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Siam Christmas

Original
von

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Siam Christmas

- Siam Christmas -
 

Die Außentemperatur beträgt noch immer 31 Grad Celsius. Sonnenuntergang war um 17:46 Uhr. Ein 15-Meter-Schneemann ragt auf dem Platz vor dem Central World in die Höhe und blinkt im Takt zu Shakin Stevens ‚Merry Christmas‘.
 

Es fühlt sich irgendwie surreal an hier zu sein – schwitzend unter einer Reihe von Palmen, während um einen herum die eindrucksvollste und gleichzeitig kitschigste Weihnachtsdekoration zum Leben erwacht, die ich jemals in meinem Leben zu sehen bekommen habe.
 

Das ganze erreicht ein völlig neues Level der Merkwürdigkeiten, als Kara oder Lara (ich kann mich an den genauen Namen nicht erinnern und mehrere Tage nach der Einführung, ist es einfach zu peinlich noch einmal nachzufragen) mir grinsend einen Plastikbecher mit einer blutroten Flüssigkeit in die Hand drückt.
 

„Oh mein Gott, was ist das?“
 

„Keine Ahnung, aber es ist gratis.“
 

Irgendwann werde ich gezwungen sein all meinen Freunden – ob sie es hören wollen oder nicht, hiervon zu berichten.
 

Ich bin völlig ungeeignet als Chronist.

Nicht nur, weil ich seit einer Woche die Übersicht über die Wochentage verloren habe oder darauf angewiesen bin, mir mit Kugelschreiber auf den Handrücken die Adresse unserer Unterkunft aufzuschreiben - nein, ich bin nicht einmal in der Lage mir die Skytrain Station zu merken, an der wir täglich aussteigen müssen. Man sollte mir einen Chip implantieren oder einen Brustbeutel um den Hals hängen, weil ich Gefahr laufe verloren zu gehen in dieser Weltmetropole.
 

„Was? Du fliegst nach Bangkok?“
 

Die erste Reaktion meiner Arbeitskollegen daheim im beschaulichen Dortmund.

Eigentlich war ich kein Stück voreingenommen. Wir leben im 21. Jahrhundert!

Es gibt Google und Wikipedia. Man kann sich informieren und vorab erkundigen. Oder aber man gestaltet sich seine eigene Weltanschauung voller Vorurteile und Klischees, die wahrscheinlich – nun ja, YouTube und meinefrage.de entspringen. Verflucht sei das 21. Jahrhundert!
 

Jedenfalls bekam ich von Ole – einem 150 kg schweren, 1.65 m kleinen, grauhäutigen Computerexperten, der polnische Sexzeitschriften auf seinem Schreibtisch hortet, eine Machete in Form eines Schlüsselanhängers und eine Tube Zahnpasta geschenkt.

Anke von der Personalabteilung reagierte mit ekstatischem Entsetzen und umarmte mich fünfmal hintereinander, als hätte ich verkündet innerhalb von zwei Wochen an einer seltenen Krankheit zu versterben.
 

Laut meiner Kollegen, entbehrt die Hauptstadt Thailands jeglicher Zivilisation.

Kein fließendes Wasser, keine Hotels, kein gar nix. Nur Sextourismus und kargen Reis aus Metallnäpfen gäbe es dort. Zehn Minuten ließ ich mich damals von diesem Unwissen anstecken und kämpfte gegen eine minimale Panikattacke. Dann beruhigte ich mich und begann mit meiner Recherche.
 

Und nun stehe ich hier. Teil des Austauschprogramms unserer deutschen Firma.

Wir bauen Rolltreppen, das ich alles, was ich dazu sagen will. Und nein, ich bin kein Ingenieur, ich bin nicht einmal in der Lage ein Spielzeug aus einem Überraschungsei zusammenzubauen.

Marketing.

Das klingt gut, das klingt beeindruckend. Etwas in der Art. Belassen wir es dabei.
 

Wir sind nun seit sieben Tagen hier. Oder neun, vielleicht auch vierzehn. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren und ertappe mich dabei, wie ich erneut auf mein iPhone blicke, um noch einmal zu kontrollieren, dass wir wirklich Freitag haben. Am Sonntag ist der 1. Advent.

Draußen sind noch 31 Grad, ein schmaler Thailänder im Weihnachtsmannkostüm quetscht sich an uns vorbei und ich stehe in dem größten und modernsten Einkaufszentrum, das ich jemals zu Gesicht bekommen habe. Am liebsten würde ich aufhören ein hochgewachsener Europäer zu sein und mich weinend auf den kühlen Boden sinken lassen.
 

