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Heimliche Hoffnung

von

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Sorge

James streckte sich. Der FBI-Agent schloss die Augen und lehnte sich nach hinten in das Sofa. Dann gähnte er. Die Müdigkeit der letzten Tage übermannte ihn. Aber eines war sicher: Es war geschafft. Nach so vielen Jahren – Jahren der Qual war alles endlich vollbracht. Die Organisation war Geschichte. Alle bis auf ein Mitglied.

Vermouth. Sie lief immer noch frei herum. Sie konnte tun und lassen was sie wollte. Keiner würde sie aufhalten. Alle Beweise, die sich in den letzten Jahren ansammelten, waren nicht weiter verwertbar. Und wegen nichts und wieder nichts, konnte man sie nicht einfach so verhaften. Da Vermouth eine bekannte Schauspielerin in den Staaten war, konnten sie sie nicht einfach so verhaften. Zu viel Aufsehen wäre die Folge. Und gerade das, konnten sie nicht gebrauchen.

Es erinnerte James an früher. Ohne Beweise konnten sie schon damals nicht gegen die junge Frau vorgehen. Und als sie welche hatten, war ihnen Vermouth einen Schritt voraus. Sie wusste genau, auf welchem schmalen Grad sie sich bewegte und wie sie ihrer Verhaftung entgehen konnte. Vermouth war eine Frau, die nichts dem Zufall überlies. Kein Wunder, dass das FBI sie bisweilen noch nicht ins Gefängnis bringen konnte.

Jetzt war Vermouth das einzige Mitglied der Organisation, welches draußen frei herum lief. Und was war? Sie konnten wieder nichts gegen sie tun. Vermouths Freiheit hatte ihren Preis. Und diesen musste das FBI nun zahlen. Ob sie wollten oder nicht. Das Leben einer Frau gegen das Leben einer anderen Frau. Nur war Jodie mittlerweile Mutter und keiner vermochte zu sagen, wie Vermouths Rache – sollte sie verhaftet werden oder fliehen können – aussah. Normalerweise wägte das FBI solche Situationen genau ab. Anschließend entschieden sie sich für das kleinere Übel, jenes Übel bei dem weniger Menschen in Gefahr kämen. Die Frage war was Vermouth vor hatte und was sie in ihrem Leben tun wollte.

James schreckte hoch. Seine Gedanken verselbstständigten sich. Er sah eine Mischung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es fing mit dem Tod seines besten Freundes und Kollegen an. Dann war da Jodie. In seiner Vorstellung saß sie zusammengekauert in ihrem Bett weinte wegen ihrem Vater und litt dazu unter der Trennung von Akai. Selbst in der Zukunft spielte die Schauspielerin eine große Rolle. Sie war es, mit der alles anfing. Der Teufel in Engelsgestalt.

Shuichi hatte schon damals mit seiner Aussage recht. Er nannte sie rotten apple – verfaulter Apfel. Sie war der Schatten ihrer Selbst. Gefährlich. Unaufhaltsam. Rachsüchtig. Und in seinen Gedanken war sie es, die Jodie ohne eine Regung in ihrem Gesicht, erschoss. Schon im Krankenhaus bei Rei Furuya bekam James ein schlechtes Gefühl. Die Erzählungen des Mannes rundeten dieses Gefühl nur ab. Es bestand kein Zweifel daran, dass Vermouth in die Staaten zurück flog, möglicherweise sogar absichtlich New York aussuchte und sich dort niederließ. Durch Jodies Recherche wusste James, dass die Schauspielerin überall in den Staaten eine kleine Wohnung besaß. Sie konnte überall hin. Problemlos. Doch sie alle wussten mittlerweile, wie Vermouth tickte. So war es auch kein Wunder, dass Vermouth jene Stadt aufsuchte, wo sie immer gegen das FBI agieren konnte. Sie war wie ein Wespennetz. Allzeit zum Stechen bereit.

