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Leuchten

von

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Durchleuchten

Etwas nervös sah Tarek immer wieder zur Tür des japanischen Restaurants, in dem sie auf Einars Mutter warteten.

„Das macht sie ständig...“, murrte hingegen Einar neben ihm.

„Was?“

„Zu spät kommen. Jedes Mal, verdammt.“ Frustriert ließ Einar seinen Kopf auf Tareks Schulter fallen. „Ich frag mich, wie sie das in ihrem Job macht.“

„Was macht sie denn beruflich?“, fragte Tarek neugierig.

„Sie ist Maklerin“, seufzte Einar und sah zur Tür, die sich gerade öffnete.

Herein kam eine kleine, dunkelblonde Frau, deren Gesichtszüge denen ihres Sohnes ähnelten, aber um einiges sanfter und weiblicher waren. Sie sah aus, als käme sie gerade von einem Geschäftstermin.

„Entschuldigt, Jungs. Ich hatte noch eine Besichtigung, die sich unnötig hingezogen hat. Musstet ihr sehr lange warten?“, begrüßte sie Einar und Tarek in einem Atemzug.

„Hallo Mama“, lächelte Einar nachsichtig und stand auf, um sie zu umarmen. Er war einen Kopf größer als sie und hielt sie für ein paar Sekunden ganz fest.

„Mein Junge“, lächelte sie ihn danach an und wand sich an Tarek, der ebenfalls aufgestanden war.

„Hallo, ich bin Tarek“, lächelte er und reichte ihr seine Hand, die sie schüttelte.

„Petra, hallo. Du hast also meinen Sohn davon abgehalten, sich zu melden“, stellte sie ernst fest, schaffte es allerdings nicht, diese Maskerade aufrecht zu halten und lächelte schnell wieder.

„Mama!“

„Ja, schon gut, ich bin ja nett.“

Einar sah skeptisch zu ihr, dann lächelte er auch wieder. „Es ist einiges passiert...“

„Ihr zwei seid zusammen und schon ist Tarek bei dir eingezogen.“ Sie sagte das ohne jegliche Wertung in Stimme oder Mimik, doch Einar wusste, dass ihr das so gar nicht gefiel.

„Ganz so war es nicht“, meinte Tarek.

„Ach nein?“

„Tarek und ich, wir haben uns getroffen, als ich dein doofes Sofa ausmessen sollte. Wir waren im Kino, und haben stundenlang in einer Bar geredet. Dinge, die man halt tut, wenn man dabei ist, sich anzufreunden. Allerdings hat Tareks Vater da etwas missverstanden...“

„Und was?“, hackte Einars Mutter nach.

„Ich...“, begann Tarek, doch Einar unterbrach ihn.

„Wir haben uns geküsst. Tarek war neugierig, wie es ist einen Mann zu küssen und wir haben uns geküsst. Kurz, aber leider lange genug.“

„Neugier?“, fragte sie und sah Tarek an.

„Neugier“, bestätige der nur.

„Und was hat dein Vater mit Neugier zu tun?“

Tarek seufzte. „Mit Neugier hat er wenig am Hut, aber er hat uns gesehen, im Park, wie wir uns geküsst haben. Und als ich abends nach Hause kam, hat er mich verprügelt. Er hält reichlich wenig von Homosexualität, wenn ich das anmerken darf.“

„Er konnte abhauen und ist zu mir gekommen.“

„Woher kannte er deine Adresse?“, fragte Petra streng.

„Ich habe ihn am Abend zuvor mit zu mir genommen. Seine Eltern sind streng, was Alkoholkonsum angeht, und da habe ich ihn mitgenommen. An einen Ort, an dem wir weiter reden konnten und er keinen Ärger bekommt.“ Einar wirkte auf Tarek plötzlich sehr angespannt, aber ihm fiel nichts ein, womit er die Situation hätte entschärfen können, also schwieg er.