Ich bin nicht geeignet für derlei Reizüberflutung. Und nur weil ich deutsch und blond und groß bin, heißt das noch lange nicht, dass ich Ahnung von Weihnachtstraditionen habe.

Unser Supervisor hier in Bangkok ist ein kleiner fröhlicher Brite mit einem grauen Schnurrbart, der dauernd halb geschmolzene Cadbury Schokolade verteilt. Bestimmt macht es Spaß mit ihm ein Bier trinken zu gehen und sich Anekdoten aus seinem Kleinstädter-Leben anzuhören, dennoch verspüre ich das Bedürfnis ihn mit einer Druckerpatrone zu verprügeln, weil er es war, der auf die saudämliche Idee kam, mich und drei andere deutsche Kollegen die Weihnachtsfeier organisieren zu lassen.
 

„Lassen Sie deutsche Traditionen mit einfließen! Damit Sie ein bisschen Heimatgefühl verspüren und Deutschland zur Weihnachtszeit nicht allzu sehr vermissen.“
 

Natürlich konnte ich nicht den Mut aufbringen, ihm zu sagen, dass wir zu Hause nie Weihnachten feierten, dass unsere Familie zerstritten bis zum Gehtnichtmehr war und ich seit meinem achtzehnten Lebensjahr Heilig Abend mit einem Mikrowellengericht und illegalen Downloads vor dem Laptop verbrachte.
 

Soviel zu den Umständen, wieso ich an einem Freitag (Applaus für Kalenderfunktionen auf dem Smartphone!) nach 18 Uhr mitten im Food Court in Bangkok völlig verloren herumstehe und auf Befehl fragwürdige Gratis-Getränke in mich hinein kippe.
 

„Wo ist noch einmal der Supermarkt?“
 

Ein Strom chinesischer Touristen drückt sich schnatternd an uns vorbei und ich verschütte mindestens 2 cl knallrote Flüssigkeit auf mein durchgeschwitztes weißes Bürohemd.
 

Die Frage kann unmöglich mir gelten. Mittlerweile haben alle drei meiner Kollegen gemerkt, dass ich orientierungslos, schüchtern und irgendwie seltsam bin. Leider gilt dies auch für Ebony.
 

E b o n y
 

Allein ihr Name klingt wie eine Symphonie. Als hätte Beethoven oder Brahms eigens für sie eine Melodie komponiert. Meine Schwester würde mich ohrfeigen für so viel Kitsch, aber zum Glück ist sie nicht hier und zum Glück für mich, findet diese Assoziation nur in meinem Kopf statt.
 

Sie ist halb afroamerikanisch und halb deutsch. Oder halb Deutsche und halb Amerikanerin? Ist das politisch korrekt? Für mich ist sie das schönste Mädchen – die schönste Frau -, die ich jemals gesehen habe. Heutzutage ist es schwer die Grenzen zu erkennen. Als blonder, blauäugiger Deutscher läuft man ständig Gefahr etwas Unpassendes zu sagen.
 

Zum Glück bin ich von Natur aus blass, verschüchtert und so introvertiert, dass man mich nur schwer bemerkt. Ein misslungenes soziales Experiment. Niemand würde mir Rassismus vorwerfen. Das hoffe ich zumindest. Entgegen meinen innerlich vorgetragenen Monologen, bedeutet es mir recht viel, was andere über mich denken.
 

Ohnehin bin ich der Ausländer hier. In jeder Bedeutung dieses Wortes. Kara – oder Lara -, ist halb koreanisch. Jean ist ein halber Franzose. Mit seinem Namen bin ich mir auch nicht besonders sicher. Er hat rabenschwarzes Haar und dunkle Augen mit langen Wimpern, die selbst hier in Thailand exotisch wirken. Ich bin der Einzige, der nur eine Herkunft vorweisen kann und somit fast schon langweilig. Es ist seltsam, wie schnell die Grenzen und die Definition von ‚anders sein‘ verschwimmen können. Wir müssen einfach nur die Perspektive und gegebenenfalls den Ort wechseln und schon zählt nichts mehr von dem, was wir zu sein glauben.
 

Ebony hat den riesigen Supermarkt hinter dem Food Court ausfindig gemacht und zeigt auf eine Reihe von Einkaufswagen.
 

„Brauchen wir einen?“
 

Wir entscheiden uns dafür und Jean (oder Jan?) übernimmt das Steuer.

Rechts von uns gibt es tatsächlich eine Wursttheke und ich entdecke das Symbol einer kleinen deutschen Flagge. Die Thais sind unglaublich. Genau genommen muss man auf nichts verzichten. Kara oder Lara und Ebony streiten sich ohne viel Enthusiasmus darum, ob wir Wurst einkaufen sollen oder einen Braten.
 

