Zhúguāng
Man sagt, Lesen im Halbdunkel schädigt auf Dauer die Augen. She-Rin wusste, dass dieses Märchen auch wirklich nicht mehr als ein Aberglaube war. Er selbst war der lebende Beweis dafür.
Abend für Abend saß er, behütet von warmen, dämmrigen Kerzenlicht, an seinem geräumigen Schreibtisch und ging seiner Arbeit als Chronist und Schreiber nach. Irgendwie schien der Berg an Notizpapier heute aber nicht weniger zu werden, obwohl er schon seit Stunden dort saß.
Tief durchatmend lehnte er sich einen Augenblick zurück und platzierte seine treue Feder zurück in ihre Halterung. Ob es wohl daran lag, dass heute ein spezieller Abend war?
Sicherlich trug der Feiertag zu seiner mürrischen Stimmung bei, denn all seine Kollegen waren bereits vor Sonnenuntergang in ihre familiäre Umgebung zurückgekehrt.
„Du solltest auch bald heim gehen, She-Rin.“, hatten sie ihm gesagt, doch er zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und einem halbherzigen: „Sicher.“
Warum sollte er nach Hause gehen? Es war schließlich nicht so, dass man auf ihn warten würde. Es würde keinen Unterschied machen, ob er anwesend war, oder nicht. Seine Mutter und sein Vater würden eine glückliche Familie vorspielen, doch innerlich war längst Krieg ausgebrochen.
Jeder war wütend auf jeden.
Huijin, die Mutter, verteilte Seitenhieb über Seitenhieb an ihren Mann Huozai dafür, dass dieser vermutlich wieder irgendein hohes Tier von der Arbeit zum Essen eingeladen hatte. Huozai hingegen beschwerte sich permanent über das Essen und das Unverständnis seiner Frau. Es wäre ja für die Familie, wenn der Herr des Hauses beruflich aufsteigen würde.
Früher, als She-Rins älterer Bruder noch mit am elterlichen Tisch gesessen hatte, war es erträglicher gewesen. Da hatte er wenigstens jemanden, mit dem er peinlich berührte Blicke austauschen und sich zur Not sogar zurückziehen konnte. Nachdem Yanre allerdings ausgezogen war, entschuldigte sich She-Rin häufig mit seiner Arbeit. So war er am 'Nǚshén jié', dem Fest der Göttin, zwar alleine, aber er hatte seine Ruhe. Eine schreckliche Ruhe zwar, doch für einen Tag im Jahr war die Einsamkeit zu vertrösten.
She-Rin stand auf und machte einige Schritte zum Fenster. Draußen wurde es jetzt langsam kälter, die Winde des Nordens brachten kühle Luft des östlichen Kontinents über das Meer zu den Pyromanen. Schneien würde es sicherlich nicht. Das hatte es in den letzten Jahrhunderten erst ein oder zwei Mal gegeben und keine aktuellen Aufzeichnungen deuteten auf ein baldiges Schneegestöber hin. She-Rin seufzte kurz. Wie friedlich und still es doch war. Nur die Wanduhr, ein Geschenk eines sehr dankbaren Bekannten, tickte ihr monotones Lebenszeichen und bewies, dass die Zeit nicht stillstand. Auch die Kerzen flackerten zärtlich, spendeten weiterhin Wärme und Licht.
Schließlich setzte sich She-Rin zurück an den Schreibtisch und griff nach seiner Feder.
Die Nacht schritt voran, ohne dass der junge Mann es merkte. Stunde um Stunde verstrich und der Stapel an Material schien nicht weniger zu werden und die Feder wurde höchstens für einen Toilettengang oder einen stärkenden Snack aus der Hand gelegt. Wenn er sich im Bad dann für einen Moment im Spiegel ansah, entdeckte er keinen 21 jährigen jungen Mann, sondern er schien in die eingefallenen Augen eines Großvaters zu schauen. Lange, weiße Zotteln hatten die roten Haare ersetzt und ein lockiger Bart füllte das kantige Gesicht. Er war zu einem Menschen geworden, der sein Leben bereits hinter sich hatte. Doch so wollte She-Rin nicht denken. Viel besser gefiel ihm die Idee, dass er lediglich seinen Platz im großen Ganzen bereits jetzt gefunden.