„Du weißt, dass es gefährlich ist.“

„Ja, natürlich weiß ich das. Ich denke jeden Tag daran. Ich kann mich aber nicht mein ganzes Leben lang vor ihm verstecken. Ich will mein Leben leben. Wenn ich das nicht tue, hat er gewonnen. Er wollte mich am liebsten einsperren, und jetzt willst du es. Und ich verstehe, warum du das willst. Sehr gut sogar, aber er darf nicht gewinnen. Er darf nicht so viel Macht über mein Leben ausüben, dass ich keins mehr habe. Und wenn das bedeutet, auch mal leichtsinnig zu sein, Hals über Kopf Entscheidungen zu treffen, dann lass mich das tun. Lass mich scheitern, lass mich siegen. Lass mich siegen über die Angst, die er mir eingepflanzt hat.“

Sie sah ihren Sohn lange an, dann nickte sie schließlich. „Du hast Recht.“

„Ich weiß. Jedenfalls kann Tarek nicht mehr zurück.“

„Ach nein?“

Tarek sah sie an. „Nein. Er hat mir die übelsten Beleidigungen an den Kopf geworfen, aber auch, dass er keinen mehr Sohn hat. Und das während er auf mich eintrat. Ich fürchte, wenn wir uns wieder sehen, bringt einer den anderen um.“

Petra schüttelte den Kopf.

„Deswegen ist Tarek bei mir sicherer als sonst irgendwo. Und deswegen habe ich ihn mit in den Urlaub genommen. Damit wir beide rauskommen. Abschalten. Erholen. Durchatmen. Und na ja... in den paar Tagen ist es halt passiert, dass wir wirklich zusammen gekommen sind.“

„Und wie geht es weiter?“

Einar sah zu Tarek. „Wir holen Tareks restlichen Kram aus der Wohnung seiner Eltern und sehen weiter.“

„Ist es denn sicher, in diese Wohnung zurück zu gehen?“, fragte Petra.

„Meine Eltern fliegen am Dienstag morgen nach Tunesien und bleiben mindestens eine Woche, weil der Sohn meines Onkels heiratet. Sie sind also nicht da. Meine kleine Schwester hilft uns und ich habe ein Auto für den Transport. Alles kein Problem.“

Sie sah Tarek skeptisch an. „Deine kleine Schwester?“

„Ja, sie ist anders als meine Eltern. Moderner, wenn man das so ausdrücken will. Ich vertraue ihr.“

„Hast du sonst noch jemandem, dem du vertraust?“, wollte Petra wissen.

Tarek überlegte kurz. „Zwei, vielleicht drei Freunde, die nicht homophob sind, in meiner Familie gibt es nur Yasmin.“

Einar, der seine Lippen bei jedem Wort beobachtet hatte, senkte den Blick. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, was Tarek alles verloren hatte, weil sie zusammen waren. Weil er sich in Tareks Leben verlaufen hatte. Weil er existierte.

„Bist du denn schwul?“, fragte Einars Mutter direkt.

Verlegen wich Tarek ihrem Blick aus, während er unter dem Tisch nach Einars Hand griff. „Nein, aber das ändert nichts daran, dass ich in Einar verliebt bin. Um ehrlich zu sein, habe ich mir über das Label noch nie Gedanken gemacht. Ich wollte nie einen Mann küssen bevor ich Einar getroffen habe. Ich habe nie auch nur den Gedanken gehabt, dass ich mich in einen Mann verlieben könnte. Und dennoch war ich schon immer der Meinung, dass es vollkommen egal ist, welches Geschlecht der andere hat, solange man sich liebt.“

„Deine Eltern haben dir das aber nicht beigebracht“, stellte Petra trocken fest.

