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Leuchten

von

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Unter Leuchten

Vollkommen verwirrt sah Einar sich um. Eigentlich müsste er doch längst da sein, aber nichts, rein gar nichts in seiner Umgebung sah aus wie Stockholm, jedenfalls nicht so, wie es ihm beschrieben worden war. Und weit und breit war natürlich niemand zu sehen, der ihm hätte helfen können. Resigniert sah er auf seine Uhr. Er hatte noch eine halbe Stunde, bis er wieder zurück sein musste, und er hatte noch nichts gegessen. Wie sollte er denn bitte mitten in der Lampenabteilung ein Sofa finden? Oder, um die bessere Frage zu stellen: Wie sollte er die Sofaabteilung in diesem Labyrinth finden?

Einmal mehr verfluchte Einar sich selbst, dass er so schnell zu allem Ja sagte. Möbel ausmessen, Möbel schleppen, Möbel aufbauen. Seit seine Mutter mit der Umgestaltung ihrer Wohnung angefangen hatte, konnte er dem nicht entkommen. Und sie war noch nicht fertig. Bis jetzt war gerade einmal ihr Schlafzimmer und das Esszimmer, das einst sein Kinderzimmer gewesen war, fertig. Jetzt fehlten noch das Wohnzimmer – daher die Suche nach dem Sofa – sowie Gästezimmer, Küche und Diele. Schon jetzt war er mehr als nur ein bisschen dankbar, dass sie die Küche von Profis planen, anliefern und aufbauen ließ, das hätte er einfach nicht überlebt. Heute würde er auch nicht überleben, da seine Mutter sich nicht auf die Zahlen aus dem Internet verließ und ihn in seiner heiligen Mittagspause in diesen hassenswerten blauen Kasten schickte, um ein verdammtes Sofa auszumessen.

„Hallo“, begrüßte ihn plötzlich jemand freundlich.

Einar schaute auf und sah ihn das lächelnde Gesicht eines Mitarbeiters in den ebenso aufdringlichen wie rettenden IKEA-Farben.

„Hallo“, murmelte er leise.

„Du siehst verloren aus“, lächelte Tarek ihn an, seines Zeichens heute für die Lampenabteilung und alle darin verlorenen Seelen zuständig. „Wohin willst du denn?“

„Ich suche das Sofa 'Stockholm'“, gab Einar zu. „Aber ich bin komplett falsch.“

„Ja, das bist du. Aber das können wir ändern.“ Tarek lächelte weiter. „Komm mit.“

Etwas zögerlich folgte Einar ihm, der ihn weiter in das Labyrinth hinein zu führen schien. Doch nach zwei Minuten standen sie vor der Treppe, die wieder nach oben führte, und die Einar am Anfang seines Irrlaufs herunter gekommen war.

„So, du gehst jetzt einfach hoch und oben nach links, dort am Fahrstuhl vorbei und dann gleich wieder links, dann bleibst du immer auf dem großen, grauen Weg. Folge einfach den Pfeilen und du kannst die Sofas gar nicht verfehlen“, erklärte Tarek lächelnd und Einar fragte sich, ob er für ein größeres Lächeln einen Bonus bekam. Er glaubte jedenfalls nicht daran, dass der Mann, der ihm gegenüber stand, freiwillig so breit lächelte. Wieso sollte er, wo er doch in diesem seelenlosen Kasten arbeiten musste?

„Danke“, meinte Einar nur und ging los. Ohne dass er es merkte, beobachtete Tarek ihn, wie er die Treppe hoch lief. Selbst Tarek bemerkte es nicht wirklich, bis ihn eine Kollegin anstupste.

„Gibt's was schönes zu sehen?“, grinste sie ihn an.

„Was?“

„Ob es was schönes zu sehen gibt, wenn du dem Jungen hinterher starrst“, grinste sie weiter. Claudia war doppelt so alt wie Tarek, benahm sich manchmal aber wie seine kleine Schwester.

„Wollte nur sicher gehen, dass er sich auf der Treppe nicht verläuft“, meinte Tarek knapp und ging auf schnellstem Wege wieder in seine Abteilung.