„Weiß einer von euch überhaupt, wie man einen Braten zubereitet?“, wendet Jean ein und die Frauen blicken ihn mit geneigten Köpfen an, als überlegten sie stattdessen ihn zu marinieren und anschließend zu filetieren.
 

„Ich mein ja nur. Lasst uns den Truthahn nehmen.“
 

„Ist das nicht eher Thanksgiving?“, wage ich einzuwenden.
 

Automatisch drehen sich Jeans und Lara-Karas Köpfe in Richtung Ebony, die beide Blicke mit erhobenen Händen und genervten Gesichtsausdruck kontert.
 

„Keine Ahnung. Ich bin in München geboren und aufgewachsen.“
 

Nun drehen sich drei Köpfe zu mir – dem blonden Deutschen, der keine Ahnung hat.
 

„Ich weiß das aus The Big Bang Theory.“
 

Wir entscheiden uns für Mortadella, obwohl ich Marmelade auf meinem Brot bevorzuge und sowohl Ebony wie auch Karaoderlara Vegetarier sind.
 

Es gibt Eggnog aus Neuseeland, der meinem bescheidenen Wissen nach, entfernt etwas mit Weihnachten zu tun hat. Wir sind alle über einundzwanzig und durften letzte Woche in dem riesigen IMAX-Kino einen Splatter-Film gucken. Wir hoffen deswegen alt genug für Eierpunsch aus Pappkartons zu sein. Das Haltbarkeitsdatum ist in Ordnung.
 

Verdammt, wir sind die geborenen Weihnachtselfen! Nur ohne Spitzohren und geringelten Strumpfhosen.
 

Leider gibt es nicht annähernd so etwas wie Christstollen oder Weihnachtsplätzchen. Das sind die beiden Dinge, die meine Zwillingsschwester und ich uns zu Hause manchmal in der Vorweihnachtszeit gegönnt hatten. Zwar fanden diese besinnlichen Augenblicke nur unterstützt von reichlich Glühwein auf Weihnachtsmärkten statt, aber das braucht eigentlich niemand zu wissen.
 

Aus den Lautsprechern über uns ertönt Last Christmas, während wir an den Kühlregalen entlang gehen und Kanister mit Orangensaft einer amerikanischen Marke in den Einkaufswagen laden. Soweit ich weiß, haben Orangen ebenfalls etwas mit Weihnachten zu tun.
 

Wir verlieren Kara-Lara und den französischen Jan irgendwo zwischen den Regalen mit Instant-Nudeln und japanischen Süßigkeiten.
 

Es ist das erste Mal, dass ich mit Ebony alleine bin. Sie hält ihr Smartphone – ein klobiges und veraltetes Samsung-Gerät -, zwischen beiden Händen und stützt sich am Einkaufswagen ab. Ihre Haut hat die Farbe von cremigem Milchkaffee und ist absolut makellos. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das denken darf. Mittlerweile ist so vieles nicht mehr… politisch korrekt. Selbst der Weihnachtsmarkt in Deutschland heißt nun Wintermarkt und das Aufstellen einer Krippe ist nicht mehr erwünscht.
 

Aber sie ist schön und ich will keines der Worte, die sie so gut beschreibt, aus meinem Wortschatz verbannen. Ihre dunkelbraunen Locken hängen ihr ins Gesicht und sie streicht sie sich flüchtig hinter das Ohr. Wenn es mir nicht mehr erlaubt ist ihre hellbraune Haut mit Schokolade oder Milchgetränken zu vergleichen, so ist es mir wahrscheinlich auch nicht mehr gestattet, mich selbst anhand von Lebensmitteln zu beschreiben.
 

Trotzdem…
 

Mein Haar hat die Farbe von reifen Bananen und wurde seit fünf Monaten nicht mehr geschnitten. Meine Vorgesetzten, die es zugelassen haben, dass ich weiterhin in einem Büro arbeiten darf, müssen extrem kurzsichtig sein. Meine Augen mögen blau sein, wirken jedoch eher wie die einer Wasserleiche, als wie die von Brad Pitt. Ich bin fast zwei Meter groß und muss in diesem Land öfter den Kopf einziehen, als es mir lieb ist, aber ich habe die Figur des Slender Man und bewege mich fort wie eine Spinne auf einem heißen Backblech.

Niemand findet das attraktiv.
 

„Würstchen mit Kartoffelsalat.“
 

Ich schrecke aus meinen Gedanken und einen Moment lang weiß ich weder wo ich bin, noch wer ich überhaupt bin.
 

„Wie bitte?“
 

Ebony hebt den Blick von ihrem Smartphone und zeigt mir das schönste Lächeln, das jemals ein weibliches Wesen auf den Lippen getragen hat.
 

