Zum Inhalt der Seite

Sweet memories

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kai schaute desinteressiert aus der regennassen Fensterscheibe, während sein Lehrer etwas von Zielkonflikten in der Volkswirtschaft herunterleierte. Auf der Tafel waren zwei Stichpunkte rot hervorgehoben, die sich laut dem magischen Sechseck, gegenseitig den Weg zum Utopia versagten. In jedem der anderen Ecken stand ein weiteres Ziel, dass für gewöhnlich auch verfolgt wurde. Das wirklich „magische“ an der ganzen Sache war, dass es unmöglich für einen Staat war, alle Ziele gleichzeitig unter einen Hut zu bekommen. Umweltschutz ließ sich beispielsweise kaum mit Wirtschaftswachstum in Einklang bringen, denn die teuren Vorkehrungen hierfür, hinderten Firmen daran, mehr Gelder in die Entwicklung und Forschung ihrer eigenen Produkte zu investieren. Oder mit den Worten seines Lehrers: „Irgendjemand wird immer was zu Motzen haben.“

Einfache Logik. Nichts was Kai nicht schon wusste…

Er hatte keine Ahnung warum seine Mitschüler damit ein Problem hatten.

Sein gelangweilter Blick huschte hinab zu dem aufgeklappten Buch auf der Tischplatte. Über all diese Selbstverständlichkeiten gab es dutzende dicke Wälzer, farbenfrohe Diagramme und Beispiele, die er ohne viel Mühe begriff. Die Denkweise der Wirtschaft wurde ihm schon von klein auf von seinem Großvater eingeprägt. Immerhin sollte Kai dessen Unternehmen erben.

Was ihm dagegen Mal jemand hätte erklären sollen, war, dass sich solche Konflikte auch im alltäglichen Leben fanden. Beispielswese konnte man nicht Erwachsen werden, ohne über den Faktor Gefühle zu stolpern. Etwas dem er als Junge leichtfertig aus dem Weg ging. Allein das Wort ließ ihn noch vor wenigen Jahren verächtlich die Nase rümpfen, hatte sich aber letztendlich zu seinem größten Schwachpunkt entwickelt - und das ohne dass Kai es wirklich registrierte. Gefühle waren heimtückisch…

Sie schlichen sich heimlich ins Herz, nur um einen ganz unauffällig ein Bein zu stellen und so auf den harten Boden der Realität zu befördern. Die Stunde davor hatten sie eine Buchbesprechung gehabt. Sie interpretierten ausgerechnet die psychologischen Schlüsse von Peter Pan. Das Original von James Matthew Barrie, nicht die kitschige Disney Auflage. Als Kai den Titel zum ersten Mal las, dachte er, seine Lehrerin habe nicht mehr alle Tassen im Schrank. Nachdem er das Buch aber zuhause überflog, beneidete er diesen kleinen, albernen Kobold in Strumpfhosen. Es musste schön sein, sich nicht mit erwachsenen Gefühlen abzuplagen, sich um keinen außer sich selbst zu kümmern und jeglichen Verpflichtungen leichtfertig aus dem Weg zu gehen. Nicht umsonst wurde diesem Jungen ein eigenes Syndrom gewidmet. Kinder waren in vielerlei Hinsicht egoistisch veranlagt. Sie kannten nur ihre eigenen Bedürfnisse.

Bevor er seine Freunde kennenlernte, war er wohl auf seine Art auch so gewesen. Kai dachte tatsächlich, dass dieser Blödsinn mit der Liebe an ihm vorbeiziehen würde, dass er niemandem, außer sich selbst etwas schuldig sei – aber vor allem das er in fünf Jahren derselbe Mensch sein würde wie damals. Stattdessen hatten seine Freunde einen festen Platz in seinem Leben eingenommen, weiteren Einfluss auf ihn gewonnen, gleichzeitig hatte ihn aber die damalige Verweigerung gegen sämtliche Empfindungen, in den letzten Jahren unbeholfen gemacht. Beispielsweise konnte er nicht sonderlich gut mit offener Sympathie umgehen und Liebe war ohnehin ein Buch mit Sieben Siegeln für ihn. Er hinkte seinen Freunden in dieser Sache nach.

Kai seufzte leise in sich hinein, fuhr müde mit der Handfläche über die Augen.

Letzte Nacht hatte er nicht viel Schlaf abbekommen. Der Grund dafür war einfach…

Er hatte Sex gehabt. Sogar ziemlich guten. Leider aber mit einem Mann. Und um dem ganzen Elend noch die Kirsche aufzusetzen, war sein Herzkönig auch noch sein früherer Kontrahent. Takao Kinomiya…

Oder Tyson wie er von allen gerufen wurde.

Ausgerechnet mit diesem frechen, ungehobelten Mistkerl hatte er etwas am Laufen. Seinem ärgsten Rivalen, den Kai in keiner Weltmeisterschaft hatte schlagen können. Nicht einmal in seinem letzten Jahr, als er aus der Bladerbranche ausstieg, um sich seinem Studium zu widmen. Ätzend…

Genau dieser Gedanke führte ihn auch wieder zu dem Thema Konflikte.

Auf der einen Seite nagte es an seinem Stolz, dass ausgerechnet sein früherer Rivale ihn so verführen konnte. Es war irgendwie demütigend, auch beängstigend, weil Tyson diese Sehnsüchte in ihm weckte – seine verwirrenden Vorlieben hervorbrachte.

Wissen war eine Form von Macht.

Wenn Tyson wollte, könnte er ihm böse mitspielen, indem er ihre gemeinsamen Nächte herumposaunte, vor allem wenn man bedachte, wie gerne Kai ihn früher mit gehässigen Sprüchen stichelte. Kinder konnten gemein sein, vor allem Jungs. Kai war da keine Ausnahme gewesen. Manchmal befürchtete er, dass Tyson ihm sein früheres Verhalten heimzahlte, genau in jenem Moment, indem er es am wenigstens erwartete. Durch seine Gefühle zu ihm kam er sich so hilflos und ausgeliefert vor.

Einmal hatte Kai ihm diese Unsicherheit offenbart. Das war sehr ungewohnt für ihn sich diese Machtlosigkeit einzugestehen. Tyson hatte ihm aber nur in die Augen geschaut, irgendwann bedauernd gelächelt und ihm versichert, dass das niemals passieren würde.

„Du hast einfach ein Vertrauensproblem. Das kriegen wir schon hin…“

Dann hatte er ihn geküsst. In dieser Sekunde starben sämtliche Zweifel. Tyson war sehr umsichtig mit ihm. Er spürte seine Furcht sich einem Menschen hinzugeben - die Scham darüber, dass er nicht die Kontrolle über seinen Körper hatte, weil er auf jede Liebkosung mit einem heißeren Stöhnen reagierte. Wenn sie des Nachts zusammen lagen, dauerte es eine Weile, bis Kai seine Verkrampftheit lösen konnte. Tyson war jedoch gut darin Menschen aufzulockern. Das war seine Begabung.

Und wenn Kai das behauptete, dann musste es so sein!

Er sprach immerhin aus eigener Erfahrung. Mit Händen und Füßen hatte er sich gegen dessen Freundschaft gewährt, aber mit den Jahren, hatte ihn dieser Kerl mürbe bekommen. Er versicherte Kai mit neckenden Küssen, dass er ihm vertrauen könne, ihre gemeinsamen Nächte nur sie beide etwas anging. Womit er also bei der Kehrseite dieser Beziehung angelangt war.

Kai liebte Tysons Art. Er liebte ihn.

Und es tat so gut bei ihm zu sein - sich von ihm verwöhnen zu lassen.

Tyson war verspielt, leichtsinnig, zu ihren Anfängen vielleicht noch etwas unsicher - weil sie beide nie zuvor mit einem Mann geschlafen, ja, noch nicht einmal eine richtige Beziehung hatten - aber er lernte rasch, einfach dadurch, dass er sich gerne auf etwas Neues einließ. Er war experimentierfreudiger, sah das Positive an der neuen Situation – das sie zwei Menschen waren die sich gegenseitig Zuneigung schenkten.

Für ihn war das Glas stets voll. Er war ein Optimist. Alles was Kai nicht war…

Er haderte noch immer mit seinem Stolz, obwohl sie jetzt fast ein Jahr etwas am Laufen hatten. Ein Jahr voll von heimlichen, hemmungslosen Nächten, in denen Kai am nächsten Morgen immer mit dem Gefühl nachhause ging, total verrückt zu sein, sich für die vorangegangene Nacht sogar schämte – für jedes erregte Stöhnen, was aus seiner Kehle gekommen war. Warum musste Sex auch so viel Spaß machen?

Weshalb standen Kopf und Herz dabei immer im Zwiespalt?

Tyson ging so viel offener mit seinen Empfindungen um, etwas was Kai nie gelernt hatte. Als sie zum ersten Mal mehr Zeit miteinander verbrachten, spürte er zwar, dass ihm dessen Gegenwart zusagte, konnte aber noch nicht einmal definieren, woran das lag.

Woher auch? Kai war zuvor nie verliebt gewesen.

Tyson dagegen begriff schneller. Seine emotionale Art kam ihm hier zu Gute. Er hörte auf sein Herz. Etwas das Kai ausblendete, stattdessen versuchte er diese Veränderung an sich selbst, mit seiner Logik zu begreifen und wurde nur noch verwirrter, weil sein Kopf kein guter Ratgeber dafür war. An Liebe hatte er damals keinen Gedanken verschwendet. Bis diese eine Nacht kam, die seine Gefühlswelt komplett aus dem Ruder laufen ließ.
 

Ein schrilles Klingeln kündigte den Unterrichtsschluss an. Kai bemerkte dass er kaum zugehört hatte. Seit er diese heimliche Beziehung mit Tyson führte, wurde er zunehmend nachlässiger. Das nagte an ihm, denn sein Großvater kontrollierte seinen Notendurchschnitt.

Außerdem steckte er auch hohe Ziele an sich selbst. Tyson war aber ein Risikofaktor geworden, weil er ihn ständig ablenkte.

„Nur für eine Stunde…“, hieß es immer bei ihm. Er lockte ihn gerne so von seinem Studium weg, vor allem da er wusste, wie gerne Kai im Kinomiya Anwesen verweilte. Er hätte ihm niemals sagen dürfen, dass er sein Heim als so viel angenehmer, als das Hiwatari Anwesen empfand. Kai hatte schon mehrmals daran gedacht, die Beziehung zu beenden, bevor herauskam, dass er homosexuell war. Es wäre der denkbar schlechteste Start in seine zukünftige Karriere. Doch sobald er mit Tyson zusammenlag, sie sich küssten, neckten und ihre nackten Leiber eng umschlungen ihre Stöße ausführten, war dieser Gedanke dahin. Dann war Kais Körper erfüllt von der Liebe, die er für Tyson empfand, hielt an ihm fest, wie ein Ertrinkender. Er wusste, wenn er Schluss machen sollte, wäre sein Leben grau.

Früher hätte er damit umgehen können. Heute war Kai nicht mehr gefühlstaub genug dafür.

Er biss sich prompt auf die Unterlippe bei dieser Überlegung.

Warum wollte der Blechmann vom Zauberer von Oz ein Herz?

Diese Dinger machten einen nur wahnsinnig!

Kai nahm das Buch vom Tisch, um es in seiner Tasche zu verstauen, als er im Inneren des Beutels das Blinken auf seinem Smartphone sah. Er hatte eine Nachricht. Nur wenigen gab er seine Nummer – und nur einer meldete sich ungeniert während der Unterrichtszeit. Kai schielte zur offenen Tür, beobachtete wie der Lehrer hindurch verschwand. Erst dann zog er sein Smartphone unauffällig heraus und las die Nachricht.

„Heute Nacht?“

Ein Prickeln jagte über seinen Rücken. Er wusste genau was das bedeutete. Unschlüssig blickte er aus dem Fenster. Der wolkenverhangene Himmel ließ sein Spiegelbild deutlicher hervortreten. Das kam ihm so bekannt vor. Mit einer Einladung hatte überhaupt erst ihre Beziehung begonnen…
 


 

*
 

„Also, nur damit ich das richtig verstehe... Heute Mittag hast du dir noch ein erbittertes Match gegen den kleinen Pimpf geliefert - dass du zu allem Übel auch noch verloren hast - und jetzt stehen wir hier, vor dieser prähistorischen Bruchbude - was der arme Junge auch noch sein Zuhause schimpft - und sollen mit ihm einen Becher zu seinem Geburtstag heben?!“

Kai schnalzte erbost mit der Zunge, während die Gruppe den geschlängelten Kiesweg, zum Eingang des Dojos entlanglief. Es war noch nicht dunkel. Die Tage waren wieder länger und der Garten lag in voller Blüte. Der Duft von Hibiskus stieg ihm in die Nase. Tyson hatte wirklich Glück, was seinen Geburtstag betraf. Er konnte immer bei schönstem Wetter feiern.

