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Nohrenwinter

FF-Adventskalendertürchen Nr. 22
von

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Winterwetter

Als er ihm sagte, er beabsichtige, Neujahr in Shirasagi zu verbringen, hatte Leo nur gelacht.

Das war Ende September, als die ersten weißen Flocken über Windmire schwebten und ihn an Tempel, Schnee und Neujahrsmochis erinnerten. Die Tage darauf war die Sonne durch die dicken, nohrischen Wolken gebrochen und hatte mit ihren wärmenden Strahlen die Erinnerungen vertrieben.

Mitte Oktober waren die Flocken zurückgekehrt. Zunächst noch im Wechsel mit Regen und Hagel, bevor, förmlich über Nacht, der nohrische Winter über sie hereingebrochen war, mit kalten Tagen und eisigen Nächten. Seitdem schneite es nahezu ununterbrochen.

Der letzte königliche Bote war Ende November nach Hoshido aufgebrochen. Wer Schloss Krakenburg jetzt noch verlassen wollte, nahm den Drachen.

Bereits zuvor, als sich abzeichnete, dass die kommenden Winterstürme eine sichere Reise bald unmöglich machen würden, hatte Takumi es seinen Getreuen freigestellt, in die Heimat zurückzukehren. Für die Neujahrsfeierlichkeiten. Die Besuche im Tempel. Für Neujahrsmochis.

Ihre Reaktionen waren gemischt ausgefallen.

In den folgenden Tagen war Oboro ihren nohrischen Gastgebern argwöhnischer als sonst begegnet. Sie hatte sie mit besonders finsteren Blicken bedacht, mit gemurmelten Beleidigungen hinter ihren Rücken und etwas, das zu einer handfesten Keilerei hätte eskalieren können, schwebte Odin nicht über solchen Dingen.

Hinata hingegen hatte er mehr als einmal dabei erwischt, wie er ihm wichtige Dinge in seine Reisetruhe legte, nur um sie kurz darauf doch wieder hervor zu holen. Ein Besuch der Marktkatakomben von Windmire und eine pinke Schleife, auf die Takumi sich keinen Reim zu machen vermochte, hatten seine Entscheidung besiegelt.

Letzten Endes war es Oboro gewesen, die, nach unendlich müßigen Diskussionen darüber, ob sie ihren Herren mit diesen furchtbaren Nohren allein zurücklassen konnte, zusammen mit einem der letzten Boten Richtung Hoshido aufgebrochen war. Zu verlockend war die Aussicht gewesen, Subaki und ihre kleine Caeldori zumindest für einige Wochen wieder in die Arme schließen zu können.

Takumi lockten ähnliche Gründe – seine Geschwister, sein kleiner Neffe und nicht zuletzt ein ansprechend großer Berg Mochis – doch als er Oboro und Hinata sein Angebot unterbreitete, hatte er sich bereits entschieden.

Er hatte Oboro verabschiedet, dem letzten Boten die notwendigen Briefe für seinen Bruder mitgegeben und war geblieben.
 

 

Leises Lachen schreckte ihn auf.

Es dauerte mehrere Wimpernschläge, bis Takumi realisiere, dass er beim Lesen dazu abgedriftet war, gedankenverloren aus dem Fenster zu starren. Sein Lieblingsplatz in der Bibliothek, eine Fensterbank mit dicken, violetten Kissen, war warm und weich und half kein bisschen, ins hier und jetzt zurückzufinden. Takumi blinzelte, bis er in der Spiegelung der Fensterscheibe eine verschwommene Silhouette ausmachen konnte.

„Auf der Flucht?“

„Ja-nein.“

Leo, dessen verzerrtes Spiegelbild er nur an seinem Kragen – vermutlich auf links, auch wenn er die Farbe nicht ausmachen konnte – erkannte, verschränkte die Arme vor der Brust. „Sicher?“

Takumi spürte, wie er rot wurde. Er entschied sich dazu, sich vorerst nicht umzudrehen. Immerhin, da war er sich ziemlich sicher, konnte Leo das von seiner Position in der Tür aus nicht sehen. Und er musste es auch nicht.

„Nein“, erwiderte er, betont neutral. „Camilla hat mich lediglich zum Teekränzchen eingeladen.“

„Und warum sitzt du dann nicht bei Tee und Kuchen?“

Ups.

Der Leo in der Fensterscheibe und Takumi tauschten einen Blick. Takumi verdrehte die Augen.

