinem Bett und eilte auf seinen Partner zu.

„Geht es dir gut? Du solltest dich nicht überanstrengen.“, erklärte der Goldäugige ruhig, während er seinem Geliebten die Hände auf die Schultern legte. „Ich werde dich entschuldigen. Du kannst unmöglich jetzt schon wieder aufstehen.“

Dankbar sah Kyth Smith in die Augen, legte eine Hand auf die Seine und entgegnete: „Mach dir nicht so viele Sorgen. Mir geht es gut. Außerdem bezweifle ich, dass diese Frau mir erlauben würde hier zu bleiben. Sie wirkt recht resolut. Deshalb sollten wir uns beeilen. Nicht, dass sie uns wirklich nackt durch das Herrenhaus schleift.“

Beide schmunzelten und begannen sich einzukleiden.

Smith war schnell fertig, doch Kyth, der wirklich noch sehr ausgelaugt war, kam nicht so recht voran. Kurzerhand ging der Goldäugige seinem Freund deshalb zur Hand und half ihm sich anzuziehen, auch wenn dieser protestierte und sich gegen die Hilfestellung zur Wehr zu setzen versuchte. Seine Kraftlosigkeit, sowie die Beharrlichkeit des Anderen, ließen seine Versuche jedoch nicht fruchten.

Gerade als Kira wieder in den Raum trat, waren sie fertig. Die Frau deutete mit einer Kopfbewegung Richtung Flur, was den beiden gehieß, sich in Bewegung zu setzen.
 

Smith stützte Kyth auf ihrem Weg zum Audienzsaal, da dieser sehr langsam vorankam und deutlich schwankte. Es ärgerte das Goldauge, dass ihre Führerin sich nicht darum zu scheren schien. Sie schritt mit gehobenem Tempo voran und gebot den beiden sich zu beeilen, da sie ihnen sonst Feuer unterm Hintern machen würde, wie sie immer wieder betonte.

So eine arrogante …., dachte Smith Zähne knirschend. Lelou mochte vielleicht ein gedankenloser, großmäuliger Typ sein, doch im Gegensatz zu dieser Eisprinzessin, war er ihm tausend Mal lieber. Er war nämlich offenherzig und freundlich und nicht selbstbezogen und ignorant.

„Hey. Ärgere dich nicht. Sie macht doch bloß ihren Job.“, beschwichtigte Kyth seinen Partner. Wie immer, hatte er sofort erkannt, was in Smith vorging.

„Ja schon. Aber sie sieht doch, dass es dir nicht gut geht.“, setzte der Andere dagegen. „Da könnte sie doch wenigstens ein wenig Rücksicht nehmen.“

„Hm. Es ist ja meine Schuld, dass ich so am Ende bin. Ich hätte mich nicht von Lelou provozieren lassen sollen.“

Bekümmert stierte Kyth nach vorn. Es war ihm deutlich anzumerken, dass ihm der gestrige Kampf Sorge bereitete. Nicht nur, dass er die Kontrolle über seine Kräfte verloren hatte, nein er hätte beinahe einem Unschuldigen das Leben genommen. Auch wenn er, seiner Meinung nach, zum Schutze seines Geliebten gekämpft hatte und der Herausforderer ihn zur Weißglut getrieben hatte, hätte dies nicht passieren dürfen.

„Hey. Mach dir nicht zu viele Gedanken. Es ist ja noch einmal alles gut gegangen. Jetzt solltest du dich erst einmal auf deine Genesung konzentrieren. Alles andere regelt sich von ganz allein.“, tröstete nun Smith seinen Partner.

Dieser nickte schlicht und dachte für sich.

Ich liebe dich Smith
 

Als sie schließlich den Audienzsaal erreicht hatten, den Kyth und Smith, vom gestrigen Tag noch gut kannten, erwarteten sie bereits Kogar, Ryu, Lelou, Mia und Grahl. Sie hatten alle Platz um die runde Tafel genommen. Mit einer Handbewegung gebot Kogar, den Ankömmlingen, sich zu setzen. Kyth, Smith und auch Kira nahmen platz.

„Guten Morgen.“, begann der Berater des Prinzen und nickte jedem Einzelnen zu. „Ich möchte mich nun auch euch offiziell vorstellen. Ich bin Kogar, Berater des Prinzen von Xändyr.“

Diese Erläuterung galt Mia und Grahl, die an der Unterredung nicht teilgenommen und ihn somit noch nicht getroffen hatten.

„Es freut mich, euch alle wohlbehalten zu sehen. Trotz des gestrigen Zwischenfalls.“ Sein strenger Blick drohte Lelou förmlich zu durchbohren, woraufhin dieser nur schnaubend die Hände in die Luft warf und anschließend seinen Kopf auf die Hände stützte.

„Wie ihr ja wisst, wurde ein Beschluss gefasst, der euch betrifft. Nach unserer Beratung mit Prinz Rapier - verzeiht seine erneute Abwesenheit, aber er hat wichtige Angelegenheiten zu regeln – kamen wir zu dem Schluss, dass es wichtig für euch sei, im Umgang mit euren Kräften und auch mit Waffen ausgebildet zu werden. Das gestrige Ereignis ist Beweis genug, dass ihr ohne richtige Unterweisung eine Gefahr für euch und andere darstellt. Deshalb möchten wir euch anbieten, euch zu unterrichten.“

Stille trat ein. Die vier Neuankömmlinge hatten nicht damit gerechnet, dass sie ein solches Angebot unterbreitet bekommen würden. Sie hatten vermutet, dass man ihnen erlaubte zu gehen. Schließlich verband sie nichts mit dem Reich.

Diese Entwicklung war wie ein zweischneidiges Schwert. Zwar stimmte es, dass es besser wäre, wenn sie sich unterrichten ließen, doch im Gegenzug mussten sie ihre Freiheit, in gewisser weise, für unbestimmte Zeit aufgeben.

Kogar, der das Zögern der Helden sofort bemerkte fuhr beharrlich fort: „Es liegt bei euch. Solltet ihr jedoch ablehnen, müssen wir euch bitten, Xändyr zu verlassen und nicht wieder zu kommen. Auch solltet ihr wissen, wenn durch euch Schaden in unserem Land geschieht, werden wir nicht zurückschrecken euch zur Rechenschaft zu ziehen. Ich weiß, es ist eine schwere Entscheidung. Sicher möchtet ihr mehr über euch und eure Herkunft erfahren, doch bedenkt die Risiken, die ihr bergt. Niemand weiß, wann ihr wieder die Kontrolle verliert oder ob ihr jemals im Stande sein werdet, eure Kräfte wieder richtig zu nutzen. Und beim nächsten Mal ist vielleicht niemand zur Stelle, der euch zur Hilfe eilt. Wir möchten euch nicht bedrängen. Denkt in Ruhe darüber nach.“
 

Wieder kehrte die bedrückende und unangenehme Ruhe ein. Die Seite der königlichen Untergebenen, harrte geduldig eine Antwort aus und doch konnte ein jeder der Vier spüren, dass ihre Entscheidung schwer wiegen würde. Sollten sie ablehnen, hatten sie die Ungunst Xändyrs auf sich geladen und wären nicht länger willkommen. Es war nur zu verständlich, denn es stimmte. Sie waren unberechenbare Gefahrenfaktoren, die nicht frei herumlaufen sollten. Und doch, konnten ihre Gönner nicht verlangen, dass die Helden so einfach in den Dienst des Prinzen treten würden.

In eine verzwickte Lage sind wir da geraten. Wenn wir ablehnen, laufen wir Gefahr, dass sich Ereignisse wie gestern und damals mit Mia jederzeit wieder ereignen und wenn wir zustimmen, werden wir möglicherweise zu Dingen überredet, die wir gar nicht wollen. Smith wog das für und wider ab, kam aber nicht zu einem eindeutigen Schluss. Auch seine Gefährten schienen sich der unangenehmen Lage bewusst, denn jeder war angespannt und in Gedanken verloren.
 

Die Minuten zogen sich wie Stunden dahin und noch immer war niemand auf das Angebot eingegangen. Kogar befürchtete bereits, dass die Helden ablehnen und gehen würden, als sich die Jüngste der Vier zu Wort meldete:

„Ich glaube, es ist besser, wenn wir das Angebot annehmen. Ich weiß wie schrecklich es ist, wenn man die Kontrolle verliert und ich will niemanden mit meinen Kräften verletzen. Ich könnte mir niemals verzeihen, wenn es doch geschieht. Findet ihr nicht auch, dass wir nicht noch mit unserem Aufbruch warten können, bis wir keine Gefahr mehr sind?“

Verunsichert huschten ihre rubinroten Augen zwischen Grahl, Kyth und sogar Smith hin und her.

„Sie hat recht.“, stimmte auch der Violettäugige zu, der nachdenklich seine Arme vor der Brust verschränkt hatte und müde auf die Tischplatte blickte. „Ich hätte mir es auch nie verziehen, hätte ich Lelou das Leben genommen. Es ist, denke ich, das Beste, dieses Angebot anzunehmen. Wir wissen schließlich nicht, was uns da draußen erwartet. Wir können lernen unsere Mächte zu kontrollieren, uns zu verteidigen und versuchen uns hier zurecht zu finden.“

Smith schaute abwechselnd zu Mia und Kyth. Die Entschlossenheit und ihre Schuldgefühle, machten ihm deutlich, dass es wohl die einzig richtige Entscheidung wäre, anzunehmen.

Tröstend griff er nach dem Knie seines Partners und streichelte darüber.

Auch Grahl sprach sich nicht gegen das Angebot aus, weshalb abermals Kogar das Wort ergriff:
 

„Ich bin froh, dass ihr euch so entschieden habt. Ihr werdet sehen, es ist zu eurem eigenen Besten. Wie ihr euch sicher erinnert, habe ich euch gestern nach euren bevorzugten Waffen gefragt und anhand der Angaben die idealen Ausbilder für euch ausgewählt.“

Ehe der Berater fortfuhr wandte er sich Kyth zu. „Da du gestern Abend nicht fähig warst am Gespräch teilzunehmen, möchte ich dich fragen, an welcher Waffe du trainiert werden möchtest.“

Kyth blickte kurz auf und schielte direkt auf eines der Schwerter Kiras, da sie direkt neben ihm saß. Missbilligend legte sie sogleich eine ihrer Hände schützend auf ihr Katana und erdolchte den jungen Mann mit einem messerscharfen Blick. Dieser wich sogleich erschrocken einige Zentimeter vor ihr zurück.

„Am Schwert. Ich möchte am Schwert ausgebildet werden.“, stammelte er daraufhin verlegen. Der Berater schmunzelte zufrieden und sprach ruhig weiter:

„Das trifft sich gut. Dann wirst du von meiner Schwester, die ihr bereits als Vizekommandantin der Leibwache kennt, im Schwertkampf trainiert und Ryu lehrt dir den rechten Umgang mit der Magie. Du wirst im Herrenhaus stationiert sein.“

Geschockt, über die Tatsache, dass Kira Kogars Schwester war, starrten Smith und Kyth sie an. Es war kaum zu glauben, dass die beiden Verwandt sein sollten. Kira war streng und wirkte eiskalt, während Kogar diplomatisch, freundlich und besonnen erschien. Einzig ihr diszipliniertes und Ehrfurcht gebietendes Auftreten verband die beiden.

„Grahl. Du wolltest den Kampf mit dem Kriegshammer erlernen und auf Grund deiner Magieform, haben wir entschieden, dass Lelou der ideale Lehrer für dich wäre. Er kann dir Techniken beibringen, die von äußerster Nützlichkeit sein dürften. Ihr werdet an die östlichen Grenze des Reiches trainieren und die Hafenstadt Meeria sichern.“

Grahl reagierte nicht weiter und nickte gelangweilt, doch seine Augen ruhten auf seiner Schwester, die ihn nervös anschaute und unbehaglich auf dem Stuhl hin und her rutschte. Es war ihr anzumerken, dass sie nicht von ihm getrennt werden wollte. Beschwichtigend legte der Rothaarige seinen Arm um sie und schenkte ihr ein aufheiterndes Augenzwinkern. Lelou hingegen seufzte trotzig. Ganz offensichtlich hätte er einen anderen Lehrling bevorzugt, was er unverhohlen zeigte, indem er Smith intensiv ins Auge fasste.

Sofort spürte dieser, wie sich sein Partner anspannte und wie sich in diesem erneut eine bedrohliche Energie ausbreitete. Beruhigend streichelte er dessen Oberschenkel und versuchte ihn zu beruhigen. Auch Kogar wollte die Lage zu entschärfen, klatschte in die Hände und dröhnte: „ Azur! Komm herein und bring ihn mit!“
 

Die Tür wurde geöffnet und ein weißhaariger, schlanker Mann mit eisblauen Augen trat ein. Er trug einen weißen Kimono mit türkisfarbenen Ornamenten. Sein Haar hing ihm fransig ins Gesicht und seine Haut war selbst sehr hell. Ihm folgte ein fast gleichaltriger Mann mit braunem Haar, das sein rechtes Auge verdeckte. Er blickte durch leere dunkelbraune Irden. Gekleidet war er in eine weite ebenfalls braune Kutte mit Kapuze, die er über seinen Kopf gezogen hatte und unter seinem linken Auge prangerte eine fremdartige Tätowierung. Beide verneigten sich vor den Anwesenden und bezogen Stellung zur Linken und Rechten der Tür.

Abermals fühlte Smith diese eigenartige Energie, die er bereits bei den Bibliothekaren wahrgenommen hatte. Diesmal ging sie von dem in der Kutte aus. Es war seltsam, obwohl er, wie alle anderen Anwesenden, menschlich war, ging von ihm keine solche Ausstrahlung aus. Auch jetzt wirkte er mehr wie eine Statue, als ein Mensch. Er stierte stur gerade aus und betrachtete weder die Unterhaltung, noch beobachtete er einzelne Teilnehmer. Es war, als würde ihn das alles nicht betreffen.

Seltsam. Was ist das nur?, grübelte Smith angestrengt nach.

Anders verhielt sich der Andere. Ein leichtes Lächeln hatte sich auf seine Lippen gelegt, als er Kira erspäht hatte und seine Ausstrahlung hatte sich ein wenig verändert. Er war froh und Smith meinte eine starke Bindung zu ihr wahrzunehmen, die sie ebenfalls erwiderte.

Ob sie ein Liebespaar sind?

Mittlerweile gefiel Smith seine Gabe, die Energien in seiner Umgebung wahrnehmen zu können, denn er konnte anhand dieser Kraft sogar spüren, wenn jemand missgelaunt oder fröhlich war. Zwar konnte er diese Macht nicht nach belieben einsetzen, weshalb oftmals zu viele Eindrücke auf ihn einflossen, da er nicht nur die Ausstrahlung der Menschen um sich wahrnahm, sondern auch die aller Lebewesen um ihn herum. Was dazu führte, dass er schnell Kopfschmerzen bekam und sich nicht richtig konzentrieren konnte. Auch jetzt begann sich ein leichtes hämmern in seinem Kopf bemerkbar zu machen, dass sich aber noch in Grenzen hielt. Hoffentlich kann man mir beibringen meine Kraft gezielt einzusetzen., seufzte er innerlich und rieb sich seine Schläfe.
 

Kogar deutete auf den Weißhaarigen.

„Das hier ist Azur. Er ist ein Bestienritter und in der heilenden Kunst bewandert, weshalb entschieden wurde, dass er dir, Mia, als Ausbilder unterstellt wird. Ihr werdet nach Südwesten reisen und in der Grenzstadt Woods untergebracht. Dort werden fähige Heiler gebraucht, da es vermehrt zu Geplänkeln zwischen unserem Reich und Idal, dem Nachbarreich gekommen ist.“

Das Mädchen zuckte zusammen und verkrallte sich in das Hemd ihres Bruders. Sie musste nicht aussprechen, was sie bedrückte, denn es stand ihr ins Gesicht geschrieben, weshalb Grahl ruhig protestierte: „Wir haben zugestimmt, dass ihr uns ausbildet. Aber ich lass mich nicht von meiner Schwester trennen. Entweder ich gehe dahin, wo sie hinkommt oder andersrum. Ich lass nicht zu, dass sie in Gefahr gebracht wird.“

Entschlossen traf sein Blick den Kogars, woraufhin sie ein kleines Gefecht im Stillen auszufochten. Der eiserne und standhafte Ausdruck Grahl wich keine Sekunde, weshalb Kogar zufrieden einlenkte: „Nun gut. Wie du wünscht. Du darfst deine Schwester nach Woods begleiten. Ihre Ausbildung wird sie jedoch allein bestehen müssen. Du kannst sie aber dennoch beschützen. Bitte verzeih unsere Entscheidungen, wir dachten es wäre das Beste, wenn ihr, jeder für sich, ausgebildet würdet, damit ihr nicht abgelenkt seid.“

„Schon gut.“, antwortete Grahl, nun wieder völlig unbekümmert.

Sich fassungslos räuspernd und über diesen völlig eigensinnigen Jungen wundernd, versuchte Kogar zu seiner gewohnten Fassung zu finden, als er sich schließlich Smith zuwandte:

„Und dir Smith, teilen wir als Lehrmeister diesen hier zu. Er hat keinen wirklichen Namen. Aber da er der fünfte Humunkulus ist, den ich erschaffen habe, nennen ihn viele Quintus. Es tut mir sehr leid, dass wir dir einen so minderwertigen Ausbilder zuteilen müssen, aber ich versichere dir, es gibt keinen besseren Bogenschützen in unseren Reihen. Zudem ist er einer der wenigen Humunkuli, die in der Kunst der Magie bewandert sind.“

Verachtung quoll aus jedem Wort, dass Kogar sprach und er rümpfte angewidert die Nase über den Angesprochenen. Ganz eindeutig hatte er keine große Meinung von dem Humunkulus. Niemand schien die zu haben, denn alle betrachteten ihn wie einen Tumor in ihren Reihen. Smith fragte sich, warum dies so war, denn schließlich war er eine Schöpfung Kogars. Viel mehr als dies beschäftigte ihn und auch seine Kameraden aber die Tatsache, dass sie einem Wesen gegenüberstanden, dass von einem Menschen geschaffen worden war. Das dieser Jemand kein wirklicher Mensch sein sollte, sondern etwas anderes darstellte.

Dies erklärte die merkwürdige Ausstrahlung und zeigte auf, dass die Vier noch vieles in dieser Welt nicht kannten. Smith beschloss, Quintus, bei Gelegenheit, eingehend auszufragen, um mehr erfahren zu können.

„Euer Ziel werden die Wälder im Westen des Reichs sein, denn dort habt ihr die besten Gegebenheiten für deine Ausbildung. Zudem sind dort nicht so viele Siedlungen, was es dir erleichtert, mit einem Humunkulus zusammen zu sein.

Es sei noch zu erwähnen, dass eurer Ausbildung ein Jahr dauern wird. Außerdem werdet ihr unverzüglich nach einer stärkenden Mahlzeit aufbrechen. Nach diesem Jahr werdet ihr hierher zurückkehren und es steht euch frei, zu tun und zu lassen, was ihr wollt.“
 

Die Kunde, dass ihre Ausbildung ein Jahr lang dauern würde, versetzte Smith einen heftigen Stich. Er würde für lange Zeit von Kyth getrennt sein. So lange wie niemals zu vor. Sie beide waren nun seid drei Jahren ein Paar und nie länger als ein paar Wochen von einander getrennt gewesen. Es zerriss ihm das Herz. Er wollte protestieren und doch brachte er kein Wort über seine Lippen. Zu surreal erschien ihm das eben gehörte. Er konnte sich nicht vorstellen so lange ohne Kyth zu sein. Auch dieser war wie gelähmt und griff entschlossen nach der Hand seines Geliebten. Er drückte sie fest und wollte sie nie mehr loslassen. Es widerstrebte ihn Smith gehen zu lassen. Sie hatten sich geschworen für immer für einander da zu sein, doch jetzt sollten sie getrennt werden. Es war zwar nur eine Trennung auf Zeit, doch ein Jahr war sehr lang.
 

Die Versammlung löste sich auf und die Lehrmeister begannen ihre Vorbereitungen zu treffen. Einzig Kira geleitete die Vier in den Speisesaal, wo sei ein schweigsames, verspätetes Frühstück zu sich nahmen. Es herrschte eine traurige Atmosphäre und die Gefährten konnten sich nicht wirklich ansehen. Zu schmerzlich war die Gewissheit, dass sie von einander getrennt wurden. Dabei waren sie alles, was ihnen noch geblieben war. Und niemand, wirklich niemand wollte, dass sie getrennt wurden. Sie mochten ihre Differenzen haben, doch dies war etwas weitaus Schlimmeres. Was, wenn einem von ihnen etwas zustoßen würde? Wie sollten ihm oder ihr die anderen zur Hilfe eilen können oder davon erfahren? Es war schrecklich und doch, dass wussten alle, musste es sein. Sie mussten einfach lernen mit ihren Kräften umzugehen, zudem würden sie die Ausbildung gebrauchen, da sie wirklich nicht wussten, wie es in Elayaden zuging.
 

Kira, die sichtlich genervt vom Trübsal der anderen war, schlug erbost mit der flachen Hand auf den Tisch und knurrte, was die Vier aufschrecken ließ.

„Nun hört schon auf. Ein Jahr ist keine Ewigkeit. In Windeseile seid ihr wieder vereint und dann seid ihr stärker und erfahrener. Außerdem seid ihr nicht die Einzigen die getrennt werden. Ich muss auch meinen Bruder, den Prinzen und .... meinen Mann, Azur, verlassen. Jetzt esst auf. Ihr müsst schon bald aufbrechen.“

Mit diesen Worten erhob sie sich und ließ die Vier ein wenig in Ruhe.
 

„So ist das also.“, sprach Smith mehr zu sich, als zu den anderen.

„Was?“, wollte Grahl knapp wissen.

„Ich habe sofort gespürt, dass die beiden was verbindet. Ich habe vermutet, dass sie ein Liebespaar sind, aber dass sie sogar verheiratet sind, hätte ich nicht erwartet.“

„Auf jeden Fall hat sie recht.“, mischte sich nun auch Kyth ein. „Es hilft uns nichts Trübsal zu blasen. Wir sind nicht die Ersten und Einzigen, die auf Zeit getrennt werden. Wir müssen einfach das Positive sehen und darauf vertrauen, dass wir uns in einem Jahr wiedersehen und dann gemeinsam auf Reisen gehen. Ihr werdet sehen, wir werden so eingespannt sein, dass uns die Zeit wie ein Wimpernschlag erscheint.“

Keiner sagte etwas darauf, aber alle hofften, dass dies der Wahrheit entsprach.
 

Nach ihrer Mahlzeit, wurden sie einer nach dem anderen von ihren neuen Lehrmeistern abgeholt. Als erstes verließen Mia und Grahl, zusammen mit Lelou und Azur die Gemeinschaft. Mia verabschiedete sich kurz angebunden von den anderen beiden. Sie konnte nicht anders. Auch wenn sie sich Sorgen um Smith machte, konnte sie ihm nicht verzeihen. Deshalb verließ sie schnell den Saal, ehe ihre weiche Seite siegen konnte.

„Pass gut auf sie auf.“, sprach Smith eindringlich zu seinem kleinen Bruder, als er diesen fest in den Arm nahm. „Und natürlich auch auf dich.“

„Ich versprechs. Aber ihr müsst auch auf euch aufpassen. In einem Jahr mag ich euch gesund wiedersehen.“

Die beiden nickten ihm bestätigend zu.

Auch Lelou ließ es sich nicht nehmen und forderte Smith auf: „Goldi komm mir ja in einem Stück zurück. Leider darf ich dich nicht ausbilden. Mir wäre wesentliche besser zumute, wenn ich dich in besserer Gesellschaft wüsste. Mach das Beste draus und in einem Jahr feiern wir zusammen.“

Kyth baute sich bedrohlich zwischen den beiden auf, doch der Hüne wandte sich, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, von ihnen ab und schritt mit Grahl davon.
 

Danach erschien Quintus auf der Bildfläche und forderte den Goldäugigen auf, ihm zu folgen. Dieser sah bedrückt zu Boden. Es tat ihm weh, dass er sich nun wirklich von Kyth verabschieden musste und er wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Ihm war hundeelend zumute. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals und sein Herz drohte aus der Brust zu springen und in tausend Teile zu zerplatzen.

Ich will nicht.

Gegen Tränen ankämpfend, trat er von einem Bein auf das Andere, als schließlich der Violettäugige ihn entschlossen in sein Arme nahm und fest an sich drückte.

„Es wird alles gut. Wir schaffen das. Schließlich sind wir ein Paar wie Yin und Yang. Wir gehören zusammen und nichts kann daran etwas ändern.“, flüsterte er ihm aufmunternd zu. Seine Stimme war brüchig und er selbst wollte sich scheinbar auch mit seinen Worten trösten.

Noch einmal sogen sie den Duft des jeweils anderen in sich auf, spürten ihre Wärme und teilten einen Moment, der nur ihnen gehörte. Als Smith sich schließlich von Kyth löste, streichelte er ihn noch einmal über die Wange und wischt somit eine einzelne Träne davon, ehe er ihn leidenschaftlich küsste.

Danach trafen goldene Augen auf Violette und der Blonde sagte: „Ich liebe dich Kyth. Pass gut auf dich auf.“

Jimara

Es war bereits der dritte Tag seit ihrer Abreise. Und auch dieser war bereits zur Hälfte vorbei. Die Sonne stand hell am Firmament und wurde dort nur von einigen Schleierwolken begleitet.

Mia und ihr Lehrmeister Azur hatten Lelou und Grahl schon am ersten Tag, nach nur wenigen Stunden, hinter sich zurückgelassen. Besorgt hatte das weißhaarige Mädchen ihrem Bruder hinterher gesehen, doch fand sie Trost in den Worten ihres neuen Lehrers:

„In Woods werdet ihr euch wiedersehen.“

Das er zudem behauptet hatte, dass die beiden ihnen im Augenblick nur eine Last wären, darüber dachte sie besser nicht mehr nach. Zum einen weil sie sich nur unnötig über diesen Kommentar ärgerte und zum anderen, weil sie ihnen gewissermaßen wirklich ein Hindernis darstellten.

Denn im Gegensatz zu den anderen beiden, die zu Fuß nach Woods gelangen mussten, hatten sie den Vorteil dorthin getragen zu werden.
 

Azur war ein Bestienritter und Mia erfuhr schnell, was dies bedeutete, als sie aufbrachen. Denn vor den Mauern der Stadt, wartete geduldig die Gefährtin des Ritters. Eine mannshohe Wölfin. Keine gewöhnliche Wölfin, was die Größe bereits verriet. Aber auch ihr Erscheinungsbild war anders. Sie hatte schwarz, grau, weißes Fell, mit goldenen Maserungen darin. Ihre Augen waren golden und zeugten von Intelligenz und Weisheit, die man anderen Tieren nicht zutraute. Ihr gewaltiger buschiger Schweif, sowie hornartige Auswüchse aus ihren Schulterblättern und zwei lange Schnurrhaare unterhalb ihres Unterkiefers, rundeten ihre imposante Gestalt ab.

Azur hatte vermutet, dass Mia dem Tier ängstlich gegenübertreten würde, doch dem war nicht so. Im Gegenteil. Sie hatte ein vergnügtes Quieken von sich gegeben und war, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, auf das Wesen zu gestürmt, um es zu streicheln und zu knuddeln. Nachdem der Bestienritter Mia die Wölfin, Scylar, vorgestellt und erklärt hatte, dass sie eine Eldarwölfin sei, hatte er sich auf ihren Rücken geschwungen und Mia hinter sich auf das Tier gezogen. Anfangs waren sie noch gemütlich neben Lelou und Grahl geritten, doch mit der Zeit wurden Azur sowie Scylar ungeduldig und beschlossen, dass sie voraus reiten würden.

Es war ein unglaubliches Gefühl gewesen, als das elegante Tier sich mit einem enormen Tempo über die Steppe hinwegsetzte. Es kribbelte in Mias Magengegend und der Zugwind ließ ihre Haar wild umher tanzen. Sie hatte ihren Griff um Azur festigen müssen, um nicht abgeworfen zu werden. Ein freudiger Ausruf entrang sich ihrer Kehle, der Azur zufrieden grinsen ließ.
 

Mittlerweile hatte Scylar wieder gemächlicheres Tempo angeschlagen, da sie wusste, dass sie Woods bald erreicht hatten und sie ein wenig müde wurde.

„Es dauert nicht mehr lange, dann haben wir die Stadt erreicht“, erklärte Azur Mia. „Dort werden wir dir erst einmal ein Zimmer im hiesigen Gasthof besorgen. Ich bin sicher, dass es dir gefallen wird. Er wird von einer ganz herzlichen und freundlichen Frau geführt. Anschließend werde ich dir die Stadt zeigen. Das Training wird dann morgen beginnen.“

Ein mulmiges Gefühl machte sich in Mias Magengegend breit.