Und am 'Nǚshén jié' war er halt alleine. Hatte nur das Kerzenlicht als Freund, weil seine Familie nicht in der Lage war bitternötige Worte der Aussprache zu finden. Kein Grund beunruhigt zu sein oder gar traurig.
Aber warum fühlte sich sein Schreibtischstuhl plötzlich so unbequem an?
Auch die Arbeit, welche noch auf ihn wartete, schien mit einem Mal unwichtig, wie der fehlende Schnee.
Schließlich stand er erneut auf, ohne einen einzigen Strich auf das Papier gebracht zu haben.
In der kühlen Scheibe des Fensters spiegelte sich das Licht der Kerze und schwebte wie ein kleiner Geist neben She-Rins müdem Kopf.
Draußen konnte er die erleuchteten Fenster der benachbarten Gebäude erkennen. Eine Mutter, belagert von ihren Kindern, servierte gerade eine große Platte voll mit Leckereien und in einer anderen Wohnung las eine Großmutter der Familie etwas vor.
She-Rin hingegen starrte weiter aus dem Fenster seines kalten Arbeitszimmers, doch das war in Ordnung. Er hatte es ja so gewollt.
Wem machte er sich eigentlich etwas vor? Natürlich wollte er ein gemütliches Abendessen mit lächelnden Gesichtern, natürlich wollte er Geschichten und friedliche Worte, natürlich wollte er Wärme und Licht und mehr als diese kümmerliche Kerze.
Am Liebsten würde er mit seinem Bruder feiern. In Yanres Nähe fühlte er sich stets geborgen und aufgehoben; warm eben. Gemeinsam hätten sie lachen können, aller Wahrscheinlichkeit nach sogar über die verbitterten Eltern. Yanres Frau hätte für sie alle gekocht, es hätte Wein gegeben und She-Rin hätte einige ruhige Tage auf dem Land verbringen können. Eine fröhliche Botschaft hatte diesen Plan allerdings schon Anfang des Jahres im Keim erstickt und auch wenn er sich sehr freute, Onkel zu werden, hatte er Angst, dass dieses Ereignis die Brüder noch weiter auseinander treiben würde. Sein Bruder würde genug mit seiner hochschwangeren Partnerin zu tun haben, anstatt sich auch noch um den einsamen She-Rin zu kümmern. She-Rin hatte sein Kerzenlicht und das reichte. Irgendwann nach Mitternacht würde er sich durch die Haustüre hineinschleichen, sich in sein Bett legen und dann war das Fest auch schon wieder vorbei. Ganz einfach.
Zufriedener fühlte sich der junge Mann trotzdem nicht.
Er setzte sich zurück an den Tisch, doch anstatt zu schreiben, nahm er sich eine Lektüre aus dem Regal vor ihm und las.
Ein Klopfen weckte ihn. Irgendwie muss er über den Sätzen über die Historie der Magie eingeschlafen sein. Ohne auf die Uhr zu schauen, torkelte er zur Tür, richtete sich kurz und legte die Hand auf die Klinke. Vermutlich waren es einige Kinder, die herumliefen und Spenden sammelten. Das passierte Jahr für Jahr und bis jetzt hatte She-Rin immer einige Kupferstücke für die Metallbüchse der Jungs und Mädchen übrig gehabt.
Gerade als der die Bewegung ausführte um die Tür zu öffnen, wurde sie ihm entgegen gedrückt und ein strahlender Yanre stand in dem schwummrigen Arbeitszimmer.
„Hochverehrtes Brüderlein! Ich präsentiere voller Stolz: Meine Frau Quinqi und unser kleines Töchterchen Lieri! Applaus! Applaus! Applaus!“, rief er und hinter ihm betrat die zierliche Quinqi den Raum, im Arm ein kleines Bündel voll Mensch.
She-Rin stand mit offenem Mund neben der Tür und sein Blick wechselte zwischen seinem Bruder und der jungen Dame samt Baby hin und her. Nach einigen Atemzügen schien er die Worte wiedergefunden zu haben.
„Ehm, hallo? Moment, was geht hier vor? Warum bist du hier? Und was ist DAS?“, sprach She-Rin aufgeregt und deutete auf das kleine Mädchen im Arm ihrer Mutter.
Yanre runzelte die Stirn, wirkte fast schon beleidigt.