Es war mal wieder einer der Tage, an denen nur wenige Menschen Möbel kaufen wollten, und den man genauso gut hätte draußen verbringen können. Seine Freunde hatten sich zum Fußball spielen im Park verabredet, aber nein, Tarek musste sich ja zwischen seinen Lampen langweilen. Alles war aufgeräumt, ordentlich ausgepreist und funktionstüchtig. Ab und an kam jemand vorbei, aber die wenigsten hatten Fragen. So kam es, dass Tarek bald wieder an den Verirrten dachte. Und er wurde neugierig. Warum suchte jemand, der diesen Laden so offensichtlich nicht mochte, ein Sofa hier? Warum hatte er ständig auf seine Uhr geschaut und einmal dabei seinen Bauch getätschelt? Und warum interessierte Tarek das alles überhaupt? Seufzend beobachtete er ein kleines Kind, dass mit großen Augen durch die Abteilung lief, genau in dem Moment erklang die Ansage „Der kleine Tobias wird von seinen Eltern gesucht“ und das Kind fing an, sich nach seinen Eltern umzuschauen und nach ihnen zu rufen. Noch ein Verirrter.

Zur selben Zeit, nicht weit entfernt, langweilte sich auch Einar in seinem Laden. Nach dem Ausmessen des Sofas hatte er es nur geschafft, sich einen der labbrigen Hot Dogs zu holen und auf dem Weg zwischen dem blauen Klotz und dem kleinen Buchladen im benachbarten Einkaufszentrum zu essen. Das Wetter war mies, was in seiner Definition „viel zu sonnig und warm“ bedeutete, und am liebsten hätte er sich wieder in seinem Bett verkrochen, aber er musste hier ja den Laden bewachen. Zum Glück störte es niemanden, wenn er während der Arbeit in Bücher vertieft war, solange er die Kunden nicht vor den Kopf stieß. Da es heute kaum Kunden gab, war auch dafür die Wahrscheinlichkeit gering, und er konnte in aller Ruhe sein Buch zu Ende lesen. Als er fertig war, fiel Einar auf, dass er auf den letzten Seiten immer das Gesicht des grinsenden IKEA-Typen vor sich sah, wenn von einem bestimmten Charakter die Rede war. Er schob es einfach darauf, dass der Charakter auch dunkle Haare hatte und immer fröhlich war. Damit war das für ihn erledigt. Die letzte halbe Stunde seines Arbeitstages verbrachte Einar damit, den Laden zu wischen und die wenige Unordnung zu richten, die die wenigen Kunden hinterlassen hatten. Ein paar Stammkunden waren wenigstens vorbei gekommen und hatten ihm und der Kasse ein bisschen Freude bereitet, auch wenn keiner ihm etwas zu essen mitgebracht hatte. Dann wäre er jetzt wenigstens nicht so verdammt hungrig. Ein Hot Dog reichte definitiv nicht zum Mittag.

Als er das Gebäude verließ, um zum Bus zu gehen, bemerkte er nicht, dass auf dem Mitarbeiterparkplatz einer der Fahrer der Wagen verdutzt zu ihm starrte. Tarek saß am Steuer seines kleinen alten Autos und begann, Schlussfolgerungen zu ziehen: Der Verirrte kam aus dem Mitarbeitereingang des Einkaufszentrums. Er schien den Weg zur Haltestelle sehr gut zu kennen, denn er sah nicht auf, während er ging. Und er schien gern zu lesen, jedenfalls las er im Laufen.

Tarek wurde von Dan aus seinen Gedanken gerissen. Dan war Kollege, Mitfahrer und Nervensäge in einem, aber er wohnte ganz ihn Tareks Nähe und gab ihm immer mal ein Bier aus, um sich fürs Mitnehmen zu bedanken. Leider brauchte Dan immer länger, um sich nach der Arbeit umzuziehen und so war es reine Routine, dass Tarek schon im Wagen saß, meistens Musik hörend, und auf Dan wartete.

„Alles in Ordnung?“, wunderte Dan sich.

„Klar, was soll schon sein?“, fragte Tarek zurück.

„Was weiß ich, du hast deine Musik gar nicht an. Da kann man sich doch mal wundern, oder?“

„Mir war nicht danach“, meinte Tarek nur und bekam am Rande mit, dass der Verirrte in den Bus einstieg, der in Richtung Innenstadt fuhr und auch dabei nicht von seinem Buch aufsah.