„Das ist keine prähistorische Bruchbude, Tala. Es heißt Dojo! Die kommen in Japan häufig vor und sind Teil der hiesigen Kultur.“

„Sag ich doch – prähistorisch.“

„Du bist ziemlich voreingenommen.“

„Ich bin angepisst! Das war die fünfte Weltmeisterschaft und schon wieder haben wir nicht den Titel heimgeholt! Sollte das heute Mittag dein Geburtstagsgeschenk für ihn sein?!“

„Ich habe wenigstens eine Runde gegen ihn gewonnen – du gar keine!“

„Ganz schön frech, kleiner Mann.“

Kai wollte gerade die Treppe zur Veranda aufsteigen, als er sich Tala noch einmal mit finsterem Blick zuwandte. Der grinste ihn an und zuckte herausfordernd mit den Brauen auf und ab. Die letzten zwei Jahre waren seine restlichen Teammitglieder noch weiter in die Höhe geschossen - vor allem Spencer. Der war ein muskelbepackter Schrank geworden, mit einem breiten, bulligen Nacken, wie ein Stier. Doch Kai wurde auf ziemlich gehässige Art nachgesagt, dass seine japanische Hälfte ihn am Wachstum hinderte. Oder auch das Lügen kurze Beine hatten und er wohl gerne flunkerte. Als er seine düstere Miene sah, kniff Tala ihm genüsslich in die Backe und höhnte: „Unser Nesthäkchen ist böse geworden. Ist er nicht putzig wenn er so schaut?“

Von Spencer und Brian kam ein Wiehern.

„Hör auf mit der Scheiße!“

„Schon gut. Muss ich eigentlich lange bleiben? Ich will mir nicht den ganzen Abend von Kinomiya anhören müssen, dass er einen Rekord aufgestellt hat.“

„Ich habe euch nicht gebeten mitzukommen!“

„Aber du gehst hin! Das sieht aus als wäre der Rest von uns ein Haufen schlechter Verlierer.“

„Ihr seid mitgekommen weil es freien Alkohol gibt…“

„Man wird doch wohl auch seine Vorteile daraus ziehen dürfen? Übrigens, hat Kinomiya was von Wodka gesagt oder kriegen wir nur diesen Reisweinscheiß vorgesetzt?“

Spencer öffnete empörte den Mund. Diese Möglichkeit hatte er wohl nicht in Betracht gezogen, als er sich bereiterklärte mitzukommen.

„Wenn es da drinnen keinen Wodka gibt lauf ich Amok!“, stellte er prompt klar.

Kai fauchte genervt, verdrehte die Augen. Seine Teammitglieder waren der Inbegriff des russischen Klischees. Er wandte sich ihnen zu, hob mahnend den Finger.

„Ich stelle jetzt einige Regeln auf. Du…“, er deutete auf Tala. „Keine Rassenwitze und bösartige Sprüche mehr! Ehrlich, was stimmt nicht mit dir? Du…“, er deutete auf Spencer. „Keine Amokläufe! Aber vor allem kein Alkohol für dich – du willst doch nicht das bisschen Hirn verlieren, was dir noch geblieben ist? Und du Brian… Halt einfach weiterhin die Schnauze. Nein! Mach den Mund erst gar nicht so entrüstet auf! Wir wissen beide, dass du der Schlimmste von allen bist!“

Ein beleidigtes „Oooch“ folgte, was Kai geflissentlich überging.

„Ihr müsst euch da drinnen nicht von eurer schlechtesten Seite zeigen. Ich wäre lieber ohne euch gekommen, wisst ihr das eigentlich?“

„Warum kommst du überhaupt zu seinem Geburtstag? Er ist dein Rivale!“

„Das hat etwas mit Respekt unter Sportlern zu tun.“

Aber eigentlich hatte es damit zu tun, dass Tyson ihm gedroht hatte.

Kai war nach ihrem Match gerade auf dem Weg zu den Umkleidekabinen gewesen, um sich nach seiner enttäuschenden Niederlage zu duschen, da schlitterte der auch schon aus einem anderen Flur heraus und deutete herausfordernd auf ihn. Es machte den Eindruck, als wollte Tyson ihn abpassen und tatsächlich wurde Kai gleich darauf, mit einer Geburtstagseinladung überrumpelt. Er musste ungläubig lachen und fragte ihn, ob der eigentlich noch alle Tassen beisammen hatte, da prophezeite der düster, dass er Kai höchstpersönlich an seinem Schal zum Dojo zerren würde, wenn er es wagen sollte, seine Einladung - unter Spiegelung falscher Tatsachen - auszuschlagen.

„Wir sind jetzt lange genug befreundet! Ich will dich dabei haben, also keine faulen Ausreden! Hast du das verstanden, du eingebildetes Arsch?!“

Kai hatte hochmütig mit den Augen gerollt und wollte ohne eine Antwort an Tyson vorbei, in die Umkleidekabine stolzieren. Da packte der die Enden seines Schals und zog herzhaft daran, dass es ihm schier die Luft abschnürte.

„Ich schwör dir, ich zerre so lange daran, bis dir die Birne wegfliegt!“

Offenbar war sein Markenzeichen in den falschen Händen eine Mordwaffe…

Aber es machte Kai immerhin deutlich, wie sehr Tyson sich wünschte, ihn dieses Jahr einmal dabei zu haben - wenn auch nicht ganz gewaltfrei. Sonst hatte er sich immer gut vor derlei Verpflichtungen drücken können, nur leider fiel Tysons Geburtstag dieses Mal wieder auf das Finale. Das klang vielleicht wie ein verrückter Zufall, war aber gar nicht so unwahrscheinlich, denn weil Mr. Dickinson die Turniere nur während der großen Sommerferien veranstalten konnte, um die Teilnehmer nicht zu lange von ihren schulischen Verpflichtungen wegzureißen, fand das fünfte Finale wieder im August statt. Der BBA Vorsitzende bekam die Halle aber erst später von der Stadtverwaltung, weil sie zuvor schon für eine Messe reserviert war, also hatte Tyson wieder das Glück, als Geburtstagsgeschenk mit einem Sieg gegen ihn in der Tasche nachhause zu gehen. Irgendwie war es wie verhext. Wenn sie Privat ein Match abhielten, konnte er Tyson einige Male in die Knie zwingen, doch sobald es um den Pokal ging, wurde der Junge unbezwingbar. Als Ray ihm nach seinem verpatzten Match traf, hatte der eine düstere Miene aufgesetzt und fragte Kai zu allem Überfluss, ob er Lampenfieber habe.

„Ehrlich, Junge. Was stimmt nicht mit dir? Jedes Mal im Finale verlierst du gegen ihn! Da kann ich mir ja gleich die Wiederholung vom letzten Jahr anschauen.“

Ray klang ungewöhnlich grantig. So langsam wollte wohl jeder Tyson mal abtreten sehen, vor allem weil er mit jedem weiteren Sieg überheblicher wurde. Stattdessen stellte der blöde Bengel auch noch einen Rekord auf.

Fünfmaliger Weltmeister - das war doch wohl ein schlechter Scherz?

„Herzlichen Dank. Das schmiert er uns nun das ganze nächste Jahr aufs Brot.“, murrte Ray noch. Als hätte Kai das mit Absicht gemacht…

Er hasste es zu verlieren! Vor allem gegen Tyson. Nicht weil er ihn hasste, mittlerweile gab Kai gerne hinter hervorgehaltener Hand zu, dass er einer seiner engsten Freunde war, sondern weil dieser Mistkerl ihm seinen Sieg auch noch unter die Nase rieb.

Scheiß Augustkind…

Immerhin konnte Kai behaupten sein Bestes gegeben zu haben. Mit diesem Gedanken – und einem mahnenden Blick zu seinen Teammitgliedern – klopfte er gegen die Tür, um sein Eintreten anzukündigen. Noch bevor er Gelegenheit fand, sie zur Seite zu schieben, tat das jemand auf der anderen Seite.

„Na, wer hat sich da endlich Mal entschlossen, ein guter Verlierer zu sein?“

Kai schnalzte erbost mit der Zunge, während ihm Tala einen Blick zuwarf, der Bänder sprach.

„Hab’s dir gesagt…“, brummte er. Noch bevor der Satz beendet war, verpasste Kai ihm einen Ellbogenhieb gegen die Rippe, der sich gewaschen hatte. Dann hob er das Kinn, ignorierte das feixende Gesicht vor sich und antwortete: „Ich halte meine Versprechen, Kinomiya.“

„Deshalb habe ich dich auch gezwungen, mir eines zu geben. Und sei nicht wieder so förmlich! Du kennst meinen Vornamen.“, Tyson tat einen Schritt zur Seite um die Gruppe einzulassen. Er beklagte sich nicht einmal darüber, dass Kai noch mehr Besucher mitgebracht hatte. Wahrscheinlich störte es ihn auch wirklich nicht. Das war eben Tyson. Er war ungezwungen durch und durch. Ehrlich gesagt mochte Kai das auch an ihm. „Hereinspaziert mit den russischen Panzern.“

Da kein Vorwurf kam, sprach Tala spitzfindig: „Da sagst du jetzt nichts, hä?“

„Du lässt Schlimmeres vom Stapel…“, blockte Kai prompt.

Er zwängte sich an Tyson vorbei und wurde von lauten Feierwütigen im Raum begrüßt. Darunter auch Ray und Max, die ebenfalls ihre Teams mitgebracht hatten, allerdings schien sich jedes Mitglied allmählich auf dem geräumigen Grundstück zu verstreuen. Schon auf dem Weg zum Dojo war ihnen Rick aufgefallen, der missmutig die Hand zum Gruß hob, nur um Michael lautstark zu fragen, wo denn in diesem riesigen Gebäude das „Scheißhaus“ sei.

Die ehemaligen Bladebreakers gluckten inzwischen wieder zusammen. Es war eigenartig, doch wann immer solche privaten Veranstaltungen stattfanden, endete es damit, dass sich dieselben Gruppen bildeten, ungeachtet dessen, dass sie alle in verschiedenen Teams spielten. Neben Max saß Hilary. Sie strahlte in seine Richtung und klopfte auf eine Tatami Matte, die wohl offenbar für ihn freigehalten worden war.

Und nachdem Tyson die restlichen Blitzkriegboys begrüßt hatte – und ihnen auch gleich darauf erklären musste wo der Alkohol stand – warf er den Arm um Kai und lenkte ihn zielsicher zu seinem alten Team, ganz so, als gehöre er für heute Abend allein ihm.
 

„Und, war das jetzt so schlimm?“

Tyson nahm neben ihm auf der Veranda Platz, wohin sich Kai zurückgezogen hatte, um etwas Ruhe vor dem Lärm drinnen zu haben. Dabei reichte er ihm eine kleine Flasche mit Alkohol, von der er kurz zuvor den Deckel abklemmte. Er hatte wirklich an alles gedacht. Bier für die Amerikaner, Wodka für die Russen, so einen komischen Schnaps namens Báijiǔ für die Chinesen – nur um überrascht festzustellen, dass nun alle wild durch das Sortiment nippten, Hauptsache sie hatten etwas Hochprozentiges in der Hand. Die jugendliche Neugierde ließ sie über den Tellerrand schauen. Und ausgerechnet der grobe Klotz Rick wollte Sekt mit Orangensaft, was Tyson eigentlich für die Frauen besorgt hatte.

So viel zu Klischees…

Zu Anfang beäugten sich alle Parteien argwöhnisch, doch mit steigendem Promillewert, vermischten sich die Gruppen immer weiter. Mittlerweile brachte Tala den „scheiß Amis“ bei, wie man ein Kartenspiel namens Durak spielte, was übersetzt so viel wie Dummkopf bedeutete. Er schien seinen Spaß zu haben, vor allem weil er gerne die Regeln zu seinen Gunsten umwandelte und sich hinterher ins Fäustchen lachte, weil allgemeine Verwirrung am Tisch herrschte. So lange die anderen Beteiligten nichts merkten, würde Kai auch nicht einschreiten - dass Spiel hieß ja nicht umsonst Dummkopf.

„Es ist besser als erwartet.“, gab er inzwischen zu und nahm einen Schluck aus der Flasche. Tyson schmunzelte, wahrscheinlich weil er wieder dachte, wie gerne Kai sich doch mit Lob zurückhielt. Das wurde ihm gerne vorgeworfen.

„Hilfe! Du erdrückst mich mit deinen Komplimenten…“

Gleich darauf streckte sich Tyson genüsslich und ließ die Beine über die hohe Holzveranda baumeln. Der Lärm der Meute, vermischt mit der Musik, schallte dumpf hinaus.

Sie waren unter sich. Das kam in den letzten Jahren öfters vor.

Treffpunkt Veranda bei Nacht…

Kais Mundwinkel zuckten amüsiert auf Tysons Sarkasmus. Es war tatsächlich ein schöner Abend geworden. Zwar ein wenig chaotisch, doch das war typisch für dieses Haus. Seine Augen huschten über den Hof, den nur noch das Mondlicht erhellte. Kai mochte das Kinomiya Anwesen, vor allem des Nachts. Es strahlte dann so etwas Friedliches aus und das Alter des Gebäudes vermittelte etwas von Erhabenheit. Als könne selbst ein Erdbeben dieses Haus nicht von einer Landkarte radieren. Tyson hatte ihm einmal erklärt, dass allein das Hauptgebäude über zweihundertfünfzig Jahre alt war. Sein Urgroßvater hatte irgendwann den Dojo nebenan hochgezogen, weil die Samurai nach und nach ausstarben und er die alte Kampfkunst des Kendos, bei sich zu Hause weitervermitteln wollte, damit sie nicht ebenfalls in Vergessenheit geriet.