„Nein, aber die mussten immer arbeiten, so dass das Fernsehen und Zeitschriften mir das beigebracht haben. Und dann hatte ich Lehrer, die diese Meinung vertraten. In meiner Familie wird so was eigentlich gern tot geschwiegen. Selbst die normale Aufklärung über Sex haben bei mir die Schule und die Medien übernommen.“ Tareks Finger verschränkten sich derweil fest mit Einars, der ihn noch nicht wieder direkt ansehen konnte.

„Verstehe“, sagte sie nur.

„Können wir das Verhör bitte beenden?“, murrte Einar leise. Er fühlte sich sichtlich unwohl und drückte Tareks Hand fest.

„Eine Frage habe ich noch“, warf Petra ein. „Tarek, wie wird das funktionieren? Einar ist Christ, du Moslem...“

Tarek sah sie kalt an. „Sie denken also, ich bin Muslim? Was genau verleitet Sie zu dieser Annahme?“

„Tarek...“, flüsterte Einar leise.

Seine Mutter suchte nach Worten.

„Klar, meine Familie kommt aus Tunesien und ich heiße Tarek. Vorurteile lauern überall, nicht wahr? Zu Ihrer Information: Seit ich ungefähr dreizehn, vierzehn war, bin ich Atheist. Aus Überzeugung. Nur weil meine Eltern und meine Schwester Muslime sind, um mal nebenbei Vorurteile zu bestätigen, heißt das nicht, dass ich auch einer bin.“

„Es... es tut mir leid“, meinte Petra kleinlaut.

Einar ließ frustriert Tareks Hand los und sah von beiden weg. So hatte das nicht laufen sollen, ganz und gar nicht.

„Wollen wir dann bestellen?“, fragte seine Mutter nach einer Weile unangenehmen Schweigens.

„Mir ist der Appetit vergangen. Danke dafür.“ Einar sah beide finster an, sein Blick bleib auf seiner Mutter haften. „Und du weißt, wie gern ich Japanisch esse.“

„Jetzt sei doch nicht so“, meinte seine Mutter nur.

„Okay“, sagte Tarek zeitgleich. „Aber isst du wenigstens ein paar Bissen, wenn ich mir was bestelle?“

Einar sah ihn überrascht an.

„Nur ein paar, damit du überhaupt etwas isst und wir uns keine Sorgen um dich machen müssen“, bat er Einar mit einem leichten Lächeln.

Fasziniert beobachtete Petra, wie ihr Sohn langsam nickte. Dieser junge Mann hatte eine ganz andere Wirkung auf Einar als sie oder sein Ex. Bei beiden hätte Einar einfach noch geschmollt, doch bei Tarek kam die Sorge in seiner Stimme aus ganzem Herzen und das schien auch Einar zu spüren. Vielleicht sollte sie ihre Meinung noch einmal überdenken...

Tarek lächelte ihn an und flüsterte ein leises Danke in sein Ohr, dann küsste er dieses kurz.

„Aber bestell ja kein Ramen“, flüsterte Einar zurück. „Das kann man nicht teilen.“

„Ich habe bislang nur Sushi gegessen. Anderes japanisches Essen kenne ich noch nicht“, gab Tarek zu.

„Dann lass mich dir helfen“, lächelte Einar, schlug die Karte auf und fing an, Tarek die einzelnen Gerichte zu erklären.

Auf der anderen Seite des Tisches war Petra weiterhin sehr fasziniert und beobachtete die beiden aus den Augenwinkeln heraus während sie sich etwas aussuchte.

Am Ende hatten sie wenig geredet, aber Einar hatte Tareks halbe Portion gegessen und lehnte an ihm.

„Wir sollten gehen“, sagte Tarek leise.

„Warum?“, murmelte Einar.

„Weil du fast einschläfst, Liebling“, antwortete Petra lächelnd. Sie hatte sich das Verhalten der beiden genau angesehen und war zu dem Schluss gekommen, dass ihr Sohn fürs Erste sicher war. Diese Erkenntnis hatte auch ihre Einstellung zu Tarek selbst etwas geändert, den sie nicht mehr von Grund auf ablehnte. Aber sie würde ihn beobachten, soviel war sicher.