Wie das Training wohl aussehen würde. Ob sie sich zurechtfinden würde und wann Grahl wohl eintreffen würde, waren nur ein Bruchteil der Fragen, die in ihr herumspukten. Seit ihres Aufbruchs war sie sehr still und in sich gekehrt gewesen und antwortete nur kurz angebunden auf Fragen, die Azur ihr stellte. Er konnte es ihr nicht verübeln, schließlich war sie noch sehr jung und nun von den einzigen Menschen getrennt, die sie kannte. Dennoch hoffte er, dass sie während der Ausbildung auftauen würde, denn es war sicherlich nicht gesund, wenn sie ein Jahr in Schweigen und Einsamkeit verbrachte.

Auch wenn man gestattet hatte, dass Grahl in ihrer Nähe bleiben durfte, so würde ihr Kontakt auf ein Mindestmaß begrenzt sein. Ihre Ausbildung hatte äußerste Priorität und Ablenkung war nicht förderlich. Es war kaum vorstellbar, dass diese Vier Helden waren. Sie konnten nicht einmal ihre Kräfte kontrollieren und wirkten wie Fremde. Ein mächtiger Zauber musste sie getroffen haben, der sie zu dem gemacht hatte, was sie nun waren. Und doch hatten Prinz Rapier und seine Berater Hoffnung, dass eben sie der Schlüssel gegen die Pläne des Siebten Himmels waren. Es war nun an den Lehrmeistern sie zu schulen und dafür zu sorgen, dass sie in die Dienste Xändyrs traten. Hierfür mussten sie mit Feingefühl und Schläue vorgehen, denn Helden konnten tun und lassen, was sie wollten und doch war bekannt, dass sie die Geschicke dieser Welt entscheidend mitlenkten. Es war ein Ärgernis, dass sich fast alle Helden Elayadens der Sache des Siebten Himmels verschrieben hatten. Um so wichtiger war die Rolle dieser Vier, da sie allem Unbefangen gegenüberstanden und noch davon überzeugt werden konnten, dass es wichtig war, dem gefürchteten Kult Einhalt zu gebieten.
 

Die Tore der Stadt kamen in Sichtweite und Azur deutete auf sie.

„Dort ist Woods, meine Heimatstadt. Sie ist die Grenzstadt zwischen Xändyr und Idal. Wir, die Bestienritter, sichern dieses Gebiet. Denn auch wenn Frieden zwischen uns und Idal herrscht, kommt es immer wieder zu kleinen Schlachten, da Idal stetig versucht sein Reich zu vergrößern und der Meinung ist, dass Woods und dessen Umland eigentlich zum idalischen Reich gehört.“

Das Mädchen krallte sich fester in den Kimono Azurs, als sie daran erinnert wurde, dass es zu Kämpfen kommen konnte.

Hoffentlich ist Grahl bald da. Ich habe Angst, dachte sie angespannt, während sie das Tor erreichten. Für einen Moment wünschte sie sich sogar, dass Smith hier sein sollte. Diesen Anflug von Verzweiflung abschüttelnd konzentrierte sie sich auf ihre Umgebung. Sie wollte nicht an ihn denken. Denn noch immer tat es ihr leid, dass sie einfach gegangen war, ohne sich wirklich von ihm zu verabschieden. Der Ärger über ihre Situation war allmählich abgeflaut und sie hatte begonnen, wenn auch widerwillig und unter größten Anstrengungen, sich damit abzufinden. Ihrem Dickkopf war es geschuldet, dass sie jedoch immer noch nicht im Stande gewesen war, sich mit Smith auszusprechen und nun würde sie ihn ein Jahr nicht sehen.

Vielleicht danach ..., sprach eine kleine leise Stimme tief in ihrem Inneren, die wohl ihr Gewissen sein sollte.
 

Als sie das Tor passierten, salutierten die Wachen, die dort postiert waren, andächtig dem Bestienritter und seiner Begleiterin zu. Dieser nickte ihnen nur freundlich entgegen und sie gelangten in das beschauliche Städtchen. Es lag am Rande eines dichten Waldes, der zu einem hohen Gebirge anschwoll. In dieses war ein Tunnel geschlagen worden, der den direkten Weg zwischen Idal und Xändyr darstellte. Es war durchaus möglich über den Berg in das andere Reich zu wandern oder ein zu maschieren, doch war dieser Weg gefährlich, da es viele Steilhänge und felsiges Terrain zu bewältigen gab. Zudem herrschte dort oben unkontrollierbares Wetter und es konnte von einer Sekunde auf die Nächste ein gewaltiges und unheimliches Gewitter losbrechen. Nicht umsonst wurde das Gebirge als 'Launische Braut' bei den Bewohnern Woods bezeichnet.

Die Stadt selbst war sehr lebhaft. Um einen schönen, großen Stadtplatz, in dessen Zentrum ein Brunnen stand, reihten sich gemütliche Holzhäuschen mit Strohbedachung. Auf dem Platz selbst waren viele Stände aufgestellt, an denen Händler ihre Waren anboten. Neben dem Zugang zum Tunnel war eine weitere Höhle in den Fels geschlagen worden, die die Quartiere und Stallungen der Bestienritter ausmachte. Direkt neben dieser Höhle fand sich eine kleine Kapelle, die nicht aus Holz, sondern aus Stein gearbeitet war. Sie war schlicht und doch gebot sie Ehrfurcht und Lobpreisung für die Götter Elayadens. Zwei gewaltige Statuen befanden sich zur Linken und Rechten der Kapelle und im Glockenturm läutete soeben ein melodisches, doch schallendes Gebimmel, dass das Ende einer Predigt andeutete.
 

Scylar schritt bedächtig über den Stadtplatz. Ein paar Kinder waren kichernd um sie herum geeilt und beobachteten neugierig die Begleiterin Azurs.

„Herr Bestienritter, wer ist denn das Mädchen?“, fragte eines der Kinder und versteckte sich daraufhin kichernd hinter einem Größeren.

Der Weißhaarige fasste sie lächelnd ins Auge und entgegnete: „Das ist meine Schülerin. Sie heißt Mia und wurde mir von Prinzen höchst selbst überantwortet.“

Die Kinder blieben ehrfürchtig staunend stehen, was Scylar daran hinderte ihren Weg fortzusetzen.

„Vom Prinzen selbst?“, wiederholte ein anderes, etwas dickliches Kind und kratzte sich fragend am Kinn. „Ist sie seine Tochter oder was?“

Azur lachte auf: „Nein. Das ist sie nicht. Aber sie ist eine Heldin, wenn man den Worten des Arkanen Beraters, Ryu, glauben schenken darf.“

„Eine Heldin!“, platzte es nun aus einen Mädchen, das seine Puppe fest im Arm hielt. Ihre helle Stimme trug die Kunde über den gesamten Platz und nun sammelten sich nicht nur Kinder um den Eldarwolf und seine Reiter, sondern auch ältere Bewohner Woods. Sogar einige Verkäufer verließen ihre Stände und wollten einen Blick auf die vermeintliche Heldin werfen.

Mia wurde förmlich von hunderten Augenpaaren erdolcht. Sie wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Doch auf Scylars Rücken war sie der Neugierde, der Fremden ausgeliefert. Sie lief hochrot an und vergrub sich etwas verunsichert in Azurs Kimono.
 

Getuschel und andächtiges Seufzen breitete sich über den Platz aus. Überall konnte man hören wie von der Ankunft der Heldin gesprochen wurde und so erreichte die Nachricht auch eine junge Frau, die gerade damit beschäftigt war, Pilz und Kräuter auf einen abgelegenen Verkaufstisch auszubreiten.

Sie hatte schulterlanges, schwarz-weißes Haar und rabenschwarze Augen. Sie hatte feine Gesichtszüge und eine kleine Narbe unter ihrem linken Auge. Sie war in ein knappes schwarzes Mieder gekleidet, trug passend dazu eine schwarze kurze Leinenhose und kniehohe Lederstiefel. Ihre rechte Schulter wurde von einem kleinen Schutzpanzer geschützt und sie trug schwarz weiße Handschuhe. Hinter ihr spielte ein kleiner Junge, der ebenfalls schwarz-weißes Haar hatte. Sein Mähne reichte bis zu seinem Po. Er trug ein abgenutztes braunes Seidenhemd und eine graue Lederhose. Schwarze Lederhandschuhe schützten seine Finger, mit denen er gerade zwei Holzpferde gegeneinander kämpfen ließ.

„Habt ihr gehört, angeblich soll da vorne eine Heldin sein. Prinz Rapier selbst hat einem Bestienritter beauftragt, sie auszubilden“, tuschelte eine Frau dem Mädchen zu, das als Helferin für den Standbesitzer arbeitete.

Auf diese Worte erstarrte sie wie zur Steinsäule.

Eine Heldin. Kann das wahr sein?

Sofort unterbrach sie ihre Arbeit und eilte in Richtung Stadtplatz davon. Der Junge, der sofort bemerkt hatte, dass seine Schwester ihn vergessen hatte, eilte ihr hinterher und funkelte sie vorwurfsvoll, durch seine großen steingrauen Augen, an. Um nicht von ihr getrennt zu werden ergriff er ihre Hand, als sie in die Menschentraube eintauchten. Ohne Rücksicht auf andere drängelte das Mädchen sich nach vorne. Sie musste sehen, ob etwas an dem Aufruhr dran war oder ob wieder einmal nur unwahrer Tratsch die Runde machte.

Schließlich fand sie sich in vorderster Reihe und traute ihren Augen kaum. Auf einem Eldarwolf saßen sein Reiter und ein weißhaariges Mädchen mit rubinroten Augen. Sie wirkte verunsichert, aber strahlte durchaus Macht aus.
 

Ein Schatten legte sich über das Gesicht der jungen Frau, als sie die Neuankömmlinge betrachtete.

Er muss davon erfahren, dachte sie angespannt bei sich, während sie wieder in der Menschenmenge verschwand und ihren kleinen Bruder unsanft mit sich zog.

„Aua. Shantja du tust mir weh“, jammerte dieser.

Sie achtete jedoch nicht darauf und eilte auf den Verkaufsstand zu und zerrte ihren Bruder hinter eines der naheliegenden Häuser.

Sie ging vor ihm auf die Knie und legte ihm die Hände auf die Schultern. Plötzlich war der Schatten aus ihrem Gesicht verschwunden und sie schenkte ihm ein warmes Lächeln.

„Nim hör mir zu. Ich muss dich eine Weile allein lassen“, begann sie zu erklären.

Der Junge sah sie mit schreckgeweiteten Augen an und schüttelte vehement den Kopf.

„Das darfst du nicht. Ich will nicht allein sein. Bitte Shantja nimm mich mit. Bitte!“, quengelte er und rang mit den Tränen. Er wollte nicht zurückgelassen werden. Die Städter hassten die beiden und es war nur ihr zu verdanken, dass sie in Ruhe gelassen wurden. Sie verdiente etwas Gold, dass sie an die Wachen bezahlte, damit man sie in Frieden ließ.

Es versetzte Shantja einen Stich ihren Bruder so leiden zu sehen, doch es musste sein. Diese Reise war zu gefährlich, als dass sie ihn mitnehmen konnte und hier wäre er sicherer.

„Es geht nicht. Du musst hier bleiben. Bitte verzeih mir. Ich komme so schnell zurück, wie ich kann. Ich verspreche dir, wenn ich zurück bin, wird alles besser. Bis dahin musst du stark sein. Bleib am besten im Wald oder verstecke dich in den Stallungen der Bestienritter. Sieh nur zu, dass dich kein Wachmann erwischt. Du weißt, dass sie uns nicht leiden können.“

Der Junge weinte nun und wischte sich die Tränen mit dem Ärmeln seines Hemdes aus dem Gesicht. Er schluchzte bitter und flehte vor sich hin, doch seine Schwester blieb hart. Es zerriss ihr zwar das Herz, aber es war ihre Pflicht Meldung zu machen. Sie musste es tun für sich und für ihren Bruder. Danach würde alles besser werden. So hatte 'Er' es ihr versichert. Ihre Aufgabe war es, die Augen und Ohren nach Besonderheiten offen zu halten und ihm zu berichten. Und letztlich gab es etwas, dass es zu berichten wert war. Etwas, dass keinen Aufschub gewährte und deshalb musste sie gehen und zwar jetzt.

„Pass gut auf dich auf Nim. Bis bald. Ich habe dich lieb“, verabschiedete sie sich von ihrem Bruder, den sie dabei noch einmal fest in den Arm nahm und auf die Stirn küsste. Anschließend wandte sie sich um und eilte in den Wald davon. Dabei verwandelte sie sich in einen weißen Fuchs mit schwarzen Ohr- und Schwanzspitzen. Ohne sich erneut nach ihren weinenden Bruder umzublicken huschte sie die 'Launische Braut' empor. Ihr war bewusst, dass ihr eine lange und gefährliche Reise bevorstand.
 

Es hatte eine gewisse Zeit in Anspruch genommen, ehe sich die Menschentraube um Mia und Azur gelegt hatte, doch letztlich erreichten sie den liebevoll eingerichteten Gasthof. Dieser war eines der größten Gebäude Woods und trug den Namen: 'Zum Balzenden Hirsch'

Während Scylar selbstständig in ihre Stallung zurückkehrte, hieß ein großer Schankraum mit etlichen Tischen und Bänken, sowie ein großer Tresen Mia, Azur, so wie viel andere Reisende willkommen. Hinter dem Tresen stand eine kurzhaarige, ergraute Frau. Mit freundlichen braunen Augen. Ihr faltiges Gesicht zeugte von fortgeschrittenem Alter und doch wirkte sie frische und agil, wie sie mit den Betrunkenen und Pöbelnden umsprang.

Überall wuselten eifrig Bedienungen zwischen den Tischen hindurch und versorgten die Gäste mit Speis und Trank. Zudem hörte man das Klirren von Bierkrügen, die auf einander schlugen, den Gesang eines Barden und das ausgelassene Gelächter und Gerede der Leute, die hier saßen und ihren Feierabend oder einen Aufenthalt genossen. Die unbeschwerte Atmosphäre ließ Mia ein wenig aufatmen. Seit sie Woods erreicht hatten, war ihr, als würde ihr die Luft zum Atmen fehlen. Doch hier beachtete man sie nicht weiter. Sie war eine unter vielen und niemanden interessierte im Moment, ob sie eine Heldin war oder nicht. Viel wichtiger erschien es, dass jeder zu Essen und zu Trinken hatte und wer die bessere Anekdote zum besten geben konnte.
 

Azur und seine Schülerin kämpften sich zum Tresen durch, wo sie von der Grauhaarigen in Empfang genommen wurden.

„Oh, hallo Azur. Wer ist denn deine kleine Begleiterin und was kann ich für euch tun?“, fragte sie mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht und mit ausgebreiteten Armen. Ihre Stimme war kräftig und doch freundlich und ihre Augen musterten Mia neugierig.

„Das hier ist Mia. Sie ist meine Schülerin und wie ich vermute, weißt du ohnehin schon, dass sie eine Heldin ist richtig?“, erwiderte Azur und seine blauen Augen funkelten gerissen.

Die Alte fühlte sich ertappt und nickte kurz, ehe sie mit einem Lappen ihren Tresen säuberte.

„Du kennst mich zu gut. Ich vermute, sie braucht ein Zimmer? Wie lange wird sie denn bleiben?“

„Ein Jahr. Aber mach dir keine Sorgen. Die Bezahlung übernimmt der Prinz.“

„Ich mache mir keine Sorgen! Und das Geld des Prinzen brauche ich auch nicht. Wenn ich wollte, könnte ich das Kind auch so hier wohnen lassen. Sie würde mir sicherlich auch zur Hand gehen. Nicht wahr Kleine?“, erhob die Wirtin ihre Stimme und lachte herzhaft.

Mia zuckte einen Augenblick zusammen, stimmte der Älteren aber kleinlaut zu.

„Ach Schätzchen, du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich bin eine ganz liebe Frau. Manchmal mag ich etwas über die Strenge schlagen, aber das bringt wohl dieser Haufen hier mit sich. Nenn mich Elaine. Solltest du je etwas brauchen. Dann komm einfach zu mir ja?“, fuhr die Gastwirtin nun ruhiger fort.

„Ja. Das werde ich. Vielen Dank Elaine“, antwortete Mia dankbar und verneigte sich leicht vor der Anderen.

Als die Formalitäten geklärt waren, freute sich die Weißhaarige schon auf ein Abendessen und ihr Zimmer, doch da mischte sich auch Azur schon wieder ein.

„Elaine ich werde Mia später zu dir schicken. Richte ihr ein schönes Zimmer her. Wir müssen noch in die Stallungen.“

Die Heldin blickte ihren Lehrmeister fragend an, doch dieser meinte nur, dass sie abwarten sollte, bis sie da waren.
 

Zielstrebig verließen die beiden den Gasthof und schritten über den Stadtplatz, der sich allmählich leerte. Die meisten Einkäufer waren nach Hause zurückgekehrt und bereiteten das Abendmahl vor, während die Händler ihre Stände aufräumten und sich ebenfalls für die Nachtruhe bereit machten. Hier und da trafen Mia neugierige Blicke, doch die Anzahl war verschwindend gering, wenn man bedachte, wie es ihr zuvor ergangen war.

Als sie die Höhle, die das Hauptlager der Bestienritter darstellte, erreichten, führte Azur seine Schülerin durch kahle, in Felsen geschlagene Gänge, die von Fackellicht erhellt wurden. Unzählige Öffnungen, die mit Decken verhängt waren, deuteten die Räumlichkeiten der Ritter an. Hier und da konnte sie deren Gerede und Gelächter vernehmen. Mia vermutete, dass diese Zimmer - wenn man sie so nenne wollte - sehr karg, schon eher ärmlich aussehen mussten. Ihr blieb jedoch nicht die Zeit, ihren Verdacht zu bestätigen, da Azur sie immer tiefer in die Höhle führte.

Die letzte Öffnung führte in eine große Höhle, die sehr hoch war. Überall lagen Knochen, Felle, Stroh und Heu verteilt. Es roch leicht nach verwesendem Fleisch und nach Unrat. Dieser wurde von einigen Jungen beseitigt, die flink zwischen den Eldarwölfen, die hier lebten, hindurch marschierten und dafür sorgten, dass die Höhle sauber blieb.

Die Wölfe hingegen lagen auf Felsen oder im Heu und erholten sich von einem anstrengenden Tag. Mia machte auch Scylar aus, die allein in einer Ecke lag und schlief. Einige der Tiere hoben neugierig den Kopf, als sie Mias Duft witterten. Sie betrachteten sie kurz, senkten jedoch wieder die Schädel, als sie sicher waren, dass von ihr keine Gefahr ausging.
 

„So viele Wölfe“, gab das Mädchen erstaunt von sich.

„In der Tat. Und stell dir vor, sie alle haben einen Reiter“, bekräftigte Azur.

Niemals hätte Mia damit gerechnet, dass es so viele von ihnen geben konnte. Sie war schon bei Scylars Anblick völlig hin und weg gewesen, doch hier waren locker noch einmal einhundert Tiere untergebracht und sie alle dienten einem Menschen.

Die Weißhaarige schritt durch die Höhle und streichelte hier und da einen Wolf, betrachtete das Treiben der Tiere untereinander und verfolgte die fleißigen Jungen, die alles taten, damit es den Wesen gut ging.

Azur behielt sie stets im Auge und war sich sicher, dass die Entscheidung, sie zu einer Bestienritterin zu machen, die Richtige war. Sie weigerte sich Waffen zu führen, so viel hatte er von Kogar erfahren, da lag es nur auf der Hand ihr eine lebende Waffe anzuvertrauen. Doch auch diese Entscheidung musste mit bedacht gefällt werden und wenn Azur Zweifel an ihr hätte, würde sie keinen bekommen. Doch seit der ersten Begegnung mit Scylar, war er sich sicher, dass Mia einen Wolf halten sollte. Sie war ein tierliebes und gütiges Kind. Niemals würde sie ihren Partner schlecht behandeln oder ihm zu viel abverlangen. Sie war die perfekte Wahl. Da Azur ein hochrangiges Mitglied des Bestienritterordens war, war es ihm gestattet, neue fähige Rekruten mit einem Wolf auszustatten und deshalb war er mit Mia hierher gekommen.
 

„Mia. Würdest du zu mir kommen!“, rief er sie, da sie bereits dabei war, den Jungen beim reinigen der Höhle zu helfen.

Sofort eilte das Mädchen herbei. Ihre Augen leuchteten und sie war kaum im Stande ruhig stehen zu bleiben.

„Ich habe eine Frage an dich. Wie würde es dir gefallen, einen Eldarwolf als Partner zu erwählen?“

Die Weißhaarige riss die roten Augen weit auf. Ein feuriger Glanz lag in ihnen, der die Freude klar zum Ausdruck brachte. Sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen und fragte leise: „Wirklich?“

Ihr Lehrmeister schmunzelte. Er konnte genau nachvollziehen, wie sie sich fühlen musste. Damals war es ihm auch nicht anders ergangen und er hatte sein Glück kaum fassen können.

„Wirklich“, fügte er deshalb nur an und führte sie etwas tiefer in die Höhle. Dort, hinter einen großen Felsen, lag eine Wölfin, die ihre drei Jungen gerade sauber leckte. Diese lagen in einem Knäuel aufeinander und schliefen.

Als sich Mia und Azur näherten, legte das Muttertier die Ohren an und sah sie eindringlich an. Sie war jederzeit bereit anzugreifen, sollte man ihren Welpen etwas tun wollen. Dies spürte auch Mia und wich deshalb einen Schritt hinter Azur. Dieser deutete auf die Jungtiere und forderte seine Schülerin auf sich ein Tier auszuwählen.

Neuen Mut schöpfend trat sie hervor und schaute die Drei eingehend an. Es war eine schwierige Entscheidung, da sie alle sehr niedlich fand. Der eine war fast weiß, hatte aber einen großen goldenen Kreis auf der Stirn, während die andere an ein Zebra erinnerte, da ihr Fell dunkelgrau und weiß gestreift war. Auch der Dritte im Bunde gefiel ihr sehr, da er eine wilde Mischung aus Weiß-, Schwarz-, Grau- und Goldtönen in sich trug. Azur riet ihr auf ihr Herz zu hören und die Sympathie mitschwingen zu lassen, was die Entscheidung dennoch nicht leichter machte.

Mia liebte Tiere und da war es schwer zu sagen, für welches der Tierchen sie mehr Zuneigung aufbrachte.
 

Gerade als sei meinte, sich entschieden zu haben, ertönte in der Höhle ein markerschütterndes Winseln und Kreischen, das von Flüchen und klirrenden Ketten begleitet wurde.

Wie von der Tarantel gestochen eilte die Heldin hinter dem Fels hervor und es bot sich ihr ein schauriges Schauspiel.

Zwei Jungen zerrten einen kleinen Welpen an Ketten durch die Höhle. Er wehrte sich mit Leibeskräften und versuchte nach seinen Peinigern zu schnappen. Dabei versuchte er sich auch immer wieder aus der Ketten zu winden. Er knurrte und kämpfte gegen die beiden an. Diese beschimpften das Tier und traten sogar manchmal nach ihm, wenn es sich dem Anderen widmete. Auch die Eldarwölfe blickten angespannt auf die Situation und knurrten bedrohlich. Doch Mia erkannte, dass sie nicht wegen der schlechten Behandlung des Kleinen knurrten, sondern wegen diesem. Er sah anders aus als die Wölfe in der Höhle und war weitaus wilder, doch rechtfertigte dies nicht, dass man so mit ihm umsprang.
 

„Aufhören!“, schrie die Heldin deshalb und rannte auf das grausige Schauspiel zu. „Lasst sofort den armen Welpen in Ruhe!“

Die beiden sahen sie verdutzt an und lachten sie aus: „Du machst wohl Witze. Wir können dieses Vieh nicht in Ruhe lassen. Wir sollen es erschlagen. Seinesgleichen ist gefährlich. Sie haben Vieh und Reisende gerissen. Wir können sie nicht leben lassen. Sie sind anders als Eldarwölfe. Es ist besser, wenn es sie nicht gibt.“, fuhr einer der beiden sie an und trat den Welpen erneut.

Mia warf sich zornig gegen den Jungen und stieß ihn von dem Tier weg.

„Aufhören habe ich gesagt!“

Eilig näherte sie sich dem Welpen und stellte sich schützend vor diesen. Er reichte ihr gerade einmal bis zum Knie und war völlig ausgemergelt. Er zitterte am ganzen Leib und leckte eines seiner blutigen Pfötchen. Es schmerzte Mia das Tier so zu sehen. Wie konnten Menschen, die so gut zu Tieren waren einem Anderen so etwas antun.

Das Wölfchen hatte nachtschwarzes Fell. Seine Pfoten, Ohren und Schwanzspitze waren in einem blutrot gehalten und auch auf seiner Stirn ragte ein umgedrehtes mondsichelförmiges blutrotes Fleckchen. Seine Augen schimmerten ebenso rubinrot, wie ihre eigenen Augen und Mia wusste, dass sie nicht zulassen würde, dass das Tierchen weiter leiden musste.

„Gebt mir die Ketten!“, forderte sie.

„Niemals!“, bellte einer der Jungen. „Das ist ein Düsterwolf und er muss beseitigt werden. Seine Mutter und Geschwister haben wir bereits erschlagen. Wäre uns dieser hier nicht entwischt, hätte er es auch schon hinter sich.“

Mia fühlte sich, als hätte man ihr in die Magengrube geschlagen. Man hatte die Mutter und Geschwister des Kleinen getötet. Vielleicht mochten sie Vieh gerissen und Menschen angegriffen haben, aber gab es denn keine andere Lösung. Hätte man sie nicht einfach verjagen können?

Zornes funkelnd straffte sie ihre Schultern und streckte die Hand nach den Ketten aus. Wieder forderte sie: „Gebt mir die Ketten! Sofort!“

Verdutzt tauschten die beiden Blicke und wussten nicht was zu tun war.

War dieses Mädchen wirklich so dumm? Wusste sie nicht, dass Düsterwölfe unheilvolle und unbarmherzige Jäger und Killer waren? Man durfte kein Mitleid mit ihnen haben, denn sie hatten auch keines und doch stand dieses Mädchen da und verteidigte dieses missratene Vieh. Fassungslos blickten sie zu Azur, der die Szene, schweigend aus einiger Entfernung, beobachtet hatte.

„Ihr habt sie gehört. Gebt ihr die Ketten“, befahl er.

Er war der Meinung, dass Mia ihre eigenen Erfahrungen mit Düsterwölfen sammeln musste, um zu verstehen, wie gefährlich sie waren. Sollte der Welpe ihr etwas antun wollen, so würde er ihr zur Hilfe eilen.

Die Jungen übergaben die Ketten an das Mädchen und zogen sich murrend zurück.

Mia beugte sich zu dem Welpen hinunter und versuchte die Fesseln zu lösen, als das Tier herumfuhr und sich in ihrem Unterarm verbiss.

Angespannt erhoben sich die Eldarwölfe, bereit der Heldin zu helfen, auch Azur war angespannt. Er wusste, wenn er zögerte, könnte es tödlich für Mia ausgehen. Doch diese gebot ihm nichts zu tun und auch die anderen Kreaturen schienen zu spüren, dass sie noch keine Unterstützung benötigte. Es war als würde die Zeit stehen bleiben und wieder ruhten alle Blicke auf Mia. Die der Wölfe, die ihres Lehrmeisters und auch die der Jungen, die dem Spektakel beiwohnten.
 

Schmerzhaft sog sie die Luft ein, während der Welpe sich in ihren Arm verbiss und an diesem zerrte. Der Schmerz war alarmierend, doch riss sich die Weißhaarige zusammen. Sie wusste, dass es hier um das Leben des Welpen ging, wenn sie nur einen Fehler machte oder dem reißenden Schmerz erlag.

Aufs äußerste konzentriert streichelte Mia deshalb über das Fell des Kleinen und summte beruhigend vor sich hin. Sie strömte weder Angst noch Wut oder Unsicherheit aus. Sie blieb ruhig und gelassen und versuchte den Schmerz hinweg zu atmen und das Tierchen zu beschwichtigen. Nach einer Weile bemerkte das Mädchen, dass der Angriff abflaute. Und der Welpe seinen Kopf erschöpft auf ihre Knie sinken ließ. Sie streichelte ihn weiter und summte, bis er schließlich entkräftet einschlief und sie ihm die Ketten abnehmen konnte.

Sofort eilte Azur herbei, um sich über Mias Zustand zu erkundigen.

„Geht es dir gut? Hat er dich schlimm erwischt?“, fragte er aufgebracht.

„Pssst. Sonst weckst du ihn nur wieder auf“, entgegnete sie daraufhin ruhig und hörte nicht auf den Kleinen zu streicheln.

