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Xiàng Běi

Nordwärts
von

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Xiàng Běi

„Und du hast auch alles?“

Ein Nicken.

„Hast du an das Dokument für...“

Ein weiteres Nicken.

„Und du willst sicher nicht noch etwas warten?“

She-Rin hatte diese Seite an seinem Bruder erst entdeckt, nachdem er bei ihm und seiner Familie eingezogen war. Irgendwie hatte er nie erwartet, dass Yanre zu einem dieser übervorsichtigen Väter werden würde und She-Rin schüttelte regelmäßig den Kopf über dieses Verhalten. Vor allem, wenn es zu ihm selbst herüberschwappte. Yanres Frau Quinqi stand meistens mit einem liebevollen Lächeln daneben, während She-Rin über irgendeine Lappalie belehrt wurde. Danach gab es dann eine Tasse Tee und der junge Chronist durfte weiterarbeiten. Sache erledigt.

Gerade Töchterchen Lieri bekam mit ihrem knappen Jahr an Lebenserfahrung die volle Macht von Papa Yanre zu spüren...auch wenn sie noch nicht viel verstand. Außerdem achtete die Frau Mama doch genug darauf, dass die Kleine nicht zu sehr von väterlicher Fürsorge erdrückt würde.

Der Entschluss von She-Rin auf Weltreise zu gehen, stieß bei so viel Zuneigung natürlich erstmal auf Granit.

„Wenn ich jetzt nicht aufbreche, überlege ich es mir vielleicht wirklich noch anders“, sagte She-Rin mit einem sanften Lächeln, während er sich Handschuhe anzog und seinen Reiserucksack schulterte.

Yanre murrte unglücklich.

„Hätte ich nichts gegen...“

Etwas gekrümmt vor Kälte stand er mit Frau und Kind vor der Haustür um seinen kleinen Bruder in die große, weite Welt zu entlassen. Er hatte geahnt, dass She-Rin irgendwann flügge werden und das Nest verlassen würde, gerade wenn man ihr liebloses Elternhaus in Betracht zog. Aber er hatte sich gewünscht, She-Rin wäre noch etwas bei seiner gemütlichen Familie geblieben und hätte die seelischen Wunden, welche sein Auszug aus den elterlichen vier Wänden mit sich gebracht hatte, weiter heilen lassen. Doch scheinbar kochte das wissensdurstige Blut in She-Rins Adern so heftig, dass es absolut falsch gewesen wäre, ihn zurückzuhalten.

„Pass gut auf dich auf“, sagte Quinqi, die zwar gefasst wirkte, deren Glitzern in den Augen aber etwas anderes verriet. „Schreib uns sooft du kannst, ja?“

She-Rin nickte und umarmte die junge Frau herzlich.

„Mach's gut, Lieri“, ergänzte er an das Mädchen auf dem Arm seiner Mutter. Als Antwort bekam er große, verwunderte Augen und ein zärtliches Patschen auf die Wange. „Ich bringe dir ganz viele, spannende Geschichten mit.“

„Niemand will deinen langweiligen Kram lesen, du Bücherwurm!“, motzte Yanre, als sich sein Bruder ihm zuwand.

„Ich lasse mich auf keine weitere Diskussion über die Bedeutung der Historie unserer Welt ein, Yanre.“ Das hatte er schon vor Jahren aufgegeben.

Eine letzte brüderliche Umarmung folgte.

„Dass du mir ja von dir hören lässt!“
 

Nachdem er einige Stunden gelaufen war und sich außerhalb von bekannten Gefilden befand, setzte sich She-Rin an einer Weggabelung auf einen trockenen Stein und suchte seine Karte heraus.

Raschelnd entfaltete er das Stück Pergament, schob sich dabei ein kleines Stück getrocknetes Fleisch in den Mund.

Seine Route würde ihn nach Norden führen. Zunächst weiter durch einen kleinen Bergkamm und dann Richtung Meer. Von dort würde er auf den nördlichen Kontinent übersetzen, Heimat der Aeromanen. Das erste große Ziel dieser Reise war 'Windstadt' die Hauptstadt des Kontinents. Zwar verfügten die Pyromanen, zu denen auch She-Rin gehörte, über die größte Ansammlung an Schriften und Dokumenten, doch würde er sicherlich das ein oder andere aus den Aufzeichnungen der Aeromanen lernen. Die Luftmenschen waren Erfinder, einfallsreich und stolz auf ihren industriellen Wachstum, welcher fast vollständig ohne die Hilfe von Magie stattgefunden hatte. Das würde eine spannende Erfahrung werden.