„Und was ist mit Dessert?“, wollte Einar wissen.

„Wir holen uns auf dem Weg Eis“, schlug Tarek vor. „Wie klingt das?“

„Sehr gut“, grinste Einar und schien wieder etwas wacher zu werden.

Petra winkte den Kellner herbei und bestellte die Rechnung. Als diese kam, lächelte Einar sie an.

„Danke, Mama“, sagte er sanft.

„Vielen Dank“, meinte auch Tarek.

Sie lächelte die beiden an. „Euer Eis müsst ihr aber selbst zahlen.“

Lachend stand Einar auf und umarmte sie. „Ich hab dich lieb“, flüsterte er ihr zu.

„Ich hab dich auch lieb“, flüsterte sie zurück. „Und jetzt haut ab, sonst bekommt ihr kein Eis mehr.“

Nach der Verabschiedung gingen Tarek und Einar zur letzten offenen Eisdiele in der Innenstadt und holten sich jeder drei Kugeln Eis.

„Schön, dass dein Appetit doch noch zurück gekommen ist“, meinte Tarek leise.

Einar nickte. „Sie will dich testen.“

„Dachte ich mir.“

„Sie hat Angst, dass du mir weh tust, dass es wieder so wird wie bei ihm.“

„Und das verstehe ich, aber...“

„Aber so was wie die Frage mit der Religion ist scheiße“, seufzte Einar.

„Ja.“

„Sie tut immer ziemlich weltoffen. Sie hatte auch nie ein Problem damit, dass ich schwul bin, aber ich fürchte, in anderer Hinsicht ist sie nicht so offen...“

Tarek sah ihn von der Seite an. „Und du?“

Einar stoppte plötzlich. „Was denkst du? Ich bin mit dir zusammen. Und einige von den One Night Stands in meiner wilden Phase waren bei weitem nicht so blass wie du.“

„Also...“

„Ich bin nicht meine Mutter, ich denke auch nicht wie sie. Es ist mir vollkommen egal, welche Hautfarbe, welche Religion oder welchen Pass jemand hat, solange er kein Arschloch ist. Und selbst dann wäre er hauptsächlich ein Arschloch.“

Tarek nickte. „Ja, dem kann ich zustimmen. Und falls du die Info brauchst, ich habe einen deutschen Pass. Noch etwas, was meinem Vater an meinem Leben nicht gefällt.“

„Ihm gefällt es nicht, dass du dich hast einbürgern lassen?“

„Nein. Aber scheiß drauf. Er hat damals von Tradition und Familie geredet. Ich habe ihn gefragt, warum ich Bürger eines Landes sein soll, das ich kaum kenne und in dem ich nicht lebe, aber ich in dem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, nicht mitbestimmen darf. Das hat sich meiner Logik komplett entzogen, tut es immer noch.“

„Was hat er gesagt?“, wollte Einar wissen.

„Nichts. Er hat sich abgewandt und aufgehört zu diskutieren. Wahrscheinlich, weil er wusste, dass ich Recht habe. Es ist mir auch egal, was andere machen, ich mache es so.“

„Du trittst Vorurteile gerne mit Füßen, was?“, stellte Einar grinsend fest.

„Mit Vorliebe und viel Kraft“, grinste Tarek zurück. „Und jetzt lass uns endlich nach Hause gehen.“

Einar nickte, sie gingen weiter und Tarek nahm im Gehen Einars Hand. Ein bisschen überraschte das Einar, aber er ließ es gerne zu. Im Urlaub waren sie auch für alle sichtbar Hand in Hand gegangen, hatten sich geküsst, doch dort kannte sie keiner. Dort waren sie sicher vor Exfreunden und Vätern gewesen. Zurück in der Realität wollte Einar Tarek die Wahl überlassen, wo und wie er ihre Beziehung zeigen wollte, schließlich war diese Art von Beziehung für Tarek und alle in seiner Umgebung neu. Umso mehr freute er sich, dass Tarek offenbar die Wahl getroffen hatte, aus ihrer Beziehung kein Geheimnis zu machen. Nachdenklich wanderte sein Blick zu den verschlungenen Händen zwischen ihnen.