Sir Alaric.“

Alaric, das war der Sohn eines hochrangigen, nohrischen Adeligen. Groß, blond und mit mehr Macht als Verstand gesegnet. Nach seiner Thronbesteigung hatte König Xander ihn, wie so viele andere, an den Hof geholt. Wie so viele andere hatte der Junge die Machtspiele dahinter noch nicht begriffen. Vielleicht würde er es nie tun. Dafür bildete er sich einiges auf die Ritterwürde ein, die man ihm verliehen hatte, und hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, eine nohrische Prinzessin zu heiraten. Egal, welche.

Beides war Gift für Teekränzchen jeglicher Art.

Leos Abbild schüttelte den Kopf. Die Geste sprach von Missbilligung, doch um genauere Gesichtszüge zu erkennen, war die Spiegelung in der Scheibe zu schlecht.

„Ich dachte, Camilla lässt ihn abblitzen, wie Wyverndung an Ruby Glimmer?“

„Tut sie“, murrte Takumi, „aber sag das ihm, nicht mir.“

„Irgendwann sagt sie es ihm selbst.“

„Hoffst du.“

„Ich hoffe, dass ich seinem Vater nicht irgendwann erklären muss, dass er aus Versehen in eine Axt gefallen ist.“

Takumi lachte. Er wusste, Leo meinte das nicht im Scherz – aber er wusste auch, dass er Alaric nur noch für eine begrenzte Zeit ertragen würde, wenn der Idiot sich nicht bald so etwas wie Anstand, Würde und gesunden Menschenverstand aneignete. Und die Chancen standen schlecht.

Leo lachte nicht mit. Takumi ahnte, dass er die Augenbrauen missbilligend zusammengezogen hatte. Er sah es nur nicht. Dennoch ließ ihn das effektiver verstummen, als jeder Hinweis darüber, dass man ihn bis auf den Gang hören konnte. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

„Was ist mit dir?“, fragte er. „Vor wem fliehst du?“

Hinter ihm seufzte Leo und es klang sehr unzufrieden. Sein Spiegelbild fasste sich an die Stirn, um seine Schläfen zu massieren.

„Vor wem wohl?“

Über die Spiegelung konnte Takumi ihn dabei beobachten, wie er sich vom Türrahmen abstieß. Bedächtig schloss er die Tür und trat in den Raum. Er sah noch, wie er im Vorbeigehen eines der Buchregale musterte, dann verschwand Leo aus seinem Blickfeld.

„Uhhh.“

Vielleicht hätte Takumi nicht wissen sollen, von wem er sprach. Vielleicht hätte er es auch nicht gewusst, hätten die meisten nohrischen Adeligen Schloss Krakenburg nicht ebenso verlassen, wie es die Diplomaten von Izumo, Cheve und Nestra angesichts des unberechenbaren Winterwetters getan hatten. So jedoch fielen heiße Kandidaten aus. Kandidaten wie Lord Imre, der einem Vorschlag nur dann zustimmte, wenn dafür mindestens ein Vertragsbruch mit Hoshido notwendig war. Oder Lady Clarisa, die der Meinung war, diese fremde Prinzessin – und mit Prinzessin meinte sie Takumi – möge sich endlich ihres Standes entsprechend benehmen. Und kleiden. Und-

Er atmete tief durch und zwang seine Gedanken zu dem einzigen Kandidaten, der aktuell übrig blieb.

Das half nur wenig. Er konnte immer noch nicht ganz fassen, wie Leo es zulassen konnte, dass sein Getreuer in seine Familie einheiratete. Vor allem bei dieser Getreuen. (Auch wenn es erklärte, warum er Felicia sein finsteres, geheimnisumwobenes Ich-transzendiere-in-einen-anderen-Kosmos-und-kehre-heim-in-meine-Welt-der-ewigen-Dämmerung-Dingsbums so bereitwillig überlassen hatte, auf das sie, zusammen mit Laslow, Selena und Soleil … irgendwohin … verschwand. Damals hatte er behauptet, er sorge sich um seinen Lord. Jetzt stand fest – er sorgte sich um dessen Schwester.)