Tysons Urgroßvater war tatsächlich ein Samurai gewesen.

Diesen Gedanken bekam Kai nicht aus dem Kopf. Ausgerechnet der aufbrausende Kinomiya entstammte von einem Samurai Geschlecht ab. Eine unglaubliche Vorstellung. Dieses Haus musste schon so viele Generationen hervorgebracht haben. Das beeindruckte Kai immer wieder aufs Neue, auch wenn er es niemals laut aussprechen würde, vor allem nicht vor dem eingebildeten Pfau neben sich.

„Sag mal, sind die Gerüchte eigentlich wahr?“, fragte Tyson auf einmal. Es ließ Kai schwer seufzen. Deshalb sollte er also kommen. Seine Augen schlossen sich wissend. Es war furchtbar wie schnell sich Gerüchte in ihrer Szene verbreiteten.

„Du hast es also schon gehört?“

„Ja… Und? Willst du wirklich aufhören?“

Er klang so traurig. Sie kannten sich nun fünf Jahre und Kai wusste, dass diese Trübsinnigkeit nicht geheuchelt war. Tyson war noch nie in der Lage seine Stimmung zu verbergen. Ein tiefer Atemzug entrang sich seiner Kehle.

„Es ist wahr.“, sprach Kai schließlich. „Ich wollte es euch eigentlich anders beibringen. Irgendwann wenn wir unter uns sind.“

„Vorhin hättest du die Gelegenheit gehabt.“

„Doch nicht wenn die anderen Teams da sind. Das geht die nichts an…“

„Hörst du auf weil du wieder verloren hast?“

„Natürlich nicht!“, grollte Kai verärgert. „Wenn ich so missgünstig wäre, hätte ich schon nach unserem ersten Match vor fünf Jahren das Handtuch geworfen.“

Er wollte die Flasche an seine Lippen setzen, als ihn Tysons nächste Worte überrascht in der Bewegung inne hielten ließen.

„Warum dann? Du bist so wahnsinnig talentiert! Meine härtesten Kämpfe hatte ich immer nur mit dir! Also wie kannst du das alles einfach so aufgeben?!“

Er blieb wie er war, blinzelte irritiert über diesen stürmischen Vortrag. Den hatte Kai jetzt nicht kommen sehen. Tyson fokussierte ihn regelrecht, seine Brauen waren tief zusammengezogen. Er hätte nicht erwartet, dass ihn sein Ausstieg so verärgerte, eher das Gegenteil. Einen Konkurrenten weniger bei den Turnieren zu wissen, sollte ihn doch eigentlich erfreuen. Seine Verblüffung konnte Kai nicht verbergen.

„Warum wirst du wütend?“

„Weil du mir damit alles kaputt machst!“

„Dir?“

„Ja genau. Mir!“, Tyson zog die Beine zusammen, setzte sich im Schneidersitz hin und verschränkte die Arme. Dann schloss er mit einem verbissenen Ausdruck die Augen, als müsse er gründlich über ein ernsthaftes Problem sinnieren. „Hör mal, Kai. Ich weiß nicht, was dir wieder für eine Laus über die Leber gelaufen ist – aber dein Ausstieg geht gar nicht. Das kannst du mal schnell vergessen!“

„Ha!“, ein ungläubiges Lachen war seine Antwort. Das wäre ja noch schöner. Kinomiya wollte ihm vorschreiben, wann er aufhören durfte. „Du bist der Letzte dessen Erlaubnis ich brauche! Von wem weißt du überhaupt davon?“

„Mein Informant möchte nicht genannt werden, aber ich kann dir so viel sagen - er ist bebrillt, wohlgenährt, etwas in die Jahre gekommen, und leider nur mit schütterem Haar unter der Melone ausgestattet.“

Kai schnaubte verärgert.

„Dickinson ist so ein Waschweib!“

„Was hast du erwartet? Mit deiner Ansage hast du seine Glatze ganz schön ins Schwitzen gebracht. Er ist förmlich auf einer Schweißspur zu mir gerutscht und hat mich angefleht, dir diese Flause aus dem Kopf zu jagen!“

„Er ist nur so nervös, weil er seit letztem Jahr Eintritt verlangt. Der alte Herr mag zwar nett sein, aber er ist auch ein Geschäftsmann. Wenn er den Leuten kein spannendes Match bieten kann, kommen weniger Zuschauer - das heißt für ihn Einbußen.“

„Ein Grund mehr das du nicht aufhörst! Wie soll dann das Finale in Zukunft aussehen? Soll ich nur noch gegen Amateure bladen?“

„Sprich lieber nicht so laut. Hinter dieser Tür sind einige Leute, die dir für diese Worte gehörig eine auf die Klappe geben würden.“

Ein genervtes Stöhnen war die Antwort.

„So war das nicht gemeint…“

„Wie dann?“

Tyson überlegte gründlich, bevor er antwortete. Seine Hand wanderte zu seiner eigenen Flasche. Erst nach einem ausgiebigen Schluck sprach er: „Das Finale ist einfach immer unser Ding gewesen.“

Kai blinzelte verständnislos, hob fragend eine Braue. Da fuhr Tyson auch schon fort: „Es war für mich einfach der perfekte Abschluss einer Weltmeisterschaft. Die Vorrunden haben mir Max und Ray schwer gemacht. Du dafür das Finale. Man konnte sich nie sicher sein, ob man wirklich weiterkommt, weil es auf jeder Ebene einen Boss gab, der es noch einmal spannender machte. Wenn man dann auch noch gewonnen hat, war der Sieg noch besser, weil man wusste, dass man einen harten Gegner geschlagen hat. Aber wenn du jetzt wegfällst, verliert das Ganze seinen Reiz! Das ist als würde ich Super Mario ohne Bowser spielen. Da kann ich ja gleich Schaukeln gehen…“

Vielleicht war es der Alkohol – aber Tysons Vergleich ließ Kai ein Lachen unterdrücken, bis es letztendlich doch aus ihm herausbrach. Seine Vorstellung dass ihr Leben wie ein Konsolenspiel war, kam ihm einfach so albern vor. Tyson klappte dagegen fassungslos die Kinnlade hinunter.

„Jahrelang gehst du zum Lachen in den Keller - und jetzt das?!“

„Was erwartest du von mir? Du vergleichst uns mit einem Nintendo Spiel!“, japste Kai. Er warf einen prüfenden Blick über seine Schulter, um auch wirklich sicher zu stellen, dass niemand ihn so sah, denn er musste sich heftig auf die Unterlippe beißen, um nicht lauter zu werden. Glücklicherweise hatte Tyson die Tür hinter sich zugeschoben, bevor er sich dazu setzte und die bunte Truppe dort drinnen, war ohnehin mit sich selbst beschäftigt.

„Nimm das gefälligst ernst!“

„Ich versuche es…“, er räusperte sich, um mehr schlecht als recht, seine Haltung zu bewahren. Da bahnte sich jedoch ein weiterer Lachanfall an. Tyson ließ sein plumper Versuch nur grantiger werden.

„Weißt du, ich habe neulich den Film Ralf reicht‘s angeschaut. Und mittlerweile kann ich verstehen, warum der kleine blaue Kerl mit dem Hammer angepisst war, als Ralf sich vom Acker gemacht hat!“

„Was?“, hielt Kai inne, nun restlos verwirrt. „Wer zur Hölle ist Ralf?“

„Okay, ich sehe schon… Du gehst nicht oft ins Kino. Na egal. Ich will einfach nur darauf hinaus, dass du einen riesen Fehler machst. Lass das mit dem Ausstieg! Ist das klar?“

„Ich kann dir das nicht versprechen.“, lachte Kai kopfschüttelnd. Da stellte Tyson die Flasche geräuschvoll auf den Boden und rutschte auf dem Hosenboden in seine Richtung. Ihn beschlich die Vermutung, dass sein Gegenüber heute mehr getrunken hatte, als er sollte. Ein solches Drama um diese Nichtigkeit, konnte niemand machen, der bei klarem Verstand war.

„Ich meine das ernst! Ich will nicht das du aufhörst!“

„Das ist nicht deine Entscheidung!“, betonte Kai ebenfalls.

„Soll ich etwa hier sitzen und dir zuschauen, wie du dein Talent auf den Müll wirfst? Du bist wohl total übergeschnappt!“

Man könnte wirklich meinem es sei ihm ernst…

Tyson verzog keine Miene. So kannte man ihn nicht. Kai sah ihn lange aus den Augenwinkeln heraus argwöhnisch an. Schließlich seufzte er, stellte seine Flasche ebenfalls neben sich ab, zog die Beine an und drehte sich auch zu ihm um, damit sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber saßen.

„Ich werde dir jetzt etwas erklären. Etwas was dir anscheinend nicht ganz klar ist – aber was auch an dir irgendwann nicht vorbeiziehen wird, Tyson.“, er sprach ihn bewusst beim Vornamen an, denn das sollte keine Unterhaltung, von Rivale zu Rivale werden. Sondern von Freund zu Freund. Sie beide wussten, dass dieser feine Unterschied ausmachte, ob sie eine private oder turnierbezogene Unterredung führten. „Wir beide sind vielleicht Blader, aber die Wahrheit ist, dass man an dieser Sache kaum etwas verdient. Mr. Dickinson verteilt keine Preisgelder für die Gewinner. Das weißt du genau. Es gibt einen hübschen Pokal für den ersten Platz, einen Urkunde samt Titel – und das war es auch schon. Bladen ist für uns zwar das Leben, aber du darfst nicht vergessen, dass es dich nicht satt macht.“

„Ist das das Problem? Brauchst du Geld? Hat dein Großvater wieder damit gedroht dir den Geldhahn zuzudrehen?“, sprudelten die Fragen hervor. „Kai, du kannst bei mir wohnen! Das letzte Mal als du Probleme mit ihm hattest, bist du auch bei mir untergekommen. Lass dir das nicht von ihm mies machen!“

Eine unschöne Erinnerung…

Sein Großvater wollte ihn letztes Jahr wieder auf ein Internat im Ausland schicken und drohte damit, Kai aus dem Haus zu werfen, wenn er sich nicht seinem Willen beugte. Es war das erste Mal gewesen, das er Tyson um Hilfe bitten musste, denn bevor Voltaire die Drohung wahr machte, riss Kai auf eigene Faust aus. Zu einer unverschämt späten Zeit läutete er an der Tür des Kinomiya Anwesen und das bei winterlichen Temperaturen draußen. Es war sein letzter Ausweg gewesen, um der Kälte zu entkommen, vor allem weil er Hals über Kopf, ohne Geldbörse aus dem Haus gestürmt war. Sein Zorn hatte ihn übermannt. Er hatte bei seinem Aufbruch nicht logisch gedacht. Es fühlte sich demütigend an, bei den Kinomiyas um eine Bleibe zu bitten, doch Tyson hatte dieses Gefühl gar nicht erst weiter aufkommen lassen. Er stellte keine Fragen in jener Nacht, ließ ihn ohne Kommentar ein, wofür Kai auch mehr als dankbar war, denn er wollte nur noch schlafen. Weil er so verfroren ausschaute, bot ihm Tyson sogar sein eigenes, vorgewärmtes Bett an, damit seine Lippen endlich wieder mal etwas Farbe bekamen.

Das fand Kai doch irgendwie… aufmerksam.

Tyson selbst legte sich später auf die Couch im Wohnzimmer. Er meinte er könne überall schlafen, selbst wenn es ein Holzfass sei. Die darauffolgenden Tage richtete er ihm dann die Futons im Dojo, wo sie gemeinsam übernachteten. Es dauerte eine ganze Woche, bis Voltaire nachgab und nach ihm suchen ließ, denn die Sturheit lag in seiner Familie im Blut. Er konnte wohl auch nicht fassen, dass sein Enkel wirklich irgendwo Obdach fand, denn sein alter Herr legte viel Wert darauf, ihn von jeglichen freundschaftlichen Beziehungen fern zu halten. Es fühlte sich an als lebe man in einem vergoldeten Käfig.

Mit den Jahren fühlte sich Kai immer mehr eingezwängt…

Dennoch ließ Tyson ihn nicht merken, dass er jemandem eine Last sein könnte. Und er bekam Zeit, um aus ihm mehr, über die Hintergründe seines Erscheinens heraus zu kitzeln.

Sie saßen damals auf dem blank polierten Holzboden des Dojos, Seite an Seite an die Wand gelehnt, während Kai zögerlich von dem Streit berichtete. Es war mitten in der Nacht gewesen. Sie mussten flüstern weil Mr. Kinomiya bereits schlief.