„Mir egal, wer es sieht. Wenn mich jemand mit dir an meiner Seite nicht akzeptieren kann, dann war ich ihm auch früher eigentlich egal“, meinte Tarek als er Einars Blick bemerkte.

„Bist du sicher?“, fragte Einar leise zurück.

„Ja, ganz sicher.“ Tarek lächelte ihn an.

Einar lächelte leicht zurück. Wieder musste er an alles denken, was Tarek verloren hatte oder verlieren würde, wegen ihm. Jedes Familienmitglied, jeden Freund, der sich von ihm abwendete, bereute Einar als hätte er sie persönlich aus Tareks Leben gejagt. Am liebsten hätte er sich auf der Stelle bei Tarek dafür entschuldigt, er wartete aber bis sie wieder in der Wohnung waren.

„Es tut mir leid“, murmelte er nur und Tarek sah ihn komplett verwirrt an.

„Was?“ Er hatte gerade die letzten beiden Flaschen Bier aus dem Kühlschrank geholt und hielt eine hoch. „Willst du doch nicht?“

„Doch, es ist etwas anderes“, gab Einar zu und bedeutete Tarek, sich ihm gegenüber aufs Bett zu setzen.

„Leg los“, forderte Tarek als er saß. In seiner Stimme und seinen Augen konnte Einar Anspannung erkennen. Eine Anspannung, deren Ursache Angst war.

„Es tut mir leid, was alles meinetwegen passiert ist. Du hast deine Eltern verloren, außer Yasmin wahrscheinlich deine ganze Familie. Dein Zuhause, einen Großteil deiner Freunde, dein Leben. Es tut mir leid.“

Tarek sah ihn verwundert an, dann nahm er seine Hand. „Du hast also vergessen, dass ich dich zuerst geküsst habe. Und ich wollte es tun, was auch immer die Konsequenzen wären. Ich wollte dich küssen und alles andere war egal. Ja, in dem Moment habe ich eher damit gerechnet, dass du mich verprügeln willst, aber es war allein meine Entscheidung.“

„Aber wenn ich nicht in dein Leben gestolpert wäre...“

Tarek lächelte ihn an. „Ja, du bist in mein Leben gestolpert und hast es in wenigen Tagen auf den Kopf gestellt, auf eine Art und Weise, die ich mir nie erträumt hätte. Aber ich bin hier. Ich hätte schon lange gehen können. Ich hätte zu anderen Freunden laufen können an dem Abend. Ich hätte die Stadt verlassen und irgendwo ein neues Leben anfangen können. Und doch bin ich hier. Was sagt dir das?“

„Du hast mir längst verziehen?“

„Ich habe dich nie verantwortlich gemacht. Ich bin froh, dass du in mein Leben gestolpert bist, war es schon vor dem Kuss. Also bitte, mach dir keine Vorwürfe.“

Zögerlich nickte Einar. Selbst wenn Tarek ihm nicht die Schuld gab, so würde es wohl noch eine Weile dauern, bis auch Einar selbst soweit war.

„Alles ist gut“, flüsterte Tarek und zog Einar in seine Arme. Er ahnte, dass Einar nicht so schnell zu überzeugen war, allerdings würde er sein bestes dafür tun. Damals hatte er Einar geküsst, weil er es wollte. Er hatte eher mit einer Ablehnung durch Einar gerechnet, als mit dem tatsächlichen Ergebnis, dennoch hatte er seiner Neugier stattgegeben und es getan. Bereute er es? Nein.

„Ist es das?“, fragte Einar leise neben Tareks Ohr.