„Geht es wieder um die Farben, die er für die Garderoben der Gäste vorschreiben will?“, fragte Takumi, während er auf Leos Schritte lauschte, die sich ihm langsam näherten. „Ich schwöre dir, wenn er von mir erwartet, dass ich in einem schwarzen Kimono mit pinkem Obi erscheine, erschieße ich ihn noch vor dem Ja-Wort.“

Leo lachte nicht – ein sicheres Zeichen dafür, dass Odins neueste Eskapade noch schlimmer war, als alles, was Takumi sich auszumalen wagte.

„Es ging um die Texte auf den Einladungskarten.“

Oh, verdammt.

Ja, das war eindeutig schlimmer. Stöhnend ließ Takumi seinen Kopf nach vorn fallen, bis er mit einem dumpfen Schlag gegen das Fenster stieß. Die Scheibe schmiegte sich mit eisiger Kälte an seine Stirn, doch das half nur geringfügig gegen die aufkommenden Kopfschmerzen.

„Grundgütiger“, murmelte er. „Du hast ihm gesagt, dass die Braut die Einladungen schreibt, oder?“

Nicht, dass das viel helfen würde. Elise, das hatte er im vergangen halben Jahr gelernt, stand ihrem Verlobten in Sachen Theatralik erschreckend wenig nach.

Die Schritte hinter ihm verklangen. Statt ihm zu antworten, legte Leo ihm die Hände auf die Schultern. Als er sich sicher war, dass Takumi sich nicht rühren würde, strich er langsam über die Muskeln dort. Takumi seufzte ob der Berührung.

Für eine Weile schwiegen sie beide und überließen das sprechen Leos Fingern, die in kreisenden Bewegungen über Takumis Schultern strichen. Unter diesem sanften Druck lösten sich die Verspannungen, die ihn viel zu häufig plagten, langsam und Takumi genoss es.
 

 

„Dein Haar ist klamm“, hörte er Leo irgendwann sagen. „Warst du draußen?“

„Uh-huh“, antwortete Takumi. Er fand es erstaunlich schwer, sich auf ein Gespräch zu konzentrieren, wenn Leos Daumen seinen Nacken so entlang rieben, wie gerade jetzt. Sich zu einer artikulierten Antwort zu zwingen, war noch schwerer.

„Ich“, formulierte er träge, „hätte Nina nicht erzählen sollen, dass ich als Kind Iglus gebaut habe.“

Leises Lachen antwortete ihm. Takumi spürte den Atemzug über sein Ohr kitzeln.

„Also warst du draußen und hast der Kleinen eines gebaut?“

Stöhnend nickte Takumi gegen die Scheibe.

„Jaah“, murmelte er mit einem Tonfall, als bereue er jeden einzelnen Schneequader. Vielleicht bereute er auch nur, die Massage durch sein Nicken unterbrochen zu haben. „Ich werde morgen solchen Muskelkater haben.“

Kleidung raschelte, als Leo sich weiter zu ihm hinab beugte. Takumi konnte seinen Atem jetzt beständig auf seiner Haut spüren.

„Dem kann man Abhilfe schaffen.“

Die feinen Härchen in seinem Nacken richteten sich nicht nur aufgrund des leichten Atemzugs auf, der verheißungsvoll über sie hinweg strich. Als Ryoma ihm Anfang des Jahres vorgeschlagen hatte, als Hoshidos höchster Gesandter nach Nohr zu reisen, hatte er den Auftrag nicht ohne den Hintergedanken angenommen, dass er seinen Geliebten viel zu selten sah. Umso enttäuschter war er gewesen, als er feststellen musste, wie aufwendig nicht nur seine Aufgaben waren, sondern auch wie voll Leos Tagesplan. Die Stunden, die sie miteinander verbrachten, waren umso wertvoller geworden und er hätte nichts dagegen gehabt, diesen Stunden die aktuellste hinzuzufügen.

Leo jedoch trieb keine Eile, um seinen Worten Taten folgen zu lassen. Statt seine Hände wieder hinab gleiten zu lassen, zurück zu den Schultern und tiefer, ließ er sie auf Takumis Schultern, die Daumen auf seinem Nacken, die Finger immer wieder in seinem Haaransatz. Mittlerweile viel zu geübt darin, mit den Erwartungen, die er aufwarf, zu spielen, setzte er seine Massage fort. Seelenruhig strich er Takumis Wirbelsäule entlang und ließ seine Finger über seiner Kopfhaut kreisen.