„Danke Tyson…“, es war das erste Mal das er sich während der ganze Zeit bei ihm erkenntlich zeigte. „Ich weiß zu schätzen was du hier tust.“

„Bedank dich niemals bei mir für so etwas.“, er hatte nach seiner Hand gegriffen und sie fest gedrückt. „Du bist mein Freund! Ich lasse dich nicht im Stich.“

Es war auch das erste Mal gewesen, dass Kai die Vorzüge einer Freundschaft wirklich schätzen lernte. Einen sicheren Rückzugsort zu haben, zu wissen, dass es jemanden gab, der seine Türen freiwillig für ihn öffnete - das tat gut.

Es gab ihm das Gefühl, nicht gänzlich dem Willen seines Großvaters ausgeliefert zu sein.

Auch wenn es seltsam war, bei jemandem zu wohnen, der im nächsten Turnier sein härtester Kontrahent werden würde. Davon war aber nichts zu spüren. Stattdessen hatten sie die Tage genutzt, um zusammen zu trainieren oder um Tysons Mathekünste auf Vordermann zu bringen, weil der noch nicht einmal einen Zirkel richtig halten konnte. Er fuchtelte damit herum, als wolle er sich die Augen ausstechen, manchmal benutzte er die Bleistiftspitze auch, um sich hinter dem Ohr zu kratzen – bis er einmal die falsche Seite erwischte.

Bei dieser Erinnerung musste Kai kurz schmunzeln. Der Anblick war ziemlich unschön gewesen. Tyson hatte sich mit der scharfen Spitze angeritzt und jaulte damals wie ein geprügelter Hund. Es blutete auch ziemlich und weil er die Wunde nicht sehen konnte, musste Kai ihm zur Hand gehen. Er hatte mit einem nassen Lappen hinter dessen Ohr herumgetupft und ihm versichert, dass er von diesem winzigen Kratzer sicherlich nicht sterben würde.

„Du musst einfach besser aufpassen. Ein Zirkel hat auch eine scharfe Seite.“

Tyson war von da an ruhig gewesen. Er hatte nur auf seine roten Fingerkuppen geschaut und irgendwann verwundert gemeint, dass Kais Berührungen sehr sanft waren, dafür dass er immerzu so ruppig sprach. Damit er sich nicht daran gewöhnte, gab der ihm einen leichten Klaps gegen den Hinterkopf, was ihn aber nur glucksen ließ.

Er hatte sich das Zusammenleben mit Tyson schlimmer vorgestellt.

Dennoch hob Kai nun die Hand um dessen Redefluss Einhalt zu gebieten.

„Großvater hat zwar auch etwas damit zu tun, aber nicht wegen einem Streit. Vielmehr wegen einer Abmachung zwischen uns.“, begann er zu erklären. „Als ich letztes Jahr diese Auseinandersetzung mit ihm hatte, ging es hauptsächlich darum, dass er sich Sorgen machte, dass ich mich zu sehr auf das Bladen konzentriere. Deshalb wollte er mich auch auf das Internat im Ausland schicken, damit ich davon loskomme. Er meinte es sei Zeit mich zurückzuziehen – auch wenn er es mehr wie einen Befehl ausgedrückt hat.“

„Warum denn? Er weiß doch wie viel es dir bedeutet…“, es klang zusehends verzweifelter.

„Weil er in einem Punkt Recht hat – wir werden erwachsen Tyson.“, versuchte Kai ihn zu beschwichtigen. „Und Bladen ist zwar ein gutes Hobby, aber keines das man zum Beruf machen kann. Ich möchte mich auf meine Karriere vorbereiten – auf meine Zukunft. Das ist mir genauso wichtig!“

„Durch kleinere Werbeverträge kann man sich was dazu verdienen. Ich habe so schon etwas auf die Seite legen können. Mach das doch auch!“

„Das geht natürlich. Vorausgesetzt man ist der Weltmeister.“

Er sah ein amüsiertes Zucken, wahrscheinlich weil sich Tyson nicht verkneifen konnte, sich für einen ganz tollen Hecht zu halten. Natürlich gab es andere talentierte Blader, doch den Weltmeister wollten nun Mal die meisten Firmen als Werbefigur haben. Kein Cornflakes Hersteller wollte damit prahlen, dass man mit seinem Frühstück die Silbermedaille einheimste. Allerdings hätte Kai für keinen Scheck der Welt so einen Mist mitgemacht, aber wie gesagt – Tyson liebte den Trubel um seine Person.

„Also brauchst du doch Geld? Ich leihe dir was…“

Kai verdrehte die Augen, musste aber dennoch lächeln. Manchmal war diese Naivität wirklich rührend. Man könnte ehrlich meinen, Tyson würde sein Konto für ihn räumen, einfach nur um einem Freund in Not zu helfen. Obwohl er nichts für Blauäugigkeit übrig hatte, konnte er ihm in dieser Hinsicht auch nie böse sein. Tyson war nicht dumm. Einfach nur gutherzig - und davon vielmehr als ihm eigentlich gut tat.

„Wie süß Kinomiya.“, sprach er in gespieltem Mitleid. „Dein Geld brauche ich aber nicht. Ich bin der künftige Erbe eines Familienimperiums. Das was du auf dem Konto hast, deckt nicht einmal die Portokasse der Hiwatari Corp.“

„Autsch… So reich?!“

„Ja, so reich.“, nickte Kai bedeutungsschwer. Sein Lächeln wurde kühler, erst recht als er Tysons große Augen sah. Der hielt sich zwar für ganz toll, weil er der amtierende Weltmeister war, aber von Kais Reichtum würde er nur träumen können.

„Davon hast du nie etwas gesagt.“

„Reden ist Silber. Schweigen ist Gold.“

„Ach deshalb redest du an manchen Tagen kaum. Da werden die Raten abgezahlt.“

Kais Lächeln erstarb. Das dieser blöde Bengel auch auf alles eine freche Antwort parat haben musste. Das Schlimmste war, dass Tyson gar nicht mehr so klein war. Sie waren nun gleich groß. Das war auch etwas mit dem ihn seine russischen Kollegen gerne aufzogen.

„Sehr witzig. Na jedenfalls… Geldprobleme werde ich so schnell nie haben.“, kam er auf das Thema zurück. „Was ich aber brauche ist Zeit. Zeit um mich auf meinen zukünftigen Posten vorzubereiten.“

Er nahm wieder einen Schluck aus seiner Flasche, um über seinen Groll hinwegzutäuschen.

„Diese Zeit kann ich aber nicht haben, wenn ich ständig unterwegs bin, um an Turnieren teilzunehmen oder zu trainieren. Ich konnte meinem Großvater letztes Jahr dazu bewegen, mir einen Aufschub von einem Jahr zu gewähren. Als Gegenleistung habe ich versprochen, mit dem Bladen aufzuhören, vorausgesetzt, er steckt mich nicht wieder in ein Internat in England.“

„Hat dir dort wohl nicht gefallen …“

„Iss du dich mal ein halbes Jahr durch die englische Küche. Dann kannst du mitreden.“

Tysons Mimik verzog sich angeekelt. Da fuhr Kai auch schon fort.

„Großvater hat seinen Teil eingehalten. Ich habe meinen Aufschub bekommen und nun liegt es an mir, meinen Part der Abmachung zu leisten. Ich habe es versprochen – und ich halte meine Versprechen. Das ist eine Frage der Ehre.“

„Das ist scheiße!“

„Das ist meine Zukunft.“, sprach Kai mit erhobenem Kinn.

„Wenn dir das so wichtig ist, warum wolltest du diese Weltmeisterschaft dann noch so dringend mitmachen? Dir scheint es ja jetzt scheißegal zu sein!“

„Ist es nicht!“, schnitt ihm Kai ins Wort ob dieser Unterstellung. Dann schwenkte er die Flüssigkeit in seiner Flasche gedankenverloren umher. Diese Wahrheit auszusprechen machte ihn doch ein wenig traurig. Irgendwann gestand er: „Es sollte mein letzter Vorstoß werden. Wenn ich es dieses Jahr nicht geschafft hätte, sollte es einfach nicht sein. Dann will eine höhere Macht nicht, dass ich Weltmeister werde. Und so ist es ja auch gekommen…“

Tyson schaute ihn bedauernd an. Da wurde die Tür hinter ihnen aufgerissen. Gleich darauf spazierten Ray und Mariah heraus, beide wild miteinander tuschelnd. Letztere kicherte immer mal wieder, vor allem weil ihr Begleiter die Hand auf ihrer Hüfte hatte.

„Hoppla! Hier ist ja besetzt…“

„Das ist ja auch kein Bordell!“, knurrte Tyson genervt auf Rays Worte. Es ließ Kais Braue amüsiert nach oben wandern. Offenbar hatte Kinomiya seinen Wortschatz erweitert. „Geht gefälligst eine Runde um den Block, wenn ihr eure Knutscherei haben wollt.“

„Sowas würden wir nie machen!“, empörte sich Mariah mit hochrotem Gesicht.

„Würden wir nicht?“

„Natürlich nicht! Mein Bruder ist in der Nähe.“

„Na dann, ab um den Block!“

Ray packte Mariahs Hand und winkte seinen Freunden zu, nur um kurz danach hinter dem Tor zu verschwinden. Der hatte auch eindeutig zu viel getrunken - und auch noch die Tür offen gelassen. Tyson schnalzte erbost mit der Zunge und erhob sich, um sie wieder zuzuschieben. Im Raum dahinter fanden inzwischen die ersten Trinkspiele statt. Lee wurde gerade dazu verdonnert einen Kurzen zu kippen, was wohl auch der Grund dafür war, weshalb er seine Schwester unbewacht ließ. Das Szenario verschwand hinter der Tür. Tyson ließ sich wieder gegenüber von ihm, auf den Hosenboden fallen und fragte vorwurfsvoll: „Warum hast du das nicht vor unserem Match heute Mittag erzählt?“

„Wozu? Damit du dich absichtlich zurückhältst, um mir diesen Sieg zu schenken? Vergiss es! Einen solchen Sieg will ich gar nicht. Das ist unter meinem Niveau…“, Kai lehnte sich an den Pfeiler hinter ihm und schaute auf den Hof hinaus. Der Garten duftete herrlich und man hörte die Zikaden zirpen. Dieses friedliche Anwesen war einfach schön. Es machte die Menschen hinter seinen Mauern entspannter. Bestimmt hatte Tyson seine unbekümmerte Art auch diesem Gebäude zu verdanken.

„Es ist okay so.“, seine Stimme war in ein nachdenkliches Raunen verfallen. „Ich komme damit klar, dass ich es nicht geschafft habe. Manchmal kriegt man im Leben nicht was man will, selbst wenn man es sich noch so sehr wünscht. Ich hatte fünf Chancen. Bei jedem Finale habe ich mein Bestes gegeben. Aber du eben auch…“

Es wurde einen Moment still zwischen ihnen. Beide hingen ihren Gedanken nach. Vom Teich im Zentrum des Hofes, konnte man das Klackern des Wasserspiels hören. Wann immer der kleine, ausgehöhlte Bambusstab voll war, klappte er in seiner Vorrichtung nach unten und entleerte seinen Inhalt plätschernd in den Teich. Es wäre noch angenehmer hier, wenn da nicht die feiernde Meute, im Raum hinter ihnen wäre.

„Ich will nicht dass du aussteigst.“, durchbrach Tysons Stimme irgendwann das Schweigen. Er klang so furchtbar enttäuscht. „Du hast seit meinen Anfängen dazu gehört. Du warst mein Teamleader, danach mein Kamerad und selbst als Rivale wirst du mir furchtbar fehlen.“

In den letzten zwei Jahren hatte sich Kai manchmal dabei ertappt, wie er dachte, dass Tyson wirklich charmant sein konnte. Das war einer dieser Momente.

„Wir waren nicht immer einer Meinung.“, antwortete er stattdessen. Seine Stimme klang beklommen. Diese Situation war irgendwie neu und Kai wusste nicht so recht, wie er darauf reagieren sollte. „Manchmal ging es auch nicht gerade freundlich zwischen uns zu.“

„Aber das Ergebnis hat gestimmt. Zu wissen das du mir im Nacken lagst, hat mich immer angespornt weiter zu trainieren. Ich wäre heute nicht hier, wenn du nicht in mir diesen Ehrgeiz geweckt hättest.“, der letzte Teil klang verbittert. „Jetzt geht es also abwärts... Ohne dich gibt es keinen Grund mehr weiterzumachen. Dann höre ich wohl auch bald auf.“

Kai hielt geschockt den Atem an. Als er aufsah, war sein mitleidiger Ausdruck nicht gespielt. Sein Gegenüber blickte drein, als hätte man ihn seines Daseins beraubt. Ein unzufriedener Zug lag um Tysons Mund, den er so noch nie an ihm erlebt hatte.

Seine heile Welt bröckelte. Und das seinetwegen…

Manchmal vergaß Kai, dass Kinomiya einfach noch ein kleiner Kindskopf war. Wenn es nach ihm ginge, müsste die Welt die nächsten tausend Jahre, in ihrem jetzigen Zustand verweilen. Er tat einen tiefen Atemzug, schloss die Augen einen Moment und erst dann beugte Kai sich vor, um ihm seine Hand auf die Schulter zu legen.