Azur besah die Wunde und erkannte, dass er fast ihren Arm durchgebissen hatte. Das Blut quoll unaufhörlich aus der Wunde und das Fleisch hing in Fransen weg. Wäre die Attacke weitergegangen, hätte er nichts mehr für sie tun können. So jedoch legte er eine Handfläche über die betroffene Stelle und entfaltete Lebensmagie, die das Fleisch zusammensetzte und die Blutung stoppte, sowie die Haut verschloss. Als er fertig war, sah es so aus, als hätte es den Angriff niemals gegeben.

Ungläubig blickte Mia auf ihren Arm und fragte verdutzt: „Wie hast du das gemacht? Ich habe gar keine Schmerzen mehr.“

Der Weißhaarige erklärte: „Ich habe dich geheilt. Diese Gabe scheint auch in dir zu ruhen und wenn es uns gelingt, dein komplettes Potenzial auszureizen kannst du noch viel mehr erreichen als ich eben. Jetzt bleibt aber erst einmal zu klären, was wir mit diesem hier machen sollen.“

Mia schaute auf das Tier herunter und meinte schlicht: „Er wird mein Partner und ich habe auch schon einen Namen für ihn. Jimara.“

Azur wollte protestieren. Zu gefährlich und unberechenbar wäre dieser Düsterwolf als Partner, doch als er in die entschlossenen Augen Mias blickte, kam er nicht umhin, sich zu fragen, ob es einer Heldin nicht doch gelingen sollte eine wahre Bestie zu zähmen.

Zustimmend nickte er, fügte aber hinzu: „Dann lass uns in den Gasthof gehen. Denn hier wird dein Düsterwolf niemals willkommen sein.“

So machten sich Azur und Mia, die Jimara in ihren Armen hielt, auf den Weg zum Gasthof.

Eine bittere Lehre

Wo steckt er denn jetzt schon wieder? ging es Lelou genervt durch den Kopf. Er hatte nicht erwartet, dass sein Schüler ein solch starrsinniger und eigenwilliger Zeitgenosse war. Seit drei Wochen sollte der Leibwächter den anderen nun bereits ausbilden, doch seit ihrer Ankunft bei Woods, hatten sie nicht einen Tag geübt.

Wie es Prinz Rapier und die Berater gewünscht hatten, hatte er Grahl nicht in die Stadt hineingelassen und ein Lager unmittelbar in der Nähe aufgeschlagen. Sie hatten es nicht weit bis zum Wald der 'Launischen Braut' und dort genug Platz zu trainieren. Doch als Lelou dem Rothaarigen eröffnet hatte, dass sie selbst nur vor Woods bleiben und nicht in die Stadt gehen würden, hatte sich seine sehr spezielle Art weiter ausgeprägt. Er setzte zwar keinen Schritt in die Stadt, ignorierte Lelou aber dafür vollkommen.
 

Jeden Morgen, wenn der Leibwächter seinen Schützling zum Training überreden wollte, fragte dieser schlicht: „Werde ich heute Mia sehen können?“

Woraufhin sein Lehrmeister immer verneinte und erklärte, dass sie beide ungestört voneinander ausgebildet wurden, damit sie keine unnötige Ablenkung erhielten. Daraufhin verschwand Grahl jedes mal im Wald und kehrte erst zum Abendbrot zurück. Einmal, als Lelou ihn doch stoppen wollte, hatte er schlicht gesagt, dass er nicht mit Lügnern und Verrätern zusammenarbeiten würde. Seine Miene war eisern gewesen und Lelou war klar, dass Grahl niemals tun würde, was er von ihm verlangte. Deshalb ließ er ihn auch damals einfach ziehen.
 

Heute, so hatte er sich vorgenommen, würde er seinen Schüler ausbilden, ob dieser wollte oder nicht. Wenn es nötig war, würde er Gewalt anwenden.

Drei Wochen sind vergangen, in denen er keinen Tag trainiert hat. Die Zeit ist knapp und ich weiß nicht, wie schnell er lernt. Wir können es uns nicht leisten noch mehr Zeit zu vergeuden. Ich kann den Prinzen nicht enttäuschen.

Die Fäuste ballend und innerlich kochend durchforstete er den Wald. Es konnte doch nicht so schwer sein, den Ausreißer ausfindig zu machen.

Wieder einmal musste Lelou sich eingestehen, dass er viel lieber Smith ausgebildet hättet. Zwar vor allem weil er ihm sehr gefiel, aber auch, weil er überzeugt war, dass dieser sehr lernwillig und nicht so stur war. Ein warmes Gefühl breitete sich in Lelous Inneren aus, wenn er an Smith dachte. Es war merkwürdig. Er konnte jeden Mann haben, den er wollte, doch wenn er an den Goldäugigen dachte, durchfuhr ihn ein Verlangen, dass er nicht kannte. Zu seinem Leidwesen gab es dann doch Männer, die er nicht haben konnte, dass zeigte ihm Smith nun einmal klar auf. Denn dieser hing an seinem Partner Kyth und reagierte nicht auf die Balzversuche des Anderen.

Diese Helden machen mich wahnsinnig, seufzte er. Der Eine möchte nicht von mir lernen, der Andere verschmäht mich und der Nächste ist wohl ein Rivale, den ich nicht unterschätzen sollte. Na ja wenigstens die Kleine scheint nett zu sein.

Er kam nicht umhin ein bitteres Lachen von sich zu geben und kopfschüttelnd seine Suche fortzusetzen.
 

Grahl genoss die Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach schimmerten und wohlig über seine Haut zu streicheln schienen. Ein sanfter Wind ließ die Blätter tanzen und trug den Duft des Waldes an seine Nase. Der junge Mann liebte diesen Ort, den er zufällig auf einen seiner Streifzüge entdeckt hatte.

Es war eine schöne Lichtung, auf der sich ein klarer kleiner Waldsee befand. Um die Ufer des Gewässers wuchsen Schilfe, Farne, Moose sowie Pilze. Hier und da ragten von Efeu überwucherte Felsen aus dem Boden und der Mittelpunkt des Sees wurde immer von der Sonne beleuchtet, da der Wald sich dort öffnete. Das Wasser war kristallklar und sehr kalt. Stets war es ruhig hier. Hin und wieder konnte man Vögel zwitschern hören, die sich im flachen Wasser badeten, aber sonst drang nie ein Laut an Grahls Ohren. Wenn man genauer hinsah, konnte man Fische und Frösche ausmachen und hin und wieder, huschte ein größerer Schatten durch den See. Doch immer wenn der Rothaarige sich dem Wasser dann näherte, war davon nichts zu sehen.
 

Obwohl ihm die Umgebung und Atmosphäre sehr gefiel, kam er nicht umhin, sich Sorgen um Mia zu machen. Außerdem hatte er Schuldgefühle den anderen beiden gegenüber. Schließlich hatte er versprochen, auf das Mädchen aufzupassen. Leider wurde daraus nichts, da Lelou, sowie Azur die beiden ständig voneinander trennten. Seit seine Schwester mit ihrem Ausbilder, auf einem riesigen und irgendwie unheimlichen Wolf, davon geritten war, hatte er sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sein Lehrmeister behauptete zwar steif und fest, dass es ihr gut ginge und an nichts mangelte, doch konnte und wollte Grahl sich davon selbst vergewissern. Man hatte ihm versprochen bei ihr bleiben zu dürfen. Nun war er zwar in ihrer Nähe, aber trotzdem von ihr getrennt. Das Sprichwort - 'So nah und doch so fern.' - schoss ihm sofort durch den Kopf und stieß ihm bitter auf. Murrend setzte er sich auf. Er überlegte seit Tagen, wie er sich mit seiner Schwester treffen konnte, doch fiel ihm nichts ein. Es mochte vielleicht ein leichtes sein, vor Lelou abzuhauen, aber er gelangte nicht in die Stadt. Anscheinend hatte die Stadtwache den Befehl ihn nicht ein zulassen. Wie er sich über seinen Meister und die anderen ärgerte. Hätte er gewusst, dass es so enden würde, dann wäre er mit Mia auf den Wolf gestiegen. Er hatte zwar Zweifel, dass die Ausbilder dies zugelassen hätten, aber dann hätte er noch immer seine Schwester auf seiner Seite gehabt.

Diese Lügner. Wir hätten ihnen nicht trauen dürfen. Das haben wir davon ärgerte sich Grahl und schnipste einen flachen Stein über die Wasseroberfläche.

Drei, vier, fünf, sechs, siebenmal flitschte das Geschoss übers Wasser, als es plötzlich mit einem gewaltigen Platschen in die Tiefe gesogen wurde.
 

Neugierig erhob sich Grahl von seinem Platz und trat aufs Ufer zu. Wieder erblickte er den seltsamen dunklen Schatten im Wasser. Und genau an der Stelle, an der sich dieser befand, wurde der See plötzlich unruhig. Kleine Wellen bäumte sich auf, es brodelte und blubberte, als würde das Gewässer aufgeheizt. Um genaueres zu erkennen beugte sich der junge Mann nach vorne, als auf einmal etwas aus dem Wasser sprang und aufschrie. Es war ein greller und ohrenbetäubender Laut, der den Rothaarigen dazu brachte sich die Ohren zu zuhalten.

Gebannt stierte er auf das Wesen, das diesen unheimlichen Laut von sich gab und sich in Windeseile auf ihn zubewegte.

Eine innere Stimme gebot ihm, sich sofort zurückzuziehen. Mit einem Satz sprang er auf seinen, am Baum lehnenden, Kriegshammer zu. Mit beiden Händen umfasste er den langen Griff und hievte die Waffe empor, bereit dem Biest einen schlag zu verpassen.

Im selben Augenblick war das Untier bereits am Ufer angelangt und schlurfte, nun da es das Wasser verlassen hatte, wesentlich langsamer auf Grahl zu. Wieder kreischte das Vieh und diesmal war der Krieger nicht im Stande sich die Ohren zu zuhalten. Die Geräusche vibrierten in seinem Gehörgang und schmerzten. Es war, als würden tausend Nadeln in sein Trommelfell stechen und es dabei aufs äußerste angespannt, in der Hoffnung es zu zerreißen. Warme Flüssigkeit rann aus Grahls Ohren und er konterte mit einem Schmerzensschrei. Verzweifelt schwang er mit seiner Waffe nach der Kreatur, die nur einen kleinen Sprung nach hinten machen musste, um ihm auszuweichen. Zwar verfehlte Grahl sein Ziel, brachte aber das Biest zu schweigen.
 

Schwer schnaubend, durch seine Attacke, mit dem viel zu schweren Hammer, fasste Grahl seinen Gegner ins Auge. Ein Ding wie dieses hatte er im Leben noch nie gesehen. Es bewegte sich wie er auf zwei Beinen und war von oben bis unten mit dunkelgrün schimmernden, schleimigen Schuppen übersät. Es war etwa doppelt so groß wie er und schlank. Zwischen den krallenbewährten Zehen und Fingern hatte es Schwimmhäute. Sein Kopf war seltsam schlangenförmig und Tentakel zappelten auf seinem Kopf herum. Es hatte weder Nase noch Ohren und an den Seiten des schmalen Halses Kiemen. Die katzenähnlichen giftgrünen Augen funkelten bedrohlich und es entblößte in seinem riesigen Maul mehrere messerscharfe Zahnreihen.
 

Was ist das?, fragte sich Grahl und war wie gelähmt bei dem Anblick des Wesens, das sich zähnefletschend auf ihn stürzte.

Reflexartig hieb der junge Krieger nach dem Biest. Dieses wich dem schwerfälligen Schlag aus und spie ein zähes Sekret in das Gesicht seines Opfers.

Die Flüssigkeit legte sich über Grahls Augen und Nase. Kaum das sie sich auf seinem Gesicht verteilte, spürte er einen bestialischen Schmerz. Es war als würde ihm die Haut verbrüht. Panisch versuchte er die Spucke aus seinem Gesicht zu bekommen. Er schrie unter Schmerzen, da der Speichel seine Haut veräzte. Auch nachdem er sich der Substanz entledigt hatte, litt er Höllenqualen. Die angegriffenen Gesichtspartien pochten und am liebsten hätte er sich das Gesicht abgezogen, Hauptsache diese Pein würde nachlassen.

Während Grahl abgelenkt war, hastete die Kreatur kreischend auf diesen zu und hieb ihn zu Boden. Mit einem Satz stürzte es sich auf ihn und verbiss sich in seiner linken Schulter.

Immer wieder riss sie an dieser und tausend Zähne bohrten sich in das Fleisch des Helden. Ein gequälter Laut entrang sich seiner Kehle und er kämpfte gegen unaufhörliche Wellen des Schmerzes. Im Vergleich zu dem Biss, war die Wunde im Gesicht ein Kratzer. Tiefer und tiefer trieb das Biest seine Zähne in die Schulter Grahls. Heiser schrie er weiter und in diesem Augenblick wünschte er sich, dass er seine Kräfte einsetzen oder sich zur Wehr setzen könnte.

Sein Hammer lag außerhalb seiner Reichweite und außerdem hielt das Vieh ihn fest. Zudem wäre er durch den Schmerz nicht in der Lage gewesen, die Waffe zu ergreifen. Sein Blickfeld war verschwommen, da die ätzende Spucke seine Augen angegriffen hatte und er fühlte, wie sein Körper allmählich Taub wurde. Scheinbar lähmte das Biest ihn mit dem Speichel, der in seine Wunde eindrang. Die Tentakel am Kopf des Monsters legten sich um seinen Hals und drohten ihn langsam zu ersticken.
 

Grahl schnappte verzweifelt nach Luft, versuchte das Ding mit seinen Fäusten zu verletzen, doch es labte sich an ihm, riss ein Stück seines Fleisches aus seiner Schulter und bohrte seine Krallen in seine Seite. Wieder wollte er aufschreien, aber durch seine zusammengeschnürte Kehle drang kein Laut. Je enger sich die Tentakel schlossen, desto höher wurde der Druck auf seinen Schädel. Es kam im vor als würden seine tränenden Augen jeden Moment aus ihren Höhlen platzen. Er drohte ohnmächtig zu werden. Sein Blickfeld wurde immer dunkler und seine letzten Gedanken kreisten um Mia, die er nicht mehr beschützen können würde, um Smith, dem er versprochen hatte, auf ihre kleine Schwester aufzupassen und darum, dass er doch vielleicht hätte von Lelou lernen sollen. Resignierend hieß er sein Ende willkommen und bedauerte, dass er ein solch sturer Narr gewesen war. Er wollte nur noch, dass diese schier endlosen Qualen endlich aufhörten.
 

Lelou war so schnell gerannt wie er konnte, als er die bizarren Laute vernommen hatte. Sofort war ihm klar, dass dies der Schrei eines wütenden Seischimis war. Diese Wesen lebten in Seen und Flüssen und waren sehr leicht reizbar und gefährlich, wenn man sie unterschätzte. Außerdem waren sie äußerst territorial. Oft hörte man von Menschen, die von diesen Bestien in die tiefe gezerrt und zerfleischt wurden.

Hoffentlich komme ich nicht zu spät., dachte er und beschleunigte sein Tempo. Der unerfahrene Held wäre eine leichte Beute für einen ausgewachsenen Seischimi und Lelou konnte es sich nicht erlauben ihn an ein solches Biest zu verlieren. Grahls Gefährten würden ihm dies niemals verzeihen und der Prinz ebenso wenig. Die Helden waren eine Chance die Bedrohung durch die 'Sieben Himmel' zu beenden und er würde nicht tolerieren, dass einer der Lehrmeister seinen Schützling verlor. Zudem würde Lelou sich nicht vergeben können, würde ihm etwas geschehen. Es war gegen seine Art einen Schutzbefohlenen in Gefahr zu bringen, wenn es sich vermeiden ließ.
 

Endlich erreichte er die Lichtung und sein Herz setzte einen Schlag aus, als er tatsächlich einen Seischimi erblickte, der sich an seinem Schüler zu schaffen machte. Lelou konnte nicht erkennen, ob Grahl noch am Leben war, denn er rührte sich nicht. Das Wesen kreischte auf und wollte gerade seine Zähne in den Körper seines Opfers schlagen, als Lelou brüllend auf es zu stürmte, dabei seine Faust verhärtete und mit einem gezielten Schlag den Schädel des Seischimis zertrümmerte. Er war voller Zorn und Verzweiflung, weshalb der Schlag viel kraftvoller ausfiel, als er eigentlich geplant hatte. Wie eine matschige Melone, zerplatzte der Schädel des Monsters und der kopflose Körper fiel, wie ein nasser Sack, neben Grahl ins Gras und Blut rann aus dem Hals. Die Einzelteile des Kopfes verteilten sich auf dem Helden und der Umgebung. Augenblicklich kniete Lelou sich zu Grahl und löste die Tentakel, die noch immer an seinem Hals zappelten.

Anschließend tastete er nach dem Puls des Anderen. Erleichtert stellte er fest, dass der Rothaarige noch am Leben war. Zwar war dieser dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen, aber er würde es überleben. Behutsam verarztete der Leibwächter die stark blutenden Wunden an der Schulter und der Seite des Schützlings, mit Stofffetzen, die er von dessen Oberteil riss, schulterte ihn daraufhin und eilte in Richtung ihres Lagers davon.
 

Zögerlich erwachte Grahl aus einer tiefen, schwarzen Ohnmacht. Er wusste nicht wie lange er geschlafen hatte und ob er überhaupt noch lebte, denn der Schmerz, den er durchlitten hatte, war verklungen. Behutsam öffnete er die Augen und stellte fest, dass er in Decken gepackt nahe eines wärmenden Lagerfeuers lag. Sein Blickfeld war noch immer ein wenig getrübt und in seinem Schädel dröhnte es, als das Licht des Feuers von seine Irden eingefangen wurde. Seine Glieder schmerzten nun auch ein wenig und plötzlich war er sich sicher, dass er nicht tot war, denn ein Toter würde wohl kaum noch körperliche Leiden haben.

Verwirrt betastete er seine Schulter und stellte verblüfft fest, dass dort keine Verletzung vorzufinden war. Die Decke zur Seite schlagend, fand er dort, wo er gebissen worden war, nicht einmal eine Narbe vor.

Allmählich begann der Held sich zu fragen, ob er dies alles womöglich nur geträumt hatte, als die wütende Stimme Lelous neben ihm erklang:

„Bleib liegen. Du musst dich jetzt ausruhen. Einen Seischimiangriff steckt man nicht so leicht weg. Du kannst von Glück reden, dass ich dich noch rechtzeitig gefunden habe. Das Vieh war schon dabei, dich aufzufressen.“

„Ein Seischimi“, wiederholte Grahl matt. „Du hast mich gerettet. Danke.“

„Natürlich habe ich das. Ich habe nicht vor einen Schutzbefohlenen zu verlieren und außerdem würde es eine Menge Leute geben, die mir nie verzeihen würden, wenn dir was zustoßen würde. Aber du solltest vor allen den Heilern in Woods danken, denn wären sie nicht gewesen, wärst du vermutlich verkrüppelt bis an dein Lebensende.“

Lelou vermied es Grahl anzusehen und starrte ins Feuer. Scheinbar rang er gerade mit sich selbst. Der Rothaarige wusste nicht ob der Leibwächter wütend auf ihn war oder sogar auf sich selbst. Jedenfalls war er anders als sonst. Ernst, in Gedanken versunken und nachdenklich.

Auch der junge Held sah ins Feuer und suchte nach Worten, um sich für sein Benehmen zu entschuldigen und Besserung zu gelobten. Bevor er jedoch nur einen Ton sagen konnte, fasste Lelou ihn in die Augen und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht.

„Und ab morgen wird trainiert. Ich werde nicht mehr dulden, dass du tust was du willst. Wärst du in der Lage gewesen deine Kräfte zu entfesseln oder wenigstens zu kämpfen, dann wäre das heute nicht passiert. Ich werde keine Widerrede mehr dulden und dich zur Not grün und blau schlagen, wenn du dich weigerst. Du jammerst immer, dass du deine Schwester nicht beschützen kannst, aber sein wir ehrlich, du könntest sie nicht einmal beschützen, wenn du Tür an Tür bei ihr sein dürftest. Du bist undiszipliniert und unerfahren. Deine Schwester ist im Moment sicherer, als sie es bei dir je sein könnte. Wie möchtest du sie schützen und dein Versprechen gegenüber Smith wahr machen, wenn du dich nicht einmal selbst verteidigen kannst?“, die stahlgrauen Augen blitzten regelrecht und der sonst so lockere Hüne war autoritär, wie nie zu vor.
 

Grahl, der sich die schmerzenden Wange rieb, wandte seinen Blick ab und versprach kleinlaut: „Ab morgen werde ich machen, was du von mir willst. Du hast recht. Ich bin schwach und kann so nicht auf Mia aufpassen. Ich muss unbedingt lernen wie ich meine Kräfte einsetzen kann. Ich darf nicht von den anderen abgehängt werden. Die geben sich bestimmt Mühe, um zu lernen wie man kämpft und zaubert.“

Zufrieden hellte sich die Miene des Hünen auf und er scherzte: „Na also. Es brauchte ja nur einen kleinen Seischimiangriff und schon kommst du zur Vernunft. Dann wäre das abgemacht, ab morgen wird sich weniger beschwert und endlich trainiert. Wir haben viel Zeit vergeudet und müssen diese wieder aufholen. Aber für heute sollten wir einfach zu Abend essen und uns dann ausruhen, denn morgen beginnen wir in aller Frühe. Und ich rate dir, dass du dich besser anstrengst, denn wenn du mich enttäuscht, wirst du dir wünschen, das Vieh hätte dich getötet. Das verspreche ich dir.“

Erschrocken blickte Grahl zu Lelou, dessen Mimik nicht verriet ob er Spaß machte oder das Gesagte auch so ernst meinte.

Seufzend fragte sich der junge Held, womit er das nur verdient hatte.

Nur Werkzeuge

Im Wald war es Still und Smith bereits tief in ihn vorgedrungen. Das Geäst und die Brombeerranken versperrten ihm zunehmend den Weg und es drang kaum noch Licht durch das dichte Blätterdach. Hier und da konnte er abgestorbene Bäume erkennen, die wie Trauerfiguren ihre Äste hängen ließen. Die Luft war modrig und man fühlte sich ständig beobachtet, obwohl gerade nichts und niemand auszumachen war.

Der Held musste leise und behutsam vorgehen und durfte nicht unachtsam werden. Sein Lehrmeister war geschickt darin, seine Spuren zu verwischen, weshalb der angehende Jäger sich nicht ablenken lassen durfte. Denn egal wie gut jemand im Verbergen war, es gab immer eine Fährte, die zu vertuschen vergessen wurde. Und so war es auch hier. Quintus musste den direkten Weg durch die Brombeeren gewählt haben, da in diesen ein Fetzen seines Gewandes hing.

Vorsichtig löste Smith seinen Fund und grinste. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hätte er seinen Ausbilder gefunden.

Es wäre ein Leichtes für das Goldauge, mit Hilfe seiner Energiemagie, den Aufenthaltsort Quintus ausfindig zu machen, doch sollte er lernen Spuren zu lesen und seine Beute auch ohne diese Gabe zu finden. Es war auch für Smith eine größere Herausforderung und eine Frage der Ehre, es ohne Zauberei zu schaffen. Anfangs hatte er es schon ein oder zwei mal damit versucht, doch der Humunkulus hatte es stets bemerkt und das Training für ungültig erklärt und ihn bestraft.
 

Ruhig blickte sich Smith um und schätzte seine Lage ab. Er vermutete, dass Quintus nicht mehr fern war. Doch wenn auch er durch die stacheligen Ranken wandern würde, könnte er den Anderen alarmieren und würde wieder einmal scheitern. Aber heute wollte er es schaffen, er wollte endlich den Humunkulus fassen und die Schleich- und Fährtenleseausbildung hinter sich bringen. Diese Fähigkeiten waren sicherlich nützlich und keine Zeitverschwendung, doch der junge Mann wollte lieber mehr mit seinen Kräften und dem Bogen üben. Diese Lektionen bereiteten ihm mehr Freude und es versetzte ihn stets in Staunen, was er bewirken konnte. Er war nun schon in der Lage die Energien um ihn herum kontrolliert wahrzunehmen und gegebenenfalls auszublenden. Auch konnte er sich bereits die ein oder andere nützliche Fertigkeit aneignen
 

Mach also keinen Fehler und wir werden mehr Zeit darauf verwenden, dass hat er versprochen, sprach Smith in Gedanken zu sich selbst. Seit die Lehrzeit begonnen hatte, hatte er mehr und mehr angefangen stille Selbstgespräche zu führen, da sein Lehrmeister ein ruhiger und abwesender Geselle war. Er sprach wenig und meist endeten die Unterhaltungen darin, dass er nur tat, was sein Herr ihm aufgetragen hatte. Smith musste schnell feststellen, dass er die anderen schmerzlicher vermisste als er sich eingestehen wollte.

Nicht nur wegen ihrer engen Bindung, nein auch wegen dem gesellschaftlichen Kontakt und der Gespräche, die hier einfach fehlten. Noch nie zuvor hatte er sich so isoliert gefühlt und allmählich begann er zu glauben, dass er den Verstand verlor. Denn wenn er auf Jagd war und Tiere sah, die es nicht lohnte, als Mahlzeit erlegt zu werden, sprach er mit ihnen. Auch hatte er sich bereits dabei erwischt, mit Pflanzen oder sogar Steinen zu sprechen. Es machte ihm Angst, doch er sagte sich immer, dass die Zeit schon bald vorbei war, obwohl er gerade einmal drei Monate seiner Ausbildungsphase hinter sich gebracht hatte.
 

Da er ausgeschlossen hatte, durch das Brombeerfeld zu wandern, überlegte er es zu umgehen, doch leider nahm dieses unliebsame Unkraut kein Ende und er fragte sich, ob Quintus bis dahin nicht schon längst ein neues Versteck ausgesucht haben würde. Seufzend entschied er sich, einen der unheimlichen Bäume zu erklimmen und die Lage aus einiger Höhe neu einzuschätzen. Geschickt schwang sich das Goldauge an dem knorrigen Stamm empor und kniete auf einem der höhergelegenen, abgebrochenen Äste. Angestrengt spähte er über das Gestrüpp hinweg. Es war stockdunkel und er wusste, dass Quintus in einem dunkelgrünen Ledermantel gehüllt aufgebrochen war, weshalb es ihm schwerfallen würde, diesen auszumachen.

Zu seinem Glück wurde der Humunkulus scheinbar unachtsam, da er eine Bewegung in einiger Entfernung ausmachte, die nur von diesem stammen konnte.

Perfekt, lobte er sich selbst. Gleich habe ich dich.

Langsam und unauffällig löste Smith den geschulterten Bogen und nahm einen der Pfeile aus seinem Köcher. Anschließend griff er nach dem Seil, dass er an seinem Gürtel befestigt hatte und band es an das Geschoss. Dann wählte er sich einen Baum aus, der am anderen Ende des Brombeermeers, aber weit genug von Quintus entfernt stand, damit dieser nichts von Smiths nächsten Schritten bemerkte. Der Schüler schätzte die Distanz zu diesem ein.

Das Seil dürfte reichen. Jetzt darf nur nichts schief gehen.
 

Der angehende Jäger verschloss kurz seine Augen und konzentrierte sich auf den steten Strom, der seinen Körper durchlief und ihn mit magischer Energie versorgte.

Der Spiritakreislauf, so hatte Quintus ihm erklärt, war die Ursache dafür wie viel Magie man wirken konnte und wie stark sie war. Es war Smith noch immer ein Rätsel, wie er und die anderen drei überhaupt einen solchen Kreislauf haben konnten. Schließlich waren sie aus einer ganz anderen Welt und nicht im Umgang mit der Magie bewandert gewesen. Es gab nur eine logische Schlussfolgerung und diese musste mit dem Stein zu tun haben, den er von dem Alten erhalten hatte und der seit ihrer Ankunft spurlos verschwunden war. Dass sie dann sogleich die Kraft von Helden erhalten hatten, konnte er noch immer nicht wirklich fassen.
 

Wie immer, wenn er sich auf seinen magischen Quell fixierte, überkam ihn eine unglaubliche Ruhe. Sein Kreislauf war wie das weite Meer an einem windstillen Tag. Unendlich, tief und unberührt, beruhigend und gleichzeitig überwältigend. Nur sein Spiritakreislauf konnte ihm einen solch konzentrierten und entspannten Gemütszustand bescheren. Wann immer er aufgebracht oder wütend wurde, meditierte er und tastete nach dem steten Strom, dann ging es ihm gleich besser und er war wieder ruhig und konnte sich jeder Aufgabe stellen.

Jetzt jedoch, musste er sich dieser Kraft aber bedienen und sofort als er sich darauf einstellte, bäumten sie sich, wie kraftvolle Wellen, auf und durchströmten ihn mit einer seiner unfassbaren Fähigkeiten.