James ballte die Faust. Obwohl die Organisation zerschlagen war, hatte er versagt. Er konnte nicht die schützen, die er schützen musste. Er war ein Versager. Jemand, der auf die Hilfe seiner Mitarbeiter angewiesen war, da er selber gegen die Organisation machtlos war. Und nun hatte er den Salat. James wusste, würde er zurück nach New York fliegen, müsste er in Jodies Gesicht sehen. Sie würde glücklich sein und ihm Reiji vorstellen. Und er würde noch etwas Anderes sehen. Wut, Trauer, Hilflosigkeit. Und das nur, weil Vermouth nach all der Zeit noch immer frei herum lief. Sie mussten sie festsetzen. Irgendwie. Auch wenn es nur ein Zufall war. Vermouth gehörte hinter Gittern. Und irgendwas mussten sie tun. Für Jodie. Und die Welt.

Das Klingeln seines Smartphones holte James aus seinen Gedanken zurück. Er nahm das Handy vom Tisch, wischte über die Oberfläche und tippte anschließend auf die SMS. Das Blut in seinen Adern gefror.

Vermouth

Ein Wort. Eine Nachricht von Jodie. Und James brauchte nicht lange, um zu verstehen, was es damit auf sich hatte. Dabei hatte er erst vor wenigen Minuten mit der ehemaligen Agentin telefoniert, sie zur Vorsicht ermahnt und nun das.

Vermouth war bei ihr. Es verhieß nichts Gutes. Und natürlich wusste James, dass diese Nachricht nichts Gutes verhieß.

Obwohl James bereits mit dem Hauptquartier das weitere Vorgehen bezüglich Vermouth absprach, rief er diese erneut an. Entgegen seiner Erwartungen informierte Jodie die Vorgesetzten nicht. Konnte er ihr das verdenken?

Trotz später Stunde, machte sich James erneut auf den Weg. Einen Feierabend als FBI-Agent gab es selten. Agenten waren immer im Dienst. Vor allem dann, wenn irgendwas Geschah. James fuhr ins Krankenhaus. Obwohl es Akai bereits besser ging und dieser schon im Krankenhaus spazierte, musste der Agent zu seiner eigenen Sicherheit noch eine Woche dort bleiben. Mit schnellen Schritten suchte James das Zimmer von Shuichi auf. Ein wenig überrascht und mit runzelnder Stirn, beobachtete er, nachdem er nach kurzem Klopfen eintrat, das Szenario.

Shuichi stand an seinem Bett und packte seine Tasche zusammen. Camel sah schweigend zu und wartete. Auch war es Camel, der zur Tür blickte und James als erstes sah. Camel schluckte. „Ja…james…“, murmelte er leise, als hätte man ihn gerade bei einer schlimmen Tat erwischt.

Shuichi hingegen reagierte gar nicht. Ruhig packte er weiter.

„Was wird das hier?“

„Ich packe. Auf meine eigene Verantwortung darf ich das Krankenhaus verlassen“, antwortete Akai knapp. Ihm war egal, was James dachte oder tun wollte. Dann sollte dieser ihm eben einen auf den Deckel geben. Es war egal.

„Und dann?“

„Wir dachten, dass Akai die nächsten paar Tage wieder in der Villa der Kudos wohnt und wir dann zurück nach New York fliegen“, erklärte Camel.

Shuichi drehte sich um und studierte das Gesicht von James. „Was ist passiert?“, wollte der Agent wissen. Eine angespannte Atmosphäre lag in der Luft. „Was ist mit Jodie?“

James sah überrascht auf Akai. „Vermouth war bei ihr.“

„Ich verstehe. Buch die Flüge.“
 

***
 

Shuichi stand auf dem Hauptfriedhof in Tokyo. Vor langer Zeit wurde Akemi Miyano beerdigt. Im Schatten und ohne Feier. Still und ruhig. Shuichi erinnerte sich noch, wie er verkrampfte, als er die Kurznachricht seiner Freundin las. Sofort wurde ihm anders. Und er ahnte es. Er ahnte, was sie vorhatte und von vornherein wusste er, dass ihr Plan zum Scheitern verurteilt war. Obwohl sie nichts Genaueres schrieb, war Shuichi alarmiert. Sofort versuchte er sie zu erreichen. Seine zahlreichen Versuche schlugen allerdings fehl. Das Handy war ausgeschaltet. Kein Wunder. Sie brauchte die Ruhe um ihren Auftrag und ihren Plan durchzuführen. Und da konnte sie einfach kein klingelndes Telefon gebrauchen.