„Schau mich an.“, bat er leise. Tyson hob endlich den Kopf und Kai schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Irgendwann musste es soweit sein. Aber davon geht die Welt nicht unter. Du wirst noch auf einige gute Gegner nach mir treffen.“

„Ich hätte aber lieber dich darunter…“

„Das geht leider nicht mehr. Wir sind jetzt an einem Punkt in unserem Leben, indem wir Entscheidungen für unsere Zukunft fällen müssen. Mein Weg führt nun in eine andere Richtung. Das sollte dich aber nicht davon abhalten, deinen eigenen zu gehen.“

Sein Gegenüber schien nachzudenken. Die dunklen Augen schauten ihn grübelnd an, während sich die Brauen zusammengezogen hatten.

„Wir werden uns nicht mehr wiedersehen…“

Es klang wie ein Urteil. Kai blinzelte überrascht.

„Was meinst du?“

„Wir haben uns meistens nur bei den Turnieren zu Gesicht bekommen. Wenn du aufhörst, wirst du komplett verschwinden – und uns alle einfach vergessen!“, es war ein Vorwurf.

„Ich denke nicht dass ich euch einfach so vergesse.“

„Aber hast du vor dich bei uns zu melden? Oder wirst du komplett von deiner Ausbildung abgelenkt sein?“

„Ich weiß es nicht. Das wird sich noch zeigen. Es ist ein sehr anspruchsvolles Studium.“

„Du kehrst uns den Rücken und wirst uns vergessen! Dann ist heute auch noch der letzte Abend, an dem wir hier so zusammen sitzen können. So ein scheiß Geburtstag.“

„Tyson…“, darauf wusste er einfach keine Antwort. Dass ausgerechnet das seine Hauptsorge war, hätte Kai nie erwartet. Er nahm die Hand von dessen Schulter und musste zugeben, dass sich eine gewisse Schuld in ihm breit machte. Es war nicht seine Absicht Tyson den Spaß am Bladen zu nehmen, oder gar an seiner eigenen Feier. Diese Botschaft schien ihn komplett hinunterzuziehen und wenn er erst einmal in einem emotionalem Loch steckte, kam er nur schwer wieder heraus. Kai überlegte was er noch sagen könnte, da kam ihm stattdessen ein Einfall.

„Du hast doch sicher ein Handy…“

„Na klar. Zwar nicht das Neueste, weil Opa die Dinger hasst, aber es reicht mir.“

„Egal. Gib es her.“

Tyson schaute ihn aus großen Augen an. Dann strahlte er als der Groschen fiel und griff in seine Jackentasche. Kurz darauf bettete er sein Smartphone in Kais Handfläche. Ihm kam es vor, als würden sich ihre Finger länger berühren, als nötig. Und da befiel Kai zum ersten Mal dieses komische Kribbeln. Es schoss in einer Millisekunde seinen Arm hoch, bis sich seine Nackenhaare aufstellten. So etwas hatte er noch nie erlebt. Tyson entging seine Gänsehaut nicht.

„Ist dir kalt?“

„Nein, muss nur ein Lufthauch gewesen sein…“, er räusperte sich und begann auf dem Display zu tippen. Tyson hatte nicht gelogen. Das Handy war wirklich altmodisch. „Damit eines klar ist – ich rücke nur selten meine Nummer heraus.“

„Hast du uns damals schon gesagt, als wir dich das erste Mal darum gebeten haben.“

„Ich will einfach keine albernen Fotos oder Videos zugeschickt bekommen.“, erklärte Kai sein Verhalten, während er die Nummer hinterlegte. „Jetzt da ich aussteige, kannst du sie von mir aus auch Ray und Max geben. Nur damit die beiden sich nicht wieder ausgeschlossen vorkommen. Ihr seid jetzt älter, also hoffe ich Mal, ihr habt jetzt endlich mehr Grips in der Birne.“

Er hielt Tyson das Smartphone vor die Nase.

„Aber ansonsten bekommt niemand meine Nummer. Niemand!“, stellte er noch einmal klar.

„Natürlich nicht! Warum sollte ich das auch machen?“, Tyson schnappte nach dem Handy. „Jetzt kriege ich heute nicht nur einen Sieg von dir geschenkt, sondern auch noch deine Nummer! Wurde auch echt Zeit… Ich wische dir für die lange Wartezeit gleich mal eins aus, und schicke dir das Video, mit dem betrunkenen Elefanten!“

Kai stöhnte genervt und hörte ein schadenfrohes Glucksen von seinem Gegenüber. Als ob Tyson Zweifel daran hegte, überprüfte er auch noch, ob Kai wirklich seine Nummer abgespeichert hatte und tippte auf dem Display herum. Es ließ ihn mit den Augen rollen, doch er rügte ihn für diese Vorsichtsmaßnahme nicht. Denn ohne es zu ahnen, war der erste Funken zwischen ihnen, in jener Nacht übergesprungen.
 


 

*
 

Im darauffolgenden Jahr unterschied sich Kais Lebensstil stark, von dem seiner Freunde, doch seltsamerweise hatten sie nun mehr Kontakt denn je. Vor allem Tyson ließ keine Gelegenheit aus, um ihn von seinem Studium wegzureißen. Dabei fiel Kai besonders auf, dass er ihn gerne darum bat, zu seinen Turnieren zu erscheinen. Wann immer er dann auftauchte, grinste Tyson verschmitzt und sprach davon, dass seine Motivation soeben eingetroffen sei. Einmal erklärte er, dass er sich nun noch mehr anstrengen würde, weil er ja nicht zulassen könne, vor den Augen seines alten Rivalen zu versagen.

Und tatsächlich…

Kai erlebte bei keinem Turnier dass Tyson verlor. Allerdings sollten die kleineren, regionalen Wettstreitereien auch kein Problem für einen Weltmeister darstellen und dienten nur der Qualifikation für die nächste Liga. Das war das heikle bei diesem neuen System. Man wurde nicht für die Weltmeisterschaft aufgestellt, wenn man schon in den Vorrunden rausflog, selbst wenn man den Titel hatte. Ray und Max waren wieder im Ausland, wo sie ihre eigenen Vorrunden für ihr Heimatland bestritten. Dennoch war der Anlauf in den Hallen bei jedem Turnier groß gewesen. Viele Leute wollten den Weltmeister sehen, baten um Autogramme, deren Drängen Tyson nur zu gerne nachkam - natürlich mit einem lässigen Spruch auf den Lippen.

Kai lehnte dann weit abseits im Hintergrund, irgendwo an einer Wand und wartete bis der Trubel um seinen Freund vorbei war. Allerdings entdeckte ihn einmal einer der Reporter und fragte, ob er nun zum Weltmeister Fanclub gehöre. Er hatte gereizt geschnaubt und wollte schon einen bissigen Kommentar vom Stapel lassen, als Tyson überschwänglich den Arm um seine Schultern warf und dem Reporter erklärte, dass er etwas viel Besseres sei.

„Der Junge ist mein Glücksbringer! Ich habe noch nie ein Turnier verloren, bei dem Kai anwesend war!“, er hatte ihn herzhaft an sich gedrückt, dabei bis über beide Ohren gestrahlt. „Man sieht es dem grimmigen Kerl nicht an, aber er strahlt eine positive Aura auf mich aus.“

Es ließ ihn seufzend zur Seite schauen. Doch als Glücksbringer bezeichnet zu werden, empfand Kai immerhin als schmeichelhafter, wie als Groupie hingestellt zu werden. Sobald die Autogramme dann geschrieben waren und sich alle nachhause begaben, schritten sie gemeinsam zum Kinomiya Anwesen.

Es wurde zu ihrem Ritual noch etwas bei Tyson daheim herumzusitzen.

Auf dem Weg dorthin redeten beide dann über die neuen Moves, die Blades und die Gegner des Turniers. Manchmal war auch Kenny mit von der Partie. Dann gingen die fachmännischen Debatten so heiß her, dass es im Anwesen ziemlich spät wurde und Tyson ihn dazu überredete bei ihm zu übernachten. Kai gab ihm dann viele Ratschläge, welche der geradezu aufsog. Manchmal waren sie aber auch vollkommen gegensätzlicher Meinung und diskutierten wie früher. Bei einem ihrer nächtlichen Spaziergänge zum Anwesen, folgten aber bald auch andere Themen…

Jene die mehr persönlicher Natur entsprachen. Beispielsweise erfuhr Kai an einem dieser Abende, weshalb Tyson der Gedanke seines Ausstieges so verletzt hatte. Weshalb er nicht die Vorstellung ertragen konnte in Vergessenheit zu geraten.

„Die Menschen um uns herum sind nicht selbstverständlich.“, erklärte er damals. Tyson war ungewöhnlich ernst dabei gewesen. Sie schlenderten gerade über eine Brücke, wo er kurz inne hielt und hinauf in den Sternenhimmel schaute. Turniere konnten sich bis in den späten Abend hinziehen und es ärgerte seinen Großvater, wenn Kai immer noch zu einem ging, anstatt sich um seine Ausbildung zu kümmern. Eigentlich sollte er an freien Tagen in der Firma aushelfen. Sein Zeitplan war mittlerweile überfüllt und ließ keine Freizeit zu.

Es war im Frühherbst gewesen. Die Luft war ein wenig kühler geworden und die ersten trockenen Blätter, wurden vom Wind durch die Gassen getrieben.

„Mein Vater hat diesen Fehler gemacht. Als meine Mutter noch gelebt hat, blieb er auch ständig fort und das über Monate, während sie daheim auf uns aufgepasst hat. Er hätte sich genauso gut von ihr trennen können. Sie fühlte sich ziemlich verlassen von ihm.“

Es war das erste Mal, dass Kai ihn über seine Mutter reden hörte. Tysons Freunde wussten, dass sie tot war, doch nicht wie es passiert war. Kai hatte vermutet, dass sie krank gewesen sei. Aber Selbstmord…

Das war das Letzte worauf er getippt hätte.

Dieses erschreckende Geheimnis hatte ihm den Atem geraubt, ließ ihn aus großen Augen zu Tyson starren, unfähig auch nur ein weiteres Wort zu sagen. Der lächelte irgendwann traurig zu ihm herüber und meinte, dass sein Vater offensichtlich die Lektion noch immer nicht begriffen habe - er selbst sich daran aber auf ewig erinnern würde.

„Ich liebe meinen Dad, aber dafür hasse ich ihn! Wahrscheinlich weiß er das auch und ist deshalb wieder ständig weg.“

Kai kannte dieses Gefühl. Sein Großvater war ein herrschsüchtiger Mensch, der ihm sein ganzes Leben diktierte, aber hatte ihn auch großgezogen. Es gab viele Differenzen zwischen ihnen, Streitereien, Geheimnisse und manchmal sogar tiefsitzenden Groll, dennoch wollte Kai nichts tun, was ihm Schande bereitete, sowie Voltaire stets im Hintergrund schützend die Hand über seinen Enkel hielt. Er war letztendlich immer noch sein Großvater. Der einzige Verwandte, den es scherte, was aus Kai in ferner Zukunft wurde.

„Liebe ist seltsam…“, meinte er damals.

„Total seltsam.“

Auf seine Worte hatte Kai nachdenklich aufgeschaut, nur um zu merken, dass ihn Tyson noch immer anlächelte. In seinen dunklen Augen lag etwas, dass ihm bis dahin unbekannt war. Und wie so oft in den letzten Monaten, bemerkte er das angenehme Kribbeln in seinem Magen. Das Schaudern was seine Nackenhärchen aufrichte…

Diese seltsame Stimmung zwischen ihnen, als wäre die Luft elektrisch geladen.

Es wurde von Mal zu Mal stärker. Und ohne es richtig verstehen zu können, fühlte sich Kai Tyson immer mehr zugetan.
 

Da sie nun auch älter wurden, änderte sich vieles in ihrem Bekanntenkreis. Die ersten Pärchen bildeten sich um sie herum. Ray und Mariah machten den Anfang. Darüber war niemand wirklich überrascht. Beide machten sich bereits seit ihrer Kindheit schöne Augen, sodass Tyson ein Stoßgebet an die Götter schickte, als dieses alberne „Gesabber“ endlich Mal zur nächsten Ebene führte. Dagegen herrschte allgemeines Staunen, als Max verkündete, er habe Mariam von den Saint Shields in New York getroffen. Sie war mittlerweile Austauschstudentin – die Erste aus ihrem Dorf.

Sie wollte sich ein Bild von den amerikanischen Trainingseinrichtungen der BBA machen, als die beiden in einer der Übungshallen ineinander rannten. Wenige Wochen später folgte schon ihr erstes Date. Bei seinem letzten Abstecher nach Japan, brachte Max sie schließlich auch mit, wo er seinen Freunden frohlockend verkündete, dass diese „heiße Schnecke“ neben ihm jetzt sein Mädchen sei. Mariam hatte spöttisch die Braue erhoben und hinzugefügt, dass der „blonde Esel“ neben ihr, sie gefälligst nicht vor anderen Leuten so nennen solle, es sei denn er wolle, dass die heiße Schnecke einen Abgang mache.

Da lag wirklich Romantik in der Luft...

Was auch während dieser Zeit anfing – und was Kai früher so nicht kannte – war die ständige Frage, wie es um sein eigenes Liebesleben stand. Ray hatte ihm dabei einen Stups verpasst und zu Hilary genickt, doch Kai hatte nur unwillig gebrummt. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie mittlerweile eine ziemliche Schwäche für ihn entwickelt hatte, doch so nett sie auch war, Kai konnte sich nicht für sie erwärmen.