Doch zunächst musste das Meitan-Gebirge überquert werden, welches zwar nicht hoch war, aber dennoch seine Tücken besaß. Gerade Übernachtungen im Freien konnten ohne den richtigen Schutz gefährlich, wenn nicht sogar tödlich enden. Oft verschlug es Räuber, die nur darauf lauerten unachtsame Reisende um ihr Hab und Gut zu erleichtern, in die alten Rohstoffminen, welche die Hügel durchzogen wie ein unterirdischer Insektenbau. Leider war der Weg durch die Berge wenig optional für alle, die schnellstmöglich zur Hafenstadt Hónghǎi wollten und somit nahm man das Risiko in kauf. In der Regel bezahlte man Söldner für einen Escort durch das Gelände, oder man schloss sich zu großen Reisegruppen zusammen. Diese Möglichkeiten hatte She-Rin leider nicht.

Stattdessen lies er seinen Blick über die zwei Schwertscheiden wandern, welche ruhig wartend über seiner Schulter hingen. Sein erster Lehrmeister hatte ihm den Zwei-Säbel-Kampf beigebracht, obwohl sich She-Rin zunächst dagegen gesträubt hatte. Als Chronist schickte es sich nicht, Waffenkampf zu praktizieren, man hatte lieber auf Magie zurückzugreifen.

„Unsinn!“, hatte der alte Mann ihm gesagt „Ich sage dir, eines Tages wirst du von hier fortgehen und dann wirst du mir dankbar sein. Es gibt genug Wesen dort draußen, die keine andere Sprache verstehen.“

She-Rin hoffte inständig, nicht von seinen beiden Begleitern Gebrauch machen zu müssen.

Eigentlich sah sein Plan vor, den Großteil des Meitan-Gebirges am Abend bereits hinter sich gelassen zu haben, doch war der Weg an einigen Stellen verschüttet worden, sodass eine andere Route eingeschlagen werden musste. Durch das zerfressen des Berges mit den Minen passierte soetwas bei einem Erdbeben schonmal, nur leider kostete ihn das wertvolle Stunden Tageslicht.

Als die Sonne gänzlich versunken war, hatte She-Rin gerade mal die Hälfte der Pfades heil überstanden. Unwohl suchte er zwischen den Klippen und dem Gerümpel, nach einer geeigneten Stelle um sein Lager aufzuschlagen und mit ein bisschen Muskelkraft schaffte er es, sich eine kleine Bucht aus Steinen zusammenzubauen. Eine gewachste Lederdecke diente als Dach, weiche Felle würden ihn vor der winterlichen Kälte schützen und mit einem gemurmelten Spruch entzündete er trockenes Laub und Äste, welch er auf dem Weg aufgesammelt hatte.

She-Rin hatte darauf geachtet, keine Pflanzen zu verwenden, die stark rauchen würden, das Licht verriet seine Position ohnehin genug und immer wieder dimmte er mit einem weiteren Spruch die Flamme, damit sie ihn nicht das Leben kostete.

Verträumt schaute er in das Feuer.

Es erinnerte ihn an das letzte Fest der Göttin, wo er allein in seiner Schreibstube gesessen und sich selbst bemitleidet hatte. Nachdem Yanre ihn von dort entführt hatte, war alles sehr schnell gegangen. Innerhalb weniger Wochen war She-Rin zu ihm und seiner Familie gezogen. Hatte den mosernden Vater und die hysterische Mutter hinter sich gelassen und konnte endlich tun was sein Herz sich wünschte, das er tat. Welch befreiendes Gefühl das gewesen war.

„Na sieh mal an, was sitzt denn da?“

Eine tiefe, kratzige Stimme riss She-Rin aus seiner Dösigkeit. Vor ihm trat langsam eine Gestalt in den Feuerschein. Es war ein großer, wuchtiger Kerl mit stoppeligem Kinn und zerrissener Kleidung. In seiner Hand hielt er eine schwere Keule, die er sich mit Schwung auf die Schulter hiefte.

Ein hässliches Grinsen entblößte seine kaputten Zähne.

She-Rin wollte aufspringen doch er wurde brutal von hinten an den Haaren gepackt und mit einem Stoß auf den Boden gedrückt. Noch bevor er vor Schmerz aufschreien konnte, stülpte sich eine riesige, dreckige Hand über seinen Mund. Ein weiterer, wuchtiger Mann setzte sich lachend auf seinen Brustkorb und schnürte ihm fast den Atem ab. Warum hatte er nicht besser aufgepasst? In den Büchern erschien das alles doch immer so einfach.

„So ein hübsches Kerlchen, was?“, raunte der Mann, während er She-Rins Gesicht hin und her drehte. Mit der anderen Hand wehrte er spielerisch die Schlagversuche des jungen Pyromanen ab.

Er warf seinem Kumpel, der gerade She-Rins Gepäck durchwühlte, einen kurzen Blick zu.

„Darf ich den haben?“

Der Andere grunzte, warf dabei achtlos diverse Unterlagen und Karten in den Dreck.