Nur den hoch gebunden Zopf ließ er zunächst unbeachtet. Als er sich schließlich zu ihm vortastete und ihn probeweise bis zum Haarband hinauf strich, verabschiedete Takumi sich von allem Groll, den er bis dahin vielleicht gehegt hatte. Er kannte die stumme Frage, die Leos Finger ihm stellten und er beantwortet sie mit einem zufriedenen Seufzen.

Einen Augenblick später löste Leo den Knoten, der sein Haar zusammenhielt. Schwer fiel es in dicken Strähnen über seinen Rücken.

Unwillkürlich setzte Takumi sich auf und reckte den Hals, damit Leo ihm die Haare einfacher zurecht streichen konnte.

„Allerdings“, nahm Leo den Faden ihres Gespräches wieder auf, während er mit einer Hand probeweise durch die langen, sandfarbenen Strähnen kämmte, „erklärt das Iglu noch nicht, warum du bis auf die Kopfhaut durchgeweicht bist.“

„Niles“, murrte er.

„Niles?“ Leos Tonfall klang skeptisch. „Zugegeben, Nohren halten nicht viel davon, sich länger im Schnee aufzuhalten, als unbedingt notwendig, aber …“

Takumi schnaubte, ohne die Augen zu öffnen.

„Sag ihm das“, murmelte er. Es war einfacher, sich auf die Finger zu konzentrieren, die durch seine Haare kämmten, als darauf, eine Antwort zu formulieren. Er tat es trotzdem. Jetzt einzuschlafen wäre kontraproduktiv, wenn auch verlockend. „Er hat darauf bestanden, uns zu begleiten. Aber natürlich hat er mir die ganze Arbeit überlassen. Natürlich. Die und Nina.“

Hinter ihm lachte Leo leise.

„Sie hat dir also geholfen?“

„Fünf Minuten lang“, erwiderte Takumi. Vor seinem inneren Auge tauchte die Vierjährige auf, die von ihrem selbst geformten Schneeklumpen zu ihm aufsah und grinste. „Dann hat sie angefangen, mich mit ihren Fragen zu löchern.“

„Wollte sie wieder wissen, ob wir uns küssen?“

„Wie Mama und Papa, ja.“

„Hast du ihr das gesagt?“

Takumi schüttelte den Kopf, sachte genug, um Leo nicht zu unterbrechen. Dass ihm dabei ein paar Strähnen über die Wangen kitzelten, war eigentlich ganz angenehm. Er könnte sich ein selbstzufriedenes Grinsen.

„Nö. Wie Felicia und Laslow.“

Hinter ihm pfiff Leo anerkennend, auch wenn es mehr ein Pusten, als ein Pfeifen war. Der Luftzug kribbelte über seine Kopfhaut.

„Geschickter Schachzug.“ Ohne in der Bewegung zu stocken begann er damit, einzelne Knötchen in Takumis Haaren zu lösen. „Du hast ihr die Geschichte mit Laslow und dem kochenden Wein erzählt, nehme ich an?“

Er antwortete nicht sofort – Leos Finger hatten den ersten größeren Knoten gefunden und auch wenn sein Freund vorsichtiger war, als jeder Kamm, kam das Ziepen unerwartet. Automatisch verzog er das Gesicht. Zwar war Leos zweite Hand sofort zur Stelle, um sachte über seine Kopfhaut zu streichen, doch Takumi mochte keine ungeplanten Zieper. Trotzdem genoss er die stumme Entschuldigung.

„Nein“, antwortete er, sein Tonfall halb versöhnlich, halb selbstzufrieden. „Ich habe ihr gesagt, Daddy könne das besser.“

Leo prustete.

„Du hast ihn also beim Zittern und Bedienstete-Beobachten gestört?“

„Ich schwöre dir, er hat die neue Getreue deiner Schwester auf dem Kieker und sie war gerade dabei, die Stallburschen herumzuscheuchen.“

„Die Rache folgte auf dem Fuße?“

Auf dem Fuße.

Schön wäre es gewesen.

„Auf die Schneewehe, meinst du wohl?!“ Empört verschränkte er die Arme vor der Brust, auch wenn das bedeutete, dass sein Buch vergessen über seinen Schoß rutschte. Selbst das Knötchen, an dem Leo gerade zupfte, kümmerte ihn in diesem Moment nicht. „Kaum, dass das Iglu fertig war!“

„Hätte das nicht der Moment sein müssen, in dem Nina ihr Iglu einweiht?“

Takumi nickte dumpf. An Leos Stelle hätte er das sicher angenommen. Tatsächlich hatte er es selbst angenommen, bis Nina ihn eines besseren belehrt hatte.