Schweigend fuhr Tarek nach Hause, was Dan zwar wunderte, aber er ließ es ausnahmsweise mal zu. Sonst redete er fast ununterbrochen, heute döste er nur vor sich hin, den Fahrtwind, der durch die offenen Fenster drang, im Gesicht.
 

Der Sommer sollte diese Woche seinen Höhepunkt erreichen und die Temperaturen auf knapp 40 Grad ansteigen. Nicht weit von einander entfernt waren zwei Menschen sehr dankbar für die Klimaanlagen ihn den Gebäuden, in denen sie arbeiteten. Leider waren ihre Kunden auch heute wieder lieber in Park, Schwimmbad oder gar nicht unterwegs, so dass sie beide sich wieder langweilten.

Tarek, der seine Kollegen sehr mit der Ankündigung verwunderte, er wolle zum Mittag einen Eisbecher essen, ging ins Einkaufszentrum und schlenderte, mit einer Eiswaffel als Tarnung, so unauffällig wie möglich an jedem einzelnen Laden vorbei, immer auf der Suche nach dem Verirrten. Er wusste selbst nicht wieso, aber er wollte ihn unbedingt wiederfinden. Einar war unterdessen damit beschäftigt, eine neue Lieferung auszupacken und verbrachte Tareks gesamte Mittagspause in dem kleinen Lagerraum hinter dem Laden, während seine Kollegin vorne Platz für die Neuheiten schuf. An diesem Tag sollte Tarek ihn erst sehen, als er auf Dan wartend, den Weg zur Haltestelle beobachtete, den Einar lesend bestritt.

Am Abend saß Tarek deprimiert in seinem Zimmer. Seine Eltern wunderten sich, dass er nicht ausging, schließlich war Freitag und er hatte das Wochenende über frei. Doch ihm gingen ganz andere Dinge durch den Kopf. Der Verirrte arbeitete in seiner Nähe, also musste er ihn finden können. Er wusste, wenn er ihn fand, würde alles klarer werden.

Einar hingegen verschwendete an diesem Abend keinen Gedanken an den Grinser und saß bis Mitternacht lesend auf seinem Bett. Er war so in sein Buch vertieft, dass er den lautstarken Streit seiner Nachbarn oder die Sirenen der vorbeifahrenden Feuerwehr gar nicht bemerkte. Und so war er mit diesem Buch auch schon wieder fertig, als er sich bei weit geöffnetem Fenster schlafen legte.
 

Obwohl er frei hatte, obwohl seine Kumpels an den See fuhren um wenigstens für einen Tag der Hitze der Stadt zu entkommen, zog es Tarek wieder zum Einkaufszentrum, wieder schlenderte er durch die klimatisierte Passage, mal mit Eis, mal mit Kaffee als Tarnung. Und wieder konnte er nur hoffen, dass... Er stoppte plötzlich und starrte unverhohlen über die Blumenkästen hinweg in die Buchhandlung auf der anderen Seite des Ganges. Da stand er lächelnd und sprach mit einer älteren Frau. Er zeigte ihr mehrere Bücher, sie lachten und schließlich kaufte sie zwei davon.

Buchladen. Natürlich, dachte Tarek. Deswegen hatte der Verirrte auch immer ein Buch in der Hand, wenn er zum Bus ging. Das war so logisch, dass es Tarek nicht im geringsten wunderte, dass er zu dieser Schlussfolgerung nicht selbst gelangt war.

Nachdem die Frau den Laden verlassen hatte, schaute sich Einar endlich um. Er hatte schon seit ein paar Minuten das Gefühl, beobachtet zu werden, und sah doch nur einen Typen, der auf sein Handy starrte und dabei mitten im Weg stand. Seufzend machte er sich daran, die Bücher, die die Dame nicht genommen hatte, wieder ins Regal zu stellen.

Allerdings hatte er auch später noch das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, auch wenn er nie jemanden sah. Er verließ schließlich den Laden mit einem unguten Gefühl und sah sich auch auf dem Weg zum Bus ständig um, ob er nicht doch jemanden entdeckte. Es war niemand da. Erst als er zu Hause in seiner Wohnung war, fühlte er sich sicherer. Und doch ging ihm dieses Gefühl nicht aus dem Kopf bis er schließlich einschlief.