„Nichts da, du Idiot“, fuhr er seinen Partner lautstark an „Den nehmen wir mit in die nächste Stadt und verkaufen ihn an ein Bordell! Weißt du, was man da für Geld mit machen kann?“

She-Rin wurde schlecht. Verzweifelt strampelte er so stark es ging mit seinen Beinen, doch das Gewicht auf seiner Brust verwehrte ihm jegliche physische Gegenwehr.

„Hmpf, schade. Aber vielleicht komm ich mal vorbei, huh? Hahaha!“

Mit seine wurstigen Finger fuhr der Fremde genüsslich She-rins Nasenrücken entlang und auch wenn es ihm schwer viel, der Junge musste versuchen sich zu konzentrieren, wenn er überleben wollte.

Während sie beiden Rüpel sich kleinkindartig über alles mögliche kaputtlachten, formten She-Rins Gedanken langsam die gewünschten Worte. Im Bruchteil einer Sekunde war seine Hand hochgeschnellt und presste sich mit Nachdruck gegen den Unterkörper seines Angreifers.

„Pass auf!“, kam es von She-Rins Gepäck aus, doch die Warnung war zu spät ausgesprochen worden. Eine rote Flamme, begleitet von einem lauten Schrei und einem Poltern, schoss aus She-Rins Hand und setzte unverzüglich die Hose des Mannes in Brand. Einen kurzes Luftholen erlaubte er sich, dann rollte er über den Boden und ergriff flink seine beiden Schwerter.

„Du verdammter...“, zischte der andere Mann und holte mit seiner Keule aus, doch She-Rin gelang es, unter dem Schlag hindurchzuschlüpfen und seinen Gegner mit einem gezielten Schnitt in die Kniekehlen bewegungsunfähig zu machen. Mit einem gurgelndem Schrei ging der Koloss zu Boden, gefolgt von Flüchen und wüsten Beschimpfungen.

Noch immer geladen von Adrenalin, verstaute der junge Chronist so schnell es ging seine Sache und hetzte an den beiden stöhnenden Unholden vorbei, tief in die Nacht hinein.
 

Endlich trafen die ersten Sonnenstrahlen auf das kalte Gesicht, welches mit seinem Besitzer in eine winzige Spalte an einer Felswand geflüchtet war. Müde war er, ausgezehrt von den ständigen, gemurmelten Magiesprüchen, die ihn die Nacht über warm gehalten hatten. Langsam und mit schmerzendem Kopf schob er sich mühevoll aus seinem Versteck, zog den viel zu schweren Rucksack hinter sich her. Er musste seine nächsten Schritte planen, wenn er nicht in diesem verdammten Gebirge zu Grunde gehen wollte.

Ruhig setzte er sich und suchte seine Karte hervor, die den nächtlichen Überfall glücklicherweise unbeschadet überstanden hatte. She-Rin schaute sich um und er dankte allen Göttern dafür, dass sein scharfer Verstand ihn trotz der panischen Flucht vor den Räubern nicht verlassen hatte.

Gegenüber der Felswand waren Pfeile eingeritzt. Ein erschöpftes Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als seine Augen zwischen dem nächtlichen Rettungsplan und der Karte hin und her wanderten.

Erstaunlicherweise war er nicht mal einen halben Tagesmarsch von seinem Ziel entfernt und eine riesige Welle der Erleichterung überschwemmte ihn. Erleichterung, aber auch Zweifel.

Wenn ihn diese erste Etappe schon derart auslaugte, wie würde dann der Rest seiner Reise verlaufen? Er hatte noch vier Kontinente vor sich und jeder von ihnen versteckte seine eigenen Gefahren hinter der lockenden Fassade des Abenteuers. Sollte er besser umkehren? Zurück in die schützende Obhut von Bruder und Schwägerin flüchten, ein friedliches Fest der Göttin feiern und weiter in seiner Welt aus Büchern und Schriften leben?

She-Rin nahm einen großen Schluck aus seinem Trinkschlauch und stand auf, packte seine Sachen zusammen.

So durfte er nicht denken. Das hier war seine Chance, Geschichte zu erleben. Ein Teil von ihr zu sein, davon träumten nicht wenige Chronisten seines Stammes. Und er würde sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.

Nachdem er seine Schwerter umgeschnallt hatte, schulterte er ein weiteres Mal seinen Rucksack und machte sich auf den Weg.

Weiter Richtung Norden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  _Delacroix_
2016-12-11T13:12:52+00:00 11.12.2016 14:12
Hallo,
also mir hat der OS gut gefallen. Er wirkt wie ein Ausschnitt aus She-Rins Leben, weshalb auch das Ende nichts macht. Man weiß einfach, dass es Off-Screen weitergeht. Und wer weiß, vielleicht bekommt auch dieser OS eines Tages eine Fortsetzung.^^
 
LG
 
 
Antwort von:  Hielo
11.12.2016 14:15
Aloha~
Vielen Dank. Ich freu mich sehr, dass dir der OS gefallen hat :)
Haha, ja vielleicht gibt es auch hierzu mal eine Fortsetzung, wer weiß

LG


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