„Nein“, nuschelte er. Er spürte, wie er rot wurde.

„Nein?“

„Es war der Moment, in dem sie mich gefragt hat, ob ich dich nachher im Iglu küsse.“

Und dann hatte sich eine dumme Entscheidung mit der nächsten die Klinke in die Hand gegeben und die Kleine hatte geheult, dicke Krokodilstränen, und vermutlich hätte er einfach ja sagen sollen-

„Ich bin stärker“, murrte er, immer noch rot. „Leider kennt Niles die mieseren Tricks. Ich dachte, ich schaffe ihn, aber–“

Dann war da nur noch die Schneewehe.

Allein vom Gedanken daran wurde ihm kalt.

„Nun, du hast überlebt, oder?“

„Jaah“, antwortete Takumi, stockte dann aber. Unwohl richtete er sich auf. Der Gedanke, in einem Leben nach dem Tode festzuhängen, in dem seine Haare immer feucht blieben und er sich auf ewig an die Schneewehe erinnerte, war wenig verlockend. „Habe ich doch, oder? Leo?“

„Hmm, ich könnte das testen …“

Takumi hörte die Herausforderung in seiner Stimme. Einen Augenblick später glitt Leos Hand in sein Haar. Nicht streichelnd und kämmend, dieses Mal. Es war ein vorsichtiger Griff, eine unausgesprochene Frage. Noch.

Sein Puls raste, allein bei der Idee.

„Kannst du das?“, fragte er, mir dem stichelnden Tonfall, von dem er wusste, dass er als Bestätigung genügte.

„Hm-hm.“

Der Griff wurde fester, dann – stechender Schmerz. Takumi japste. Sein Kopf folgte dem Ziehen, automatisch, bis sein Scheitel auf Stoff traf. Bis er Leo sah, seinen Blick, sein Lächeln, sein dämlicher Kragen, mal wieder auf links.

Er öffnete den Mund, doch kein Ton kam heraus. Blut rauschte in seinen Ohren.

Einen langem Moment lang musterte Leo ihn einfach nur. Eindringlich. Aufmerksam. Seinen Pony, der ihm in die Stirn hing. Die Röte, die sich über seine Wangen zog-

Takumi wusste nicht einmal wohin er hätte schauen sollen. Er musste es auch gar nicht wissen.

Schließlich beugte sich Leo vor. Erst spürte Takumi, wie Stoff über seinen Kopf strich. Der Griff in seinen Haaren ließ nur unmerklich nach. Dann sah er nur noch seinen Hals. Sein Kinn. Das schiefe Lächeln in seinem Mundwinkel, nach dem er süchtig war. Leo

Schließlich-

Lippen auf seiner Haut.

Auf seiner Stirn, dann auf seiner Nase, ohne den Kontakt zu unterbrechen, auf seinem Mund. Ein kurzer Kuss, kaum lang genug, um ihn zu schmecken.
 

 

Leos Gesicht rückte zurück in den Fokus, doch seine Griff in Takumis Haaren blieb eisern. Er lächelte nicht mehr – er grinste.

Takumis wagte es nicht, den Moment zu unterbrechen. Sein Puls raste.

„Alles in Ordnung“, entschied Leo über ihm. „Nur ein bisschen feucht.“

Feucht?!

Dem würde er feucht geben!

Es war vielleicht nicht die klügste Idee, ihm die Zunge herauszustrecken, nicht mit Leos Hand in seinen Haaren und all dem – Takumi tat es trotzdem.

Seine Zunge erwischte Leos Kinn nicht. Es fehlten nur Millimeter.

„Netter Versuch.“

„Hrmpf.“

Leo lachte, doch er war gnädig.

Umsichtig, vermutlich um der Zunge zu entgehen – als wenn er das dauerhaft gewollt hätte – beugte er sich erneut zu ihm.

Zuerst spürte Takumi ein leichtes Kribbeln in seinen Haarwurzeln, dort, wo ziehender Schmerz gewesen war, dann Fingerkuppen, die über hochempfindlichen Nerven glitten. Allein das war schon fast zu viel. Er brauchte diesen Kontakt, wollte ihn, suchte ihn.