Tarek hatte sich kurz vor 20 Uhr aus dem Staub gemacht. Je länger er sich in der Nähe des Ladens aufgehalten hatte, desto öfter hatte der Verirrte sich unsicher umgeschaut, als wüsste er, dass jemand immer wieder absichtlich an der Buchhandlung vorbei ging, nur um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Der Verirrte hatte an seinem Arbeitsplatz deutlich entspannter gewirkt als zwei Tage zuvor in der Lampenabteilung. Bei einer Naturdoku würde der Begriff „natürlicher Lebensraum“ fallen, was für einen Menschen eher unangebracht war, aber auf den Verirrten durchaus zutraf. Er lächelte und schien bei seinen Kunden nicht einmal ansatzweise so eingeschüchtert wie im Möbelhaus. Er bewegte sich durch den Laden als wäre er dort aufgewachsen und schien jeden Millimeter zu kennen. Eine Tatsache, die Tarek bewunderte. Selbst er kannte sich nach über einem Jahr noch nicht so gut in seiner Abteilung aus.

Immer noch grübelnd verbrachte Tarek den Sonntag wieder in seinem Zimmer, egal wie oft seine Freunde ihn anriefen oder ihm Nachrichten schickten. Sie fuhren zum See und er fuhr in Gedanken immer wieder zum gestrigen Tag. Gern hätte er den Mut aufgebracht, einfach hin zu gehen und sich dem Verirrten vorzustellen. Er hätte ja unter einem Vorwand in den Laden gehen können. Aber nein, er war zu feige gewesen. Und das, obwohl er das Gefühl hatte, sie könnten sich anfreunden.
 

Am Montag hatte Tarek seinen Vorwand: Seine Mutter hatte ihn gebeten, ein Kochbuch zu besorgen, ein ganz bestimmtes, in dem angeblich vernünftige Kuchenrezepte sein sollten. Doch zu seinem Verdruss war der Verirrte an diesem Tag nicht im Laden, so dass er das Buch bei dessen Kollegin bestellen musste, am nächsten Tag würde er es abholen können.

Einar saß glücklich und zufrieden den halben Tag in seiner Küche und den anderen halben Tag auf seinem Bett und las, wie er es auch am Tag davor getan hatte. Zwischendurch suchte er zwar einmal nach anderer Musik, aber das dauerte auch nur zehn Minuten. Seine Mutter rief am Nachmittag an, um ihm zu sagen, wann das Sofa geliefert würde, und dass er danach bitte zu ihr kommen sollte, um ihr beim Aufbau zu helfen. Er sagte zu und sie erinnerte ihn vorm Auflegen daran, dass er doch bitte ordentlich essen sollte. Etwas, das er mal wieder vollkommen vergessen hatte. Er hatte am Sonntag eine ganze Schüssel Müsli gegessen und am Montag bislang nur Kaffee und Wasser zu sich genommen. Und es war ihm nicht aufgefallen. Seiner Mutter gegenüber beschwerte er sich immer, wenn sie so etwas sagte, aber innerlich wusste er, dass es so besser war. Er würde es an manchen Tagen einfach vergessen. Sie erinnerte ihn auch, dass er öfter ausgehen sollte und nicht nur in seinen Büchern abtauchen. Er verschwieg ihr, dass er sich beobachtet gefühlt hatte und die Abgeschiedenheit seiner eigenen vier Wände heute zumindest allem anderen vorzog. Stattdessen schob er seinen Unwillen, das Haus zu verlassen, auf das Buch, das ihn gerade nicht losließ. Sie glaubte ihm.
 

„Hallo“, grüßte Einar Tarek am nächsten Tag, als der in der Mittagspause die Buchhandlung betrat.

„Hallo“, erwiderte Tarek und ging geradewegs auf den Tresen zu, hinter dem Einar gerade noch in einem Verlagsprogramm geblättert hatte. „Ich hatte ein Buch bestellt und ihre Kollegin sagte, es wäre heute schon da.“

„Ja, auf welchen Namen, bitte?“, fragte Einar und drehte sich schon zu dem Regal mit den Bestellungen.