Aufgeladen mit seiner Macht öffnete er die Augen, entfesselte den Zauber und meinte zufrieden zu sich selbst, als er wusste, dass es geklappt hatte:

„Dann beeile ich mich besser mal. Mir bleibt nicht viel Zeit.“
 

Ohne weitere Umschweife spannte er deshalb den Pfeil in den Bogen, visierte sein Ziel an und feuerte das Geschoss ab. Surrend flitzte es durch die Luft und schlug mit einem dumpfen Laut in den Stamm des Baumes ein. Überprüfend zog er noch einmal an dem Seil, das er an den Pfeil gebunden hatte und stellte zufrieden fest, dass alles hielt. Nun befestigte er das andere Ende um den Stamm seines Standortes. Als er damit fertig war, konnte er sich nun, wie mit einer Seilbahn, auf die andere Seite gleiten lassen, da er seinen Pfeil extra tiefer in den anderen Baum gefeuert hatte. Eilig legte er den Bogen über das Seil und glitt auf die Lichtung seines Opfers hinüber. Mit einem eleganten Salto landete er vor dem Baum. Selbstzufrieden und in aller Ruhe schlenderte er auf seine Beute zu, während er seinen Bogen wieder schulterte. Sein Gegenüber stand ungerührt, aber sehr steif vor ihm. Es hatte ihn immer noch nicht bemerkt und sein Mantel hing skurril nach links, von ihm, davon. Das gesamte Umfeld schien unwirklich ruhig, fast verloren, als wäre ihm etwas geraubt worden. Siegessicher stand Smith nun vor Quintus und legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte:

„Hab ich dich.“

Erst als er den Satz ausgesprochen hatte, kam das Leben zurück in den Anderen, denn plötzlich flackerte der Mantel wieder im Wind und auch die restliche Umgebung war erneut befreit von seiner Magie.

„Fast“, drang es nur an Smiths Ohr, als er hinter sich eine leichte, fast geräuschlose Erschütterung wahrnahm. Überrascht fuhr er herum und machte Quintus aus, der in einem schwarzen Lederhemd vor ihm stand.

„Aber wie kann das sein?“, regte sich das Goldauge auf und schlug die Hände über den Kopf zusammen.

„Ganz einfach, ich habe dir eine Falle gestellt“, erklärte der Ausbilder ruhig und monoton. „Ich habe einen Köder ausgelegt und nur drauf gewartet, dass du drauf hereinfällst.“

Der Fetzen, ärgerte sich Smith und funkelte seinen Lehrer missmutig an.

„Ich war mir sicher, dass du darauf hineinfällst und habe dann meinen Mantel nur auf einen Stock gehängt und in einem Baum auf die gewartet. Ich muss zugeben, dass ich nicht damit gerechnet hatte, dass du deine Zeitmagie einsetzen würdest, um den Zeitfluss der Lichtung anzuhalten, damit ich nicht bemerke, wie du dich mir näherst. Du lernst schnell.“

Verdammt. Schon wieder verloren., empörte sich der Held. Wie konnte ich auch nur auf so einen offensichtlichen Trick hereinfallen.
 

Seinen Schüler nicht weiter beachtend ergriff Quintus seinen Umhang, warf ihn sich über und wandte sich zum Gehen.

Wieder einmal wünschte sich Smith, dass er eine Reaktion zeigte. Er hätte ihn ermuntern oder auslachen und verspotten können, doch für den Humunkulus war das Training nun vorüber und es gab nichts weiter zu sagen.

Schmerzlich dachte er an Kyth. Dieser hätte ihn nun mit Sicherheit ausgelacht und gepiesackt, bis er beleidigt davon gestapft wäre, nur um ihn im nächsten Moment von hinten in den Arm zu nehmen und zu sagen, dass er nur Spaß gemacht habe.

Wie sehr er sich nach einer Umarmung, einem Kuss und der Stimme seines Geliebten sehnte. Es versetzte ihm einen Stich und er kam nicht umhin sich zu fragen, wie es ihm wohl ging. Auch wollte er wissen wie es Grahl oder Mia erging, doch Kyth fehlte ihm auf eine andere, innigere Art.
 

Seufzend trottete Smith hinter Quintus her und bereitete sich auf eine weitere, verschwiegene Episode ihrer gemeinsamen Zeit vor. Zu seiner Überraschung ergriff der Andere, ohne dass er angesprochen oder gefragt wurde, das Wort:

„Unsere Vorräte, die wir nicht selbst fangen oder sammeln können, neigen sich dem Ende zu. Wir werden also in das nächste Dorf gehen, bevor wir zum Lager zurückkehren.“

Das Goldauge wollte seinen Ohren nicht trauen. Hatte Quintus tatsächlich gesprochen? Und dann auch noch eröffnet, dass sie unter Menschen gingen? Es war wie Ostern und Weihnachten zusammen. Seit drei Monaten waren die beiden unter sich und keiner Menschenseele begegnet und nun endlich würden sie ein Stückchen Zivilisation aufsuchen. Smith wollte einen Luftsprung machen und jubeln, unterließ dies aber, da er nicht wusste ob er seinen Meister damit überfordern würde. Schließlich waren Emotionen und Reaktionen der Menschen für ihn fremd, obwohl er schon so lange unter ihnen lebte und von einem geschaffen worden war.
 

Während sie also durch den Wald, in Richtung Dorf, schritten, kam Smith nicht umhin sich zu fragen, wie das Leben für einen Humunkulus war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie wirklich keine Gefühle oder Meinung hatten. Auch kleine Kinder entwickelten mit der Zeit eigene Ansichten, wieso dann nicht diese Wesen. Ob sich Gefühle bei ihnen nicht einstellten, konnte er nicht beurteilen, wollte aber nicht daran glauben, dass sie für immer steife Puppen sein mussten. Sie waren den Menschen so ähnlich. Sie sahen aus wie sie, sprachen wie sie, fühlten sich an wie sie. Wieso also sollten sie nicht auch zu mehr im Stande sein. Immer wenn der Held auf dieses Thema zu sprechen kam, antwortete Quintus nur:

„Wir Humunkuli wurden geschaffen um unseren Herren zu dienen. Wir kennen nur das Bedürfnis unserem Meister zu folgen. Mehr gibt es für uns nicht und wir tun alles was er von uns verlangt. Wir hinterfragen seine Ansichten nicht. Wir sind nur Werkzeuge.“

Nur Werkzeuge, hallte es in Smith Kopf nach. Wie kann man sie nur als Werkzeuge sehen? Sie sind wie wir. Da bin ich mir sicher. Sie sind kleine Kinder, die an die Hand genommen werden müssen, damit sie zu einem vollen Individuum werden können. Wenn wir ihnen nicht helfen, dann bleiben sie auf ihrem Stand. Ich finde es schade, dass niemand sich die Mühe macht, sie näher kennenlernen zu wollen. Sieht man sie denn wirklich nur als Mittel zum Zweck?
 

Eiligen Schrittes holte Smith auf und legte einen Arm um den Humunkulus, der sich nicht weiter daran zu stören schien, aber ihm einen schnellen verwirrten Blick zuwarf. Das Goldauge schmunzelte. Allein diese kleine Reaktion verrät mir, dass sie sich bestimmt ihre eigenen Gedanken machen.

„Keine Sorge, ich tu dir schon nichts“, lachte der Held und wuschelte seinem Lehrer durchs dichte braune Haar.

„Wieso sollte ich mir Sorgen machen?“, fragte der Humunkulus gleichgültig nach.

„Ach ist schon gut. Wir sollten uns beeilen, damit wir schnell in die Stadt kommen, was meinst du?“, erwiderte Smith amüsiert und war entschlossen Quintus an die Hand zu nehmen und ihn in die Welt der Menschlichkeit zu führen.

„Wie du meinst“, entgegnete dieser wie immer.
 

Sie waren etwa eine Stunde unterwegs, als sie sich einem kleinen überschaulichen Dorf näherten. Es war unweit des Waldes errichtet worden und von goldenen Weizen-, saftigen Mais-, Kartoffel- und Gemüsfeldern umgeben. Auf den grünen Weiden grasten Kühe, Schafe und Ziegen, die von Hirten und ihren Hunden behütet wurden. Die Behausungen waren schlichte Holzhütten mit Strohdächern, die wild, fast willkürlich in die Landschaft gesetzt wirkten. Ein kleiner Platz, der die Hütten verband, sollte wohl der Marktplatz sein. Er war nicht gepflastert sondern bestand aus platt getrampeltem Erdboden. Bevor sich Smith und sein Lehrmeister dem ersten Menschen näherten, verhüllte Quintus sein Gesicht mittels seinem Kapuzenmantel.

„Warum tust du das?“, fragte der Goldäugige verwirrt.

„Glaub mir, es ist einfacher so“, war die Antwort.

Stirnrunzelnd folgte Smith dem Anderen wieder und begrüßte freudig die Leute, die ihnen entgegen kamen. Auch diese grüßten zurück oder tuschelten hinter den Rücken der fremden Wanderer. Quintus hingegen hielt den Kopf gesenkt und beeilte sich, um auf den Marktplatz zu gelangen und die Besorgungen zu erledigen.

„Wir sollten uns beeilen. Je schneller wir hier weg sind, desto besser.“

Der junge Held, der sich freute endlich wieder unter Menschen zu sein, konnte nicht glauben, was er da hörte. Wieso hatte es der Humunkulus so eilig? Sie waren doch gerade erst angekommen und es war schön unter Gleichgesinnten zu sein. Sicher das Training war wichtig, aber war es denn so schlimm für ein paar Stunden hier zu bleiben, vielleicht ein Taverne aufzusuchen, etwas anständiges zu essen. Sich auszutauschen, zu lachen und zu trinken.

Schlimm genug, dass er damals nicht nach Woods reisen durfte, um an Mias Geburtstag dabei zu sein, nein man isolierte ihn vollkommen von anderen.

Wütend packte Smith seinen Lehrer am Arm und riss ihn herum. Bedrohlich funkelten seine goldenen Augen auf als er Quintus anfuhr:

„Warum! Warum müssen wir denn so schnell wieder hier weg?“

Die leeren dunkelbraunen Augen trafen die des Helden und auch das ausdruckslose Gesicht verriet nicht was in dem Wesen vorging.

„Glaub mir, es ist besser so, wenn du mit mir unterwegs bist“, versicherte der Lehrmeister ruhig aber bestimmt.

„Ich verstehe das nicht. Erkläre es mir“, verlangte Smith und kämpfte gegen seine aufschäumende Wut an.
 

„Menschen hassen Humunkuli.“

War die Antwort, die der Held darauf erhielt. Diese riss ihm den Boden unter den Füßen weg und er fühlte sich als fiele er in eine tiefes Loch ohne Boden.

Wie konnte das sein? Menschen erschufen sie und die Humunkuli taten alles, was ihre Meister von ihnen wollten, wie also konnten sie gehasst werden? Man umgab sich doch nicht mit etwas, dass man nicht haben wollte. Wie passte das alles zusammen?

Tausend Fragen schwirrten in Smiths Kopf herum, die er alle stellen wollte, aber nicht wusste, wo er beginnen sollte. Zudem war er fassungslos über die Gleichgültigkeit, mit der ihm diese Tatsache entgegengeschleudert worden war und wollte sie deshalb wohl auch nicht wahrhaben.

„Wie kannst du so etwas sagen?“, entsetzte sich der Goldäugige. „Glaubst du das wirklich?“

„Es ist eben so. Wer schert sich schon um ein Werkzeug?“

Dieser Blick, diese Aussage, einfach alles, was Quintus soeben war, erzürnte Smith. Blind vor Wut und mit bebendem Herzen packte er den Anderen, mit beiden Händen, am Mantel und drückte ihn gegen eine Hauswand. Kein Widerstand wurde geleistet. Die Arme des Humunkuli hingen schlaff an ihm hinunter und er sah den Anderen durch leere Augen an, wie eine Puppe, deren Fäden durchtrennt worden waren.

„Sag das nicht. Sag das nicht! Das kann nicht wahr sein. Die Menschen hassen euch nicht. Da bin ich mir sicher“, hauchte der angehende Jäger. Sein Zorn schien ihm die Stimme zu rauben. Er fühlte sich machtlos und überfordert.

Konnte es sein, dass Quintus recht hatte? Musste er der Tatsache ins Gesicht blicken und sich eingestehen, dass er als Werkzeug angesehen wurde und nicht als mehr? Wenn er daran zurückdachte, wie geringschätzend Kogar über Quintus gesprochen hatte, wurde ihm schwer ums Herz.

Müde lehnte er seine Stirn an die Brust des Anderen und ließ von ihm ab. Sein Zorn wandelte sich in Niedergeschlagenheit und in diesem Moment wünschte er sich nichts sehnlicher, als von Kyth umarmt und aufgemuntert zu werden. Sein Partner hätte die richtigen Worte für diese Situation gefunden und ihn aufgebaut, ihm gesagt, dass sie alles daran setzen würden, dass Menschen und Humunkuli sich annähern würden – das glaubte zumindest Smith.

Da Kyth jedoch nicht da war, musste er sich selbst der Tatsache stellen, dass es in Elayaden Missstände gab, die er nicht gutheißen konnte.
 

Die beiden verharrten noch einige Augenblicke in ihren Positionen, als ein ohrenbetäubendes Gebrüll, das direkt vom Marktplatz herrührte, Smiths Aufmerksamkeit erweckte.

Was geht da vor?

Besorgt eilte er davon und erreichte eine Menschentraube, die sich um den lauthals schreienden Mann gebildet hatte. Dieser fluchte und zeterte, während er beständig nach etwas oder jemanden schlug und trat. Der junge Held beeilte sich, sich durch die Menge zu kämpfen. Dabei wurde er empört angeschnauzt und missbilligend angestarrt. Als er den Ort des Geschehens endlich erreicht hatte, traute er seinen Augen nicht. Ein alter, fetter, glatzköpfiger Mann trat auf eine junge Frau ein. Sie war klein und zierlich, hatte blondes Haar, dass zu zwei Zöpfen geflochten war und trug ein schmutziges, zerlumptes Kleid. Sie war übersät mit blauen Flecken, hatte Schürfwunden und Prellungen. Ihre Nase war offensichtlich gebrochen und er hatte ihr bereits einige Zähne ausgeschlagen. Sie flehte weder um Hilfen, noch schrie oder weinte sie. Sie entschuldigte sich stets seelenruhig und unbekümmert, während die Füße und Fäuste des Alten sie beständig malträtierten.
 

Als er erneut seine geballte Hand auf sie niedergehen lassen wollte, ergriff Smith diese und hinderte ihn mit eisernem Griff daran.

„Was zur Hölle fällt dir ein!“, bellte der Mann, der stark nach Alkohol stank.

„Was mir einfällt?“, empörte sich Smith ungläubig. „Das sollte ich Sie fragen. Wie kommen Sie dazu, dieses Mädchen grün und blau zu schlagen? Und wie kann es sein, dass ihr niemand hilft?“

Bedrohlich schweifte sein Blick über die Anwesenden, die ungerührt, fast schon erbost über diese Aussage, dreinschauten.

„Pah! Wieso sollte irgendjemand ihr zu Hilfe eilen? Sie gehört mir und ich kann mit ihr machen, was ich will! Schließlich habe ich eine Menge Gold für dieses Ding bezahlt, da möchte man meinen, dass sie die Einkäufe nach Hause tragen kann, ohne sie auf dem ganzen Platz zu verteilen“, brüllte der Alte und löste sich aus Smith griff, um in einer tragischen Geste auf die am Boden liegenden Einkäufe zu deuten. Zustimmendes Getuschel von Seiten der Umstehenden erklang.

Er hat sie wegen einer solchen Lappalie derart misshandelt?Und was heißt überhaupt sie gehört ihm?

Schockiert blickte Smith zwischen dem Mann, dem Mädchen und den Einkäufen herum. Es dauerte einen Moment bis er sich wieder gefangen hatte, beugte sich dann jedoch zu der jungen Frau herunter und reichte ihr eine Hand. Ungerührt starrte sie darauf, machte aber keine Anstalten sich helfen zu lassen. Erst jetzt erkannte Smith eine Tätowierung am Halse des Mädchens. Sie war also ein Humunkuls. Wie er von Quintus erfahren hatte, erhielt jeder Humunkuli nach seiner Schöpfung eine Tätowierung, damit man sie leichter ihrem Besitzer zuordnen und von echten Menschen unterscheiden konnte.

Es ist also wahr. Die Menschen hassen die Humunkuli wirklich. Sie sehen nichts weiter als Werkzeuge in ihnen und wenn sie nicht tun was sie wollen, dann werden sie so behandelt. Das ist grausam. Einfach grausam.
 

Tränen des Zorn sammelten sich in Smith Augen und er ballte seine Hände zu Fäusten, als er sich zu dem stinkenden Mann umwandte. Er wollte ihn die gleiche Medizin schmecken lassen, die er eben seiner Untergebenen zuteil werden ließ. Er wollte ihn einfach verprügeln. Wollte, dass er spürte, was sie jetzt fühlte. Er wollte Ungerechtigkeit mit Selbiger begleichen.

Doch noch ehe der erste Schlag sein Ziel fand, wurde er abrupt daran gehindert – so wie er den Alten gehindert hatte.

Wutendbrand wandte er sich nach dem Störenfried um und stellte überrascht fest, dass es sich um Quintus handelte. Er war ihm also gefolgt und wollte nun verhindern, dass er sich so verhielt wie der Andere?

„Lass mich los!“, er hat es verdient, zischte Smith. „Er hat sie geschlagen, nur weil sie den Einkauf fallen lassen hat! Er verdient eine Lektion. So behandelt man niemanden. Lass mich sofort los!“

„Nein. Es wird nichts daran ändern, wenn du ihn schlägst. Außerdem wurde mir aufgetragen, dass ich dich aus Ärger heraushalten soll“, erklärte Quintus gelassen, ohne sich dem Szenario zu widmen. „Komm jetzt einfach. Wir erledigen unsere Geschäfte und verlassen diesen Ort.“

Ist das sein Ernst? Eine Gleichgesinnte wird vor seinen Augen verdroschen und er tut nichts? Er hält mich auch nur auf weil Kogar ihm befohlen hat, mich aus Ärger heraus zu halten. Kann der Befehl des Meisters wirklich so stark sein, dass man alles andere hintan stellt?

„Aber es ist Ungerechtigkeit!“, entfuhr es Smith.

„Nein. Es ist wie es ist. Wenn ein Meister unzufrieden mit der Leistung des Humunkulus ist, ist es üblich, dass er ihn Maßregeln darf, wie er möchte“, erklärte Quintus weiter.

„Richtig! Und nur weil du deinen Humunkulus tun und machen lässt, was er will, kannst du das nicht von anderen erwarten!“, mischte sich der Alte ein und warf Smith und dem Humunkulus einen angewiderten Blick zu. Es war ihm anzusehen, dass er niemals erlaubt hätte, dass ein Untergebener ihn so in die Parade fahren würde.

Über diese Aussage noch mehr erbost, flammte der Hass in Smith zu einem ungeheuren Inferno an und er überlegte, ob er einen Zeitzauber wirken, die Umgebung anhalten und den Alten dann zur Rechenschaft ziehen oder ihm einfach seine Lebensenergie entziehen sollte.

Währenddessen erhob sich der Mann, packte seiner Dienerin in die Haare, zerrte sie davon und schnauzte sabbernd:

„Dafür wirst du mir heute Abend jeden Wunsch erfüllen und mir fällt da schon einiges ein, was ich mit dir anstellen möchte.“ Ein unheilvolles Gelächter des Glatzkopfes folgte, sowie das sanfte:

„Wie Ihr wünscht mein Herr.“
 

Mit dem verschwinden des Alten löste sich auch die Menschentraube auf. Doch überall konnte man das Gemurmel und die Fassungslosigkeit bezüglich Smiths Tat vernehmen.

Allmählich kam er sich vor, als hätte er etwas falsch gemacht, obwohl er nur helfen wollte.

Verwirrung, Zorn, Verzweiflung und Ratlosigkeit mischten sich in ihm und er wusste nicht, wie er mit all diesen Gefühlen klarkommen sollte. Er hatte niemanden an den er sich wenden konnte, niemanden der ihn verstand und niemanden der ihm Rückendeckung oder Trost gab. Er war hilflos, allein und überfordert. War es am Ende eine gute Idee hierher zukommen? Hätten sie nicht doch im Wald bleiben sollen? Vielleicht wäre er dann nicht auf diesen Missstand gestoßen. Aber war es richtig die Augen vor einem solchen Zustand zu verschließen?

Smith wusste es nicht und so ließ er die Faust sinken und folgte Quintus. Sie erledigten ihre Besorgungen und verließen das Dorf.

Wo immer sie auf Leute trafen, tratschte man über sie, lachte sie aus oder scheuchte sie davon. Es war, als stünde Smith neben sich, als wäre er in diesem Moment selbst ein Humunkulus, der blind seinem Meister hinterher trottete.

Es musste schrecklich für die Humunkuli sein, so leben zu müssen.

Als sie das Dorf hinter sich gelassen hatte, kreisten die Gedanken des Helden nur um dieses eine Erlebnis und er war sich sicher. Es musste sich etwas ändern.

Ein verführerisches Angebot

Klirrend schlug Metall auf Metall. Kyth war nur eine Klingenbreite vom Gesicht seiner Lehrmeisterin entfernt, die ihn zähnefletschend anknurrte. Sie versuchte seine Parade mit aller Gewalt zu durchbrechen. Es verblüffte den Schwarzhaarigen immer wieder, wie kräftig die zierliche Frau war. Allzu schmerzlich war aber die Realität. Kira ging hart mit ihm ins Gericht, wenn sie trainierten. Oft hatte er Prellungen, Schnitt- und Stichwunden oder Knochenbrüche erlitten. Den Heilern Exilias war es zu verdanken, dass diese jedoch noch am selben Tag wieder verarztet und genesen waren.

Schwer atmend und mit Schweißtropfen auf der Stirn, stemmte er sich gegen seine Kontrahentin und ließ keinen Moment seine Aufmerksamkeit sinken. Er wusste, dass die Frau sehr trickreich war und selbst die kleinste Gelegenheit nutzte, um sich einen Vorteil gegenüber ihrem Widersacher zu verschaffen. Seine Arme zitterten vor Anstrengung und er überlegte krampfhaft, wie er sie auf Distanz bringen konnte.

Die Frau lächelte selbstzufrieden, als sie sah, wie angestrengt ihr Schützling nachdachte und erhöhte die Intensität ihres Angriffs. Im Gegensatz zu ihm schien ihr dieses Kräftemessen kaum etwas von ihrer Kraft abzuringen.

Doch noch ehe Kyth sich eine Strategie zurechtlegen konnte, ließ die Kriegerin von ihm ab, wich mit einem kräftigen Sprung zurück und rief: „Jetzt!“
 

Verdutzt blickte ihr Schüler sich um. Im letzten Augenblick bemerkte er, dass unter ihm ein gelbes Siegel aufflammte und wenige Schritte davon entfernt sein Magielehrer Ryu stand, der seine Hände auf den Boden legte und den Spruch für das Lähmsiegel wirkte. Fluchend machte auch Kyth einen Satz in die Luft und beschwor einen Dunkelheitsspruch, der Ryu umschlang und in die Knie zwang. Die nun schwarzen Augen Kyth glänzten triumphierend. Der Schattenfessel würde sein Meister nicht entkommen können. Jetzt musste er sich nur noch um Kira kümmern.
 

Als er wieder am Boden aufsetzte, machte er die Frau auf einem Fass aus. Sie winkte ihn lässig zu sich und leckte dabei über ihre Lippen. Man konnte ihr ansehen, dass sie Stolz auf Kyth war. Er war der Attacke Ryus unbeschadet entgangen und nun würden die beiden ein finales Duell austragen.

Siegessicher stürzte der Schwarzhaarige, mit erhobener Klinge, auf die Frau zu, während diese gelassen auf ihrer erhöhten Position abwartete. Noch ehe der junge Held seine Gegnerin erreichte, flammten unter seinen Füßen weiße Siegel auf, die ihn so sehr blendeten, dass seine Augen zu tränen begannen und er sich nicht mehr recht konzentrieren konnte.

Verdammt. Ryu muss Blendsiegel um sie herum verwendet haben., stellte er zu spät fest.

Seines Sehvermögens beraubt, entfesselte Kyth sein Gespür für Schatten, wodurch er schnell bemerkte, dass Kira auf ihn zu stürmte. Im letzten Moment rollte er nach links ab und entging so ihrer Attacke. Sofort wirbelte er herum und fesselte sie an Ort und Stelle. Anschließend zwang er auch sie mit der Schattenfessel in die Knie. Da sie erheblich mehr Widerstand, als Ryu leistete, wollte ihm dies nicht so recht gelingen, weshalb er den am Boden liegenden Arkanen Berater durch seinen eigenen Schatten hindurchzog und ihn aus dem Schatten Kiras auf diese schleuderte. Keuchend stürzten die beiden und lagen dann gefesselt, durch Bänder der Dunkelheit, am Boden.

Mit noch immer eingeschränktem Sehfeld wandte sich der Schüler an seine Lehrmeister. Seine Klinge hielt er nur wenige Zentimeter von Krias Gesicht entfernt und meinte ernst:

„Dieses mal habe ich gewonnen.“

Er konnte hören, wie sehr sich seine Meisterin ärgerte, da sie mit den Zähnen knirschte. Dies tat sie immer, wenn ihr etwas missfiel oder sie verärgert war.
 

„Gut gemacht“, lobte Ryu. „Wenn es dir nichts ausmacht, dann befreie uns doch bitte.“

Dem Wunsch seines Lehrers nachkommend, löste er die Schattenfesseln und die beiden erhoben sich umgehend. Während Kyth sich die Augen rieb, um endlich dem Fluch des Siegels zu entgehen, schlugen sich die anderen beiden den Dreck von ihren Klamotten.

„Du warst sehr gut“, lobte nun auch die strenge Kira. „Ich dachte, mit den Blendsiegeln würden wir dich außer Gefecht setzen, aber du bist dir deiner Kräfte scheinbar vollends bewusst. Ryu hat gute Arbeit geleistet.“

Kräftig schlug sie ihm mit der Hand auf die Schulter und lächelte ihn mit stolz geschwellter Brust an.

„Nicht nur Ryu hat sein Bestes gegeben. Auch du Kira warst ihm eine gute Lehrerin“, meldete sich eine fremde Männerstimme zu Wort. Sie wirkte müde und streng. Verwirrt blickte Kyth in Richtung der Stimme, konnte aber nur verschwommene Schemen ausmachen.

Wer ist das?, fragte er sich und konzentrierte sich darauf, den Unbekannten zu erkennen.

„Euer Majestät“, erklang nun Ryus demütige Stimme und er sowie Kira gingen auf die Knie und senkten ihren Blick.

Was? Ist das der Prinz?, dachte der Held und wollte den Mann noch dringender erkennen.

Mit einem plötzlichen Ruck, wurde auch er in Richtung Boden gerissen.

„Auf die Knie mit dir. Du stehst seiner Majestät dem Prinzen gegenüber“, fuhr Kira ihren Schützling an.

Verlegen senkte Kyth sein Haupt, obwohl er nicht den geringsten Grund sah, sich vor einem fremden Royalen in den Dreck zu beugen. Sein Respekt vor Kira und Ryu gebot es ihm aber, der Forderung nach zu kommen.
 

„Es freut mich zu sehen, welche Fortschritte du machst“, meldete sich nun die Stimme des Prinzen erneut zu Wort. „Es wäre mir deshalb eine Ehre, wenn ihr drei heute mit mir speisen würdet. Ich habe einiges mit euch zu besprechen.“

„Es ist uns ein Vergnügen an Eurer Tafel sitzen zu dürfen“, erwiderten Kira und Ryu synchron und ließen Kyth somit keine Zeit für eine Erwiderung.

„Dann erwarte ich euch in einer Stunde.“ stellte der Prinz zufrieden fest, machte kehrt und verschwand wieder im Herrenhaus.
 

Es war das erste mal, dass der Prinz in Erscheinung getreten war und Kyth hatte ihn wieder nicht gesehen. Er ärgerte sich darüber und verwünschte den Arkanen Berater, der ihn derart geblendet hatte. Schon seit langem fragte sich der Held, was für ein Mann der Führer Xändyrs war. Denn bis auf die Beschreibung durch Untergebene, gab es kein Bild von diesem im gesamten Herrenhaus oder in der Hauptstadt. Es war, als wollte der Prinz nicht, dass man wusste wie er aussah. Als wollte er ein Mysterium oder ein Geist sein. Doch warum? Musste ein Regent nicht Präsenz zeigen? Auf seinen Schultern ruhte doch schließlich das Gewicht eines ganzen Landes. Die Bürger mussten sich auf ihn verlassen können und er müsste eine Stütze für sie sein. Weshalb also hielt er sich bedeckt? Warum handelte er stets durch seine Berater?
 