Zu jener Zeit befand sich Shuichi in den Staaten, hatte aber immer noch genügend Kontakte in Japan, die er sofort verständigte. So war es schließlich auch kein Wunder, dass er Stunden später von ihrem Tod erfuhr. Über seine Kontaktperson organisierte er schließlich die heimliche Beerdigung der jungen Frau. Er hatte Glück, dass sich die Organisation nicht weiter für Akemi oder ihre Leiche interessierte. Eine Woche später stand er vor dem Loch in der Erde und wohnte der Beerdigung bei. Nur Shiho schrieb er in einer Kurzmitteilung den Ort und das Datum. Der Rest war die Sache der jungen Wissenschaftlerin. Aber da sie ein höheres Mitglied war und die Organisation sie nicht aus den Augen ließ, war auch sie nicht da.

Shuichi blickte auf den grauen Grabstein. Akemi Miyano. Geliebte Tochter, Schwester, Freundin. Mögest du in Frieden ruhen.

Seit der Beerdigung war dies sein erster Besuch an Akemis Grab. Endlich war auch sein schlechtes Gewissen nicht mehr vorhanden. Er hatte sein Versprechen gehalten. Es war vorbei und Akai konnte nach vorne sehen.

„Ich habe getan, was ich tun musste. Deine Schwester ist nun in Sicherheit“, sprach er ruhig. „Die Organisation existiert nicht mehr. Sie kriegen ihre gerechte Strafe.“ Shuichi schloss für einen kurzen Moment die Augen.

„Es wäre schön, wenn sie es miterlebt hätte.“

Shuichi blickte zur Seite, dann nickte er. „Ich dachte, du arbeitest wieder.“

„Ich kann jetzt ohne Zwang arbeiten“, fing Ai ruhig an. Dabei musste sie Lächeln. Sie hatte ihr Leben zurück. „Und mir war danach meine Schwester hier zu besuchen. Mr. Black hat mir die ganzen Einzelheiten und Zusammenhänge erklärt.“

„Dann gibt es ja nichts mehr zu sagen.“

„Hast du meine Schwester je geliebt?“

Shuichi schwieg. Warum mussten alle Frauen die gleiche Frage stellen? Wollten sie, dass er log? Die Wahrheit sagte? Ihnen erzählte, was sie hören wollten?

„Das ist auch eine Antwort“, wisperte die geschrumpfte Wissenschaftlerin. „Akemi hat dich geliebt. Sie hat pausenlos von dir gesprochen und dann damit aufgehört, als du die Organisation verlassen hast. Ich hab sie gefragt, was los ist, aber sie wiegelte nur ab. Ich solle mir keine Sorgen machen und sie käme schon über dich hinweg.“ Ai kamen die Tränen. Sie fühlte sie schon damals hilflos. „Bei unseren seltenen Treffen merkte ich ihr den Kummer an, aber wir sprachen nicht mehr über dich. Irgendwann dachte ich, sie wäre über dich hinweg und dann…war sie tot.“

Erneut schwieg Shuichi und lauschte ihren Erzählungen.

„Als sie getötet wurde, wollte ich den Grund wissen. Sie haben geschwiegen. Als mich Gin dann schließlich einsperrte, erwähnte er, dass ich ihrem Freund dem Spitzel danken sollte.“ Ai ballte die Hände. „Ich hab euch gehasst. Euch beide. Und ich gab nicht nur Gin die Schuld an ihrem Tod. Natürlich hat er sie erschossen, aber du warst für mich die Person, die Akemi in Gefahr brachte. Es gab eine Zeit, wo ich gedacht habe, dass Akemi aussteigen wollte…dir folgen und dafür mit ihrem Leben bezahlen musste. Aber die Wahrheit sah anders aus, nicht wahr? Ich war der Grund. Sie wollte meine Freiheit erkaufen…warum hast du ihr nicht geholfen?“

„Akemi hat mich nie in ihre Pläne eingeweiht. Weder zu meinen Zeiten bei der Organisation noch danach. Vor allem danach nicht. Erst vor ihrem Tod schrieb sie mir von einem Auftrag. Das wars.“