Tarek nannte seinen Nachnamen und fügte gleich an: „Es ist das große Kochbuch, das dort liegt.“

Nickend nahm Einar das Buch und hielt es Tarek hin. „Wollen Sie nochmal kurz reinschauen?“

„Nein, es ist das richtige“, antwortete er nur und überlegte, wie er ein Gespräch anfangen sollte. Die Umstände würden es hergeben, sie waren allein im Laden. Doch es wollte ihm partout nichts einfallen, was er hätte sagen können. So kam es, dass Tarek nur noch bezahlte und mit dem Buch den Laden verlassen wollte.

„Danke nochmal, für die Rettung letzte Woche“, rief Einar ihm plötzlich hinterher und er sah sich verwundert um.

„Rettung?“, wunderte Tarek sich. Er war zu tief in den eigenen Gedanken gewesen, um Einars Gedankengang folgen zu können.

„Du arbeitest doch in der Lampenabteilung, oder?“, fragte Einar und deutete auf Tareks Shirt, dass seinen Arbeitsplatz nur allzu deutlich betonte.

„Äh... Ja.“

„Dann warst du es auch, der mir letzten Donnerstag geholfen hat, aus eurem Labyrinth zu entkommen. Danke“, lächelte Einar ihn an.

„Also... Labyrinth würde ich jetzt nicht dazu sagen... Du musst einfach nur immer den breiten, grauen Weg und den Pfeilen folgen.“

Einar lachte. „Seid ihr vertraglich dazu verpflichtet, so was zu sagen?“

„Nur solange wir die Arbeitskleidung tragen“, grinste Tarek.

„Schade, dass du sie trägst.“

„In dem Fall würde ich es auch ohne sagen, weil es doch nicht so schwer ist, sich da zurecht zu finden. Ein Weg, der überall hinführt. Ganz einfach.“

Wieder lachte Einar. „Wie der gelbe Ziegelsteinweg, was?“

„Der bitte was?“

„Der gelbe Ziegelsteinweg.“

Tarek blinzelte ihn nur verwirrt an, sein Gehirn wie leer gefegt.

„Kennst du nicht den Zauberer von Oz, seine Smaragdstadt und den gelben Ziegelsteinweg, der zu ihr führt, egal, in welcher Ecke des Landes man sich aufhält?“

Jetzt fiel bei Tarek sichtbar der Groschen. „Ja, klar, das war der Lieblingsfilm meiner Schwester als sie klein war.“

„Den Film habe ich ehrlich gesagt nie gesehen“, gab Einar zu.

„Was? Und das gibst du freiwillig zu?“, meinte sein Gegenüber entsetzt.

„Das Buch habe ich vielleicht zehnmal gelesen, wenn es dich beruhigt“, gab Einar zurück.

„Na gut, das lass ich dann mal zählen“, lächelte Tarek schon wieder. „Außer es gibt noch mehr Filmklassiker, die du nicht kennst.“

„Da wird es einige geben. Ich lese lieber als Filme zu schauen.“

„Von Berufswegen?“

„Nein, schon immer. Seit ich lesen kann. Und vorher habe ich mir halt nur die Bilder angeschaut und meine Mutter lesen lassen. Ständig. Das wirft sie mir heute noch vor.“ Ein schelmisches Grinsen breitete sich auf Einars Gesicht aus.

„Und was ist dein absolutes Lieblingsbuch?“, wollte Tarek wissen.

„Das gibt es nicht. Oder besser gesagt, es wären zu viele, und welches mein Liebling ist, wechselt ein bisschen je nach Stimmung. Im Moment würde ich sagen... 'Siddhartha'. Gelesen?“

„Nein. Ich... schaue lieber Filme...“, gab Tarek kleinlaut zu. Plötzlich kam es ihm so falsch vor, mit dem Verirrten zu reden, und er fühlte sich gerade in diesem Moment so unglaublich dumm. Seine Freunde waren allesamt keine Bücherfreunde, so fiel er nicht auf, aber ab und zu kam ihm schon der Gedanke, dass er mehr lesen sollte als nur Zeitschriften über Filme. Meist verwarf er diesen Gedanken schnell wieder und heute verfluchte er sich dafür.