„Ist ja was ganz Neues!“, spöttelte Max damals nur. „Du bist wie ein alter Backofen, der erst warm wird, wenn man mit dem Blasebalg in die Glut pustet. Da hilft selbst Spiritus nicht!“

Kai fragte daraufhin Mariam düster, ob sie ihrem blonden Esel nicht endlich mal etwas Hafer zwischen den Kiefer schieben könne…

Sie waren jetzt auch im Alter, wo die „Hormone“ in ihrem Jahrgang wüteten. Spencer hatte sogar versehentlich ein Mädchen geschwängert und durfte sich nun auch aus ihrer Branche verabschieden. Doch Kai…

Es war seltsam, aber obwohl es nicht an eindeutigen Angeboten mangelte, konnte er sich für keine Frau begeistern - selbst nicht für jemanden wie Hilary. Die putzte sich ziemlich heraus, wenn sie wusste, dass Kai bei ihren Gruppenaktivitäten mit von der Partie war und suchte dann auch immer bewusst seine Nähe. Bei den Turnieren ergatterte sie stets den Platz neben ihm, um mit Kai gemeinsam Tysons Leistung zu verfolgen. Einmal schaute der von der Arena hinauf, als sie ihm gerade den Kragen richtete und blinzelte geschockt, als er dieses Bild sah. Es musste ein so sonderbarer Anblick gewesen sein, dass er seinen Move verpatzte. Kai begriff gleich darauf erstaunt, dass er wohl sauer war, denn die Attacke, mit der er danach seinen Gegner in die Mangel nahm, war heftiger als nötig. Tyson ärgerte sich auch später vor ihm über Hilarys Gehabe, weil er meinte, sie könne es wohl kaum noch offensichtlicher machen.

„Jetzt beruhige dich doch - sie hat keinen Lappdance für mich gemacht!“

Es hatte ihn grollen lassen und zum ersten Mal war sich Kai unsicher, wem seine Eifersucht wirklich galt. Er redete sich ein, dass Tyson vielleicht ein Auge auf Hilary geworfen hatte, doch so sicher war er sich dabei nicht. Dennoch endete es an jenem Abend damit, dass sich Kai lieber zu ihm auf die Veranda gesellte, als sich mit ihr zu befassen. Der grinste damals und fragte, wo er Hilary gelassen habe. Allerdings fiel Kai auf wie gekünstelt sein Lächeln wirkte. Und bald sollte er auch verstehen weshalb…
 

Es war in einer Silvesternacht gewesen und alle hatten bei Maxs gefeiert, der zu diesem Anlass extra wieder aus den USA angereist kam, um das neue Jahr mit seinen „liebsten Homies“ einzuläuten. Er pendelte mittlerweile ziemlich oft zwischen den Staaten und Japan umher. Die Qualifikationen für das Turnier absolvierte er während der Sommerferien bei dem Institut seiner Mutter. In die Schule ging Max aber weiterhin in Japan und wohnte bei seinem Vater. Mr. Tate hatte die Wohnung am Silvester, ganz im amerikanischen Stil geschmückt und ihnen die typischen Neujahrstraditionen aus den USA erklärt. Es war das erste Mal seit Wochen, dass Kai wieder unter seinen Freunden war. Das Studium hielt ihn mittlerweile in Atem, weil die ersten Semesterprüfungen anstanden und er wurde nun noch wachsamer kontrolliert, wenn er einmal Freigang bekam – wie es Tyson gerne gehässig formulierte.

Zu Silvester drückte sein Großvater allerdings ein mürrisches Auge zu, denn er war durch eine Geschäftsreise ohnehin nicht im Land. Kai hätte auch keine Lust gehabt mit ihm zu feiern.

„Hoffen wir Mal, dass du dann nächstes Jahr, nicht mehr so oft bei dem Alten zuhause versauern musst.“, hatte Tyson das Ganze kommentiert. „Das neue Jahr wird so wie das alte endet, also trink heute so viel wie du kannst.“

Er donnerte ihm ein leeres Glas vor die Nase und schenkte ihm ein. In letzter Zeit war er etwas übellaunig, auch irgendwie zurückhaltend ihm gegenüber, wahrscheinlich weil Kai ihn durch seine Prüfungen häufiger vertrösten musste. Er war schon immer ungeduldig gewesen, konnte manchmal auch ziemlich egoistisch sein. Tyson nahm seine eigene akademische Laufbahn auch nie sonderlich ernst - sehr zum Unmut seines Großvaters - deshalb stieß die Ausrede, dass Kai lernen müsse, bei ihm auf Unverständnis. Momentan empfand er die Stimmung zwischen ihnen beiden ohnehin als sonderbar.

Etwas war anders. Neu…

Kai fühlte zum ersten Mal das eine Veränderung mit ihm stattfand.

Er war aber nicht in der Lage es genau zu definieren. Ihn machte es irgendwie beklommen, wenn er Tyson eine längere Zeit nicht zu Gesicht bekam. Ihm fehlten dann seine Unbeschwertheit, der Schalk in seinen Augen, wenn er ihn mit frechen Sprüchen aufzog.

Vor allem aber die Gespräche zwischen ihnen, nachts auf der Veranda des Dojos.
 

Es war bald vier Uhr morgens, als sie sich nachhause begaben. Da es an ein Wunder grenzte, zur Silvesternacht ein Taxi zu finden, hatte Tyson Kai angeboten, die Nacht wieder bei ihm zu verbringen. Er musste von ihnen allen, die längste Strecke nachhause zurücklegen, daher nahm er auch dankend an. Als sie durch das Eingangstor des Kinomiya Anwesens schritten, hörte man noch überall in der Nachbarschaft vereinzelte Musik. Ab und an flog auch noch eine letzte Silvesterrakete in den Himmel hinauf, tauchte die Umgebung in ihr prasselndes Licht. Im Schnee fanden sich immer mal wieder die Überreste von Feuerwerkskörpern.

„Das war ja Mal eine Feier.“, meinte Tyson, als er hinter Kai das Tor abschloss. „Max versteht es eine Party zu schmeißen.“

„Ja. So viel Whisky…“, Kai war etwas benommen. Der verschneite Kiesweg vor ihm, schlängelte sich außerdem so komisch. Noch während er die Augen schloss, einen tiefen Atemzug nahm, um sich zu sammeln, legte sich ein Arm um ihn. Finger umfassten seine Taille. Kai fühlte einen Körper, der ihm helfend Unterstützung bot. Das Schaudern kam wieder über ihn. Als er zur Seite schaute, erhaschte Kai ein schiefes Grinsen.

„Sehr gut! Da hat jemand mächtig getankt.“

„Nein.“, bestritt er. „Ich trinke kaum etwas.“

„Schon okay. Ich bin der Letzte der es deinem grimmigen Alten erzählt.“

„Ich habe fast gar nichts getrunken.“

„Also hat sich im Laufe des Abends die Whiskyflasche von alleine geleert?“

„Okay, das war ich…“, knickte Kai sofort ein. Er war einfach zu müde für Rechtfertigungen. Seine Gedankengänge waren so zähflüssig wie Honig, konnten sich auf die Schnelle, keine plausible Ausrede einfallen lassen. „Ich kann aber nichts dafür. Es hat so gut geschmeckt…“

Er hörte Tyson neben sich Lachen.

„Hab ich dir schon mal gesagt, dass ich es liebe wenn du betrunken bist? Du wirst dann so wundervoll handzahm.“

„Ich bin nicht betrunken. Angeheitert! Mehr nicht.“

„Natürlich. Was auch sonst?“

„Hast du nichts getrunken?“

„Weniger. Irgendeiner von uns muss ja nüchtern genug bleiben, um den Heimweg zu finden.“

Als Tyson ihn die Verandatreppe, Stufe für Stufe hinauf half, bemerkte Kai zum ersten Mal, wie still es im Haus war.

„Wo ist denn der Rest deiner Familie abgeblieben?“

„Bei der übrigen Verwandtschaft in Okinawa.“

„Das heißt wir sind allein?“

„Nur wir zwei... Da kommt man auf blöde Gedanken, wie?“

„Ha! Wer ist jetzt von uns betrunken?“, spottete Kai.

„Autsch! Ganz schön frech für einen Gast.“, Tyson schob die Tür zum Dojo zur Seite. „Und das obwohl ich dir wiedermal Obdach gewähre, damit der verstockte Butler, deinem Großvater nicht verklickert, dass du dich heute Abend ganz schön gehen lässt.“

„Okay, tut mir Leid. Das war gemein…“

Tyson prustete los.

„Einfach süß!“, hörte er ihn sagen. Als Kai zu Tyson blinzelte, schüttelte der den Kopf und schaute dabei mit einem spöttischen Grinsen auf, als verdiene irgendeine Gottheit im Himmel, seinen persönlichen Dank für diesen Moment. Kai hatte keine Muse ihn dafür anzupflaumen. Seine Glieder kamen ihm so matt vor. Er wollte sich nur noch hinlegen.

Die Futons waren schon bereit, wie immer wenn sie ein solches Unterfangen durchführten. Einmal hatte Ray gescherzt, dass der Dojo die Bladebreaker Ausnüchterungszelle sei, weil Tyson jedem, der sich nicht getraue, betrunken seinen Eltern gegenüber zu treten, ein Dach über dem Kopf gewährte. Der half Kai inzwischen vorsichtig auf seine Bettstatt hinab.

„Dir ist nicht schlecht, oder?“

„Nein, alles in Ordnung. Die frische Luft tat gut…“

Kai zog langsam die Schuhe aus. Seine Finger waren irgendwie so ungeschickt. Er bekam den Knoten nicht auf. Irgendwann schlüpfte er aus den Schuhen, um sich mit einem erschöpften Seufzen hinzulegen und streckte sich auf dem Futon. In der Zwischenzeit fühlte er sich in Tysons vier Wänden wirklich wohl und hatte auch keine Scheu mehr, dies zu zeigen. Als er die Augen wieder öffnete, schaute der mit einen Lächeln auf ihn herab. Das Mondlicht umhüllte seine Gestalt.

„Warum lächelst du?“, wollte Kai wissen. Irgendwie war es ansteckend, auch seine Mundwinkel hoben sich.

„Nichts. Ich denke nur an unsere Anfänge.“, Tyson begann sich ebenfalls die Schuhe auszuziehen. Es polterte als er sie achtlos davon kickte. „Weißt du, ich ertappe mich in letzter Zeit immer häufiger dabei, wie ich in Erinnerungen schwelge. Vor allem daran, wie bockig du zu Anfang warst.“

„Du warst auch nicht gerade einfach…“

„Aber immerhin kameradschaftlicher als du.“, Tyson schob seinen Futon näher an ihn heran und erklärte weiter. „Du warst unsere Diva. Zum Glück haben wir dich noch gerade gebogen.“

„Hör auf! So schlimm war ich nicht.“

„Ach komm schon! Hättest du dir vor fünf Jahren noch träumen lassen, dass wir heute hier so zusammenliegen? Und das auch noch nach einer gemeinsam durchzechten Nacht?“

Kai schloss müde die Augen.

„Nein. Das hätte ich wirklich nicht.“, dann huschte ein amüsierter Ausdruck über sein Gesicht. „Aber dein Gejammer an deinem letzten Geburtstag, musste ja irgendwie ein Ende finden. Du hast geschmollt wie ein Kleinkind.“

„Hallo Kratzbürste - auch mal wieder da?“

Er musste Lachen. Die Stimmung zwischen ihnen war ausgelassen. In Tysons Gegenwart vergaß er seinen grauen Lernalltag. Kurz machte sich ein beklommenes Gefühl in ihm breit, als er daran dachte, dass er für den Rest seines Lebens in einer Firma versauern musste.

„Du warst früher übrigens gar nicht so reif, wie du immer getan hast. Eher das Gegenteil.“

„Ich war noch jung.“

„Du warst verbittert…“

Tyson legte sich mit einem erschöpften Laut neben ihn. Er drehte sich auf die Seite, deckte sich aber noch nicht zu. Kai dagegen blieb stumm auf seine Worte. Sein Blick huschte an der vertäfelten Wand hinauf, zu den hochangesetzten Fenstern im Dojo. Das Mondlicht fiel in einer schrägen, silbrigen Bahn herein. Es steckte doch viel Wahrheit hinter diesen Worten.

„Ja. Das war ich leider auch…“, gestand Kai schließlich ein.

„Hat sich das gelegt?“

Er dachte lange nach, wiegte seine Worte sorgfältig ab, bevor eine Entgegnung kam.

„Verbittert womöglich noch ein wenig... Wann immer ich an meine Eltern denke – daran das sie nie da sind – an die Zeit in der Abtei, oder an die Taten meines Großvaters, dann werde ich noch wütend. Aber ich lerne damit umzugehen. Früher habe ich meine Verachtung jeden spüren lassen. Auch euch. Obwohl ihr eigentlich nichts dafür konntet.“

„Du hast eben ein Vertrauensproblem. Es dauert lange bis man es bei dir verdient.“, er sagte es zu sanft, als das es ein Vorwurf hätte sein können. Ihm schauderte einen Moment.