„Welch eine Ehre“, bellte Kira begeistert und schlug Kyth abermals so fest in den Rücken, dass er fast vornüber fiel. „Nicht viele bekommen die Gelegenheit, mit seiner Majestät zu sprechen. Ich hoffe du fühlst dich geehrt.“

Der Stolz der Lehrmeisterin kannte keine Grenzen. Am liebsten wäre sie ihrem Schüler in die Arme gefallen, wurde aber von ihrer kontrollierten und abgeklärten Art daran gehindert. Die aufkeimende Woge der Freude, über den Erfolg der bisherigen Ausbildung, unterdrückte sie mit einigen konzentrierten Atemzügen, ehe sie sich dem Violettäugigen wieder, gewohnt streng, widmete und meinte:

„Ich würde dir raten, die Heiler aufzusuchen und dich danach zu waschen und saubere Kleidung anzulegen. Ich werde dich dann in deiner Kammer abholen.“

Nickend verabschiedete sich Kyth von seinen Ausbildern und machte sich auf den Weg in den Krankenflügel, während Ryu und Kira auf dem Trainingsplatz zurückblieben und ihm gelassen hinter hersahen.
 

„Er ist äußerst talentiert. Du musst sehr zufrieden mit ihm sein“, brach der Arkane Berater, nach einigen Augenblicken der Stille, das Schweigen.

Die Frau verschränkte ihre Arme vor der Brust und wippte nervös mit ihrem Fuß.

„Woher willst du wissen, wie ich mich fühle?“

„Nun ganz einfach. Ich kenne dich schon sehr sehr lange wie du weißt und deshalb kenne ich dein Verhaltensmuster auch dementsprechend gut.“

Innerlich ärgerte sich die Frau über diesen Kommentar. Zu sehr versuchte sie gefasst und hart zu wirken. Selbst ihren Freunden gegenüber. Da kam es ihr gar nicht gelegen, dass einer dieser, sie so leicht durchschauen konnte.

Etwas gelangweilt von der ewig distanzierten Art Kiras, wandte sich Ryu schulterzuckend zum Gehen. Dabei überlegte er, wen er nun anstrengender fand. Lelou, der sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit an ihn heranmachte oder diese Eisprinzessin, die sich einbildete eisern sein zu müssen, nur weil sie die einzige Frau in einer Führungsposition war.

Letztlich sind wir dennoch alle Freunde, erinnerte sich Ryu und dachte an die Zeiten zurück, in denen Kogar, Kira, Azur, Prinz Rapier, Lelou und er noch Heranwachsende waren. Sie hatten viel Spaß miteinander gehabt und auch einiges durchgestanden, wieso also musste sich die Kriegerin nur so aufführen.

„Wir sehen uns dann beim Essen“, meinte er mit zum Abschied erhobener Hand.
 

Nachdem Kyths Augen wieder geheilt worden waren, hatte er sich in seine Gemächer zurückgezogen, um sich zu waschen und umzuziehen.

Der junge Held war nun in vornehme, schwarze Gewänder aus feinster Seide gehüllt. Dazu trug er dunkle Lederschuhe und einen weißen Gürtel. Als er sich so im Spiegel betrachtete, stellte er zufrieden fest, dass er eine durchaus stattliche Erscheinung bot. Seit das Training begonnen hatte, hatte er an Muskeln zugelegt und die Klamotten spannten sich eng an seinen wohldefinierten Körper. Zum ersten mal seit langem, dachte er an Smith. Wie es ihm wohl gehen mochte und ob er oft an ihn dachte?

Vermutlich nicht. Bestimmt ist er ebenso wie ich total in sein Training eingespannt und hat kaum eine Sekunde Zeit, um über irgendetwas anderes nachzudenken., wollte er sich einreden, damit die leise Stimme in seinem Hinterkopf, die ihn nun schmerzlich daran erinnerte, wie sehr er seinen Gefährten aus seinen Gedanken verbannt hatte, endlich wieder schwieg.

Es war tatsächlich so, dass Kyth wenig Zeit hatte, um sich klare Gedanken machen zu können. Früh morgens holte ihn Kira ab, um ihn am Schwert auszubilden. Nach dem üblichen Schwerttraining übernahm dann Ryu das Kommando und unterwies ihn in der Kunst der Magie und brachte ihm die Geschichte Xändyrs näher. Anschließend aß er zu Mittag, um am Nachmittag wieder mit seinen Lehrmeistern zu trainieren oder um sich den Patrouillen in der Stadt anzuschließen. Wenn er dann spät abends in seine Gemächer zurückkehren durfte, blieb gerade noch Zeit um sich zu waschen und dann erschöpft in einen traumlosen Schlaf zu fallen.

Jetzt wo er aber wieder an Smith dachte, versetzte es seinem Herzen einen schmerzhaften Stich. Es war fast so, als hätte er diesen betrogen. Früher waren sie unzertrennlich gewesen und wenn sie nicht beieinander waren, hatten sie doch stets regen Kontakt. Doch nun war alles anders. Jeder war auf sich gestellt und sie würden sich erst in acht Monaten wiedersehen.

Wie es dann wohl sein wird?

Sorge ergriff Besitz von seinem Herzen, als hätte ihn eine Schlange gebissen, deren Gift sich nun ihn seinem Körper ausbreitete.

Was wenn Smith sich von ihm distanziert hatte? Wenn die Zeit ihre Gefühle für einander geschmälert oder gar ausgelöscht hatte? Vielleicht hatte sich sein Partner ja bereits in einen anderen Mann verliebt, während er hier war.

Kopfschüttelnd vertrieb er all diese dunklen Gedanken.

Nein niemals. So ist Smith nicht. Er würde mich niemals vergessen oder hintergehen. Er ist mir der Wichtigste auf dieser Welt und ich weiß, dass er genauso empfindet.

Die Schultern straffend und sich gut zuredend, schwor Kyth, alles dafür zu tun, dass es seinem Geliebten in Zukunft an nichts mangeln würde. Koste es was es wolle. Die Zuversicht und der Glaube an ihre Liebe kehrte zurück und durchströmte ihn erneut mit Kraft und Gewissheit. Sich selbst für seine negativen Gedanken tadelnd, wartete er ungeduldig auf Kira.
 

Diese ließ auch nicht lange auf sich warten. Wie üblich klopfte sie an, um nur eine Sekunde später die Tür aufzureißen und einzutreten.

Für einen kurzen Augenblick blieb Kyth der Atem stehen, als er seine Lehrmeisterin erblickte.

Sie war in ein enges, weißes, trägerloses Seidenkleid gewandet. Eine Perlenkette hing um ihren zierlichen Hals. Ihr langes graues Haar, hatte sie zu einem Pferdeschwanz geflochten, der ihr über die rechte Schulter hing. Ein dunkelblauer Saphirohrring steckte in ihrem freien linken Ohr. Zudem thronte auf ihrem Kopf ein dezentes Diadem.

Es war ihr sichtlich anzumerken, dass sie sich nicht wirklich wohl in solch feinen Gewändern fühlte, weshalb sie auf Kyths Blicke gereizt reagierte und ihn wütend durch ihre braunen Augen anfunkelte.

„Bist du fertig mit glotzen?“, keifte sie und baute sich bedrohlich vor dem Anderen auf.

Nervös wich dieser einen Schritt zurück.

So schön sie auch anzusehen war, es war offensichtlich, dass in ihrer Brust das Herz einer Kriegerin steckte und das sie niemals eine Dame des Hofes werden würde.

„J-ja. Ich war nur überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass du so~“

„WAS!?“, unterbrach Kira fauchend Kyths Satz. „Was hättest du nicht gedacht?“

Besänftigend winkte der junge Held ab, da er nicht wusste, wie er sich aus dieser Situation retten sollte und fragte unschuldig:

„Müssen wir nicht los? Der Prinz sollte sicher nicht zu lange warten oder?“

Ohne weiter auf eine Reaktion der Frau zu warten, trat der angehende Schwertkämpfer in den Gang hinaus.

Unverschämter, kleiner...., fluchte Kira ihm hinterher, beschloss dann aber die Sache auf sich beruhen zu lassen und folgte ihm.
 

Schweigend erreichten die beiden den Bankettsaal, indem an einer großen, reich gedeckten Tafel bereits der Prinz, zu seiner Rechten Kogar und zu seiner Linken Ryu saßen, die sich rege im Flüsterton austauschten. Kogar war es, der die beiden Neuankömmlinge als erster ausmachte, sich sogleich erhob und sie mit einer einladenden Geste zu sich winkte.

„Ah da seit ihr ja. Wir haben uns schon gefragt ob ihr gar keinen Hunger habt“, begann er und warf seiner Schwerster einen missbilligenden Blick zu.

„Es tut uns leid. Wir haben uns so angeregt unterhalten, dass uns die Zeit völlig entfallen ist. Bitte verzeiht uns Euer Majestät“, log die Kriegerin geschickt und warf sich auf die Knie. Kyth tat es ihr diesmal gleich, da er ihr keinen weiteren Ärger einhandeln wollte.

„Schon gut. Es ist alles in bester Ordnung. Wir sind selbst gerade erst hier eingetroffen. Macht euch keine Gedanken“, entschärfte der Prinz die Lage. „Setzt euch lieber zu uns. Lasst uns speisen und trinken und die Zusammenkunft genießen.“

Auf Wunsch des Prinzen erhoben sich die beiden wieder und nahmen Platz. Kyht wurde gebeten sich dem Regenten gegenüberzusetzen und Kira setzte sich rechts neben den Helden.

Nun also sah der junge Mann zum ersten Mal den Anführer Xändyrs. Er schätzte den Prinzen auf Mitte zwanzig. Er war recht blass und von imposanter Statur. Etwas kleiner als Kyth selbst, aber ebenso muskulös wie dieser. Er hatte glattes, blauschwarzes Haar und smaragdgrüne Augen. Er hatte ein wunderschönes und freundliches Gesicht, aber dicke Tränensäcke zeugten von einer tiefen Depression. Gewandet war der Prinz in königsblaue Gewänder, die von samt roten Ornamente geziert wurden. Eine goldene Schärpe hing über sein Hemd und sein Haupt wurde von einem silbernem Krönchen, welches einem Lorbeerkranz ähnelte, gekrönt.

Kyth war gefangen von der Erscheinung des Prinzen. Seit sie hier gestrandet waren, hatte er keinen Mann getroffen, den er so attraktiv, wie diesen, gefunden hatte. Die grünen Irden des Prinzen musterten den jungen Helden eingehend und ein zartes Lächeln umspielte daraufhin seine Lippen, was den angehenden Schwerkämpfer dazu veranlasste, peinlich berührt den Blick zu senken.

Sein Herz schlug etwas schneller und ein warmes Gefühl breitete sich in seinen Körper aus, dass von den Haarspitzen bis in seine Zehenspitzen strahlte. Diese Wärme fühlte er sonst eigentlich nur, wenn er mit Smith zusammen war. Smith ja richtig. Wieder fühlte er sich schlecht, weil er so angetan von einem Fremden war und seinen Freund einfach vergaß. Besorgt biss er sich auf die Lippen. Das hat nichts zu bedeuten. Rein gar nichts. Er sieht einfach gut aus, sprach er sich selbst zu und ignorierte die erneut tadelnde Stimme in seinem Hinterkopf.
 

Als die ersten Bissen schweigend zu sich genommen wurden, ergriff Kogar das Wort.

„Ich habe gehört, dass du gute Fortschritte machst. Kira und Ryu sind voll des Lobes. Und selbst der Prinz ist auf dich aufmerksam geworden. Es ist kaum zu glauben, dass du vor vier Monaten noch nicht einmal in der Lage warst deine Kräfte zu zügeln.“

Der Prinz ist auf mich aufmerksam geworden, wiederholte Kyth innerlich und erneut schlug sein Herz schneller. Leicht errötend versuchte er sich eine Antwort zurechtzulegen, doch der junge Regent war schneller.

„Sieh nur Kogar, du hast ihn in Verlegenheit gebracht. Bitte verzeiht. Mein Berater weiß nicht immer wie man taktvoll mit anderen umgeht.“

„Ist schon in Ordnung“, bekräftigte Kyth kurz und aß, mit auf die Speisen gerichteten Blick, seinen Teller leer.

Der Prinz lachte. Scheinbar gefiel ihm diese verlegene und zurückhaltende Art des Helden.

„Ihr müsst Euch hier nicht zurückhalten, Kyth. Sprecht mit uns wie es Euch beliebt. Ihr wisst zwar sicher schon wer ich bin, aber ich möchte mich Euch dennoch einmal persönlich vorstellen. Ich bin Prinz Rapier von Xändyr. Ich hoffe, Ihr habt Euch schon etwas in Exilia eingelebt.“

„Ja es geht mir hier sehr gut. Ich habe gute Lehrer und mir mangelt es an nichts“, antwortete Kyth dankbar.

„Das freut mich zu hören“, entgegnete der Prinz lächelnd. „Ich habe mir sagen lassen, dass Ihr sehr begabt im Kampf mit dem Schwert seid und über die Magie des Lichts und der Dunkelheit verfügt. Deshalb wollte ich mir heute einen Eindruck über Eure Fähigkeiten machen und habe im Verborgenen Euer Training mitverfolgt. Ich muss gestehen, ich bin sehr beeindruckt von Eurer Kraft.“

Abermals errötete Kyth. Schon lange hatte er keine Komplimente mehr bekommen und noch dazu verzauberte ihn das liebliche Grinsen des Prinzen. Es war, als wäre er von ihm in einen Bann gezogen worden, dem er sich nur schwer entziehen konnte. Es war ihm unmöglich, den Blickkontakt zum Prinzen zu brechen, denn er mochte die Tiefe und die Traurigkeit im Blick des Regenten.
 

„Nun, wir sind natürlich nicht nur wegen eines freundschaftlichen Mahls zusammengekommen. Meine Berater und ich haben lange darüber diskutiert und sind der Ansicht, dass es für Euch und zum Wohle Xändyrs wäre, wenn ihr ein General unserer Armee würdet. Wie Ihr sicherlich bereits wisst, sind wir der ständigen Bedrohung des Kultes der Sieben Himmel ausgeliefert und es wäre das Beste, wenn wir unsere Kräfte vereinen und diesen endlich zerschlagen würden.“

Plötzlich wurde Kyth unsanft in die Realität zurückgeschleudert und er schalte sich selbst einen Dummkopf. Es war offensichtlich gewesen. Natürlich versuchte der Prinz ihn für seine Armee zu gewinnen. Er war ein Held und er wusste mittlerweile, dass Helden die stärksten Magier in Elayaden waren. Dass ihre Taten die Geschicke der Welt entscheidend verändern konnten und sich viele Reiche darum rissen, einen solchen in ihren Reihen zu wissen.

Vorsichtig wollte er das Angebot ablehnen, wusste aber nicht wie er es genau anstellen sollte. Schließlich hatte man ihm hier eine Ausbildung angedeihen lassen, man hatte sich um ihn und seine Gefährten gekümmert und sie aufgenommen.

Was wenn er ablehnte? Waren die anderen womöglich in Gefahr? Würde man ihn verbannen?

Anscheinend war ihm seine Unsicherheit anzusehen, denn der Prinz ergriff erneut das Wort.

„Wir möchten Euch zu nichts drängen. Ihr sollt lediglich darüber nachdenken. Vielleicht sollte ich Euch erst einmal erzählen, was genau der Siebte Himmel ist. Es ist ein Kult, der seit Jahrhunderten auf unserer Welt existiert. Oft wurde er zerschlagen, aber niemals ausgemerzt. Es scheint, als wäre der Ursprung des Kults noch immer im Verborgenen. Anscheinend besagen die Lehren des Kultes, dass sieben Großreiche zerstört und sämtliche Bewohner dieser getötet werden müssen, damit ein Ritual abgehalten werden kann, dass den Wahren Frieden über Elayaden bringt. Man weiß nicht, wie die Kultisten vorgehen um die Reiche zu erwählen, die zerstört werden müssen, doch scheinbar geschieht auch dies nicht wahllos. Alles ist an strenge Riten und Gebote geknüpft, aber mehr wissen wir leider nicht.

Vor einunddreißig Jahren, so dachten wir, gelang es meinem Vater und seiner Armee endlich den Kult ausgelöscht zu haben. Bereits damals war Kataar vergiftet von den Sieben Himmeln, aber einer der ihren wandte sich ab und eilte Xändyr zu Hilfe. Er warnte meinen Vater, dass sein Reich einmarschieren und alles und jeden im Reich töten würde. Er klärte ihn darüber auf, was der Kult in etwa war und was er zu erreichen gedachte. Er war es auch, der uns lehrte die Humunkuli zu erschaffen. Mit seiner Hilfe wurde in Windeseile eine gewaltige Armee erschaffen, die keine Verluste in der Zivilbevölkerung garantierte, da Humunkuli Gefäße ohne Seelen waren, die nur einem Zweck dienten. Für ihren Meister zu leben und zu sterben. Dieser Mann führte die Humunkuli gegen die Armee des Kultes ins Feld. Er war der einzige Mensch, der für Xändyr kämpfte. Er und die Humunkulus-Armee schlugen eine gewaltige Schlacht. Viele Helden hatten sich dem Kult angeschlossen, die gekonnt einen Humunkulus nach dem anderen vernichteten, doch unser Reich hatte ihn, den Vater der Helden und unser aller Beschützer, Richter. Er war der Held der Helden. Er war in der Lage die Mächte von Licht und Dunkel, Zeit und Raum, Kosmos und Energie, Kristall und Metall, sowie des Lebens selbst zu kontrollieren. Nie zuvor hatte man von einem Helden gehört, der derart viel Macht besaß. Man erachtete ihn schon fast als einen Gott und doch wollte er nur, dass der Siebte Himmel zerschlagen wurde. Er musste es verhindern. Wir wissen bis heute nicht, warum er so verbissen dieses Ziel verfolgte. Nach einer langen und harten Schlacht hatte er triumphiert und war am selben Tag noch spurlos verschwunden. Der Kult war zerschlagen, der Held verschwunden und tausende von Humunkuli gefallen, aber Xändyr war unbeschadet davon gekommen. Und nun einunddreißig Jahre später sind abermals Helden erschienen und wir hoffen, dass ihr Vier – dass Ihr – in der Lage sein werdet, den Kult ein für alle mal vom Angesicht dieser Welt zu tilgen. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um dieses Vorhaben zu unterstützen. Dennoch haben wir ohne Helden keine Chance auf einen Sieg. Noch hält der Kult sich bedeckt, doch vor zehn Jahren hatte er sich uns erneut offenbart. Damals, bei den Friedensverhandlungen zwischen Kataar und Xändyr. Damals als der heimtückische neue Prophet der Sieben Himmel meine Mutter und meinen Vater, sowie viele Vertraute von ihnen vergiftet und nieder geschlachtet hat. Damals als ich gezwungen wurde~“
 

Plötzlich hielt der Prinz inne, seine Augen wurden leer und die Luft um ihn herum begann zu vibrieren. Eine unheilvolle Atmosphäre strömte von ihm aus und um ihn herum manifestierten sich hunderte von Schwertern, die nervös um ihn herum zu tänzeln begannen. Leise flüsterte er etwas vor sich hin, dass Kyth nicht verstehen konnte. Der Blick des Prinzen war auf den Tisch gerichtet, aber ausdruckslos. Er sah bestimmt nichts an, er war vermutlich in diesem Moment nicht einmal geistig anwesend.

„Verdammt!“, dröhnte Kogar. „Raus hier!“

Die Bediensteten, die emsig Teller weggeräumt und neu aufgetischt hatten oder die Getränke stetig nachfüllten, eilten panisch zur Tür heraus. Doch Kogar, Ryu und Kira blieben. Sie waren aufs äußerste angespannt und ließen ihren Anführer keine Sekunde aus den Augen.

Kyth war unsicher ob auch er verschwinden sollte. Er war zu gebannt von dem, was sich vor seinen Augen abspielte.

„Raus hier!“, befahl ihm Korgar abermals, aber es war bereits zu spät. Der Prinz schrie auf und die Schwerter schossen in alle Himmelsrichtungen davon. Kogar, der sich vor Ryu aufgebaut hatte, parierte die willkürlich durch die Luft surrenden Klingen gekonnt mit seinem Katana. Kira hingegen wich den Schwertern mit gezielten Sprüngen aus, wobei sie ihr Kleid ziemlich behinderte, wodurch es ziemlich in Mitleidenschaft gezogen wurde. Nur Kyth stand ruhig da und beschwor ein gewaltiges Schattenloch, das die anfliegenden Schwerter einsog und am Trainingsplatz wieder ausspie. Dieser Zauber war ihm nur möglich, weil er die Schatten des Platzes genau kannte und sie so mit seinem Schattenloch verbinden konnte.
 

Als der gewaltige Schwertsturm vorüber war, verdrehte der Prinz die Augen und knickte ein. Blitzschnell war Kogar zur Stelle und fing den keuchenden Regenten auf. Dieser klammerte sich sichtlich ermattet an den Berater und sah ihn dankbar an.

„Es ist schon wieder passiert richtig?“, fragte er niedergeschlagen.

Sein treuer Untergebener nickte nur kurz und half ihm sich zu setzen.

„Es tut mir sehr leid, dass Ihr das mit ansehen musstest“, entschuldigte sich Prinz Rapier, der angestrengt seinen Kopf auf seine Arme stützte. „Wenn es Euch nichts ausmacht, möchte ich, dass Ihr euch jetzt zurückzieht. Ich bin sehr ausgelaugt.“

„Wie Ihr wünscht, Euer Majestät“, sagte Kyth, der noch immer ziemlich überrascht war und nur zu gern erfahren würde, was hier vor sich ging. Schließlich erhob er sich und verließ gemeinsam mit Kira den Saal. Ihm war bewusst, dass niemand seine Fragen beantworten würde. Zu bedrückt wirkten alle Anwesenden.

Noch ehe sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, rief der Prinz noch einmal:

„Kyth. Es würde mich sehr freuen, wenn Ihr über mein Angebot nachdenken würdet. Außerdem solltet Ihr mich bei Gelegenheit hin und wieder aufsuchen. Ich würde mich sehr über Eure Gesellschaft freuen.“
 

Kira wirkte sehr besorgt, als sie ihren Schüler zurück zu seinen Gemächern führte.

Was ist da gerade passiert? Wieso hat der Prinz so plötzlich die Kontrolle verloren? Ist das vielleicht ein Grund warum er sich nicht oft zeigt? Vielleicht kann er seine Kräfte selbst nicht kontrollieren. Ist er dann aber nicht eine Gefahr?, fragte sich Kyth selbst.

Es war nicht von der Hand zu weisen. Etwas stimmt ganz und gar nicht mit dem Prinzen, doch weshalb er die Beherrschung verloren haben mochte, konnte Kyth noch nicht erkennen. Es war eigenartig. Einerseits war der Prinz ein sehr freundlicher und aufgeschlossener Mann und andererseits gab es da eine Seite an ihm, die alles andere als Gut war. Diese leeren Augen, das unverständliche Gebrabbel und der unkontrollierte Magieausbruch. All das stand im kompletten Widerspruch zum anfänglichen Wesen des Prinzen.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es wieder passieren würde“, begann Kira matt.

Verdutzt horchte Kyth auf, schwieg aber, da er befürchtete, dass sie sonst sofort wieder ihre übliche Haltung einnehmen würde und ihm im Dunkeln über diesen Ausbruch ließ.

„Vor zehn Jahren hatte er zum ersten Mal so einen Anfall. Es war der Abend, an dem seine Eltern getötet wurden. Er sah ihre toten Körper und ihren Mörder. Sein Spiritakreislauf kollabierte und er entfesselte zum ersten mal einen solchen Schwertsturm. Dabei tötete er viel Menschen. Freunde und Feinde zugleich. Nur den wahren Mörder seiner Eltern verfehlte er und es gelang diesem die Flucht. Seither hat er diese Anfälle öfter. Meist wenn er Albträume hat oder sich an die vergangenen Ereignisse erinnert. Deshalb zeigte er sich dem Volk auch nicht mehr und lässt Kogar und Ryu alles regeln. Aber glaub mir. Er ist kein schlechter Mensch. Er hat nur schon vieles durchleiden müssen, dass andere Menschen wahrscheinlich in den Wahnsinn getrieben hat. Er ist gut. Vielleicht kannst du ihm ja helfen, aus diesem Trauma auszubrechen. Kyth, versprich mir, dass du hin und wieder nach dem Prinzen siehst ja.“

Zum ersten mal seit er Kira kannte, war sie aufgelöst und schwach. Sie sah ihn flehend an und hatte die Hände verunsichert vor ihrer Brust gefaltet. Mit dem zerrissenen Kleid und dieser Miene wirkte sie wie ein zerbrechliches Wesen.

Der junge Held nickte und sagte: „Ich verspreche es.“

Die Tücken der Liebe

Mit geschlossenen Augen, saß Grahl im Schneidersitz und versuchte seinen Geist von jeglichen Gedanken zu befreien. Dies fiel ihm aber ziemlich schwer, da Geräusche seiner Umgebung, ihn stets abzulenken drohten. Sei es das Rascheln der Blätter, das Zwitschern von Vögeln oder das stete Plätschern des kleinen Waldsees, dessen Ufer, seit Lelou den Seischimi besiegt hatte, ihr Trainingsort geworden waren.

Der Leibwächter hatte ihm versichert, dass es keine weiteren Bestien wie dieses im Umfeld gab, da sie Einzelgänger und sehr territorial waren.

Wieder schweiften seine Gedanken unweigerlich zu dem Tag, an dem sein Leben fast geendet hätte und ein Schauder durchfuhr seinen Körper. Nicht auszumalen, wie lange er noch gelitten hätte, wäre sein Lehrmeister nicht erschienen, um ihn zu retten.

Seither hatte er viel und hart trainiert und war zu einem passablen Magier und Krieger geworden. Tagein tagaus motivierte er sich damit, dass er so Mia schützen könnte, wenn sie sich endlich wiedersahen.

Nun da er an seine Schwester dachte, fragte er sich natürlich wie es ihr wohl gehen mochte und ob sie bereits im Umgang mit ihren Kräften geübt war. Er hoffte, dass sie sich nicht überanstrengte und dass sie sich gut schlagen würde. Er wollte schließlich, dass es ihr gut ging und ebenso wollte er sein Versprechen gegenüber Smith nicht brechen. Er musste sie schützen und deshalb, musste er es endlich schaffen in die Meditation einzutauchen.
 

Er ärgerte sich, dass es ihm nicht gelang. Woraufhin er seinen Rücken straffte, seine Hände auf seine Knie lagerte und auf eine gleichmäßige und tiefe Atmung achtete. Nun versuchte er erneut all seine Gedanken, Gefühle und Erinnerungen in sein tiefstes Inneres zu verdrängen und seinen Geist zu leeren. Es war unabdingbar, dass er dies schaffte. Dieser Meinung war zumindest Lelou, der ein spezielles Training für Grahl auserkoren hatte.

Nachdem es ihnen endlich gelungen war, seine Kraft zu wecken, hatten sie nicht schlecht gestaunt, dass er in der Lage war Metall zu erschaffen und zu kontrollieren. Eine Gabe, die es ihm ermöglichte offensive, wie defensive Magie zu wirken. Dieser Umstand brachte Lelou auf die Idee, dass es möglich sein musste, die Metallmagie soweit auszudehnen, dass sie Grahl wie eine Art Ritterrüstung umgab.

Anfangs hatten sie es mit normalen Kampftraining versucht, doch schnell stellte sich heraus, dass dies der falsche Weg war. Während des Kampfes blockte Grahl Angriffe lediglich mit einem Metallschild oder einer Metallwand. Der Leibwächter wollte aber erreichen, dass er von der Magie umschlossen wurde, so wie es diesem, mit seiner Auramagie, gelang. Er glaubte fest daran, dass es klappen konnte und so verdonnerte er Grahl nun zu Meditationsübungen und hochkonzentrierten Spiritakreislauftrainings. Diese speziellen Einheiten zehrten sehr an den Nerven des Lehrlings, doch war er fest entschlossen es zu schaffen. Er verdankte Lelou schließlich sein Leben und mit dieser Technik hätte der Seischimi ihm niemals etwas anhaben können.
 

Verdammtes Biest, fluchte der Rotschopf in sich hinein und plötzlich begann sein rechtes Auge unangenehm zu pochen. Seit das Biest ihm ins Gesicht gespuckt hatte, konnte er zu Beginn nur noch schlecht auf dem Auge sehen und mit der Zeit gar nicht mehr. Kein Heiler konnte etwas dagegen tun, weshalb er doch sehr niedergeschlagen war. Zum Glück lenkte ihn die Ausbildung so sehr ab, dass er schon bald auch nur mit seinem verbleibenden Auge zurecht kam. Seither trug er eine Augenklappe, die Lelou ihm in Woods besorgt hatte.