„Das ist typisch für sie. Sie wollte es immer mit sich allein ausmachen und keinen anderen in Gefahr bringen.“ Ai schluchzte und ließ sich auf die Knie fallen. „Wenn ich damals nur nicht so verbissen gelernt hätte…ich dachte, wenn ich das tu, was die Organisation will, dann lassen sie Akemi in Ruhe. Aber ich lag falsch…“

„Mach sie stolz und mach was aus deinem Leben anstatt an der Vergangenheit zu hängen. Forsche für das Gute.“

Ai blickte hoch zu ihm. Sie wollte etwas sagen, hielt aber inne.

Shuichi nahm sein altes Handy heraus. Es tat ihm gute Dienste und im Vergleich zu seinem Smartphone – von denen er einen hohen Verschleiß besaß – war das alte Handy immer noch voll funktionsfähig. Es hatte, wie der Agent selber, mehrere Einsätze überlebt und begleitete ihn über Jahre hinweg. Shuichi wählte die einzige Nachricht, die auf dem alten Handy vorhanden war und las sie.

Dai... Falls es mir wirklich gelingen sollte, nach dieser Sache aus der Organisation auszutreten, können wir dann ein richtiges Paar werden? Akemi

Sie war mitunter sein Antrieb. Die Erinnerung an sein Versprechen. Und nun war es vorbei. Endlich konnte er Akemi gehen lassen. Nun konnte sie in Frieden ruhen. So, wie es von Anfang an hätte sein sollen. Shuichis Finger glitt auf den linken Knopf unter dem Display.

Wollen Sie die Nachricht wirklich löschen?

Der linke Knopf war mit einem Ja versehen, der Rechte mit einem Nein. Erneut drückte Shu auf den linken Knopf und binnen weniger Sekunden war die Kurznachricht von seinem Handy verschwunden. Gelöscht. Er hatte mit der Vergangenheit abgeschlossen und musste – wie er es einst Camel und eben Ai sagte – auch in die Zukunft sehen.

„Akemi hat mich geliebt. Daran besteht kein Zweifel“, sprach er ruhig. „Ich habe sie nie so geliebt, wie sie mich. Wahrscheinlich hat ein Teil von mir einen Teil von ihr geliebt. Aber es reichte nicht.“

Ai schluckte bei seinen Worten und vergrub ihre Hand in der kalten Erde.

„Das Angebot des FBIs steht noch immer. Du kannst mit uns nach New York gehen und dort arbeiten. Du kannst aber auch hier bleiben.“

Ai blickte auf den Boden. Was sollte sie tun? Was wollte sie überhaupt.

„Wenn du dich entschieden hast, melde dich bei James. Ich selber verlassen Japan wieder.“ Shuichi steckte das Handy in die Hosentasche, gefolgt von seiner Hand. „Ich werde in New York gebraucht und muss ein Versprechen einlösen.“ Dann ging er.
 

***
 

Shuichi wusste, dass er nicht viel Zeit hatte. Vermouth lief immer noch draußen frei herum. Und sie war bei Jodie.

Natürlich konnte es viele Gründe haben. Trotzdem ahnte er, dass die blonde Schauspielerin weiterhin darauf aus war, Jodie zu verletzen. Sie zu verletzen und zu demütigen. Das lag in ihrer Natur. Und Jodie reagierte immer so, wie Vermouth es wollte. Sie machte sich einen Spaß daraus und versteckte ihre Abneigung gegen Jodie kein einziges Mal. Dass es ihr Ziel war Jodie zu töten, war dem Agenten bereits bei ihrer aller ersten Konfrontation klar. Von da an beobachtete Shuichi seine ehemalige Freundin wann immer es ging.

„Und Shu? Was machst du, wenn wir die Organisation endlich aufgehalten haben?“, wollte Jodie vor zwei Jahren von ihm wissen. Es war ihr erstes Treffen seitdem Jodie in Japan arbeiten durfte. Dazu hatte sie noch eine Stelle als Englischlehrerin erhalten und würde bald verdeckt ermitteln. Sie musste sich nur noch darauf vorbereiten und die ersten Tage in ihrem neuen Job überleben.