Sich nur vage der zurückgewonnenen Freiheit bewusst, hob Takumi die Hände, fuhr seinerseits über Haut, über Haare und Stoff. Seine Finger bekamen den Kragen zu fassen, er zog und Leo folgte begierig. Irgendwo dort, in der Bewegung, verschwand sein Zeitgefühl, schuf Raum für mehr Empfindungen, für schlanke Finger, die an seinem Pony zupfte, und weiche Strähnen, die über seine Wange strichen. Für kühle Lippen auf seiner viel zu heißen Haut.
 

 

Als Takumi die Augen wieder öffnete – als das bewusste Denken wieder einsetzte – fand er sich mit Leo auf seinem Schoß wieder. Eine Weile saßen sie einfach nur da, Stirn an Stirn und den leichten Geruch nach Zimt in der Nase und lauschten dem Atem des jeweils anderen.

„Was denkst du?“, murmelte Leo irgendwann. Er sprach leise, doch Takumi hörte die Herausforderung in seiner Stimme. „Ist das Iglu noch da?“

„Das Iglu?“, echote er, doch es klang eher wie 'Dasch Ischlu?' – er schmeckte Haare in seinem Mund. Der Länge nach zu urteilen nicht Leos. Er lehnte sich zurück, gerade genug, um nach der verirrten Strähne fischen zu können.

Leos Blick folgte seiner Bewegung, halb interessiert, halb amüsiert. Vermutlich hätte Takumi das Interesse geteilt, aber er war zu sehr damit beschäftigt, sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen – und immer noch ein wenig von der Sache mit dem Iglu traumatisiert.

Dennoch blickte er aus dem Fenster, wie um das Iglu zu sehen. Eigentich war das alles Quatsch. Es hatte schon gedämmert, da hatte er noch Schneequader aufeinander geschichtet. Mittlerweile war es da draußen, abgesehen von den Schneeflocken, die beständig gegen die Fensterscheiben platschten, stockfinster.

„So, wie es gerade schneit?“, fragte Takumi schließlich. Er schüttelte den Kopf. „Unwahrscheinlich.“

„Ein Jammer, findest du nicht?“

Takumi hörte den spöttischen Tonfall heraus. Dennoch zog er die Augenbrauen hoch und bedachte Leo mit einem strengen Blick. Der jedoch lachte nur leise.

„Schon gut, schon gut. Du bist ja nicht Nina.“

„Den Drachen sei dank!“

Das Grinsen des Mädchens tauchte vor seinem inneren Auge auf, das und die im Schnee wippenden Zöpfe. Eigentlich hatte es ja Spaß gemacht. Sogar die Rangelei mit Niles, auch wenn er das nicht zugeben würde. Nicht, wo er den Kürzeren gezogen hatte.

Sein Blick glitt erneut aus dem Fenster, doch Takumi sah nur dicke, weiße Flocken. Gerade traf wieder eine auf die Scheibe, für einen Moment groß und weiß und verästelt, dann nur noch ein neuer Tropfen auf Glas.

„Ich habe noch nie so langanhaltende Schneefälle erlebt“, murmelte er irgendwann.

Natürlich, er hatte über das Klima gelesen, bevor er nach Nohr aufgebrochen war, und er kannte Leos Erzählungen aus der Zeit in Corrins Armee. Trotzdem hatte Takumi das bis zuletzt für Übertreibungen gehalten. Bis Oboro neben dem königlichen Boten auf ein Pferd stieg und die Erkenntnis langsam eingesickert war, das er für den Rest des Winters in Nohr feststeckte, wenn er sich nicht auf einen Drachen wagte. Und das tat er nicht.

Neben ihm nickte Leo. Ein paar Strähnen, die sich aus seinem Haarband gelöst hatten, kitzelten dabei über Takumis Stirn.

„Das Klima in Hoshido ist milder, oder?“

„Sehr“, antwortete er, den Blick noch immer auf den Tropfen gerichtet.

„In Shirasagi haben wir fast jedes Jahr Schnee, aber nie so früh wie hier und nicht annähernd so viel. Als ich klein war, hatten wir ein Jahr, da ging er mir fast bis zu den Knien und taute erst im März. Das war toll. Aber das…“

Er deutete nach draußen.

„Ist nicht Shirasagi“, beendete Leo seinen Satz.

Takumi nickte. Vor ein paar Tagen hatte er abzuschätzen versucht, wie viel Schnee seit den ersten paar Flocken gefallen war, doch er war daran verzweifelt. Selbst, wenn es zwischenzeitlich nicht immer wieder Tage mit Tauwetter gegeben hätte, die Schneewehen, die sich überall dort auftürmten, wo die Schlossmauern Angriffsfläche ließen, machten jede Schätzung unmöglich.