„Vielleicht. Ich weiß nicht genau...“

Dieses Gespräch war etwas zu tiefsinnig für ihn. Für gewöhnlich hatte er mit sowas auch kein Problem, doch die Folgen des Whiskys machten sich nun bemerkbar. Seine Glieder fühlten sich schwer an. Kai fuhr sich über die Augen. Er spürte das Tyson ein wenig näher an ihn heranrückte, aber beklagte sich nicht. Seine Nähe war ihm in den letzten Monaten vertraut geworden.

„Tut es dir leid dass du uns so auf Abstand gehalten hast?“

„Irgendwie schon. Eigentlich seid ihr ganz in Ordnung. Vor allem du…“

Als Kai wieder zu ihm aufschaute, sah er ein zufriedenes Strahlen in dem dunklen Augenpaar. Dieser Kerl war irgendwie liebenswert. Ein warmes Gefühl machte sich in Kais Magen breit. Wie schon häufiger in den letzten Monaten, ging ihm jedoch auch die Frage durch den Sinn, ob man gegenüber einem Freund so fühlen sollte.

„So einsichtig heute Abend, Mr. Hiwatari?“

„Das liegt am Whisky…“

Er hörte ein Glucksen neben sich.

„Ich dachte das wäre dein Vorsatz fürs neue Jahr.“

„Warum hast du mich eigentlich nie aufgegeben?“

Tyson stutzte auf die plötzliche Frage.

„Ich wusste einfach dass du eine gute Seite hast.“

„Woher?“

„Woher? Meine Fresse, du stellst heute Fragen!“, er überlegte angestrengt. „Erinnerst du dich an unseren ersten Abstecher in Judys Forschungsinstitut?“

„Du meinst als ihr die grandiose Idee hattet, euch heimlich in den abgesperrten Bereich zu schleichen, um die Trainingshallen der Allstarz auszuspionieren?“

Tyson schmunzelte über seinen Sarkasmus.

„Genau das! Man waren wir damals blöd…“

„Das habe ich euch auch gesagt. Hat euch aber nicht aufgehalten…“

„Hey, wir waren auch noch jünger!“

„Ihr ward unreif.“

„Du meinst unreifer als du mit deiner Kriegsbemalung?“, selbst im Mondlicht konnte Kai den Schalk in den Augen erhaschen, also riss er Tyson die Kappe vom Kopf, um sie ihm kurz um die Ohren zu hauen. Der gackerte aber umso frecher.

„Ich hasse dich…“

„Das glaube ich nicht.“, flötete der nur heiter. „Du magst mich! Ich bin dein bester Freund. Könntest du ruhig mal zugeben.“

„Ich denke gar nicht dran.“, sprach Kai.

„Du gesellst dich bei jeder Feier lieber zu mir anstatt zu Hilary.“

„Was würdest du denn tun? Ich kann ihr doch keine falschen Hoffnungen machen!“

„Ich würde ihr sagen sie soll sich vom Acker machen.“, kam die Antwort mit einem gleichgültigen Achselzucken. Kai verdrehte die Augen.

„Was hast du momentan für ein Problem mit ihr? Du wirst immer unfreundlicher.“

„Es nervt mich einfach wie billig sie sich an dich heranschmeißt.“

„Mein Gott… Klingt als würde sie mich vergewaltigen! Und wann war sie denn billig?“

Tyson antwortete nicht, wahrscheinlich weil ihm kein Beispiel einfiel.

„Sie führt sich einfach wie eine dumme Gans auf.“

„Du bist doch nicht eifersüchtig?“

„Pah! Auf wen denn?“

Das fragte sich Kai auch wieder. Wenn Tyson wirklich etwas von Hilary wollte, hätte er ihn doch zum Teufel wünschen müssen.

„Übertreib es einfach nicht mit den gehässigen Äußerungen.“

„Kann ich nicht versprechen. Wenn sie sich weiterhin so aufführt…“

„Für so prüde hätte ich dich echt nicht gehalten.“

Er sah wie sich Tysons Mundwinkeln einen kurzen Moment verärgert verzogen.

„Ich finde nur nicht dass sie dir zu Nahe treten sollte.“

„Machst du doch auch immer.“

„Ich bin aber charmant.“, kam es überzeugt.

„Bestenfalls größenwahnsinnig...“

Kai warf die Mütze achtlos über seinen Kopf hinweg und ließ den Arm dort sinken. Diese Diskussion führte doch zu nichts, und irgendwie konnte er diesem arroganten Mistkerl wirklich nie böse sein. Da fühlte er wie Tyson ihm gegen den Brustkorb tippte.

„Wir sind vom Thema abgewichen. Um wieder zu deinen guten Seiten zurückzukommen… In den USA haben wir gemerkt, dass dir sehr wohl etwas an uns lag. Denn obwohl du unsere Idee ins Institut einzusteigen, als total bescheuert abgestempelt hast und nicht mit uns mitkommen wolltest, bist du uns später hinterher geeilt, weil du dir Sorgen gemacht hast. So reagiert niemand der ein kaltes Herz hat.“

„Das du das noch weißt?“

„Ich habe dich schon immer etwas genauer beobachtet.“

Nur ganz langsam gelang es Kais Gehirn, diese Information zu verarbeiten. Was es dagegen überhaupt nicht registrierte, war, dass die Hand von seinem Brustkorb nicht verschwand. Stattdessen blieb sie dort liegen.

„Ich war euer Teamleader. Es war meine Pflicht.“, seine Wangen fühlten sich auf einmal heiß an. Bestimmt vom Alkohol. Wenn er etwas Hochprozentiges trank, machte sich das bei Kai genauso bemerkbar, wie bei seinen anderen asiatischen Freunden. Das war bestimmt normal.

„Ich mag dein Pflichtbewusstsein. Auch wenn es mich manchmal in den Wahnsinn treibt.“

„Wann denn?“

„Bei deinem Studium. Oder deinem Großvater… Das du deshalb ausgestiegen bist, wurmt mich noch immer.“

„Wir sehen uns häufiger als vorher. Das wolltest du doch?“

„Aber dein Talent ist nun vergeudet. Es ist einfach Schade um dich.“

Manchmal bekam er den Eindruck, Tyson flirtete mit ihm. Das merkwürdige daran war, dass es ihm wirklich schmeichelte.

„Bitte lass uns nicht mehr darüber reden.“, bat Kai leise. Er konnte nicht verhindern, dass es etwas traurig kam. Ohnehin fühlte er sich gespalten. Wann immer er seine Freunde dabei beobachtete, wie sie ihre Turniere bestritten, überfiel ihn eine Art von Melancholie. Mit seinem Ausstieg war ein wichtiger Teil seiner Vergangenheit begraben worden.

„Wirst du nie traurig wenn du daran denkst?“

„Doch, natürlich…“, er tat einen wehmütigen Atemzug. „Aber es lässt sich nicht mehr ändern. Warum fängst du also immer damit an?“

Einen Moment wurde es ruhig zwischen ihnen. Die Stille zog sich dahin und Kai hatte wieder das Gefühl, etwas Unausgesprochenes läge zwischen ihnen, wie so oft in den letzten Tagen.

„Weil ich auch das Gefühl habe, als hätte ich eine Chance versäumt.“

Sein fragender Blick ließ Tyson seufzen. Er hatte keinen Kopf um über dessen Gedankengängen zu spekulieren.

„Erinnerst du dich an unsere dritte Weltmeisterschaft? An die Vorrunden - als zuerst wir beide als Partner aufgestellt wurden?“

Kai nickte langsam. Das war schon wieder drei Jahre her…

„Bevor Daichi dein Ersatz wurde, da war ich irre gespannt darauf, mit dir zusammenzuarbeiten, weil ich gewusst habe, dass wir beide ein unbesiegbares Team geben könnten. Ich hatte mir sogar schon die Siegerehrung ausgemalt, weil ich fest davon überzeugt war, dass wir gewinnen.“

„Stattdessen bin ich zu den Blitzkriegboys gewechselt…“

„Das bist du.“, Tyson schaute bedauernd zur Seite. Es zogen sich Wolken vor den Mond, verdüsterten den Raum und seine Mimik. Dadurch kam es Kai vor, als würde er dessen Gegenwart nur umso deutlicher fühlen. Da hörte er ihn sagen: „Ich habe immer gehofft, dass sich diese Möglichkeit noch einmal für mich auftut. Die letzten zwei Jahre habe ich ständig überlegt, wie es wäre, dich zu einer Partnerschaft zu überreden.“

Partnerschaft…

Dieses Wort konnte man auch anders verstehen.

„Warum mich? Warum nicht Ray und Max?“

„Die beiden sind okay. Aber irgendwie zieht es mich mehr zu dir.“

„Das wusste ich nicht.“, Kai tat einen leisen Atemzug. „Du hast nie etwas gesagt.“

„Weil ich nicht wusste wie. Und ehe ich es mich versah, warst du schon ausgestiegen. Das hat mich total deprimiert, weil ich es wenigstens einmal gerne geschafft hätte, dich dazu zu bringen, an meiner Seite zu bleiben.“

An seiner Seite bleiben? Konnte man das denn nicht auch falsch verstehen?

Sprachen sie wirklich noch übers Bladen…

„Es war wie mit deinen Versuchen Weltmeister zu werden. Du hattest fünf Gelegenheiten und hast es nicht geschafft. Ich hatte auch fünf Chancen – sie aber nie richtig wahrgenommen. Erst als es zu spät war, wusste ich, was ich wollte…“

Kai senkte einen Moment die Lider, versuchte zu begreifen, was sich hier zwischen ihnen abspielte. Nun wurde er sich auch der Anwesenheit der Finger, auf seiner Brust richtig bewusst. Besonders bei tieferen Atemzügen fühlte er ihr Gewicht. Da wanderten sie langsam an ihm entlang, jagten ihm einen Schauer über den Rücken, bis sie sich für eine Sekunde entfernten. Er hätte sie selbst wegschlagen müssen - stattdessen sehnte er sich diese intime Berührung zurück.

„Glaubst du wirklich, dass du dich richtig entschieden hast?“

Nein. Das Gefühl hatte er nicht. Er kam sich seit Monaten eingezwängt vor, seiner persönlichen Freiheit auf Selbstverwirklichung beraubt. Und um ehrlich zu sein bohrte Tyson gerade ziemlich in dieser Wunde.

„Was willst du von mir hören?“

„Vielleicht das du mir in die Augen siehst und mir glaubhaft sagen kannst, dass dich die Aussicht, Tag für Tag in irgendeinem Büro zu versauern, und das auch noch für den Rest deines Lebens, nicht deprimiert? Ist das wirklich das, was du dir von deiner Zukunft erhoffst?“

Kai tat einen wehmütigen Atemzug.

„Warum ist dir das so wichtig?“

„Weil ich nicht will das du irgendwann einmal unglücklich bist.“

Erneut kehrte Schweigen ein. Zaghaft kämpfte sich der Mond wieder hinter der Wolkendecke hervor. Äußerlich versuchte Kai sich nichts anmerken zu lassen, doch sein Inneres fühlte sich an, als würde er von einer warmen Woge erfasst werden. Jemand wollte dass er glücklich wurde. Nicht wie sein Großvater, der einen Nachfolger wollte – Kai selbst dabei aber vergaß.

„Ich mag es wirklich wenn du betrunken bist.“, bemerkte Tyson inzwischen ein weiteres Mal. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. Gleich darauf waren die Finger wieder da. Dieses Mal strichen sie an Kais Gesicht entlang. Es ließ ihn kurz aufseufzen.

„Nicht weil du dann sanfter wirkst, sondern weil deine Wangen dann so rot werden.“

Die Finger drehten sein Kinn zu ihm. Sie blickten sich an.

„Deine Augen mag ich aber ganz besonders. Vor allem als ich dir auf der Brücke von meiner Mutter erzählt habe. Du hast dort so traurig geschaut. So mitfühlend… menschlich eben.“

„Weil es traurig war.“, sprach Kai leise.

„Du brauchst aber nicht traurig sein. Das ist schon so lange her.“

„Wie schaffst du es nur immer so lebensfroh zu bleiben - trotz so eines Verlustes?“

Tysons Hand legte sich auf seine Wange. Es trennte sie nicht mehr viel. Selbst die Atemzüge seines Gegenübers streiften sein Gesicht. Kai fühlte wie ein Daumen über seine Wange strich.

„Weil ich Menschen um mich herum habe, die mich glücklich machen. Einer kann das ganz besonders.“

Es wurde wieder still zwischen ihnen. Nur noch das Wasserspiel draußen war zu hören.

Auch auf den Straßen war es nun ruhiger. Bald würde der morgen anbrechen.

Niemand ahnte was sich hinter den Mauern dieses Gebäudes abspielte.

Das sich zwei junge Männer näher kamen als sie eigentlich sollten.

Kai wusste das er leicht betrunken war – doch nicht genug, um Tysons Andeutung nicht zu begreifen. Seine Lider senkten sich wissend. Er verstand endlich, was sich hier anbahnte und das er eigentlich zu benebelt war, um einen klaren Gedanken zu fassen.