„Hmmm“, murmelte Akai. Er schloss die Augen und lehnte sich nach hinten.

„Ja?“ Erwartungsvoll blickte sie ihn an. „Weißt du, ich find es immer noch faszinierend wie gut dir die kurzen Haare stehen.“

„Stell dich einfach darauf ein, dass unser Aufenthalt in Japan länger dauert als geplant. Die Organisation wird nicht so schnell aus ihrem Schatten kommen. Es ist gut möglich, dass wir fünf Jahre und länger drüben sind“, antwortete der Agent.

„Weiß ich doch.“ Sie stieß ihn leicht an. „Trotzdem gibt es doch sicher etwas, was du tun willst, wenn die Sache vorbei ist, nicht wahr?“

Shuichi zuckte mit den Schultern. Natürlich gab es da was. Sein Geheimnis. Aber noch war die Zeit nicht gekommen um es zu lüften. „Wenn sie hinter Gittern sind, flieg ich nach New York zurück und mach dort meine Arbeit weiter.“

Jodie seufzte. Arbeit. Immer nur Arbeit. Und es war nicht die Antwort, die sie hören wollte. „Also ich werde auf jeden Fall zuerst ein sehr langes Bad nehmen. Danach werde ich die nächsten Tage durchschlafen“, erzählte Jodie. „Und wenn ich damit fertig bin, werde ich zum Grab meines Vaters gehen und ihm vom Ende der Organisation erzählen.“ Jodies Augen glänzten bei ihren Erzählungen. „Nicht zu vergessen, dass ich ihm erzählen werde, wie ich Vermouth dingfest gemacht habe, sie ihre gerechte Strafe bekommen hat und für eine lange Zeit hinter Gittern sitzt.“

Akai sah Jodie vor sich. Sie stand am Grab ihres Vaters und bat ihn um Verzeihung, Verzeihung, weil sie es nicht schaffte. Vermouth war ihnen einen Schritt voraus und - wie die Sache schien – würde sie nie ihre gerechte Strafe erhalten. Dann sah Shuichi Bilder, die er am liebsten verdrängen wollte. Jodie stand Vermouth gegenüber. Beide Frauen befanden sich im Zweikampf. Ein Kampf, der Jodies Untergang einläutete. Und Shu wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte.
 

***
 

Überall sah Jodie Vermouth. Die Tage vergingen schleppend. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass die Halluzinationen der Schauspielerin stetig sanken. Nach drei Tagen war sie schon ruhiger, auch wenn die Vorstellung an Vermouth wie ein Damokles Schwert über sie schwebte. Vor allem Vermouths neue Erkenntnisse bezüglich Reiji trafen sie mit voller Wucht.

Chris Vineyard wusste genau wie sie die Schwachpunkte ihrer Gegner nutzte. Und Jodies Schwachpunkt lag auf der Hand. Würde sie sie jagen, wäre er in Gefahr. Aber woher wollte Jodie wissen, dass sich die Schauspielerin an die Absprache hielt? Sie konnte genau so gut in die Rolle eines Nachbarn schlüpfen und Jodies Vertrauen erschleichen. Sie konnte so vieles und Jodie war ihr schutzlos ausgeliefert.

Die ersten zwei Nächte waren für Jodie eine Qual. Schlafen war fast undenkbar. Jodie bekam regelrechte Panik. Panik gekoppelt mit Albträumen. Träumen, in denen Vermouth mitten in ihrer Wohnung stand, Reiji im Arm hielt und einfach durch die Tür hinaus spazierte. Jodie selbst war festgefroren. Und als sie aufwachte, vergewisserte sie sich, dass es Reiji gut ging und er immer noch da war.

Trotzdem legte die ehemalige FBI-Agentin ihr Leben nicht auf Eis. Das war sie Reiji schuldig. Er durfte nicht wegen ihrer Angst leiden und ein Leben nur zu Hause tristen. Langsam traute sich Jodie wieder die Spaziergänge im Park zu. Kurz. Aber es verhalf ihr zur Normalität zurück zu kehren. Dennoch saß Jodie mit einem mulmigen Gefühl im Wohnzimmer und recherchierte am Laptop. Offiziell war Vermouth zu Dreharbeiten in Colorado. Aber was hieß das schon?