Mia und die andern werden ausrasten, wenn sie das sehn. Aber ich bin selber schuld, hätt ich nur gleich von Lelou gelernt und wär nicht so dickköpfig gewesen.

Es schmerzte ihn sehr, sich einzugestehen, dass er es vergeigt hatte und dass er den anderen Sorgen machen würde. Aber geschehen war geschehen und es galt nur noch aus diesem Fehler zu lernen und nicht noch einmal so unachtsam zu sein. Früher wäre er niemals von seinem Weg abgerückt und hätte nachgegeben, doch er musste einfach einsehen, dass es keinen Sinn hatte sich zu sträuben, wenn man in Elayaden überleben wollte. Es war einfach eine andere Welt, mit seltsamen Kreaturen, die diese bewohnten und da war es nur logisch, alles zu erlernen, was einem Schutz und Sicherheit versprach. Es war durchaus praktisch, dass sie mit Magie gesegnet worden waren und man ihnen half diese zu beherrschen.
 

Oh man., jammerte er wieder in sich hinein. Ich hätt nie gedacht, dass ich so viel nachdenk. Immer sagen alle ich bin so sorglos und einfach, aber irgendwie ist das wohl nicht so. Ich krieg die Übung nie hin.

Allmählich drohte Grahl die Beherrschung zu verlieren. Zwar hatte Lelou ihm gesagt, dass es sehr schwierig war, eine erfolgreiche Meditation hinzubekommen, aber es war auch die einzige Möglichkeit den Spiritakreislauf mit äußerster Präzision zu steuern und auszuweiten.

„Eine Meisterleistung, die nur die erfahrensten Magier bewerkstelligen können. Und selbst unter ihnen schaffen es nur sehr Wenige“, hatte der Leibwächter ihm ganz zu Beginn dieses Trainings erklärt.

Wenn es also nur die erfahrensten unter den Magiern schafften, wie sollte es jemand wie er, ein Träumer, der alles auf die leichte Schulter zu nehmen schien, hinbekommen.
 

Wie lang ich wohl hier schon rum sitz? Ganz schön langweilig auf jeden Fall. Ich würd lieber wieder normal trainieren. Das macht wenigstens Spaß und bringt was, seufzte er und stellte wieder genervt fest, dass er sich so gar nicht mehr konzentrierte. Es war, als würden sich seine Gedanken verselbstständigen und einfach so durch seinen Kopf sprudeln.

Ha. Wenn das Smith wüsste. Der würde es nicht glauben. Bestimmt würde er so was sagen wie: „Du bist doch ständig am meditieren, dein Kopf ist doch immer frei.“ Und Mia würde ihm sicher lachend recht geben. Vielleicht wär wenigstens Kyth auf meiner Seite...

Ich vermiss sie ganz schön. Arrgh. Dieses ganze in sich gehen macht einen nur sentimental. Wie soll man denn bitte alles, was einen beschäftigt, aussperren. Das geht gar nicht.
 

Haare raufend sprang Grahl auf und schlug wütend mit seinen Fäusten auf den Boden ein.

„Ich krieg es nicht hin!“, brüllte er verzweifelt und scheuchte einige Vögel auf, die in den nahenden Bäumen vor sich hin gezwitschert hatten und nun panisch keckernd flohen.

„Na na na“, meldete sich nun Lelou verschlafen zu Wort. Der Ausbilder hatte es sich unter einer dichten Eiche gemütlich gemacht und war in ihrem Schatten eingenickt. „Das ist doch noch lange kein Grund so ein Theater zu veranstalten. Ich habe dir doch erklärt, dass es Zeit braucht und manche es gar nicht hinbekommen.“

Gähnend schritt er auf den Rothaarigen zu und streckte sich dabei genüsslich.

„Aber was, wenn ichs einfach nicht schaff? Verschwenden wir dann nicht Zeit?“, konterte der Lehrling frustriert.

Ein unheilvoller Ausdruck huschte über das Gesicht des Ausbilders.

„Du meinst so wie am Anfang der Ausbildung?“

Grahl zuckte innerlich zusammen, da Lelou gekonnt sein Argument ausgehebelt und ihm erneut Schuldgefühle eingepflanzt hatte. Es war richtig, dass sie durch seine Engstirnigkeit viel Zeit verloren hatten und dass er sich eigentlich nicht beschweren durfte, doch er konnte nicht glauben, dass es ihm gelingen würde, zu schaffen, was sein Meister von ihm forderte.

„Also ich glaube, dass du es schaffen kannst. Schließlich bist du ein Held und du hast bewiesen, dass du trotz der fehlenden Zeit ein geübter Krieger und Magier bist. Du musst nur ein wenig mehr Geduld haben. Wir sind schon so weit gekommen und wenn du es tatsächlich schaffst, diese Form der Verteidigung zu meistern, dann solltest du für das Schlimmste gewappnet sein“, versuchte Lelou seinen Schüler aufzumuntern und legte ihn beschwichtigend eine Hand auf die Schulter.

„Wenn du meinst“, entgegnete dieser gewohnt gelangweilt, konnte aber diesmal seine Zweifel nicht verbergen.

„Ja das meine ich. Und um dir zu beweisen, dass es mir ernst ist, verspreche ich dir, solltest du es hinbekommen, werden wir die restliche Zeit der Ausbildung in Woods leben. Ich werde dann auch nicht mehr versuchen, dich und deine Schwester zu trennen, wenn ihr weiter fleißig trainiert.“
 

Fassungslos riss Grahl sein Auge auf. Hatte er richtig gehört? Würde er endlich Mia wiedersehen? Sein Herz raste vor Freude. Es gab also eine Chance endlich wieder mit ihr vereint zu sein. Eine verschwindend Geringe um ehrlich zu sein, aber sie war da. Plötzlich fiel alle Frustration und jeglicher Zweifel von ihm ab und er fühlte sich, als könnte er Bäume ausreißen. Er musste sich einfach zusammenreißen und endlich einmal etwas ernst nehmen. Zumindest ernster als sonst. Dann würde er es mit Sicherheit schaffen.

Ein Flackern war ein seinen mystischen grünen Auge, mit den sich ewig bewegenden blauen Schemen, zu erkennen. Seine Entschlossenheit umhüllte ihn wie Flammen, die auch auf die Umgebung überzuspringen vermochte. Auch Lelou fühlte sich beinahe davon angesteckt und grinste deshalb zufrieden.

Er mag ein Sturkopf sein, aber mittlerweile weiß ich seine Knöpfe zu drücken.
 

„Dann werd ich gleich weiter meditieren“, erklärte Grahl und setzte sich wieder in den Schneidersitz, um keine Zeit zu verlieren.

„Moment, Moment, Moment“, bremste ihn Lelou aus. „Ich würde vorschlagen, dass du für heute genug geübt hast. Wir sollten erst einmal eine Pause einlegen. Du magst es zwar eilig haben, aber es bringt nichts, wenn du am Ende noch zusammenklappst. Heute ist ein so schöner, warmer Tag. Was hältst du davon, wenn wir uns ein wenig erfrischen?“

Grahl sah seinen Lehrmeister erstaunt an. Noch niemals hatte er ihm eine Pause zugesprochen. Außer um zu Essen oder zu Schlafen und nun wollte er allen ernstes schwimmen?

Ob das ein Test ist?, grübelte der Rothaarige zweifelnd und musterte seinen Ausbilder unschlüssig.

Dieser bemerkte die Skepsis seines Schützlings und rieb sich verlegen den Hinterkopf.

„Keine Sorge. Ich habe keinen fiesen Trick geplant. Aber ich finde, dass du wirklich erstaunliche Fortschritte gemacht hast. Außerdem bin ich überzeugt, dass dir ein wenig Ablenkung nicht schadet. Du bist gerade zu versessen darauf die Meditation hinzubekommen. Es kann nur von Vorteil sein, wenn du mal nicht daran denkst. Außerdem ist mir heiß und ich finde, wir haben es uns verdient zu testen, wie das Wasser des Sees ist, oder? Schließlich haben wir das Biest erledigt und niemand sonst.“

Breit grinsend und schelmisch blinzelnd verlieh er seiner Aussage Nachdruck.

„Na schön“, seufzte Grahl und gab Lelou schließlich nach, der sogleich, jubelnd, begann sich seiner Klamotten zu entledigen und splitterfasernackt mit einem eleganten Hechtsprung in das kühle Nass einzutauchen.
 

Auch sein Schüler schälte sich zögerlich aus seiner Kleidung und schritt auf den See zu. Ein wenig unsicher blickte er sich in der Gegend um, als fürchtete er, dass man sie beobachten könnte. Es war ihm etwas unangenehm völlig nackt mit einem anderen Mann zu schwimmen. Schließlich wusste er ganz genau, dass sein Ausbilder die Gesellschaft von Männern suchte. Was wenn dieser ihm zu nahe kam? Nicht, dass er es wirklich vermutete, doch ein gewisses Restmisstrauen blieb. Schließlich war es offenkundig, dass Lelou sich an jeden Mann heranmachte, der ihm nur ein wenig gefiel. Würde er sich gegen ihn behaupten können? Schließlich war der Andere größer, stärker und auch begabter in der Magie als er selbst.

Ach jetzt hör schon auf. Er tut dir nix. Er hat den Auftrag mich auszubilden und nicht mich zu vernaschen. Er scheint ja seinem Prinzen zu gehorchen. Wird schon alles gut gehen., sprach er sich deshalb Mut zu und blickte noch einmal in die wärmende Sonne, die ihm anzeigte, dass es bereits Nachmittag sein musste.

Seufzend sprang auch er daraufhin ins Wasser.
 

Schlotternd tauchte der Held, wenige Sekunden später, aus dem eiskalten Nass wieder auf. Seine Atmung ging stockend und Grahl fühlte sich, als würden tausend Nadeln seinen Leib durchbohren. Am liebsten wäre er augenblicklich wieder ans Ufer zurückgekehrt, so frisch war das Gewässer.

Gott ist das kalt, jammerte er. Ich hätt gedacht, dass die Sonne den See schon etwas aufwärmt.

Um sich schneller an die schneidende Kälte des Wassers zu gewöhnen, tauchte er abermals unter.

Als er schließlich erneut an an die Wasseroberfläche empor trat, erwartete ihn auch schon sein Ausbilder mit einem breiten Lächeln im Gesicht.

„Ist das nicht herrlich“, seufzte dieser. „Ich bin schon so lange nicht mehr geschwommen. Ständig diese Pflichten, die erfüllt werden wollen, da kommt man einfach nicht mehr zu solch vergnüglichen Dingen.“

„Ich finds eher arschkalt“, gestand Grahl etwas mürrisch.

„Ach stell dich nicht so an“, bellte Lelou vergnügt und packte seinen Schüler im Schwitzkasten, um ihn etwas unsanft unter Wasser zu tauchen.

Erschrocken versuchte sich der Held aus seiner Lage zu befreien und strampelte mit Händen und Füßen. Die klirrende Kälte und die unglaubliche Kraft des Leibwächters, machten ihm dies jedoch schwer. Immer und immer wieder schlug er aus und spürte dabei hier und da den gestählten Körper seines Lehrmeisters. Ebenso plötzlich wie Lelou ihn untergetaucht hatte, zog er ihn wieder zu sich herauf.

„Und ist dir immer noch kalt?“, witzelte er, während Grahl angestrengt keuchte.

„Sag mal spinnst du! Du hättest mich fast ersäuft!“, japste der Schüler wütend.

„Ach stell dich nicht so an. Ich habe doch nur Spaß gemacht. Außerdem glaubst du doch nicht wirklich, dass ich dich ertränkt hätte. Der Prinz wäre außer sich und Smith mit Sicherheit auch“, erklärte er lächelnd. „Zudem habe ich mich jetzt schon so an dich gewöhnt und es schien dir ja auch zu gefallen mich zu begrabschen.“

Grahl lief feuerrot an. Zorn mischte sich mit Verlegenheit, woraufhin er reflexartig ein wenig von Lelou hinfort wich.

„Ich ich hab dich gar nicht begrabscht! Ich wollt mich nur befreien und dabei hab ich dich halt aus versehen ein paar mal erwischt“, wehrte sich der junge Held. Er befürchtete nun doch, dass sein Lehrer ihm zu nahe rücken könnte und überlegte sich, wie er am schnellsten aus dem See entwischen konnte.

Der Hüne, dem einige Strähnen im Gesicht hingen, funkelte sein Gegenüber herausfordernd an und meinte schlicht:

„Ist das so? Mir hat es jedenfalls gefallen. Vielleicht möchtest du ja doch mehr von mir, als du zugeben willst.“ - dabei warf er seinen Kopf in den Nacken, woraufhin sein nasses Haar elegant zurückfiel.

„Ja das ist so. Was glaubst du denn“, stotterte Grahl immer nervöser und entfernte sich so unauffällig wie möglich von dem Leibwächter. In der Hoffnung, diesem würde es nicht auffallen.

Plötzlich stieß Lelou ein herzhaftes und kehliges Lachen aus.

„Keine Sorge Grahl, ich ziehe dich nur auf. Du hast nichts vor mir zu befürchten.“

Noch immer wachsam und aufs äußerste angespannt, versuchte der Held seinen Meister zu durchschauen und sagte deshalb nur kurz angebunden:

„Dann ist ja gut.“
 

Die beiden zogen noch einige Bahnen im See und Grahl musste keine neuerliche Attacke von Seiten Lelous befürchten, weshalb er nun auch endlich das doch äußerst angenehme kühl des Nasses genießen konnte. Es war erfrischend und belebte seine müden Knochen und Glieder. Zum ersten mal seit langem konnte er einfach abschalten. Er hatte für diesen Augenblick keine Verpflichtungen und genoss es einfach nur zu schwimmen. Vermutlich hatte Lelou recht und es würde zunehmend schwerer werden, sich einmal ablenken zu können. Er war dem Anderen dankbar dafür und schalte sich einen Idioten, weil er geglaubt hatte, dass dieser es auf ihn abgesehen haben könnte.
 

Als die beiden beschlossen, dass sie genug geschwommen waren, legte sich der Leibwächter nackt ans Ufer und ließ sich von der Sonne trocknen, während sein Schüler im Wasser sitzen blieb, sodass alles unterhalb des Bauchnabels vom kühlen Wasser umgeben war. Lelou räkelte sich genüsslich und spannte seinen muskulösen Körper an. Kyth und Smith hätte dieser Anblick bestimmt gefallen. Ein nackter, durchtrainierter Mann, der sich ungeniert vor ihnen streckte, um in der Sonne zu trocknen. Hier und da rannen einige Tropfen an ihm hinab, wodurch er eine faszinierende Erscheinung bot. Das noch nasse Haar hing strähnig in sein Gesicht und er gähnte herzhaft.

„Ob Smith einmal mit mir hier her kommen würde?“, fragte Lelou nachdenklich und streichelte über sein Haupt.

„Nicht ohne Kyth“, erklärte Grahl und blickte über den malerischen See. „Die beiden sind unzertrennlich.“

„Wirklich?“, bohrte der Leibwächter nach und stellte sich vor, wie gern er mit dem Goldauge hier wäre. Er konnte sich auch nicht erklären wieso, aber der Bursche hatte es ihm angetan. Seit sie Exilia verlassen hatten und jeder ihrer Wege gegangen war, erwischte er sich stets dabei, wie er in ruhigen Moment, an den Fremden denken musste. Eigentlich war Lelou niemand, der lange einem Mann hinterher hing, doch hier war es irgendwie anders. Er wollte Smith näher kennen lernen, mit ihm Zeit verbringen und für ihn da sein. Niemals würde er ihn, wie so viele andere, nur schnell besteigen und vergessen wollen. Der Goldäugige hatte ihm ganz offensichtlich sein Herz geraubt.

So wie damals jemand anderes.

„Ja das ist so“, fuhr Grahl energisch dazwischen. „Sie ergänzen sich prima und halten immer zusammen. Klar, manchmal haben sie Krach, aber wer hat den nicht? Sie kriegen das aber immer wieder hin. Ich glaub, selbst in einer Situation wie der, wo du nackt vor ihm liegen würdest, würd er nur an Kyth denken. Ich glaub du solltest ihn dir aus dem Kopf schlagen.“

„Das musst du ja sagen. Schließlich sind sie dir beide wichtig. Aber vielleicht wäre ich ja viel besser zu ihm. Er kennt mich doch gar nicht und glaub mir, ich habe mehr zu bieten als nur einen gestählten Körper“, hielt Lelou dagegen, dem es ganz und gar nicht schmeckte, dass Grahl ihm keine Aussichten bei Smith einräumte.

„Es geht ja gar nicht nur ums Aussehen. Ich glaub die beiden gehören einfach zusammen weißt du. Und da kann kommen was will. So leicht kriegt man die nicht auseinander.“

Die Sicherheit, mit der Grahl über die Beziehung der anderen beiden sprach überzeugte Lelou ein bisschen, denn niemand würde so viel Vertrauen in etwas setzen, dass unsicher oder unbedeutend war. Konnte es sein, dass er sich immer in jene verliebte, die sich nicht für ihn interessierten?

„Irgendwie scheine ich bei Blondschöpfen nicht so anzukommen“, witzelte der Leibwächter, um seine Niedergeschlagenheit zu überspielen.

„Wie meinst du das?“, wollte Grahl deshalb neugierig wissen.

Der Andere tat jedoch so, als hätte er ihn nicht gehört und schlug nur einen Arm über seine stahlgrauen Augen.

Damals er und heute Smith. Zwei Männer in die ich mich wirklich verlieben könnte und keiner hat auch nur einen Funken Interesse an mir. Ach, ich bin selbst Schuld. Ich könnte jeden haben, aber ich will immer die, die mich nicht wollen.
 

Bitter stieß der Leibwächter ein Lachen aus und setzte sich auf.

„Na ja vielleicht sollte ich es mal mit Rothaarigen versuchen, oder was meinst du“, säuselte er, während er hinter Grahl in die Hocke ging und ihn scherzhaft in die Arme schloss.

Dieser fühlte, wie sich die starken Arme um ihn schlossen und an die muskulöse Brust des Leitwächters drückten. Es war ihm zwar etwas unangenehm, aber auch irgendwie wohltuend. Er fühlte sich beschützt und geborgen, wusste aber, dass für ihn niemals ein Mann in Frage kommen würde, weshalb er schlicht und trocken antwortete:

„Ich kann nicht für alle Rothaarigen sprechen, aber mich würdest nicht reizen.“

Gespielt entsetzt wich Lelou einige Schritte von Grahl zurück und hielt seine Hände auf die linke Brust.

„Oh weh, du brichst mir das Herz. Ich glaube ich habe einfach kein Glück bei Männern.“

„Als ob“, brachte der junge Held lauthals lachend hervor, der sich nun zu seinem Lehrmeister umwandte und das tragische Schauspiel amüsiert beäugte.
 

Als der Grauäugige schließlich wieder ernst wurde, ließ er sich neben Grahl ins Wasser sinken und fragte interessiert und gerade heraus:

„Wie steht es denn eigentlich bei dir? Glaubst du es gab da jemanden, der dir wichtig war?“

Die Frage traf den Rothaarigen mitten ins Herz, doch überspielte er dies gewohnt lässig und desinteressiert. Während es also auf Lelou so wirkte, als wäre alles wie immer, spielte sein Innerstes verrückt. Er hatte das Gefühl, als hätte man ihn angeschossen. So sehr schmerzte sein Herz in diesem Moment. Selbst hier. In einer anderen Welt konnte er nicht abschütteln, was ihn in seiner Heimat so sehr verletzt hatte.

Sehr wohl hatte es einmal jemanden gegeben, der ihm sehr viel bedeutet hatte. Für sie hätte er alles getan, selbst seine eigenen Wünsche und Erwartungen hintangestellt. Hauptsache sie war zufrieden und glücklich. Er war ihr treu ergeben gewesen und hatte sich eine gemeinsame Zukunft mit ihr gewünscht. Sogar Kinder hatte er sich einmal mit ihr vorstellen können. Doch letztlich hatte sie ihn mit Füßen getreten, hintergangen, betrogen und ihn anschließend in ein falsches Licht gerückt. Sie hatte ihm erst das Gefühl gegeben, dass er ihr Ein und Alles war, nur um ihn irgendwann zu betrügen und zu verlassen und doch war sie noch immer in seinem Herzen, verbot es ihm, sich wieder zu verlieben. Ein neues Glück mit einer neuen Partnerin zu finden. Er hatte sich in Partys und Alkoholexzesse gestürzt, sich eingeredet, dass es ihm allein besser ginge und dass er keine Freundin oder Lebensgefährtin brauchte, doch tief in seinem Herzen, sehnte er sich genau danach. Und wenn er ganz ehrlich war, so sehnte er sich am meisten nach ihr.
 

Sein Blick streifte über den See, als hoffte er, dort, am anderen Ufer seine ehemalige große Liebe sehen zu können. Einige Augenblicke verharrte er so, bis er sich schließlich erhob und eine Hand auf Lelous Schulter legte.

„Ich glaub nicht, dass ich schon mal jemanden getroffen hab, dem mein Herz gehört hat und vielleicht werd ich niemals so jemanden finden.“

Der Leibwächter senkte den Kopf und verschloss die Augen. Die Verbitterung, mit der Grahl sprach, zeigte ihm die Wahrheit, die der junge Mann so sehr zu verstecken versuchte.

So hat also jeder sein Päckchen zu tragen. Ach ja. Wie schön sie doch sind, die Tücken der Liebe.

Als er seine Augen wieder geöffnet hatte, erhob auch er sich und fragte seinen Schüler:

„Sollen wir langsam zum Lager zurückkehren?“

Dieser Nickte schlicht und in diesem Moment fühlte sich Lelou dem Anderen näher als jemals zuvor. Er war sich sicher, dass sie beide gute Freunde werden würden.

Die dämonische Heldin?

Ein halbes Jahr war nun vergangen, seit Mia in Woods eingetroffen war und ihre Ausbildung begonnen hatte. Anfangs war es ihr noch sehr schwer gefallen, ohne ihre Brüder und Kyth zurecht zu kommen. Und an die Ausbildung konnte sie sich auch nicht gewöhnen. Zwar war Azur ein geduldiger und zuvorkommender Lehrer gewesen, doch ihre Sehnsucht und ihren Kummer vermochte dies auch nicht zu lindern. Jede Nacht, wenn sie allein in ihrem Zimmer lag und Zeit zum Nachdenken fand, zerfraß sie die Gewissheit, dass sie ihre Eltern, Freunde und anderen Geschwisterteile nie wieder sehen würde. Sie waren schlichtweg durch Welten getrennt. Oft hatte sie überlegt, ob es ihr nicht möglich wäre durch die Kraft ihrer Magie zurückzukehren, doch wusste sie einfach nicht wie. Und deshalb fand sie darin Trost, dass sie nicht alleine hier war. Sie hatte immer noch Grahl, Kyth und sogar Smith. Nur waren sie nicht bei ihr, sondern gingen ihrer eigenen Ausbildung nach. Sie hatten kaum Kontakt und selbst dieser Spärliche bestand meist aus Briefen, die sie einander schrieben. Doch was waren Schriftstücke im Vergleich zu einer Unterhaltung. Sie vermochten es nicht die Leere, die Mias Herz Tag für Tag mehr einzunehmen schien, zu füllen. Auch wenn sie sich eingeredet hatte, dass sie nur für ein Jahr getrennt wären, lastete die Einsamkeit zu sehr auf ihr.
 

Tagsüber und dafür dankte sie dem Himmel, hatte sie kaum Zeit ihren traurigen Gedanken nachzuhängen, da sie einen straffen Unterrichtsplan hatte. Sie musste im Umgang mit Magie geschult werden, lernte viel über Elayaden und die medizinischen Aspekte ihrer Kräfte, half Elaine im Gasthof und musste hier und da eine Wachschicht am Grenztunnel zu Idal übernehmen. Über all dies hinaus, durfte sie das Training mit Jimara nicht vernachlässigen. Was sich besonders im ersten Monat als große Herausforderung herausstellte, da der Düsterwolf nur langsam Vertrauen zu ihr aufbaute und oftmals ihre Befehle missachtete oder sie anfiel. Es war ihrer Beharrlichkeit geschuldet, dass Azur den Welpen nicht erschlug. Dieser war nämlich von Anfang an wenig begeistert gewesen, dass sich Mia ausgerechnet für diesen entschieden hatte. Er glaubte nicht daran, dass sie Jimara eines Tages bändigen, geschweige denn reiten konnte und so drohte er ein ums andere Mal, dass er das Tier erschlagen würde. Dass ein Düsterwolf einfach kein Partner für einen Bestienritter sei, da es in ihrer Natur läge, dass sie grausame und unbeugsame Biester seien.
 

Angespornt von diesen Aussagen und der Tatsache, dass sie das Leben des jungen Wolfes schützen wollte. Befasste sie sich fast Tag und Nacht mit Jimara. Sie steckte Kratzer, Bisse und drohende Gesten mit ihrer unerschütterlichen und freundlichen Art ein und schließlich kooperierte der Düsterwolf. Da er zu begreifen schien, dass keine Gefahr von Mia ausging. Im Gegenteil. Sie setzte sich immer wieder für ihn ein.

Denn im Gegensatz zu ihr hasste ganz Woods Jimara. Von allen Seiten erntete er Hass, Angst, Verachtung und Missgunst. Egal wohin sie gingen, immer wurden sie mit drohenden Blicken bedacht, verscheucht, bespuckt, angefeindet oder man wich panisch vor ihnen zurück. Hinter ihrem Rücken sprach man schon von Mia als Dämonenkind und dass ihr der Düsterwolf nur deshalb noch nicht das Leben genommen hätte. Es schmerzte sie sehr, dass man so über sie sprach und mit ihr umging. Doch ließ sie dies Jimara niemals spüren. Immer wenn man ihnen auswich, sie verteufelte oder ein Kind weinend davonrannte, weil es Angst vor dem Wolf hatte, legte die junge Heldin beschwichtigend ihre Hand auf Jimaras Kopf und flüsterte ihm zu, dass alles gut sei. Ihr war nämlich nur zu bewusst, dass das Tier ebenfalls die negativen Gefühle um sie herum wahr nahm und sich dadurch bedroht fühlte. Sie wollte nicht, dass er jemanden anfiel. Was einem Todesurteil gleichkam.
 

Die Isolation, in die die beiden gedrängt wurden, stärkte zunehmend ihre Bande und bald schon war Jimara ein gelehriger und gefügiger Partner für Mia. Wodurch auch Azur einsehen musste, dass er sich geirrt hatte, was ihn nur noch mehr darin bestätigte, dass es die Richtige Entscheidung war, Mia zu einer Bestienritterin zu machen. Als nun das Problem mit Jimara beseitigt war, konnte die Ausbildung richtig beginnen und die junge Heldin bewies sich, als ein Naturtalent im Umgang mit der Magie. Sie war wissbegierig, begriff schnell und setzte das Gelernte gekonnt in die Tat um. Über diese Zeit schwand auch die Verzweiflung mehr und mehr aus ihrem Herzen. Sie fand Erfüllung in ihrem Studium. Gewöhnte sich an das Leben als Schülerin Azurs und genoss die Abende mit Elaine, zu der sie ein warmes und herzliches Verhältnis aufbaute.
 

Weshalb sie heute, wie jeden Abend seit etwa fünf Monaten, in der privaten Stube der Gastwirtin am Tisch saß und sich angeregt mit ihr unterhielt, während die Grauhaarige den Kamin beheizte. Mia fühlte sich sehr wohl in dem kleinen Raum. Der so liebevoll eingerichtet war. Der Holzdielenboden war mit Schafsfellteppichen ausgelegt und hübsche cremefarbene Leinenvorhänge hinderten Außenstehende daran, von der Straße aus, in die Stube zu schauen. An den Wänden hingen Gemälde von Elaine, ihrem verschwundenen Mann, ihrer toten Tochter, dem Gasthof und der Landschaft Elayadens. In einigen Regalen waren Bücher fein säuberlich aufgereiht. In einer Ecke stand das Bett der Älteren und im Zentrum des Zimmers befand sich der große Runde Tisch. An dem Elaine in ihrer freien Zeit, für gewöhnlich, in ihrem Schaukelstuhl saß und strickte. Über dem Tisch hing ein alter Kronleuchter, dessen Kerzenschein ein heimeliges Licht verbreitete.
 