„Ich hab’s gegoogelt. Ein traditionelles Essen an Heilig Abend.“
 

Wahrscheinlich habe ich begonnen unkontrolliert zu schlucken und zu japsen, denn sie zieht ihre perfekten Augenbrauen zusammen und streckt mir ihr Handy entgegen.

Das gigantische Display, das mich an den Röhrenfernseher meiner Großmutter erinnert, zeigt das Bild einer Ladung Bockwürste in einer weißen Porzellanschüssel, daneben eine antike Glasschale voller Kartoffeln mit geschätzt fünf Gallonen Mayonnaise.
 

„Meinst du hier gibt es Bockwürstchen zu kaufen?“
 

Der ultimative Flirteinstieg.

Am liebsten würde ich mich vor den nächsten Einkaufswagen stürzen und toter Mann spielen.
 

Karalara und Jean-Pierre-de-Jan sind noch immer verschollen. Wahrscheinlich machen sie irgendwo zwischen dem nickenden Santa Claus und den Blaubeer-Pockys miteinander rum.
 

Ebony beginnt den Einkaufswagen zu schieben, bevor ich Vollidiot auf die Idee komme, ihr dies gentlemanlike abzunehmen. Verunsichert stakse ich neben ihr her und schmeiße eine Großpackung Seetang Chips mit Chili Geschmack in den Wagen. Die Farbkombination von Grün und Rot erinnert an einen Stechpalmzweig und hat somit auf jeden Fall etwas mit Weihnachten zu tun.
 

„Du kommst aus München?“
 

Alarm! Alarm! Konversation!
 

Sie lächelt und bringt mich damit fast zum stolpern. Die Thais um uns herum entpuppen sich als sehr koordinierte Käufer. Zielorientiert und selbstsicher, entnehmen sie den Regalen die Ware und legen sie behutsam in grüne Einkaufskörbe.

Neben mir fegt Ebony eine Dose Heinz Tomatensuppe scheppernd in den Wagen.
 

„Wenn du glaubst, deswegen hätte ich Ahnung von besinnlichen Weihnachtsfesten, so muss ich dich leider enttäuschen.“
 

„Wenn ich an Bayern denke, kommen mir nun einmal traditionelle christliche Feiertage in den Sinn.“
 

Selbst als sie das Gesicht verzieht und beinahe verächtlich schnaubt, wirkt dies immer noch anmutig.
 

„Mein Vater hat meine Mutter in den Weihnachtsfeiertagen, als ich zehn war, verlassen. Seitdem haben wir kein Fest mehr gefeiert. Ich glaub das hat ein Trauma hinterlassen, weißt du? Jedenfalls verbringe ich Weihnachten zu Hause immer mit Freunden in der Disco.“
 

„Sagt man noch Disco?“
 

Sie legt den Kopf schief und scheint ernsthaft darüber nachzudenken.
 

„Ne, ich glaub man sagt mittlerweile Club. Sagt man eigentlich noch Weihnachten?“
 

Jetzt ist es an mir zu überlegen.
 

„Ich glaub man sagt nur noch Feiertage.“
 

„Politisch korrekt?“
 

„Vermutlich auch nicht.“
 

Wir müssen gleichzeitig laut lachen und werden von zwei Kindern orientalischer Herkunft angestarrt, als wären uns zusätzliche Köpfe gewachsen.
 

„Finn?“
 

Ich hab vergessen, dass das mein Name ist und reagiere zwei Sekunden zu spät.

Seien wir ehrlich. Es ist ein alberner Name. Mein Name. Niemand, der noch Anfang der Neunziger geboren ist, heißt so.
 

Als ich mich endlich zu ihr umdrehe, blicke ich in grünes, plastikverschweißtes Basilikum.

Die Thais küssen sich nicht in der Öffentlichkeit, aber Ausländern schenkt man diesbezüglich keine Beachtung. Man lässt sie einfach gewähren und man wird weder verächtlich angestarrt, noch darauf hingewiesen, dass sich Zuneigungen solcher Art in einem riesigen Supermarkt, der von deutscher Wurstware bis Matcha KitKat alles führt, was das ausländische Herz begehrt, nicht gehört.
 

„Das ist kein Mistelzweig“, wende ich fast selbstsicher ein und bin doch nicht in der Lage das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.
 

Sie lächelt wieder und stupst mich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. Ihre Nägel sind gold-grün lackiert. Auch das hat etwas von Weihnachten.
 

„Halt die Klappe“, sagt sie.
 

Und das ist so ziemlich das besinnlichste, das ich jemals in der Weihnachtszeit vernommen habe.



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