Neben ihm blickte Leo nun ebenfalls aus dem Fenste.

„Den ersten Schnee haben wir häufig im Oktober. Von da an schneit es meist bis weit in den April. Schnee in den Sommermonaten ist nicht unbekannt, aber selten und meist bleibt er nicht liegen. Wir haben uns damit arrangiert. Die Städte liegen zu großen Teilen geschützt unter der Erde. Die Bauern verwenden Getreidesorten, die auch in den kurzen, harschen Sommern Erträge abwerfen. Weiter oben, im Norden, halten sie Vieh. Dank des Friedens mit Hoshido können wir das, was wir nicht selbst produzieren können, importieren. Auch wenn es mühsam ist, es funktioniert …“

Takumi hob den Blick, gerade genug, um Leos Spiegelung in der Fensterscheibe neben sich zu beobachten. Er spürte, dass da noch etwas war, dicht unter der Oberfläche, aber ungesagt.

„Aber?“, fragte er vorsichtig, als Leo weiter schwieg.

Ihre Blicke trafen sich, nicht in der Fensterscheibe, sondern im Augenwinkel.

„Es gibt Winter, die hören nicht auf.“

Takumi wusste, dass sich an der Bibliothek nichts verändert hatte – nicht an der Tür, nicht an den Fenstern, nicht an den Kerzen, die ihnen Licht spendeten – dennoch fühlte es sich an, als sei die Temperatur plötzlich um mehrere Grad abgefallen. Er schauderte, allein bei der Vorstellung. Wobei – richtig vorstellen konnte er es sich gar nicht. In Shirasagi hatten alle Winter ein Ende. Manchmal trieben Weststürme noch im April vereinzelte Schneeschauer über das Land, doch ihr Ende war immer klar. Früher oder später würden die Kirschbäume blühen und kurze Zeit später würde die Regenzeit hereinbrechen, warm, nass und schwül und ganz und gar nicht winterlich. Sich nur vorzustellen, dass es anders sein könnte – eigentlich unmöglich.

„Wirklich?“, fragte er. In seinem Augenwinkel musterte er Leo, suchte nach einem Anzeichen dafür, das der Andere ihn auf den Arm nahm, doch er fand nichts dergleichen. Nur Bitterkeit.

„Ich war damals noch nicht geboren, aber Xander hat mir von diesem einen Jahr erzählt … Damals muss er acht oder neun gewesen sein. Der Winter kam früh, in dem Jahr, mit ungewöhnlich starken Schneefällen schon Anfang Oktober. Das hat der Ernte geschadet, aber wäre es nur das gewesen, man wäre damit über die Runden gekommen. Aber dann blieben die Tauphasen aus. Selbst an wolkenfreien Tagen sollen Dunstschleier vor der Sonne gehangen haben. Und als als es März wurde … schneite es einfach weiter. Den Frühling hindurch, selbst im Sommer. Sogar i den wärmeren Südprovinzen fiel der Großteil der Ernte aus. Erst im Jahr darauf fing es irgendwann an zu tauen.“

Eine Gänsehaut kroch ihm über die Arme. Mittlerweile spürte Takumi, wie er zitterte.

„Das muss eine furchtbare Hungersnot ausgelöst haben …“

Neben ihm nickte Leo nur.

„Das hat es. Und wenn man den Chroniken glauben, hatten wir damals noch Glück. Solche Winter tauchen in der Geschichte immer wieder auf. Wir haben sogar einen Namen für sie – Fimbulwinter.“

Takumi stockte. Irgendwo hatte er dieses Wort bereits einmal gehört. Gerade, als er Leo danach fragen wollte, fiel es ihm siedend heiß wieder ein. Er erinnerte sich an Odin, einen alten Folianten in der Hand und Schnee, überall Schnee-

„Wie der Zauber?“, fragte er, bevor ihm von der bloßen Erinnerung noch kälter werden konnte.

Erneut nickte Leo.

„Ja. Beide, der Zauber und das Wetterphänomen, wurden nach einer alten Legende benannt.“

„Was für eine Legende?“

Einen Moment lang sah Leo so aus, als wolle er nicht darüber reden, dann seufzte er doch.