„Auch wenn es nicht einfach ist, habe ich noch nie etwas weniger bereut als diesen Kuss.“

Einar fuhr erschrocken zurück und sah ihn an. „Hast du nicht?“

„Nein.“ Tarek lächelte und küsste Einar kurz. „Und jetzt lass uns endlich das Bier trinken und sinnlose Youtube-Videos anschauen.“

„Na gut“, gab Einar lächelnd nach und holte seinen Laptop vom Schreibtisch.
 

Nachdem sie erst gegen zwei aufgehört hatten, sinnlose Youtube-Videos zu schauen und ins Bett gegangen waren, klingelte Einars Wecker schon um Acht wieder.

„Was ist los?“, murrte Tarek und vergrub sein Gesicht im Kissen.

„Schlaf weiter. Ich habe einen Arzttermin“, erklärte Einar und stand auf. Tareks Antwort wurde komplett vom Kissen geschluckt.

Später spürte Tarek nicht, wie Einar sich nochmal zu ihm beugte und ihn auf die Wange küsste, oder wie er ihm leise „Bis später“ ins Ohr flüsterte. Ohne sich von irgendetwas beirren zu lassen, schlief Tarek weiter. Der Tag wurde wieder richtig heiß, ein Krankenwagen fuhr mit eingeschalteter Sirene am offenen Fenster vorbei, ein paar Kinder stritten sich laut auf dem Bürgersteig, eines fing an zu weinen. Tarek schlief.

Erst das leise Summen einer Fliege ließ ihn am frühen Nachmittag aufschrecken. Die Fliege war schnell wieder aus dem Fenster geflogen, allerdings wunderte Tarek sich nun, wo Einar war. An das kurze Gespräch von Morgen erinnerte er sich nicht, und am Vorabend hatte Einar vollkommen vergessen, seinen Termin zu erwähnen, so dass Tarek jetzt nur mit den Schultern zucken konnte und zuerst einmal Kaffee machte. Er kam zu dem Schluss, dass dieser Wohnung eindeutig eine Einrichtung zum Herstellen eines vernünftigen Espresso fehlte.

Eine Stunde, zwei Tassen Kaffee und eine Dusche später kam Einar wieder, in der Hand ein Beutel mit Obst und Gemüse, und mit deutlich weniger Haaren auf dem Kopf.

„Du warst beim Friseur?“, murmelte Tarek nach dem Begrüßungskuss.

„Ja“, lächelte Einar. „Was meinst du?“

Tarek fuhr mit der Hand über die jetzt kurzen Seiten und über den kurzen Hinterkopf zu den verbliebenen Locken oben. Sein Blick glitt von den Haaren über die Brille nach unten zu den Shorts und weiter zu dem Stoffbeutel, den Einar auf den Küchentisch gestellt hatte. „Ich bin mit einem Hipster zusammen“, stellte er trocken fest.

Einar lachte. „Ist das gut oder schlecht?“

„Du hast Glück, dass du ein sehr netter und intelligenter und nicht veganer Hipster bist“, meinte Tarek nur.

Zuckersüß lächelte Einar ihn an. „Zum Vollhipster fehlt mir eh noch der Bart, aber den steuerst du ja gerade bei.“

Tarek, der sich nur zwei Tage nicht rasiert hatte, lächelte. „Ist das gut oder schlecht?“

„Du hast Glück, dass du einen sehr schönen Bart hast und ich schönen Bärten nicht abgeneigt bin.“

„Ich muss mich nie wieder rasieren“, grinste Tarek.

„Schauen wir mal.“ Einar küsste lachend Tareks Kinn.

„Wo warst du eigentlich?“, fragte Tarek und holte das Obst aus dem Beutel.

„Beim Arzt, hab ich doch heute morgen gesagt“, antwortete Einar. „Tut mir leid, dass ich das gestern vergessen hatte. Und als ich meinen Wecker gestellt habe, hast du schon geschlafen.“

„Du hast heute morgen mit mir geredet?“, wunderte Tarek sich.