„Es war schrecklich anzusehen. Der Arm des Mannes war komplett zerquetscht. Ich glaube, kein Konchen war mehr heil. Azur meinte, dass er nichts mehr für ihn tun könnte. Dass der Grad der Verletzung über seine Fähigkeiten hinausginge und ich es versuchen müsste. Du kannst dir vorstellen, wie ich geschwitzt habe. Mir hat das Herz bis in den Hals geschlagen. Ich wusste ja, wenn ich es nicht schaffte, dann hätten wir ihm den Arm abnehmen müssen. Also habe ich mich konzentriert und gebetet, dass meine Kraft ausreicht. Ich habe ihm die Hand auf den zermatschten Arm gelegt und meine Magie entfaltet. Erst musste ich seine Knochen wieder zusammensetzen. Dann die Muskeln, die Adern und Sehnen und schließlich seine Haut. Ich musste mir genau ins Gedächtnis rufen, wie der Körper von innen nach außen aufgebaut war. Ich durfte mich nicht vertun, sonst hätte ich ihn deformiert oder anderweitig geschadet. Es war so anstrengend. Ich habe mich so ausgelaugt gefühlt. Als habe man mir meine ganze Kraft geraubt. Kannst du dir das vorstellen? Eine derartige Verletzung zu heilen erfordert einen hohen Grad an magischer Fertigkeit, hat Azur gemeint und ich habe es geschafft. Ich habe es tatsächlich geschafft!“
 

Voller Euphorie berichtete Mia von ihrem letzten Fall. Einem Mann der die 'Launische Braut' bezwingen wollte. Dies war ein törichtes und gefährliches Unterfangen. Besonders zu dieser Jahreszeit. Der Schnee bedeckte nun die Landschaft und die Kälte drang tief bis in die Knochen. Auf dem Berg war das Wetter noch bedrohlicher und schlug von einer Sekunde auf die Nächste um. Im Winter herrschten schwere Schneestürme auf den Gipfeln vor und Lawinen rauschten donnernd in Richtung Tal. Wenn man also nicht von den Schneemassen erdrückt wurde, so lief man ständig Gefahr, an den zugeschneiten Steilhängen abzurutschen.

Der Mann hatte sich betrunken und anschließend seinen idiotischen Plan in die Tat umgesetzt. Als er nach einigen Stunden nicht zurückgekehrt war, hatten seine Saufgenossen die Stadtwache informiert. Azur, Mia und drei weitere Bestienritter waren ausgeschickt worden, den Verschollenen zu suchen. Dank ihrer Wölfe konnten sie ihn schnell ausmachen. Er war nicht weit ins Gebirge vorgedrungen, da hatte ihn bereits ein kleiner Steinschlag erfasst. Er war von Geröll und Felsen verschüttet worden und wies etliche Quetschungen, Prellungen und Brüche auf. Diese waren jedoch nicht so schlimm. Das Schlimmste war, ganz ohne Zweifel, der zertrümmerte Arm, der seltsam deformiert und schlaff an ihm herunterhing, als er geborgen worden war. Hier und da ragten einige Knochensplitterteile aus dem Fleisch. Kein angenehmer Anblick, wie Mia dachte. Es schüttelte sie, als sie daran zurückdachte. Weshalb sie einen beherzten Schluck von ihrem Tee nahm. Er schmeckte etwas bitter. Aber mit einem Löffel Honig konnte man ihn genießen. Besonders weil er den Körper schön von innen her aufwärmte. Was im Winter gut tat und die Kälte aus dem Leib vertrieb.
 

Elaine war es währenddessen gelungen ein Feuerchen zu machen, dass ihnen wohlige Wärme spendete. Anschließend richtete sie einen Laib Brot, etwas Butter und Käse, sowie eine dünne Suppe an.

„Es ist schon unglaublich, wie töricht Menschen sein können, wenn sie zu tief ins Glas geschaut haben“, erwiderte die Alte, während sie zwei Schüsseln mit der dampfenden Brühe befüllte. „Lass dir das eine Lehre sein. Wenn du zu viel getrunken hast und meinst eine geistreiche Idee zu haben, leg dich lieber hin und schlafe eine Nacht darüber. Am nächsten Morgen wirst du besser abwägen können, ob sie wirklich so gut war oder ob dein Verstand zu umnachtet von der berauschenden Wirkung des Alkohols war.“

Mia nahm dankend ihre Schüssel entgegen und nickte bestätigend die Worte Elaines ab. Dennoch kam sie nicht umhin zu schmunzeln. Schließlich verdiente die Gastwirtin mit Bier und Wein gutes Geld und die junge Heldin traute sich zu wetten, dass der Mann sich im 'Balzenden Hirsch' seinen Mut angetrunken hatte.

„Was gibt es da zu grinsen?“, bohrte die Grauhaarige nach, als sie das Mädchen musterte. Sie konnte sich genau denken, was Mia gerade dachte. „Es ist bestimmt nicht meine Schuld, wenn diese Dummköpfe auf solche Ideen kommen. Ich bin Gastwirtin und nicht ihre Mutter. Außerdem kann ich nicht auf jeden ein Auge haben.“

Angestachelt schlürfte Elaine ihre Suppe, woraufhin sie sich verschluckte und zu prusten begann. Mia konnte sich nicht beherrschen und lachte beherzt auf, was ihr ein bedrohliches Funkeln Elaines einheimste, bevor sie letztlich mit ins Gelächter der Jüngeren einfiel. Es dauerte eine Weile, bis beide sich beruhigt hatten und ihre vom Lachen tränenden Augen trocknen konnten. Mittlerweile war auch Jimara, der friedlich neben Mia geschlafen hatte, davon aufgeweckt worden und legte nun seinen Kopf auf die Oberschenkel seiner Partnerin und musterte sie durch seine roten Augen.
 

Liebevoll tätschelte sie seinen Kopf. Es war kaum zu glauben, wie schnell ihr Wolf gewachsen war. Als sie ihn erwählt hatte, reichte er ihr gerade einmal bis zum Knie und nun hatte er bereits eine Schulterhöhe, die ihr bis zu den Achseln reichte. Bald würde er zu groß sein, um weiterhin im Gasthof leben zu können. Dann würde er in den dazugehörigen Stall ziehen müssen. Es tat Mia zwar schrecklich Leid, aber sie wusste, dass es nicht anders ging. In der Höhle der Bestienritter war er nun einmal einfach nicht willkommen und er konnte nicht ewig bei ihr im Zimmer bleiben. Viele Gäste bekamen es ja jetzt schon mit der Angst zu tun, wenn sie ihm im Flur oder Gastraum über den Weg liefen. Außerdem würde der Platz für ihn dann einfach nicht mehr ausreichen. Wieder musste sie Elaine danken, dass sie ihn im Stall unterbringen würde und Mia kam nicht umhin sich zu fragen, was sie getan hätte, wenn es die freundliche ältere Frau nicht geben würde.
 

„Oh jetzt haben wir Jimara wohl mit unserem Gegacker aufgeweckt, was meine Liebe“, schmunzelte die Ältere. „Aber er hat ja jetzt auch lange genug geschlafen und außerdem tut es sehr gut einmal beherzt zu lachen. Es ist schon eine Weile her, dass ich so frei heraus lachen konnte. Seit dem Tod meiner Tochter gab es nur wenige Gelegenheiten dazu.“

Die Augen Elaines fixierten ein Bild ihres verstorbenen Kindes und ein Schatten legte sich auf das Gesicht der Frau.

Mia kannte das Bildnis. Es zeigte eine junge Frau mit schönen Gesichtszügen und vollen Lippen, mit einem einnehmenden Lächeln. Ihre großen, runden Augen waren grau und sie hatte ein blasses Gesicht. Ein Schönheitsfleck zierte ihre Rechte Unterlippenseite. Ihr rotblondes Haar trug sie zu einem Zopf gebunden, der ihr über die linke Schulter hing. Ein weißer Federohrring baumelte an ihrem sichtbaren Ohr. Sie war Elaines Augenstern gewesen und jeder in Woods hatte sie geliebt. Viele Reisende hatten im 'Balzenden Hirsch' nur wegen ihr Halt gemacht und man erzählte sich in ganz Xändyr und darüber hinaus von ihrer warmen und freundlichen Art. Sie hatte viele Verehrer, die sie alle abwies. Sie wollte frei sein und niemanden gehören.

Plötzlich war das freudige Gelächter von eben nur noch ein dumpfes Echo in der Ferne und kummervolle Falten legten sich auf Elaines Gesicht. Ihr Blick schweifte in die Ferne ab und Mia merkte ihr deutlich an, wie die Gastwirtin gegen die Tränen ankämpfte.
 

In der Zeit, in der sich die beiden nähergekommen waren, hatte Elaine der jungen Heldin bereits anvertraut, dass ihr Mann, Richter, ein Held, der Xändyr gerettet hatte, vor neunundzwanzig Jahren spurlos verschwunden war. Kurz darauf hatte sie ihre Tochter Thea geboren. Doch sie war mit einem schwachen Herzen auf die Welt gekommen und im Alter von sechzehn Jahren verstorben. Seit jeher lebte Elaine allein. Sie fand Trost in der Bewirtung ihrer Gäste und entging so der Einsamkeit. Doch wie es nun einmal so war, hinterließ jeder Verlust seine Narben, die niemals verheilten. Zudem bedrückte die Frau die Ungewissheit über den Verbleib ihres Mannes. Er war gegangen und nie wieder zurückgekommen. Er hatte den Kult der Sieben Himmel zwar zerschlagen, doch wusste er, dass dieser sich eines Tages wieder erheben würde. Verbittert über diese Erkenntnis hatte er nach Möglichkeiten gesucht, dieses Schicksal abzuwenden, war aber nie zu einer Lösung gekommen, wie es zu bewerkstelligen sei. Die letzten Worte, die er seiner Frau deshalb hinterlassen hatte waren:

„Ich liebe dich und ich werde dich immer lieben. Aber ich bin es leid. Weder ich noch irgendjemand sonst wird Elayaden retten können. Vielleicht wäre es am Besten, wenn es uns Helden einfach nicht gäbe.“

Elaine hatte versucht ihn aufzuhalten, als sie begriff, dass er gehen wollte, doch er hatte sie einfach hinter sich gelassen und ward seit jeher nicht mehr gesehen.

Die alte Frau hatte damals so hefig geweint, dass es Mia beinahe das Herz zerriss. Sie hatte deutlich spüren können, dass Elaine Richter innig geliebt hatte und es immer noch tat. Sie hatte versucht sie zu trösten, ihr Halt zu geben, aber es war ihr nicht gelungen. Am Ende hatten beide geweint und die Heldin hatte sich geschworen, alles zu tun, damit es der Gastwirtin an nichts mehr mangelte. Mittlerweile sah sie Elaine schon als eine Art Mutterersatz an und sie konnte einfach nicht zulassen, dass jemand der ihr wichtig war so sehr litt.
 

Langsam erhob sich die junge Heldin aus ihrem Stuhl, trat von hinten an die Gastwirtin heran und umschloss sie in eine innige Umarmung. Dabei gab sie ihr eine sanftes Küsschen auf den Kopf und spendete ihr schweigend Trost. Die Frau schluchzte leise und drückte dankbar die Hände der Jüngeren. So verweilten sie, bis Elaine ihren Kummer überwunden und ihre Tränen getrocknet hatte. Von der anderen Seite des Tisches blickte der schwarze Wolf die beiden Frauen wachsam durch seine roten Augen an.

Es tat Elaine unsagbar gut, dass sie Mia in ihrer Nähe wusste.

„Danke dir Kindchen. Du bist mir eine wahre Stütze in schweren Augenblicken“, brachte die Ältere etwas heiser hervor.

„Du brauchst dich nicht zu bedanken. Es ist doch nur natürlich, dass man seinen Schmerz verarbeiten muss. Außerdem hast du so viel für Jimara und mich getan. Eigentlich müsste ich mich bei dir bedanken“, entgegnete Mia ruhig und löste sich langsam aus der Umarmung.

„Ach Kindchen, ich tue nur, was ein jeder mit einem gesunden Menschenverstand tun würde.“

„Genau wie ich“, pflichtete das Mädchen milde lächelnd bei.

Woraufhin sich die Ältere erhob und ihrerseits die Jüngere in die Arme schloss. Denn ebenso wie sie selbst litt, wusste sie, dass es Mia nicht anders erging. Das junge Ding hatte ihr im Vertrauen erzählt, dass sie unüberbrückbar von ihren Eltern und Freunden entfernt sei und nur noch Grahl, Smith und Kyth hatte, welche momentan einfach nicht bei ihr sein konnten. Sie teilten sich ein schweres Los und konnten einander Halt und Hoffnung geben.
 

„Ach ja. Da fällt mir etwas ein“, entfuhr es Elaine plötzlich und sie löste die Umarmung ebenso schnell wie sie sie eingegangen war. Eilig hastete sie zu einem der Regale und durchstöberte es. Verwirrt beobachtete Mia das Treiben der Anderen. Deren Finger blitzschnell von einem Buchrücken zum nächsten huschten, während sie leise jeden Titel vor sich hin las, bis ihr Finger auf einem kleinen, dünnen Büchlein haften blieb, das sie behände herauszog.

„Da ist es ja!“, entfuhr es ihr begeistert. Geschwind kehrte sie zu ihrem Platz zurück und setzte sich.

„Kindchen willst du dich nicht auch wieder setzen? Oder stehst du gerade gut?“, fragte sich amüsiert und deutete Mia an wieder platz zu nehmen.

Das Mädchen war sichtlich verdutzt über den schnellen Gemütswandel der Älteren, folgte aber ihrer Forderung ohne ein Wort zu sagen. Schließlich schien es Elaine wieder besser zu gehen und das war alles was zählte.
 

Als Mia wieder auf ihrem Stuhl saß und Jimara die Schnauze kraulte, schob die Gastwirtin das Fundstück über den Tisch und blickte Mia begeistert an. Diese zog das Büchlein zu sich und fuhr sanft über den dunkelbraunen Ledereinband. Leise las sie - „Theas Forschungen.“ - und sah nun wiederum Elaine fragend an.

„Wie du ja weißt, war meine Tochter ebenfalls magiebegabt und im Umgang mit Kristall- und Lichtmagie bewandert. Sie glaubte daran, dass sie mittels von ihr geschaffener Kristalle Energie in ihnen speichern könnte. Dazu führte sie dieses Tagebuch. So viel ich weiß, gelang es ihr sogar einen Kristall mit Lichtmagie aufzuladen. Wodurch er eine gewisse Zeit leuchtete. Leider konnte sie ihre Forschung nicht beenden. Aber vielleicht hilft dir dieses Buch weiter. Deshalb möchte ich, dass du es bekommst. Schließlich ähneln sich eure Kräfte und in meinem Regal verstaubt es ohnehin nur. Dafür ist es viel zu schade und wer weiß, möglicherweise beendest du ja was sie begonnen hatte.“

Ehrfürchtig öffnete Mia das Buch und begann sofort darin zu lesen. Wie sie feststellte, hatte Thea eine sehr saubere und schöne Handschrift. Sie führt das Buch mit Bedacht und Ordnung. Ihr Ausführungen waren hier und da mit Skizzen hinterlegt und für Mia verständlich formuliert.

Das ist beeindruckend, dachte sie bei sich und blätterte gespannt durch das Geschriebene. Zwar war sie keine Leseratte, aber sollte es ihr gelingen Kristalle als Speichermedium zu erschaffen, konnte dies äußerst nützlich sein. Oft waren Zauber sehr kräftezehrend, da wäre es doch praktisch, wenn man sich gespeicherte Energie zu nutze machen konnte.

„Danke Elaine. Ich werde das Vermächtnis deiner Tochter in Ehren halten und auf jeden Fall versuchen, ihre Forschung zu beenden.“

Die Gastwirtin nickte glücklich, nippte an ihrem Tee und begann anschließend mit ihrer Strickarbeit. Mia hingegen konzentrierte sich wieder auf das Buch und verinnerlichte, die Schritte die darin standen.

Eine behagliche Ruhe umfing die beiden, die nur kurz durch ein Gähnen Jimaras durchbrochen wurde, ehe er sich vor dem Kamin zusammenrollte und wieder einschlief.
 

Diese Stille sollte jedoch nicht lange vorhalten, als plötzlich von draußen Rufe laut wurden. Aufgebrachte, wütende Rufe. Zu diesen mischte sich ein gequältes Jaulen und Quicken. Kurzzeitig blieb Mia das Herz stehen, als sie glaubte, dass Jimara nach draußen geschlichen und nun attackiert worden war, doch schnell realisierte sie, dass er noch immer vor der Feuerstelle schnarchte.

„Was geht da vor sich?“, ergriff nun Elaine das Wort, die etwas später auf den Tumult aufmerksam wurde. Schnell legte sie ihre Strickerei bei Seite und ging auf das Fenster zu, das zur Straße zeigte. Mia schlug das Herz bis zum Hals und sie befürchtete, dass man erneut einen Düsterwolf gefangen hatte und nun erschlagen wollte. Geschwind folgte sie Elaine, die die Vorhänge bei Seite schob und das Fenster aufschwang.
 

Sofort schlug ihnen die kalte Winterluft entgegen und einige Schneeflocken tanzten wild in die Stube herein. Anscheinend hatte die 'Launische Braut' einen Sturm ins Tal geschickt, der Woods unter einer zentimeterdicken Schneedecke vergrub.

Auch der Lärm schwoll zu einem Gewirr aus Flüchen und Schimpfereien heran und die beiden machten zwei Wachmänner aus, die auf etwas eintraten, das zitternd im Schnee lag und geschwächt winselte.

Mia schlug die Hände vor dem Mund zusammen, als sie erkannte, dass die beiden Männer auf einen kleinen Fuchs eintraten. Behände schwang sie sich aus dem Fenster und landete auf der zugeschneiten Straße. Augenblicklich begann sie zu frösteln, da sie nur mit Strümpfen und einem dünnen Seidenkleid bekleidet war. Wie tausende Nadeln schoss die Kälte ihn ihre Füße und der eisige Wind peitschte ihr ungenädig ins Gesicht. Hinter sich hörte sie Elaine etwas rufen, verstand aber nicht genau was sie sagte, da der Sturm unbarmherzig durch das Dorf fegte.

Ohne zu zögern erhob Mia das Wort: „Was geht hier vor?“

Überrascht wandten sich die Wachmänner zu ihr um und sahen sie herablassend an.

„Das geht dich nichts an du kleine Hexe!“, schnauzte einer der beiden. Er war ein großgewachsener und muskulöser Mann. Er hatte einen schwarzen Vollbart und eine Narbe verlief über seiner Nase. Scheinbar gehörte er zu jenen, die Mia als Dämonin und nicht als Heldin ansahen.

„Solltet ihr nicht die Stadt bewachen?“, herrschte die Jugendliche sie unverhohlen an.

„Das tun wir doch. Aber solltest du nicht schon in deinem Bettchen liegen und schlafen? Oder hast du Angst das dein Wolf dir während du schläfst die Eingeweide herausreißt?“, entgegnete der Kerl mit der Narbe, woraufhin sein Gefährte in Gelächter verfiel. Der andere Mann war etwa genauso groß wie der Bärtige, aber fett und kam einer Kröte gleich. Durch verquollene Augen blickte er das junge Mädchen an und sein Gesicht war von Warzen entstellt.

„Jimara würde so etwas niemals tun“, begehrte Mia auf und trat wütend einen Schritt auf die beiden zu. „Es ist nämlich nicht jeder so feige und vergreift sich an kleinen, wehrlosen Wesen. Ihr seid eine Schande für die Stadtwache.“

Der Bärtige schnaufte wütend auf und trat ebenfalls auf die Weißhaarige zu. Sein Gesicht rötete sich vor Zorn und Mia fürchtete, dass sie den Bogen überspannte. Aber sie konnte und wollte nicht weichen. Sie würde nicht erlauben, dass dem Tier etwas geschah.

„Du weißt doch gar nicht was du da redest! Ich schlage dir vor, du gehst jetzt sofort zurück in den Gasthof und lässt uns unsere Arbeit tun, denn sonst könnte es sein, dass wir dich auch erledigen müssen. Du magst ja in der Gunst des Prinzen stehen, aber wenn du uns, sagen wir mal 'bedrohen' würdest. Dann dürften wir auch dich kalt machen.“

Mia lachte verbittert auf: „Ihr droht mir, einer vierzehnjährigen? Soweit ist es also schon mit der Stadtwache gekommen? Vergreift euch an Tieren und Kindern. Ihr seid ja tapfere Beschützer.“

Wie ein Echo, spürte die Heldin sofort einen heftigen Schlag in ihr Gesicht, der sie von den Füßen fegte. Unsanft schlitterte sie über den verschneiten Boden. Ihre Wange brannte wie Feuer und ihre Augen tränten. Auch in den Knien spürte sie Stiche, die der Kälte geschuldet waren. Mühsam erhob sie sich auf wackelige Beine und rieb sich das schmerzende Gesicht. Sie schalte sich eine Närrin, dass sie die Wachmänner so provozierte. Sie hätte mit einer Attacke rechnen müssen.

Elaine, die noch immer am Fenster stand beschimpfte die Männer, die nun langsam auf Mia zuschritten. Diese schenkten ihr aber keine Beachtung.
 

„So Kleine, entweder du gehst jetzt brav ins Bett oder ich zeige dir was wahrer Schmerz ist“, raunte der Bärtige sie erneut an. Dabei war sein Gesicht nur eine handbreit von Mias entfernt. Er ergötzte sich am Anblick des Mädchens. Ihre Wange war stark gerötet und sie zitterte am ganzen Leib. Ihre dämonisch roten Augen glitzerten, weil sich Tränen darin sammelten und er erwartete, dass sie endlich einknickte und verschwand. Weit gefehlt. Mia erwiderte seinen Blick und spuckte ihm ins Gesicht. Diesmal war sie auf den Schlag vorbereitet und wich mit einem Sprung nach hinten aus.

Durch die Wucht des Hiebes stolperte ihr Kontrahent vornüber und landete unschön im Schnee. Mia lachte ihn provozierend aus und richtete eine Hand auf ihn. Gerade als er sich erheben wollte, quiekte sein Gefährte nervös auf. Verwirrt blickte er sich nach diesem um und erkannte, dass er mit schreckensgeweiteten Augen auf ihn deutete. Erst jetzt bemerkte auch der Vernarbte, dass er von Kristallsplittern umringt war. Sie waren überall. Über seinem Rücken, unter seinem Hals und Bauch, an den Seiten und jetzt sogar vor seinem Gesicht.

Nun schritt Mia langsam auf ihn zu. Der Schnee unter ihren Füßen knirschte bedrohlich und als ihre roten Augen in sein Blickfeld kamen, flammte in ihnen die Wut. Der Schneesturm ließ ihr Haar wild im Wind tanzen und sie wirkte in diesem Moment weniger wie ein Mensch, als ein fleischgewordener Dämon.

Zischend richtete sie ihre Worte an den Wachmann: „Entweder ihr verschwindet auf der Stelle, oder ich werde euch umbringen. Glaubt mir, dass macht mir überhaupt nichts aus und euer Kamerad wird euch nur wenige Sekunden später ins Jenseits begleiten. Und seid versichert, niemand würde eure Leichen finden, denn Jimara ist immer hungrig und wird euch bis aufs letzte verspeisen. Ihr wärt einfach verschwunden. Wäre das nicht traurig?“

Um ihrer Drohung Nachdruck zu verleihen zogen sich die Kristalle enger um den Mann und er spürte, wie sie sich langsam in seine Haut bohrten.
 

Hasserfüllt willigte er ein, dass sie verschwinden würden, weshalb Mia den Zauber auflöste. Mit hochrotem Kopf erhob sich der Mann, klopfte sich den Schnee ab und fixierte das Mädchen dabei, als würde er sie jeden Moment bespringen und ihr die Kehle durchbeißen. Die Anspannung Mias nahm nicht ab und sie war jederzeit bereit eine Kristallsalve auf den Kerl abzufeuern. Einige Augenblicke standen sie sich noch drohend gegenüber, bis der man schließlich mit wehendem Umhang kehrt machte und dem Anderen signalisierte, dass sie gingen. Als sie an dem reglosen Fuchs vorbeimarschierten, ließen sie es sich nicht nehmen, das Tier noch einmal zu bespucken.

Nachdem die junge Heldin die beiden schließlich nicht mehr sehen konnte, entspannte sie sich endlich wieder. Sie dankte der Vorsehung, dass die beiden auf ihre Drohung hineingefallen waren. In Wahrheit hätte sie es nicht über sich gebracht, sie auch nur zu verletzten. Ihr Herz raste noch immer und erst jetzt stellte sie fest, dass sie zitterte. Was nicht an der Kälte sondern an ihrer Nervosität lag. Ich Gesicht schmerzte zwar noch immer aber sie rannte, sobald sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, zu dem verletzten Tier und untersuchte es.
 

Es atmete noch. Sehr schwach, aber es lebte. Augenblicklich tastete sie das Füchschen ab. Jaulend ließ es die Prozedur über sich ergehen. Es hatte etliche gebrochene Rippen, sowie einen zerschmetterten Kiefer. Die inneren Verletzungen konnte sie nur erahnen. Mia musste dem Tier sofort helfen. Wenn sie es bewegte, würde es vermutlich nicht überleben. Vorsichtig legte sie ihre Hände auf den zerschmetterten Körper und begann ihre heilende Energie in den Fuchs zu übertragen. Zuerst reparierte sie die gebrochenen Knochen und regenerierte schließlich die restlichen Wunden. Es war eine kraftraubende Aufgabe, noch anstrengender als das Wiederherstellen des Armes, doch Mia gab nicht auf. Immer weiter floss die heilende Magie in den Fuchs und stellte ihn zur Gänze wieder her. Heilte zerstörtes Gewebe, verletzte Innereien und Risse in den Muskeln. Mia lief indessen der kalte Schweiß am Körper hinunter und ihr Blickfeld flimmerte auf. Ihre Kraft war bis ans äußerste erschöpft. Sie konnte sich selbst kaum noch aufrichten. Die eisige Kälte schnitt sie am gesamten Körper und ihr Atem stockte.

Ich muss mich beeilen. Sonst erfrieren wir., ermahnte sich das Mädchen selbst. Mit letzten Anstrengungen erhob sie sich und nahm das kleine Tier auf ihren Arm. Sie hatte kaum die Reserven dazu, doch wollte sie nicht, dass man dem Fuchs noch mehr Leid zufügte.

Plötzlich spürte sie, wie man ihr eine Decke überwarf und sie vorsichtig nach drinnen geleitete. Zu ihrer Linken bemerkte sie nun auch Jimara, der sich stützend gegen sie lehnte. Gemeinsam mit Elaine und ihrem Düsterwolf kehrte sie in den Gasthof zurück.
 

Die ältere Frau führte sie vorsichtig in ihr Zimmer und legte sie in ihr Bett. Sofort kauerte sich Jimara an Mia, um sie wieder aufzuwärmen. In ihren Armen hielt sie noch immer schützend den kleinen Fuchs, bis sie erschöpft einschlief.

Elaine blickte besorgt auf Mia und dann den Fuchs. Er war schwarz-weiß und hatte einen buschigen Schwanz. Sie kannte das Tier und wusste, dass sich die junge Heldin besser nicht hätte einmischen sollen. Denn sie hatte keinen Fuchs gerettet, sondern einen Wandler. Die Menschen mieden diese Wesen, da sie zwei Gestalten hatten. Eine Menschliche und eben eine Tierische.

Ich hoffe, dass sie das nicht bereuen wird, dachte Elaine, ehe sie eine Decke über das Mädchen warf, das Licht löschte und den Raum verließ.

Kaum dass sie gegangen war, verwandelte sich das Füchschen in einen kleinen Jungen mit schwarz-weißem Haar, welches ihm bis zum Po reichte und kuschelte sich eng an Mia. Im Schlaf nuschelte er: „Shantja du hast mich gerettet.“

Willen- und seelenlos

Der Winter war vorüber und allmählich begann auch die Natur wieder zu neuem Leben zu erwachen. Der trostlose Wald, dessen Bäume ohne ihre Blätter, wie Skellette ihrer selbst wirkten, begann langsam wieder zu erblühen. Man konnte Knospen und die ersten kleinen Blättchen ausmachen. Auch die Fichten und Tannen erhielten ein kräftigeres Grün zurück und der Boden, der nur noch vereinzelte Fleckchen weißen Schnees aufwies, brachte die ersten Sprösslinge an Farnen, Sträuchern und jungen Setzlingen hervor. Die Luft war nicht mehr so schneidend kalt und ein angenehmer frischer Duft schwang in ihr mit. Auch das tierische Leben kehrte nun nach und nach zurück. Man konnte wieder vermehrt das Gezwitscher, der paarungswilligen Vögel vernehmen. Hasen, Eichhörnchen und andere kleine Waldbewohner durch den Forst huschen sehen und wenn man sich ganz ruhig verhielt, sogar hier und da ein Reh oder einen Fuchs erspähen. Auch die Sonne hatte wieder deutlich an Kraft gewonnen und so ließ es sich Smith nicht nehmen, sich für einen kurzen Moment in das frische Gras am Rande des Waldes zu legen und die ersten Strahlen des Frühjahrs willkommen zu heißen. In seiner Welt hatte er das Bewusstsein für die Natur niemals so wahrgenommen. Dazu musste er erst nach Elayaden kommen. Er begrüßte den Frühling aus ganzem Herzen. Anders als früher. Er fühlte sich hier mehr wie ein Teil der Umwelt, als er es jemals auf der Erde konnte.