Als es an der Tür klingelte, schrak Jodie hoch. Fast hätte sie einen Laut von sich gegeben, hielt sich aber noch die Hand vor ihren Mund. Es klingelte erneut und Jodie kämpfte gegen ihre Angst. Sie zwang sich nicht zu zittern, stand langsam auf und ging zur Tür. Vorsichtig blickte Jodie durch das Guckloch.

„Camel“, wisperte sie leise. Ein leichter Schwall von Erleichterung durchzog sie. Langsam schloss sie den Sicherheitsriegel auf, dann die Haustür und anschließend die Tür. „Camel“, lächelte sie. Dann aber stockte sie. „Du bist es doch wirklich, oder?“

Der Agent nickte. „Du kannst mich aber auch auf dem Handy anrufen oder mir Fragen stellen, die nur ich beantworten kann.“

Jodie überlegte, ehe sie ihn musterte. Von der Statur kam er hin. Camel war um einiges größer als sie. Trotzdem war sie sich sicher, dass Vermouth auch eine Möglichkeit besaß, um die Größe auszugleichen. „Tut mir wirklich leid“, sprach sie ruhig und zog ihr Handy heraus. Während sie Camel aus dem Augenwinkel beobachtete, wählte sie seine Nummer. Jodie war erleichtert, als es bei dem Agenten klingelte. „Du hast aber nicht dein Handy verloren und Vermouth hat es zufällig gefunden?“

Sofort schüttelte Camel den Kopf. „Ich bin es wirklich. Ich kann mir auch den Pullover ausziehen…äh…ich mein…“ Ein leichter Rotschimmer legte sich auf seine Wangen.

„Nicht nötig. Komm rein.“ Jodie machte Platz und nachdem Camel eintrat, schloss sie die Tür. „Tut mir leid…ich war irgendwie nicht auf Besuch eingestellt und hab nicht aufgeräumt.“

Camel schüttelte den Kopf. „Das macht doch nichts.“ Schließlich folgte er Jodie ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa.

„Magst du einen Kaffee oder einen Tee?“, wollte Jodie wissen.

„Wenn es dir keine Umstände macht, nehm ich einen Tee“, antwortete Camel und stand sofort wieder auf. „Ich helf dir.“

„Nicht nötig. Tee schaff ich gerade noch so alleine“, gab Jodie von sich und verschwand in der Küche.

Nachdenklich tippte sich Camel auf das Knie. Sein Blick wich im Zimmer umher und schließlich war er erleichtert, als Jodie zurück kam.

„Lange ists her“, entgegnete Jodie und stellte die Tasse auf den Tisch.

Camel nickte. „James bekam deine Nachricht und hat uns sofort hier hergeschickt. Die Flüge waren ausgebucht, weswegen ich erst seit heute in New York bin.“

„Ich verstehe“, sagte Jodie ruhig. „Du sagtest ,uns‘. Ist Shu auch hier?“

„Er wollte auch hier herkommen. Du weißt ja, dass er bei dem Zusammenstoß mit der Organisation verletzt wurde. Obwohl er sich selbst aus dem Krankenhaus entlassen hat, wollte ihn der Arzt gestern noch sehen. Ich glaube sein Flug geht erst morgen.“

„Verstehe“, murmelte Jodie. Sie hatte noch ein paar Tage. Paar Tage. Dann würde sie Shu von seinem Sohn erzählen müssen. Jodie bekam einen Kloß im Hals. Bald gab es keine Ausflüchte mehr. Bald. „Wie geht es ihm?“

„Er wird schon. Du kennst ihn doch.“

Jodie nickte. „Er ist hart im Nehmen. Ein Kämpfer.“

„Vermouth war also bei dir? Hier zu Hause?“, fragte Camel.