„Ja, aber du warst offenbar nicht wach“, lächelte Einar.

„Wach? Nee, war ich nicht. Und eigentlich wollte ich nur wissen, wo du das Grünzeug gekauft hast...“

„Im Bioladen an der Ecke. Die sind ganz gut da“, lächelte Einar.

„Bio... Doch Vollhipster.“

„Nur in Kombination mit deinem Bart.“

Ohne ein weiteres Wort hielt Tarek ihm eine der mitgebrachten Kirschen vor den Mund.

„Wir müssen noch einkaufen. Wirklich was zu essen haben wir ja nicht da“, sagte Einar kauend.

„Was brauchen wir?“, erwiderte Tarek und nahm voller Tatendrang den Magnetnotizblock vom Kühlschrank.
 

„Sie sind in der Luft. Melde dich. Y.“

Diese Nachricht zeigte Tarek Einar am nächsten Tag gegen Mittag, während sie einfach nur in der Hitze vor sich hin schmorten und Musik hörten.

„Was bedeutet das?“, fragte Einar träge.

„Ich kann meinen Kram holen.“ Tarek stand direkt auf.

„Du willst bei der Hitze hin?“

„Ja.“

Einar sah zu Tarek auf, dann auf die Hand, die der andere ihm hinhielt. Wortlos ließ er sich aufhelfen. Wortlos tippte Tarek eine Antwort an seine Schwester. Wortlos gingen sie los, mit zwei leeren Koffern und einigen Taschen. Wortlos fuhren sie durch die Stadt und standen dann vor dem Betonklotz, den Tarek bis vor Kurzem Zuhause nannte. Sie sahen sich nur kurz an und nickten bevor Tarek klingelte.

Yasmin wartete schon in der offenen Wohnungstür als der Fahrstuhl sich öffnete, und sofort fiel sie Tarek um den Hals. „Es tut mir leid, ich konnte nichts machen“, flüsterte sie ihm zu.

„Wie? Wo konntest du nichts machen?“, wunderte Tarek sich und sah sie ernst an.

Sie zögerte, konnte es letztendlich doch nicht sagen und zog ihn nur in die Wohnung, vor seine Zimmertür.

„Was ist passiert, Yasmin?“, fragte Tarek alarmiert.

„Sie es dir selbst an...“, flüsterte sie während Einar die Wohnungstür hinter sich zu zog.

Vorsichtig öffnete Tarek die Tür, auf der in kindgerechten Holzbuchstaben sein Name stand. Was er hinter der Tür fand, ließ ihn stoppen, und für einen Moment dachte er, sein Herz würde aufhören zu schlagen. Aber es schlug weiter, es wurde sogar wieder schneller. Und es schmerzte.

Einar sah fragend zwischen den beiden Geschwistern hin und her, da sich ihm das Ausmaß erst zeigte, als Tarek sich wieder bewegen konnte und er einen Schritt in Richtung des Berges machte, der einmal sein Leben gewesen war.

In der Mitte des Raumes lag Tareks komplette Filmsammlung, jede DVD, jede BluRay, die er besaß, jeder Soundtrack, jedes Poster, und alles war zerstört. Keine Disk war noch in einem Stück, die Poster glichen Puzzles.

Jede Zelle in Tareks Körper schrie so laut sie konnte, und doch wirkte er nach außen erschreckend ruhig. Einzig in seinen Augen konnten Einar und Yasmin den Schmerz erkennen, den er fühlte. Er sackte auf den Boden und kramte in dem Haufen Müll.

„Wann ist das passiert?“, fragte er leise.