Seine Finger fuhren durch das saftige, taugetränkte Gras. Er sog den Wind mit all seinen Aromen genüsslich in seine Lugen und lauschte den Klängen, die das neue Leben ankündigte, mit einer Seelenruhe.
 

Die Welt konnte so schön sein, wenn man sich nur einen Augenblick Zeit nahm und sie auf sich wirken ließ. Doch so schön sie auch war, gab es ebenso viele Probleme auf ihr. Noch immer quälten Smith die Erinnerungen an die Ereignisse im Dorf. Es erschloss sich ihm einfach nicht, wie die Menschen so mit den Humunkuli umgehen konnten und er war entschlossener denn je, dass er etwas daran ändern wollte.

Zu aller erst, hatte er Quintus verkündet, dass sie nicht wieder in das Dorf zurückkehren und nur aus dem Schoß der Natur leben würden. Zwar wusste das Goldauge nicht, ob er nur nicht mehr zurück wollte, um der Tatsache auszuweichen, dass er nichts ändern konnte oder weil er so seinen Lehrmeister vor den schändlichen Blicken und Beleidigungen abschirmen konnte. Ein Stich in seinem Innersten, offenbarte ihm natürlich, dass er das Problem erst einmal ausblenden wollte und deshalb verachtete er sich selbst ein wenig. Jedoch war ihm auch bewusst, dass er einen Plan brauchte, bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Dazu war es unabdingbar, dass sie die Ausbildung beendeten und er beim Prinzen und seinen Beratern vorsprechen konnte. Er musste zudem viele Informationen über Humunkuli und deren Meister beschaffen und verarbeiten, um letztlich etwas für diese sehr menschlichen Kreaturen tun zu können.
 

Natürlich hatte Quintus keinen Einwände erhoben. Es war ja schließlich nur seine Pflicht ein Auge auf Smith zu haben und dessen Ausbildung und Unversehrtheit zu garantieren. Und so waren sie nicht wieder ins Dorf zurückgekehrt.

Im Herbst stellte die Nahrungsversorgung kein großes Problem dar. Doch als der Winter immer näher rückte und die Tiere in wärmere Gefilde davonzogen oder sich für ihre Winterruhe vorbereiteten, wurde das Jagdangebot knapper. Zum Glück hatten die beiden begonnen Pilze und andere essbare Pflanzen zu sammeln und zu lagern, so gut es in der Wildnis eben ging. Der Mangel an Fleisch wurde, je weiter der Winter voranschritt aber zu einem Problem. Smith und Quintus waren schließlich Tag und Nacht der schneidenden, erbarmungslosen Kälte, sowie Wind und Wetter ausgeliefert, weshalb sie dementsprechend genug Nahrung zu sich nehmen mussten, um nicht zu erfrieren. Oft wanderten sie tagelang durch den Wald und kontrollierten ihre aufgestellten Fallen oder suchten nach Wild, dass es zu erlegen wert war. Gelegentlich geriet ein kleiner Waldbewohner in eine der Jagdfallen und noch seltener erlegten sie ein Beutetier.
 

Zwar konnte Smith mittels seiner Energiemagie Lebenskraft aus der Umgebung ziehen, doch wusste er, dass er dies nicht übertreiben sollte. Denn nahm er zu viel Kraft seiner Umwelt auf, lief diese Gefahr zu verenden. Zudem half diese Methode Quintus nicht weiter. Denn auch Humunkuli mussten essen. Sie mochten vielleicht magisch erschaffen worden sein, waren aber den selben Zwängen unterworfen wie die Menschen. Wenn sie nicht aßen und schliefen, war dies genauso gefährlich für sie wie für ihre Herren. Deshalb hielt es Smith so, dass er mit seinem Lehrmeister hungerte und fror.
 

Irgendwann, Smith konnte nicht sagen, wie weit der Winter bereits vorangeschritten war, zogen die beiden näher an den Waldrand. In der Hoffnung Beute auf den Feldern machen zu können oder dort zumindest noch irgendetwas nahrhaftes zu finden. Leider bot auch die Welt außerhalb des Waldes einen trostlosen Anblick. Der Schnee hatte sich wie ein weißer Umhang über das Land gelegt und begrub dieses, teilweise meterhoch, unter seinen fröstelnden Massen. Soweit das Auge reichte gab es nur weiß für sie zu sehen. Auch die wenigen Bäume, die auf dem Feld standen waren dunkle Gerippe und nur in weiter Ferne machte Smith Rauchschwaden aus, die wohl aus dem Dorf zu kommen schienen, in dem sie damals ihre Vorräte aufgestockt hatten.

Für einen Moment war der junge Jäger versucht gewesen seinen Vorsatz zu brechen und sich mit Proviant einzudecken und wenn möglich ein oder zwei Tage im Gasthof zu verbringen, um der beißenden Kälte, die ihre Körper befiel und zunehmend gefühlloser machte, zu wärmen. Doch dann schüttelte er den Kopf und schalte sich selbst einen Narren. Wie konnte er nur so etwas denken? War er so schwach, dass er seine Entschlüsse brach, wenn die Dinge einmal nicht zu seinen Gunsten standen? Nein, so war er nicht. Er würde nicht dorthin zurückkriechen und jenen etwas abkaufen, die so diabolisch mit anderen Wesen umgingen. Eher würde er hier im Schnee sterben, als dort noch einmal einen Fuß hinzusetzen.
 

Ziellos wanderten sie am Rande des Waldes, in die entgegengesetzte Richtung, weiter und ernährten sich von den spärlichen Resten an Pilzen und Kräutern, die sie noch besaßen. Smith war bewusst, dass sie bald auch ihren letzten Proviant verbraucht haben würden und ein Wunder geschehen mussten, wenn sie nicht verhungern wollten.

Neben seiner eigenen zunehmenden Kraftlosigkeit und der schwindenden Wahrnehmung, sowie dem beißenden Hungergefühl, stellte er erschrocken fest, dass Quintus immer blasser und schmäler wurde. Zwar beklagte dieser sich nicht oder ließ sonst irgendwas verlauten, doch wurde Smith mehr und mehr bewusst, dass er schwerer an den Folgen der mangelnden Ernährung zu leiden hatte, als er selbst und dass sein Ende wesentlich schneller gekommen sein würde.

Schon bald wurde ihm auch bewusst warum. Der Humunkulus aß kaum noch etwas vom Proviant, damit sein Schützling bei Kräften bleiben konnte. Er stellte also sein eigenes Wohl hintan. Smith war fassungslos und stellte ihn daraufhin zur Rede, weil er nicht dulden konnte und wollte, dass sich der Humunkulus für ihn aufgab. Als er diesen jedoch darauf ansprach, entgegnete dieser gewohnt kühl, dass dies zu seinem Auftrag zähle und es von äußerster Wichtigkeit sei, dass es dem Helden gut ginge. Sein eigenes Leben sei nichts wert und wenn er sterben würde, so hätte er alles getan, um Smiths Unversehrtheit zu gewährleisten. Da war es also wieder. Dieses ungeheure Thema, dass Humunkuli nichts wert seien, dass das Wohl der Menschen auf einer höheren Ebene stand, als das ihre.

Eine bleierne Schwere hatte Smith daraufhin befallen, die noch dazu an seiner geistigen Kraft zehrte. Er wollte nicht, dass Quintus für ihn sterben würde, doch er wusste genau, dass dieser davon nicht hören wollte oder es einfach ignorierte. Er würde seinem Auftrag folgen, egal was sein Schüler sagte. Schließlich hatte sein Meister befohlen, dass er seine Order ausführte. Daran gab es nichts zu rütteln. Und wenn es ihm das Leben kostete, so würde er dennoch diesem Pfad folgen. Schließlich gab es keinen Anderen, den es zu beschreiten galt.
 

Smith wurde klar, dass er handeln musste, wenn er das Leben seines Meisters und Seines nicht riskieren wollte und so schlich er, eines nachts, als er die Nachtwache übernommen hatte, davon. In jener Nacht herrschte Vollmond und der Himmel war sternenklar. Tausende leuchtender Punkte leuchteten auf das weiße Land. Der Blick in das Sternenmeer war unbeschreiblich. Auf Elayaden konnte man weitaus mehr Gestirne erspähen, als auf Erden. Überhaupt schien hier alles wesentlich weiter und der Begriff Unendlichkeit wurde ein Stück greifbarer für Smith. Auch das Umland, das in den fahlen Schein des Mondes getaucht wurde, funkelte wundersam dank des Schnees. Es war jedoch keine Zeit geblieben, um sich an der Schönheit der Nacht zu ergötzen. Stattdessen eilte der junge Held so schnell es die Schneemassen erlaubten durch das Gelände. Er nutzte seine Magie, um Energien zu filtern und hoffte so, auf Beute zu stoßen. Mittlerweile war er sehr geübt im Umgang mit seinen Kräften und konnte großes Terrain nach anderen Lebensformen abtasten. Er war nun schon weit vom Lager entfernt, konnte Quintus kaum noch wahrnehmen, da spürte er eine Vielzahl an Lebewesen. Sie waren klein und ihr Kraftfluss war zurückgeschraubt, aber es waren definitiv sehr sehr viele Wesen auf einem relativ kleinen Fleck. Eilig stapfte er durch den Schnee, bis er schließlich vor einem zugefrorenen See zum Stehen gekommen war. Erschöpft war er auf die Knie gefallen und seine Hände ruhten auf dem gefrorenen Gewässer. Die klirrende Kälte, die dieser von seinen Handflächen in den restlichen Körper flutete, weckte seinen entkräfteten Geist. Sofort breitete er seine Kraft über den See aus. Er spürte hunderte, wenn nicht sogar tausende Fische, die tief am Untergrund den Beginn des Frühlings abwarteten. Ein gewaltiger Stein fiel ihm vom Herzen, als er sich bewusst wurde, dass sie nicht mehr hungern mussten. Sie würden ihr Lager einfach am Ufer des Sees aufschlagen und von den Fischen leben. Bevor Smith zu Quintus zurückkehrte, entzog er einigen der Tiere ihre Lebensenergie, um sich selbst zu stärken, dann machte er sich eilig auf den Rückweg. Am nächsten Morgen offenbarte er seinem Lehrer seinen Fund und sie machten sich unverzüglich auf zum See.
 

Gierig schlugen sie Löcher ins Eis und banden ihre letzten Vorräte an Schnüre, die sie dem See übergaben und nach und nach konnten sie einen Fisch nach dem Anderen an Land befördern. Ihren ersten Tag am See verbrachten sie nur damit, sich zu stärken. Danach holten sie nur noch, was sie zum überleben brauchten daraus und die Ausbildung konnte endlich weitergeführt werden, auch wenn Quintus der Meinung war, dass Smith nichts mehr lernen musste. Alles weitere, so sagte er, würde die Erfahrung bringen.
 

Ein Glück, dass der Winter endlich vorbei ist, dachte Smith nur, als er sich gähnend aus dem Gras erhob. Es war eine sehr schwere Zeit gewesen, aber sie hatten sie überstanden. Er wusste nicht genau wie, aber sie hatten es geschafft. Schnell schulterte er die vier Rebhühner, die er vor seiner Rast, im Wald, erbeutet hatte und machte sich auf den Weg zurück ins Lager am See. Noch einmal ließ er den Blick über die saftigen Wiesen schweifen, die hier und da die ersten Frühlingsblumen aus dem Boden sprießen ließen. Die auch sogleich von Bienen und anderen Insekten besucht und in fleißiger Arbeit bestäubt wurden. Am Himmel tanzten Vögel in waghalsigen Manövern vor sich hin und versuchten potenziellen Weibchen zu imponieren oder sich eines der Insekten zu schnappen. Weiße Wölkchen wurden vom Frühlingswind über das Blau des Horizonts gejagt und in einiger Entfernung glitzerte der See, der Quintus und ihm das Leben gerettet hatte. Gemütlichen Schrittes wanderte auf diesen zu und war sich sicher, dass sein Lehrer froh sein würde, wenn er nun auch endlich wieder einmal etwas anderes, als Fisch essen konnte.
 

Es war noch ein gutes Stück zurück zu seinem Lehrmeister und doch fühlte er fremdartige Energien in der Nähe ihres Unterschlupfs. Dort waren offensichtlich Menschen, fünf Stück, wenn er sich nicht irrte. Ihre Kraft bäumte sich in einem steten Strom auf und ab, wie Wellen, die gegen das Ufer schlugen. Im krassen Kontrast verhielt sich die seltsame Lebenskraft Quintus. Sie flackerte. Sie war schwächer als gewohnt, zwar nicht bedrohlich schwächer, aber merklich. Ein ungutes Gefühl breitete sich in Smith aus. Sofort sprintete er los. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt und er presste seine Kiefer unangenehm aufeinander. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er hasste sich selbst dafür, dass er Quintus allein zurückgelassen hatte. Er hätte sich doch denken könne, dass irgendwann jemand hier auftauchen würde.

Wenn sie ihm auch nur ein Haar gekrümmt haben. Dann werden sie dafür bezahlen, schoss es ihn durch seinen Geist.

Durch seine harte Ausbildung war Smith ein schneller und geschickter Läufer geworden und erreichte das Lager ohne große Anstrengung. Was er dort erblickte ließ seinen Atem stocken. Es war fast wie er vermutet hatte. Man hatte ihr Lager verwüstet. Das Zelt war in den See geworfen worden. Das Feuer ausgetreten, die Fische, die darauf gebraten hatten, wüst verteilt und tatsächlich traten fünf Männer auf den Humukulus ein, der wehrlos am Boden lag. Sie lachten dabei und beschimpften und bespuckten ihn. Einer stand sogar nur da und öffnete seine Hose. Ganz offensichtlich wollte er Quintus anpinkeln und zu seinem Entsetzen erkannte Smith diesen Kerl. Es war der selbe alte Kerl, der damals seine eigene Humunkulusdienerin ähnlich misshandelt hatte. Smith kämpfte mit einer Woge unbändigen Hasses, auf diese Typen und es gelang ihm nur schwer sich zusammenzureißen. Mit einer schnellen Handbewegung befreite er eine Energiewelle, die den Alten in den See schleuderte, ehe er Quintus dermaßen demütigen konnte.
 

Kreischend war der Glatzkopf von der Welle erfasst und weit in das kalte Nass geschleudert worden. Erschrocken blickten die übrigen Vier auf den Humukulus, da sie vermuteten, dass er sich zur Wehr gesetzt haben könnte. Noch ehe sie sich jedoch der wahren Gefahr gewahr wurden, ergriff Smith zischend das Wort:

„Was fällt euch ein, unser Lager zu zerstören und meinen Lehrmeister zu misshandeln? Ist es üblich sich zu fünft auf einen einzigen zu stürzen? Noch dazu wenn er keine Gegenwehr leistet? Ich sollte euch eine Lektion erteilen, die ihr nie vergessen werdet!“

Die Flamme des Zorns in Smith verlangte nach Vergeltung, sie wollte genährt werden. Wollte, dass er jeden einzelnen von ihnen das selbe spüren ließ, was Quintus nun spüren musste. Das Goldauge fühlte sich, als würde er unter Strom stehen, als er gegen den Drang ankämpfte zu tun, was das innere Verlangen ihm auftrug. Stattdessen schritt er langsam auf seinen Gefährten zu und besah sich seine Verletzungen, woraufhin die vier Männer panisch zurückwichen.

Der Humunkulus hatte eine aufgeplatzte Lippe und einige Blutergüsse im Gesicht. Als Smith ihn genauer untersuchte, stellte er noch einige blaue Flecke am Oberkörper, sowie Prellungen einiger Rippen fest.

„Geht es dir gut?“, fragte er besorgt, woraufhin Quintus ihn nur fragend durch seine leeren braunen Augen anblickte und nickte.

Als Smith sicher war, dass sein Lehrmeister, den Umständen entsprechend, unversehrt war, erhob er sich und wandte sich zu den Männern, die dabei waren, dem Alten aus dem See zu helfen.
 

Dieser schlurfte patschnass und fröstelnd auf Smith zu. Das Gesicht des Alten war hochrot und eine Zornesader zeichnete sich deutlich auf seiner Stirn ab. Er war noch fetter geworden, als beim letzten Mal und roch wieder stark nach Alkohol.

„Du! Du warst das!“, keifte er und hämmerte mit seinem Zeigefinger gegen Smiths Brust.

Dieser betrachtete das alte Ekel nur durch zusammengekniffene Augen und zischte durch zusammengepresste Zähne:

„Ganz recht. Ich war das. Ihr könnt froh sein, dass ich euch nicht wesentlich schlimmeres habe spüren lassen. Wie könnt Ihr es wagen, meinen Freund zu attackieren?“

Verwirrt glotzte der Alte von Smith zu Quintus. Es dauerte einen Moment, dann erkannte er die beiden wohl wieder und hielt sich gellend den Bauch.

„Ihr seid das. Der Verrückte, der sich von einem Humunkulus herumschubsen lässt und meint, dass sie so sind wie wir.“

Das Scheusal lachte beherzt und auch die Anderen stimmten daraufhin mit ein. Smith musste alle Vernunft aufbringen, dem Widerling nicht ins Gesicht zu schlagen, ballte aber drohend seine Faust.

Er hasst den Alten, wollte ihm bezahlen lassen. Für damals und für heute. Er hatte es verdient und doch, so wusste Smith, durfte er sich nicht auf dessen Stufe herablassen.
 

„Ganz Recht. Ich bin es. Und Ihr seid der abartige, alte Sack, der sich an Wehrlosen vergreift“, konterte Smith trocken und knirschte mit den Zähnen.

Nun war es der Fremde, der die Fäuste ballte und das Goldauge schlug. Dieses bemerkte sofort, dass seine Lippe aufgeplatzt war und kämpfte gegen den Drang an, ihn zu verprügeln. Stattdessen spuckte er dem Alten ins Gesicht. Ein leicht rötliches Rinnsal lief nun an seiner Wange hinab und er wollte erneut zuschlagen, da packte ihn Smith jedoch blitzartig am Hals. Sofort versuchten die anderen Vier auf den jungen Jäger zustürmen, da erhob dieser abermals das Wort.

„Keinen Schritt näher oder das fette Schwein stirbt!“

Um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen schloss er die Hand enger um den Hals des Anderen, der auf keuchte und krampfhaft versuchte, dem Griff des Jüngern zu entgehen. Mit beiden Armen kämpfte er gegen die Hand an, die ihm die Luft abschnürte. Dabei traten seine geröteten Augen erschreckend aus dem Kopf und Smith kam nicht umhin ihn noch mehr zu verabscheuen. Auch seine Kameraden hielten inne und beobachteten entsetzt das Geschehen.

„Ihr werdet in euer Dorf zurückkehren und nie wieder kommen oder uns belästigen. Solltet ihr es dennoch wagen, euch hier blicken zu lassen, dann werdet ihr es bereuen“, drohte Smith und rückte mit seinem Gesicht dicht an das den Alten. Dieser japste, wie ein Fisch an Land und röchelte:

„Der See gehört zu unserem Dorf. Die Fische gehören uns. Wenn hier jemand verschwindet, dann ihr!“

Das Goldauge wusste nicht, ob was es von der Dummheit des Dicken halten sollte und so entzog er ihm langsam einen Teil seiner Energie, die ihn mit zusätzlicher Kraft versorgte und seinen Körper nach mehr verlangen ließ.

Panisch begann der Alte daraufhin zu strampeln und zu quieken. In seinen Augen stand das blanke Entsetzen und es roch plötzlich nach Urin. Der Glatzkopf, hatte sich offensichtlich vor Angst eingepinkelt. Es bereitete dem Jäger Genugtuung, den Widerling so zu demütigen und am liebsten hätte er ihm noch mehr Energie geraubt, doch er musste sich im Zaum halten. Er war kein Monster und wollte auch nicht zu einem werden. Deshalb beugte Smith sich grinsend an das Ohr des Anderen und flüsterte:

„Wenn ihr wieder hierherkommt, werde ich dir deine ganze Lebenskraft nehmen und es nicht nur bei diesem bisschen belassen. Haben wir uns verstanden?“

Dann ließ er vom Alten ab, der sofort zitternd zu Boden sackte und ging auf Quintus zu. Noch einmal wandte der junge Held sich an die Fünf, die ihn panisch ansahen.

„Geht. Jetzt!“, bluffte er sie an und schleuderte ihnen eine schwache Energiewelle entgegen. Schreiend flohen die Männer und die Wut in Smith flaute allmählich ab.
 

Smith setzte sich neben Quintus, der das Szenario schweigend mit verfolgt hatte.

„Warum hast du dich nicht gewehrt?“, wollte er schlicht von seinem Lehrmeister wissen.

„Es ist mir nicht erlaubt meine Hand gegen Unschuldige zu erheben“, erklärte er trocken und blickte starr vor sich hin.

„Sie waren nicht unschuldig. Sie haben die angegriffen, hätten dich möglicherweise getötet!“, fuhr Smith ihn an. „Jedem ist er erlaubt, sein Leben zu schützen verstehst du?“

Nun fasste der Humunkulus Smith in seinen Blick. Missverständnis war in den braunen Augen zu erkennen.

„Ich hatte keinen Befehl mich zu wehren. Es ist mir untersagt, in Friedenszeiten, meine Hand gegen einen Menschen zu erheben. Es ist unbedeutend, wie sehr sie mir zusetzen. Wir dürfen keine Menschen verletzen, wenn wir nicht die ausdrückliche Order erhalten. Widersetzen wir uns, werden wir eliminiert.“

Wütend sprang Smith auf und entließ schreiend eine Energieattacke über den See, die eine gewaltige Welle entfachte. Diese stumpfen Aussagen hatte er allmählich leid. Es konnte doch nicht sein, dass man alles nur wegen eines Befehls tat. Es konnte nicht sein, dass man sich selbst nicht schützen wollte. War den Humunkuli ihr Leben denn gar nichts wert? Der junge Held raufte sich die Haare und wandte sich erneut an Quintus. Vor diesem ging er in die Knie, atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen, denn diese Diskussion wühlte ihn schon wieder viel zu sehr auf und legte dem anderen die Hände auf die Schultern. Dabei fixierten seine goldenen Augen die Braunen Quintus.

„Es ist mir egal, wie deine Befehle aussehen. Aber du bist mein Lehrmeister, mein Freund. Wir haben einiges miteinander durchgestanden und ich kann und will nicht zulassen, dass dir etwas zustößt. Ich werde dich verteidigen, wie ich jeden anderen, der mir am Herzen liegt beschütze und darum bitte ich dich, schätze dein Leben. Es wurde dir geschenkt und du solltest es so führen können, wie du möchtest. Wenn dich jemand angreift wehre dich. Beschütze was dir wichtig ist und missachte Befehle, die dir nicht gefallen.“
 

Der Humunkulus weitete verwirrt seine Irden und analysierte den Anderen unschlüssig. Vermutlich überforderte ihn all das Gesagte und er würde erneut argumentieren, dass dies nicht möglich sei.

„Freund?“, wiederholte er aber nur leise und blickte dann konfus in die Umgebung.

„Ja du bist mein Freund“, bekräftigte Smith.

Quintus löste sich aus ihrer Haltung und wanderte auf den See zu. Seine leeren Augen schweiften weit in die Ferne, als würde er über etwas nachdenken, dann fuhr er herum und entgegnete:

„Humunkuli haben keine Freunde. Unser Leben hat keinen Wert und wenn wir uns gegen unsere Befehle aufbäumen, uns menschlich verhalten, werden wir getötet. Wir sind keine Menschen, wir sind Marionetten. Ich kann deine Worte nicht annehmen, noch deine Wünsche respektieren.“

Nun trat Smith langsam auf Quintus zu. Sein Blick verriet nicht, ob er akzeptieren konnte, was er soeben gesagt bekommen hatte, oder ihn verprügeln wollte. Umso verstörender war die Reaktion, die er anstatt zeigte. Er schloss Quintus in eine enge Umarmung und drückte ihn fest an sich.

„Ob du willst oder nicht, ich werde zu dir halten. Werde dafür kämpfen, dass du verstehst, was ich dir sagen will. Ihr Humunkuli seid genauso wertvoll, wie wir Menschen und wenn dich jemand töten will, muss er erst an mir vorbei.“
 

Mit diesen Worten ließ er von seinem Lehrmeister ab und machte sich daran, das Lager wieder aufzubauen und ließ einen äußerst aufgewühlten Humunkulus zurück, der ihm verwirrt nachsah und zu begreifen versuchte was hier vor sich ging.

Was soll ich nur tun? Hilf mir Quatrus!, dachte Quintus bei sich und versuchte einen alten Schmerz aus vergangener Zeit zu unterdrücken. Niemals hatte er damit gerechnet, dass irgendjemand eine Wunde aufreißen konnte, die er so lange zu unterdrücken geschafft hatte. Er hatte sich mit dem Leben abgefunden, dass er führte, auch wenn sie ihm damals auch lehren wollte, die Grenzen ihrer Existenz zu durchbrechen.

Wieso erinnerte er sich wieder an sie und wieso hatte Smith eine ähnliche Einstellung wie sie. Konnte es möglich sein? Konnten Humunkuli tatsächlich den Menschen ebenbürtig sein? Waren sie nicht dazu bestimmt nur zu dienen? Hatten sie das Recht ihr Leben selbst zu bestimmen?

Nein, nein, nein. Wir müssen tun, was man uns sagt. Wir müssen einfach. Wenn wir es nicht tun, dann. Dann töten sie uns. Wir müssen ihren Hass ertragen, müssen uns für sie aufopfern. Nicht fühlen, nicht denken nur handeln. Ansonsten bezahlen wir mit dem Leben. Mit unserem Leben. Und ich will nicht sterben. Nicht sterben....Quatrus.

Es war beängstigend, wie hilflos sich Quintus auf einmal fühlte. Er durfte sich nicht von den Worten des Helden blenden lassen. Sie nicht in sein Herz und seinen Verstand einnisten lassen.

Er wusste zu gut, was geschah, wenn sich ein Humunkulus dem Licht der Hoffnung hingab und anfing Gefühle zu entwickeln. Er wusste es und kannte auch den Preis. Es war schrecklich und doch, war da etwas in seinem Innern, dass ihn aufforderte an Smith zu glauben.

“Genieße das Leben. Lache, weine, sei wütend. Hilf denen die dir wichtig sind. Nur so ist das Leben lebenswert. Wir leben alle nur einmal, lass uns das Beste daraus machen. Verschwende es nicht nur an Befehle.“

Waren das nicht ihre letzten Worte gewesen? Sollte er nun wirklich auf Smith vertrauen und ihrem Wunsch endlich gerecht werden?


Nachwort zu diesem Kapitel:
So das wäre mein Einstieg in die Geschichte. Ist etwas lang geworden.

Ich hoffe man kommt mit den [ als WhatsApp-Nachrichten] klar^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Oh, ich habe gerade gesehen, dass ich zehn Favoriten habe. Da dachte ich mir, dass ich euch aussuchen lasse, welchen One-Shot ich als nächstes veröffentlichen soll. Zwei hätte ich zur Auswahl. Einmal einen der etwas mehr auf Quintus Vergangenheit eingeht und einmal einen mit Prinz Rapier und Kyth. Schließlich wollte der Prinz ja, dass der Held ihm öfter Gesellschaft leistet. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So hier ist das nächste Kapitel und bald kommt die Fanfiction, die einen Teil von Quintus Vergangenheit etwas näher beleuchten wird. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von: abgemeldet
2016-06-05T08:38:07+00:00 05.06.2016 10:38
Hey Leute,
ich wollte nur Bescheid geben, dass der One Shot fertiggestellt und hochgeladen ist. Zu finden ist er in der One Shot Sammlung zu Reise nach Elayaden.
Ach und das nächste Kapital wird vermutlich nächstes oder übernächstes Wochenende erscheinen ;)

Gruß Phaeton
Von: abgemeldet
2016-03-29T04:47:52+00:00 29.03.2016 06:47
Hi Animanga,
na dann werde ich doch gerne einen Auszug aus Quintus Vergangenheit posten.
Dies wird nur etwas dauern, da mein Laptop noch in Reparatur ist. Und hier geht es dann auch endlich bald weiter. Der letzte Eintrag ist ja nun doch schon etwas her.

LG Phaeton
Von:  Animanga
2016-03-28T11:45:19+00:00 28.03.2016 13:45
oh ich sehe jetzt erst, was da im Nachwort steht. Quintus Vergangenheit würde mich da ehrlich gesagt eher interessieren.
LG


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