„Ach komm She-Rin. Ich hab dir doch erklärt, wie man SOWAS produziert, oder? Ich dachte, du wärst schon groß.“
„Red' nicht so einen Unsinn! Ich meinte, wie kommt es, dass euer Kind schon da ist?“
Quinqi unterbrach das Fragespiel der Brüder: „Wollen wir uns nicht erstmal setzen? Wir sind schon eine Weile unterwegs und die Kleine schläft gerade so brav.“
Die Jungs nickten und sie begaben sich in den Konferenzraum.
„Wir wussten, dass du hier wieder alleine sitzen würdest, She-Rin“, begann Yanre und nippte an dem Tee, den sein Bruder ihm gerade zubereitet hatte. „Ha, wäre ich du, würde ich vermutlich das Selbe tun.“
„Aber warum seid ihr hergekommen? Das war doch sicherlich anstrengend für das Kind, oder? Ihr wohnt auch nicht gerade um die Ecke.“, fragte She-Rin, während er sich setzte. Yanre schmunzelte zu seiner Frau, welche Lieri gerade die Brust gab.
„Quinqi hat ihre Verbindungen spielen lassen. Sie kennt jemanden, der jemanden kennt, der jemanden kennt und so weiter. Schließlich konnten wir per Zug reisen. War zwar gerade heute nicht leicht, aber wir haben es geschafft. Außerdem ist mein Töchterchen nicht nur so wunderschön, sondern auch genauso widerstandsfähig wie ihre Mutter.“, erklärte Yanre prahlerisch.
She-Rin schwieg einen Moment bevor er weitersprach.
„Und wie alt ist Lieri?“
„Etwa zwei Monate.“, antwortete sein Bruder. „Es tut mir Leid, dass ich erst jetzt mit der Sprache herausrücke, aber du kennst unsere Eltern. Das hätte nicht nur Chaos, sondern auch abartig böses Blut dir gegenüber gegeben.“
Das stimmte. Seine Eltern waren Menschen, denen der Beruf in der Regel über die Familie ging und so lange sie zu zweit waren, funktionierte ihre Beziehung auch. Als der erste Sohn kam, war noch alles in Ordnung, denn jetzt hatten sie jemanden, der in die Fußspuren der Eltern treten und ebenfalls erfolgreich werden sollte. Doch als dann ein weiteres Kind im Anmarsch war, kippte die perfekt geplante Familie. So war es She-Rin, der viel zu oft Sätze wie 'Aus dir wird nichts werden!' 'Sieh dir deinen Bruder an!' und 'Du kannst nichts erreichen, wenn du so weitermachst!' zu hören bekam. Yanre, der unter dem Leistungsdruck ebenfalls litt, war dann, sobald er alt genug war, ausgezogen und hatte sich auf dem Land niedergelassen. Und She-Rin war schuld daran. Zumindest war das die Überzeugung seiner Eltern.
Er seufzte.
„Du hast Recht und die Überraschung ist euch gelungen. Aber ich kann euch hier nirgendwo unterbringen.“, sagte er ruhig, mit einem Funken Traurigkeit in der Stimme.
Yanre lachte und seine Frau musste ihn zur Ruhe ermahnen um das Baby nicht unnötig zu erschrecken.
„Mach dir darüber keine Gedanken. Wir haben etwas besonderes geplant. Sag mal, magst du eigentlich heiße Quellen?“
„Ja, schon. Aber was...?“, stutzte She-Rin verwundert und wurde prompt von seinem Bruder an der Hand gegriffen und Richtung Tür gezerrt. Quinqi sammelte rasch ihre Sachen zusammen und folgte den Beiden.
„Yanre, was zum?“
„Keine Bange, Brüderchen. Wir gehen jetzt essen! Und danach nehmen wir dich mit in unser Hotel! Liegt ein bisschen außerhalb, aber dafür gibt es heiße Quellen und eine große Feier mit Musik und allem drum und dran. Es wird Zeit, dass du auch mal ein Nǚshén jié genießt!“
She-Rin lächelte seinen Bruder an. Keine Worte würden die Dankbarkeit ausdrücken können, welche er in diesem Moment empfand. Es tat so gut, zu wissen, dieses Jahr nicht alleine zu sein, sondern behütet und geborgen und umsorgt.
„Warte einen Moment!“, sagte She-Rin, lief ins Arbeitszimmer zurück und löschte behutsam das Kerzenlicht.