„Vielleicht sollte ich das auch öfter tun...“, sinnierte unterdessen Einar.

„Ja, ab und an auf jeden Fall“, stimmte Tarek zu.

„War Dienstag nicht immer Kinotag?“, grinste Einar ein wenig.

So kam es, dass die beiden sich für den Abend verabredeten, um gemeinsam ins Kino zu gehen. Bei der anhaltenden Hitzewelle hielt man es im wohltemperierten Kinosaal eh besser aus als in den überhitzten Wohnungen.

Nachdem Tarek Dan hatte stehen lassen und Einar vom Weg auf den Mitarbeiterparkplatz abgebogen war, fuhren sie also zusammen in die Innenstadt. Einar streckte während der Fahrt die Hand aus dem geöffneten Fenster und schloss die Augen.

„Besser als der Bus, oder?“, meinte sein Fahrer lächelnd.

„Ja“, lächelte Einar ihn an. „Bei den meisten Bussen ist mittlerweile die Klimaanlage kaputt. Die halten dem Wetter noch weniger Stand als wir.“

„Und wir haben schon tierische Probleme damit“, grinste Tarek.

Sie lachten beide und bogen in die Tiefgarage des Kinos ab, die angenehm kühl war.

„Vielleicht sollten wir hier unten bleiben“, schlug Einar vor.

Tarek schüttelte den Kopf. „Die Luft ist zu mies. Ich geh lieber hoch und bleibe neben der Popcornmaschine.“

Sie sahen sich an und lachten keine Sekunde später, dann grinsten und schwiegen sie bis sie vor der Kinokasse standen.

„So, wir haben die Wahl...“, meinte Tarek und scannte die Anzeigetafeln.

„Ich habe keine Ahnung, was das alles für Filme sind, such du einen aus“, erwiderte Einar.

Um es Einar etwas leichter zu machen, wählte Tarek etwas aus, für das ihn seine Freunde nur aufgezogen hätten. Es war ein schlichter Arthouse-Film, in dem nichts explodierte und keine Witze unter der Gürtellinie gemacht wurden. Normalerweise schaute er sich so etwas nur an, wenn er allein war, wenn es niemanden gab, der diese Art Film verstanden hätte. Bei Einar war er sich aber sicher, dass er es verstehen würde, dass er diesen Film zu schätzen wusste. Gleichzeitig wunderte er sich, warum es so wichtig für ihn war, dass Einar sich wohlfühlte mit seiner Auswahl, dass er ihn nicht wie andere abstempelte.

Einar dagegen fühlte sich generell fremd in dieser Umgebung. Er war seit Jahren nicht mehr im Kino gewesen und damals auch nur in einem kleinen Programmkino, das es jetzt nicht mehr gab. Nicht wissend, wie er sich verhalten sollte, folgte er einfach Tareks Beispiel und holte sich eine Cola und Popcorn und ging hinter ihm in den Saal, der bis auf sie leer war. Kaum saßen sie, fing auch schon die Werbung an.

„Das hatte ich auch noch nie“, lächelte Tarek als er sich umsah.

„Was?“

„Wir haben den Saal für uns.“

Einar legte den Kopf schief. „Ist das gut oder schlecht?“

„Gut. Keiner, der Lärm macht, keiner, der von hinten an deinen Sitz tritt, keiner, der dumme Kommentare abgibt.“

„Vielleicht fange ich an, dumme Kommentare abzugeben“, sagte Einar nur.

„Dann fliegst du raus“, grinste Tarek und wieder lachten sie gemeinsam.

Am Ende des Films starrte Einar nur auf die dunkle Leinwand und konnte sich nicht rühren. Zu gern wäre er in den Film abgetaucht, in die Bilder, die Musik, zu gern würde er immer hier sitzen und in diesem Film leben. Tarek beobachtete ihn lächelnd von der Seite und stupste ihn an, als ein Kinomitarbeiter rein kam, um aufzuräumen.

„Komm, wir müssen gehen“, lächelte er den verdutzten Einar an.

„Schade“, murmelte der Angesprochene, stand aber auf.

„Schade?“

„Ja, der Film war fantastisch“, lächelte Einar.