„Er muss es gestern Abend gemacht haben. Ich war bei meinem Freund und bin erst wieder hier gewesen, als sie gerade aufgebrochen sind. Und als Mama mir schrieb, dass sie im Flieger sitzen und gleich abfliegen, habe ich dir geschrieben. Erst danach war ich wieder hier drinnen. Solange Papa hier war, durfte keiner dein Zimmer betreten. Ich habe gestern Vormittag aber mal kurz reingeschaut, da war noch alles in Ordnung.“ Yasmin kniete sich neben ihren Bruder und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Es ist okay“, flüsterte er nur und stand wieder auf. „Ich nehme einfach den Rest meiner Klamotten mit.“ Er holte Sachen aus dem Schrank und stopfte sie in einen Koffer. Wären die Winterpullover und Jacken nicht gewesen, hätte wirklich alles in einen Koffer gepasst, so waren am Ende zwei Koffer und eine kleine Tasche mit seinen Klamotten und Schuhen gefüllt, hinzu kamen noch einige Unterlagen, ein alter Teddy und ein Laptop.

„Hast du meine Fotoalben gesehen?“, fragte Tarek schließlich seine Schwester.

„Hab sie versteckt einem Tag nachdem er ausgerastet ist. Ich dachte, er würde die zuerst auf den Müll werfen.“ Sie verließ das Zimmer.

Einar hatte ihm die ganze Zeit schweigend zugesehen, da Tarek jede Hilfe abgelehnt hatte. Er hätte auch nicht gewusst, was er hätte tun oder sagen können, um es Tarek einfacher zu machen, um ihn zu trösten.

„Es ist okay“, flüsterte Tarek wieder als er Einars hilfloses Gesicht sah.

Ist es das wirklich, wollte Einar fragen, doch er konnte nicht. Er kannte die Antwort sowieso schon. Nein.

„Hier.“ Yasmin kam wieder und reichte Tarek einen Stapel Fotoalben. „Ich habe auch ein paar von unseren Kinderfotos aus dem Familienalbum geklaut und reingelegt. Nur du und ich sind da drauf.“

„Danke“, murmelte Tarek und packte die Alben in eine weitere Tasche, dann umarmte er Yasmin fest. „Danke für alles.“

Sie nickte nur und konnte ihn kaum ansehen. Sichtbar kämpfte sie mit den Tränen.

„Melde dich, Kleine, ja? Wir werden uns sehen. Du verlierst deinen Bruder nicht“, versicherte Tarek ihr und küsste sie auf die Stirn. „Ich liebe dich.“

Er nahm einen Koffer und wollte auch die beiden Taschen nehmen, aber Einar war schneller. Auch er verabschiedete sich von Yasmin, die ihnen noch die Tür aufhielt, immer noch gegen die Tränen kämpfend.

Nachdem sie das Gepäck in Tareks Kleinwagen verstaut hatten, drückte Tarek Einar nur den Schlüssel in die Hand. Einar verstand und fuhr.

Sie schleppten Tareks Sachen wieder schweigend nach oben und ließen sie erst einmal im Flur stehen. Auspacken konnte man später. Jetzt ging Tarek einfach ins Wohnzimmer, stellte sich auf die Matratze, die ihr Bett war, und sah mit leeren Augen aus dem Fenster.

„Kann ich irgendwas für dich tun?“, fragte Einar leise als er neben ihn trat.

Tarek schüttelte den Kopf.

„Es tut mir so leid“, flüsterte Einar und griff nach Tareks Hand.

Der Moment, in dem sich ihre Hände berührten, war der Moment, in dem bei Tarek die Schutzschilde versagten. Die Tränen liefen und seine Beine gaben nach. Heulend saß er auf dem Bett und Einar drückte ihn fest an sich. Er wusste, dass es nichts gab, worauf Tarek so stolz war wie auf seine Filmsammlung. So wie Einar ohne Bücher nicht überleben würde, könnte Tarek nie ohne Filme leben. Und er wusste auch, dass es gegen Tareks Schmerz keine Worte gab, und so war das einzige, was er geben konnte, Halt.



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