„Sie stammt von einem Volk, das lange vor den jetzigen Bewohnern im hohen Norden gelebt hat. Dieses Volk ist längst verschwunden, aber als die Vorfahren der heutigen Nohren das Land besiedelten, übernahmen sie die Legende. Sie erzählt, von einem Winter, der irgendwann über die Welt hereinbrechen soll. Es heißt, er beginne mit schlechten Ernten und frühen Schneefällen. Die Sonne verschwindet. Es taut nicht. Selbst im Jahr darauf schneit es einfach weiter. Und im Jahr darauf. Drei Jahre lang …“

Eine neue Schneeflocke landete direkt vor seiner Nase auf der Fensterscheibe, doch Takumi wandte sich ab, der Anblick plötzlich unerträglich.

„Drei Jahre? Und was passiert dann?“

„Dann … es heißt, dann geht die Welt unter. Drei Jahre Winter und Hunger, dann folgt der Krieg. Die Feuerriesen fallen über die Welt her und setzen alles in Brand. In der Schlacht, die folgt, vernichten sie die bis dahin bestehende Herrschaft der Götter und alles Leben endet.“

Takumi öffnete den Mund, doch kein Ton kam heraus. Skeptisch musterte er sein Gegenüber, seine Augen, seinen zu einem dünnen strich zusammengepressten Mund, das leichte Zittern in seinem Kragen.

„Du–“, fing er leise an, „du glaubst diesen Legenden nicht wirklich … oder?“

Der Blick, mit dem Leo den seinen erwiderte, sprach Bände – und Takumi verstand. Auch ohne, dass er es aussprach, sah er Leo vor sich, nicht den Erwachsenen, sondern das Kind. Den kleinen, blonden Jungen, von dem Takumi viel zu wenig wusste. Einsam saß er auf der Fensterbank in der Bibliothek, so wie sie jetzt, vor den Fenstern eine Welt aus Schnee und Eis, in seinen Ohren die alten Legenden. Und dieser kleine Leo hatte keinen Takumi, der neben ihm hätte sitzen können. Nur eine Mutter, die ihn benutzte, die sich nur um ihren Einfluss auf den König scherte und die nur eine war, von vielen.

Takumi schluckte.

„Leo–“

Doch Leo schüttelte den Kopf. Er griff nach dem Buch, das während ihres Kusses zwischen sie und das Fenster gefallen sein musste. Bedächtig strich er die Seiten glatt und legte es auf die Kissen hinter sich. Erst danach hob er die Hände. Takumi beobachtete ihn dabei, wie er die Falten auf Takumis Oberteil glatt und eine verirrte Haarsträhne zurück hinter seinen Rücken strich. Dann spürte er Leos kühle Finger in seinem Nacken.

„Nein“, sagte er leise. Plötzlich berührten sie einander wieder, Stirn an Stirn. „Und selbst wenn dieser Winter der Fimbulwinter wäre. Mit dir an meiner Seite kann er so schlimm nicht sein.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  _Delacroix_
2016-12-23T00:32:58+00:00 23.12.2016 01:32
Du hast tatsächlich Romantik geschrieben und Takumis Haarkink hast du auch unter bekommen. Na das muss man erstmal schaffen, in einer Story, in der es um "Fimbulwinter" gehen soll. Ein bisschen tut Takumi mir ja leid. Bei seinem Glück kommt die Quittung fürs fröhliche Iglu bauen demnächst in Form einer saftigen Grippe.
Vor allem, wenn er wirklich mit feuchten Haaren rumrennt.
Da hilft dann mit Pech auch kein Leo mehr, der einen bedauern kann. Bleibt eigentlich nur zu hoffen, dass es nicht soweit kommt und bei einem weiteren Iglu-Moment für ihn bleibt. 
*hust hust hust*
Und ich sehe Odin x Elise. Die Beiden sind aber auch wirklich knuffig mit ihrer Art.
 
Antwort von: Arcturus
23.12.2016 08:19
Danke für den Kommentar. :3

Ach, Takumi hat schon ein paar Vorkehrungen getroffen, damit er nicht aus den Latschen kippt. Die Klamotten sind zumindest gewechselt und er sitzt ja auf einer warmen Fensterbank. Und ansonsten muss Leo halt pflegen und tüdeln und einen Heiler finden, der das schlimmste kuriert. *hust*

Und ja, Odin//Elise ist da. Genauso wie Laslow//Felicia und Hinata//Peri.


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