Tarek strahlte. „Freut mich, dass er dir gefallen hat. Und wenn du nichts dagegen hast, können wir das ja öfter machen.“

Immer noch lächelnd stimmte Einar zu und sie gingen wieder schweigend in die Tiefgarage.

„Ich bring dich nach Hause. Wo wohnst du?“, meinte Tarek.

Einar nannte ihm die Adresse und sie fuhren los.

Die Fenster weit geöffnet, saß Einar später wieder im Dunkeln, aber diesmal ohne Film, ohne jemanden neben sich, ohne Popcorn. So schön der Abend auch war, so merkwürdig war er für ihn. Es hatte sich einfach zu sehr nach einem Date angefühlt, und das wollte er verhindern. Nicht, dass er etwas gegen Dates mit Männern gehabt hätte, ganz im Gegenteil, aber 1. wusste er nicht, wie Tarek zu Schwulen stand, und 2. war der Anfang seiner letzten, katastrophalen Beziehung auch ein Abend im Kino gewesen. Seine ganze Hoffnung konzentrierte er jetzt darauf, mit Tarek einfach nur befreundet zu sein. Denn genau das hatte er in den letzten anderthalb Jahren am schmerzlichsten vermisst: einen Freund.

Tarek grübelte ebenfalls. Auch ihm war die Ähnlichkeit des Abends mit einem Date aufgefallen, und genau das beschäftigte ihn. Wenn er mal mit nur einem Freund etwas unternahm, fühlte es sich nie so an, nicht einmal, wenn sie ins Kino oder essen gingen. Bis jetzt war ihm noch nie in den Sinn gekommen, dass sich ein Abend mit einem Mann so anfühlen könnte. Bis jetzt war er sich zu 100 Prozent sicher, dass er nur auf Frauen stand.
 

Die nächsten Tage wagte es keiner der beiden in den Laden des anderen zu gehen. Einar hatte immer seine Siddhartha-Ausgabe dabei, um sie Tarek geben zu können, sollte der vorbei kommen, aber er kam nicht vorbei, und auch auf dem Parkplatz entdeckte er abends das kleine, rostrote Auto, das der andere fuhr, nicht. Natürlich hätte Einar locker in die Lampenabteilung gehen können, aber die Angst, sich wieder zu verlaufen und sich wieder zum Deppen zu machen, war zu groß, also wartete er.

Tarek zog sich dagegen komplett zurück. Er nahm Dan nicht mehr mit, aß allein in der Kantine und redete abends kein Wort mit seiner Familie. Zu verwirrt war von sich selbst. Und erst langsam begann er, sich über sein eigenes Verhalten zu wundern. Warum hatte er Einar an der Treppe beobachtet? Warum hatte er ihn unbedingt finden wollen? Warum wollte er mit ihm sprechen?

Ja, da war das Gefühl gewesen, dass sie sich gut verstehen würden, Freunde werden konnten, aber eigentlich hatte er genug Freunde, bei denen er manchmal schon Probleme hatte, alle unter einen Hut zu bringen und keinen vor den Kopf zu stoßen. Was war mit ihm los?


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, das habt ihr nun davon.
Bald geht's weiter. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Sakiko_Seihikaru
2017-03-04T12:13:38+00:00 04.03.2017 13:13
Die beiden sind putzig und ich bin sehr gespannt darauf, die es weiter geht ^^
Es ist erstaunlich, was dein Hirn aus einem simplen Versprecher kreieren kann.
Weiter so!
Antwort von:  NaokoSato
12.03.2017 22:04
Danke ^^
Von:  das_Diddy
2017-02-19T22:46:43+00:00 19.02.2017 23:46
Putzig. ^^
Zum einen vermisste ich orientierende Angaben zum Aussehen und Alter der Figuren. Einiges ist recht vage gehalten.
Doch andererseits lässt es mehr Freiraum zum selber denken.
Bin erstmal gespannt wie's weitergeht. ^^
Antwort von:  NaokoSato
19.02.2017 23:57
Danke ^^
Dass diese Angaben fehlen lag einfach daran, dass es sich noch nicht ergeben hat... Wenn es beim Schreiben nicht passt, dann passt es nicht.


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