Eigentlich sollte er dem ganzen einen Riegel vorschieben. Doch er war jeglichen Hemmungen beraubt. Stattdessen beschlich ihn die Vermutung, als würde er sich schon länger zu Tyson hingezogen fühlen. Seine Haut brannte. Sein Herz pochte ihm bis zum Hals. Die Luft um sie herum schien förmlich zu knistern.

So sollte sich Erregung anfühlen. Der Wunsch von jemandem angefasst zu werden…

Finger strichen eine Strähne aus seiner Stirn. Diese flüchtige Berührung verursachte ein Prickeln in ihm. Er versuchte an seinen Großvater zu denken, daran wie entsetzt er wäre, wenn sein Enkel sich als homosexuell entpuppen sollte. Aber eigentlich wollte er nur für heute Nacht keinen Gedanken an seine Zukunft verschwenden. Es wäre so schön sich einmal gehen zu lassen - er wollte die Gegenwart genießen.

„Kai, ich möchte ehrlich zu dir sein. Ich habe dich nicht ohne Hintergedanken heute Abend hier her eingeladen.“, hörte er Tysons Raunen. Dass er nicht abgewiesen wurde, machte ihn wohl mutiger. „Ich wollte mal wieder mit dir alleine sein. Wie in den ersten Wochen nach deinem Ausstieg. Aber in den letzten Tagen hattest du kaum Zeit und wenn doch, sind die anderen ständig um uns herum gewesen.“

„Warst du deshalb so schlecht gelaunt?“, wollte Kai wissen. Auch seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sie klangen wie ein Paar, was sich im Schutz der Dunkelheit, ihre Geheimnisse zu wisperte. Vielleicht waren sie das auch…

„Ich weiß nicht. Ich denke, ich habe dich einfach vermisst.“, er sah ein schelmisches Grinsen. „Dich und deine bissigen Bemerkungen.“

„Tatsächlich?“

„Ja. Ich mag deine freche Klappe.“

„Man könnte meinen du flirtest, Kinomiya.“

„Das kann ich nur zurückgeben, Hiwatari.“, da war er wieder. Dieser unwiderstehliche Schalk in Tysons Augen – und er konnte nicht mehr abstreiten, dass ihm das gefiel. Diese Verspieltheit war einfach ansteckend. Kurz darauf beugte Tyson seinen Oberkörper allmählich über ihn. Seine Hand tastete nach Kais, verhakte sich in seinen Fingern. Zu jenem Zeitpunkt dachte der schon gar nicht mehr an die Konsequenzen. Nicht eine Sekunde wollte Kai sich wehren. Stattdessen schloss er die Augen, sobald Tyson sich zu seinem Gesicht herabsenkte. Gleich darauf traf der erste Kuss seine Lippen.

Zärtlich, sanft, es jagte ihm wieder eine erregte Woge durch den Körper.

Auf diesen ersten, zaghaften Vorstoß, folgte ein weiterer. Bald waren beide in ihre Liebkosungen vertieft, verloren sich immer weiter in diesem Spiel. Kai fuhr mit den Fingern in Tysons Haar, drängte seinen Körper enger an ihn und fühlte dass die ersten Kleidungsstücke von ihm abfielen. Eines nach dem anderen…

Als sich ihre Lippen noch einmal lösten, spürte er bereits das Lächeln um Tysons Mundwinkel. Er schaute ihn an, fuhr mit seinen Fingern unter sein Oberteil und sprach: „Da ist eindeutig eine gewisse Anziehung zwischen uns, Kai.“
 


 

*
 

„Heute Nacht?“

Kai schaute noch immer auf die Worte. Dabei dachte er weiterhin an ihr erstes Mal. Viele Menschen sprachen davon, dass dieser Moment etwas Besonderes war. Früher hätte er darüber verächtlich die Augen gerollt - es für kitschig gehalten.

Doch es war tatsächlich so…

In jener Nacht verstand Kai zum ersten Mal, wie es sich anfühlte, sich nach den Berührungen eines anderen Menschen zu sehnen, zu dem man sich von ganzen Herzen hingezogen fühlte. Wie erlösend es sein konnte, wenn sich zwei Körper gegenseitig Befriedigung verschafften. Beide unterdrückten damals schon zu lange ihre Empfindungen füreinander und verschwendeten keinen Gedanken mehr daran noch zu warten. Am morgen danach war Kai dafür umso beschämter über sein hemmungsloses Verhalten gewesen. Doch noch bevor er sich in seine Spekulationen hineinsteigerte, über die möglichen Konsequenzen und seine Sorgen nachdachte, war Tyson neben ihm erwacht. Er hatte ihn langsam von hinten umschlossen, ihn ihm Nacken geküsst und war mit seinen Lippen weiter vor zur Halsbeuge gewandert. Als er sein besorgtes Gesicht sah, lächelte er aufmunternd.

„Nicht so viel nachdenken…“, drang das Raunen an sein Ohr. „Genieß es einfach.“

Und nach einem tiefen Atemzug, erwiderte Kai das Lächeln und drehte sich zu dem Brustkorb hinter seinem Rücken, um darauf seinen Kopf zu betten. Er erinnerte sich noch daran, wie er Tysons Herzschlag darin vernahm. Ein starkes, kräftiges Pochen.

Sie hatten nicht viel an diesem Morgen beredet. Einfach nur die Zärtlichkeiten des Anderen genossen. Kai merkte damals zum ersten Mal, dass er eine Schwäche dafür besaß, wenn man seine Halsbeuge küsste – und dass es ihn wohlig schaudern ließ, wenn ihm Tyson mit den Fingerkuppen federleicht über die Seiten fuhr.

Der dagegen brummte genüsslich, wenn man ihn im Nacken kraulte. Außerdem konnte er seine Hände nie im Zaun halten. Sie fuhren immer äußerst gewitzt an einer Partie seines Körpers entlang, besonders an seinem Hintern. Beide begangen ihre Körper noch einmal zu erforschen, bis sie sich so aufgeheizt hatten, dass sie sich ein weiteres Mal dem anderen hingaben. Und als Kai an jenem Morgen ging, küssten sie sich sehnsüchtig, mit dem leisen Versprechen, diese Nacht bald zu wiederholen.

„Wir kennen uns fünf Jahre.“, hatte Tyson mit einem verschmitzten Grinsen gemeint. „Da herrscht ziemlicher Nachholbedarf.“
 

Den hatte Kai auch jetzt gerade…

Und das obwohl er wieder im Zwiespalt mit seinem Kopf war. Sein Verstand - dieser scharfsinnige Verbündete der letzten Jahre - war zu seinem ärgsten Feind geworden.

Er hinterfragte ständig.

Er malte sich schlimme Szenarien aus.

Er wollte seinen Verpflichtungen nachkommen.

Den Erwartungen an seine Person gerecht werden. Ein Vorzeigeenkel, mit einer weißen Weste, der vor allem keine homosexuellen Tendenzen aufwies und nur mit seiner Firma verheiratet war. Voltaires Erbe…

Das Handydisplay hatte sich verdunkelt. Kai zögerte die Antwort schon ziemlich lange hinaus. Erst ein Blinken auf seinem Smartphone, ließ ihn wieder hinabschauen. Er öffnete den Chat wo nun eine weitere Nachricht stand: „Ein leeres Bett ist so unbequem und kalt. Ich kann unmöglich ohne meinen Glücksbringer schlafen!“

Tyson hatte morgen ein Turnier. Kai konnte sich bildlich vorstellen, wie frech er gerade schaute. Stünde er vor ihm, würde er in seinen dunklen Augen diesen lauernden Blick erhaschen, der ihm immer wieder diese erregte Gänsehaut über den Rücken jagte. Er fröstelte. Was wusste sein Kopf schon von Sehnsucht?

Dann begann Kai zu tippen: „Ich auch nicht.“
 


 

~ Ende ~
 



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (6)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  SenseiSasuNaru
2018-02-13T10:49:54+00:00 13.02.2018 11:49
Hallo welch schöne FF echt Klasse dein Schreibstil. Hat Spass gemacht sie zu lesen.lg
Von:  Tales_
2017-10-14T08:00:13+00:00 14.10.2017 10:00
Hi,

vorab Vielen Dank für deine Teilnahme! Ich hatte wirklich viel Freude beim Lesen deiner Fanfic. Du hast einen schönen Schreibstil und auch die Geschichte fand ich wirklich sehr gelungen. Dein ausgewähltes Wort und Szene waren perfekt eingebaut.

Die Charaktere waren einfach sehr gut getroffen! Wie sich das ganze immer mehr zwischen ihnen aufgebaut hat. Es hat einfach alles gepasst! Die Stimmung die du mit deiner Fanfic vermittelt hast hat mich einfach umgehauen. Man war vom ersten Moment an richtig gefesselt und es viel einem schwer mit dem lesen aufzuhören. Duch und durch eine wundervolle Fanfic, man bekommt einfach Lust auf mehr.

Ein großes Lob für diese tolle Fanfic!

Ich gratuliere dir zum ersten Platz!
Dieses Mal wird dieser zwar an zwei Geschichten vergeben, aber es war wirklich schwer mich da zu entscheiden. Ihr habt beide den ersten Platz mehr als verdient!

Lg Shanti

Antwort von:  Eris_the-discord
16.10.2017 09:10
Hi shanti, vielen lieben Dank Für dein Lob und den ersten Platz. Ich Teile ihn natürlich auch gerne, denn bei so vielen Geschichten muss es wirklich schwierig sein, eine Wahl zu treffen. ^_~

LG eris
Von:  sensless
2017-05-02T14:40:33+00:00 02.05.2017 16:40
Es ist immer wieder schön eine Fanfiction zu lesen bei der man Kopfkino hat - wie bei dieser hier!
Ich für meinen Teil konnte mich richtig in Kai hineinversetzen und gleichzeitig den Ärger Tysons nach Kais Ausstieg spüren. Oder wie er sich über Hillary aufgeregt hat während es Kai recht egal zu seien schien. Und die Sylvester Szene ist so wundervoll geschrieben dass einem dabei richtig warm wird - Hut ab!

Von:  Traiko
2017-04-29T17:23:59+00:00 29.04.2017 19:23
Was für eine superschöne FF! Boah ey xD
Ich fand es spitze, wie schön in-character sowohl Kai als auch Tyson, sowie alle anderen waren und wie diese Story wirklich im Beyblade Universum stattfinden könnte. Und du hast bei mir einen Nerv getroffen, mit Tysons Familienhistorie. Samuraigeschlecht hrrrr <3
Ich bin echt platt. Es hat wahnsinnig Spaß gemacht die FF zu lesen und ich kann eigentlich nichts weiteres dazu sagen, ohne dabei in Fanjubel auszubrechen xD Danke dir dafür <3
Von:  -Kai-
2017-04-29T09:53:22+00:00 29.04.2017 11:53
OMG ... erst habe ich mich überhaupt über eine FF gefraut und jetzt freue ich mich noch viel mehr, weil die so unglaublich gut ist!!! Was für ein wundervoller Start in den Tag!!!!
Sie sit einfach wahnsinnig gut geschrieben und ich konnte kaum aufhören zu lesen >.< immer und immer wieder musste ich mir gewisse Pasagen durchlesen, nur um erneut mein Herz mit Liebe zu füllen :D OMG das klang grade doof, ist aber so
Einfach herrlich, wie sich das so entwickelt und genauso habe ich mir das immer wieder vorgestellt zwischen den beiden. Andere Szenen usw, aber eben diese Vertrautheit, die Stimmung und die Gefühle zwischen ihnen ... einfach nur herrlich! Ich bin wirklich begeistert!!!!
Echt super schön..ich kann gar nicht aufhören nach Worten zu suchen, die beschreiben, wie toll die FF ist :D Gehört jetzt absolut zu meinen Favoriten! Vielen Dank dafür!!!!! <3 Hoffe man ließt noch mehr davon >.<
Von: abgemeldet
2017-04-29T08:17:33+00:00 29.04.2017 10:17
kyaaaaaaaaaaaaa, da fängt der morgen doch super gut an.
du kannst doch nicht einfach eine FF hochladen ohne mir vorher bescheid zu geben.
frechheit :D
aber die story ist so wundervoll und sehr schön geschrieben *schwärm* spitze!
du hast wirklich an alles gedacht. an jede kleinigkeit und wie sich tyson und kai in der geschichte langsam näher kommen, hach, ich habe so mitgefiebert und das langsame anbahnen der beiden, es war soooooo schön :3
besonders in der silvesternacht, kyaaa, traumhaft diese szene und sie hat so gut zu den beiden gepasst.
da haben die beiden jetzt ein kleines geheimnis zusammen, aber die gegenseitige anziehung war wirklich nicht zu überlesen *gg*
und die arme hilary sabbert immer noch den nun vergebenen halbrussen hinterher *lach*
tut mir mal so gar nicht leid xD
ich vergöttere dieses pairing!!!!
vielen lieben dank für diese wundervolle FF <3
dass rettet meinen tag und ich werde die ganze zeit grinsend wie ein honigkuchenpferd durch die gegend laufen :3


Zurück