„Nicht hier. Sie hat mich im Park abgefangen und mir von meinem Vater erzählt. Hat…hat dir James je etwas über ihn erzählt?“

„Ich weiß nur, dass er Informationen über Vermouth beschaffen sollte und im Anschluss von ihr getötet wurde. Du warst damals ein kleines Mädchen und hast den Anschlag nur knapp überlebt.“

„Das ist auch soweit korrekt“, sagte sie. „Vermouth erzählte mir, dass sie sich damals in meinem Vater verliebte. Er aber nicht in sie, da seine Aufgabe in der Beschaffung von Informationen lag. Aus Rache hat sie ihn schließlich getötet.“

„Jodie“, wisperte Camel leise. „Es…es tut mir so leid. Aber du solltest nicht auf das hören, was sie dir erzählt. Sie will dich nur fertig machen.“

„Ja…wahrscheinlich hast du Recht. Trotzdem hat es mich geängstigt.“

„Das glaub ich dir. Aber du weißt doch, wie man sich verteidigt. Sie kann dir gar nichts tun.“

Jodie nickte nur.

„Ich…also von Akai weiß ich, dass du nicht mehr für das FBI arbeitest. Ist das…wahr?“

Wieder nickte sie. „Ich hatte meine Gründe.“

„Welche Gründe, Jodie? Du bist von heute auf Morgen zurück in die Staaten geflogen und jetzt erfahren wir, dass du deinen Job geschmissen hast? Das passt doch nicht zu dir“, warf der Agent ein.

„Meine Gründe…“, murmelte sie leise. „Ich…ich konnte es euch damals nicht sagen.“ Jodie stand von ihrem Platz auf. Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. „Ich bin gleich wieder da.“

Verwirrt sah Camel ihr nach.

Im Schlafzimmer ging Jodie an das Babybettchen. „Hey, du bist ja wach“, lächelte sie und nahm ihn aus dem Bett. „Na du? Meinst du, du bist fit genug um Onkel Camel kennen zu lernen?“, wollte sie von ihm wissen und hielt ihm den Schnuller hin. Die leisen Nuckel-Geräusche beruhigten sie ungemein. Generell hörte sie ihm gerne zu. „Na komm, stellen wir dich mal vor.“ Sachte strich Jodie ihm durch das dünne schwarze Haar. Langsam ging sie zum Wohnzimmer zurück. „Camel?“, fing sie an. „Hier möchte dich jemand kennen lernen.“

Der FBI-Agent sah zu ihr. Mit großen Augen blickte er zu dem Baby. „D…d…du…du…du…“, stammelte er nur.

„Darf ich vorstellen. Das ist mein Sohn: Reiji.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Avialle
2016-03-06T12:07:35+00:00 06.03.2016 13:07
Auch wenn es unpassend ist, beim Teufel in Engelsgestalt denke ich an meine jüngere Nichte...
Ob der Vergleich eines Kindes mit Vermouth aber wirklich passend ist...? Jedenfalls sind James Sorgen gut nachvollziehbar
Ui, aber wie Akai gleich versteht, das etwas mit Jodie ist. Vielleicht gibt es ja doch noch ein Licht am ende des Pudels
Die Szene am Grab... Drama, er hat die SMS gelöscht. Ein großer Schritt, hm? Übrigens musste ich über den Smartphoneverschleiß lachen
:D Die ersten tage als Lehrer überleben - wohl wahr, das ist auch eine Kunst...
Ja, gerade das mit Vermouth läuft echt nicht wie geplant... Kein Wunder, das da alle dran zu knabbern haben und die Angst um Jodie bleibt
Die Panik von ihr ist aber auch zu verstehen, ich meine Hallo??? Es geht um ihr Kind!
Aber trotzdem, ich lach mich über den Schluss des Kapitels schlapp. Da hat sie also die Bombe platzen lassen...
Antwort von:  Varlet
06.03.2016 15:16
Danke für deinen Kommentar.
Ich glaub nicht, dass Vermouth so wie deine Nichte ist...oder deine Nichte wie Vermouth. Wenn, dann würd ich mir ja Sorgen machen.
Jap, das ist nen großer Schritt für Akai. Und ich finds als Abschluss für die Akemi-Shu Geschichte auch schön, dass er endlich nach vorne sehen kann, zumindest soweit es geht.
Die Bombe ist aber nur vor Camel geplatzt. Mal ehn wie lange es dauert, bis Shu dann auch wirklich von sienem Söhnchen erfährt


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