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Zerbrechlich

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Das im Haus spielende Musikstück ist Chopins Fantaisie Impromptu. Komplett anzeigen

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Eisblumen

Sebastian drückte seinen Rücken gegen die Mauer des Hauses. Sie war unangenehm rau und kalt, aber sein Körper war derart angespannt, dass er keinen weiteren Gedanken daran verschwendete. Seine Hände hielten seine Dienstwaffe umklammert, er zielte nach unten.

Joseph, sein Partner, stand auf der anderen Seite der Tür, ebenfalls an die Wand gepresst. Seine gerunzelte Stirn verriet, dass er angestrengt nachdachte. Hätte Sebastian raten müssen, wären es alle Informationen über den Fall gewesen, die ihm durch den Kopf gingen. Grundriss des Gebäudes (wie viele Zimmer gab es, wo waren die Zugänge, welche Winkel könnten als Verstecke genutzt werden), Anzahl der sich im Haus Aufhaltenden (vermutlich zwei, ein Ziel und ein Opfer, möglicherweise mehr, aber unwahrscheinlich), Protokoll (alle Zimmer sichern, ehe die Suche aufgenommen wird, Beweise sicherstellen), Informationen des Opfers (Miriam Sunder, 14 Jahre alt, braunhaarig), Informationen des Täters (Steve Kennedy, 37 Jahre alt, schwarzhaarig, vorbestraft wegen illegalen Waffenbesitzes, möglicherweise bewaffnet) und Deeskalationsmethoden (nicht auf einen in die Ecke gedrängten mutmaßlichen Mörder zustürmen, nur schießen, falls wirklich notwendig, Leben des Opfers so gut als möglich schützen).

Die Kollegen der Spezialeinheit – vermummt, in einheitlicher Uniform, mit bedrohlich aussehenden Gewehren – verteilten sich um das Gebäude. Ihr Gang war aufeinander abgestimmt, leicht in die Knie, fast lautlos, nur vorbeiziehende Schatten im Dunkeln, immer nur für Sekundenbruchteile erhellt, wenn sie den Kegel einer Straßenlampe passierten. Wenn das Ziel nicht gerade zufällig aus dem Fenster sah, ahnte er nicht einmal etwas von ihrer Ankunft, von dem Schwert des Damokles, das über ihm schwebte. Ginge es nach Sebastian, hätte er das Schwert bereits niederfahren lassen. Aber seine Vorgesetzten bestanden auf diesen Zirkus. ›Retten Sie das Opfer, indem sie Zeit verschwenden und damit die Chancen mindern, es noch lebend zu finden.‹ Welch hervorragende Logik. Sebastian hätte am liebsten darauf gespuckt.

Er atmete aus. Eine weiße Wolke schwebte vor seinem Gesicht, erinnerte ihn daran, wie kalt es war. Seine Finger wurden langsam taub.

Eine plötzliche Bewegung von Joseph, lenkte seine Aufmerksamkeit auf seinen Partner. Das SWAT-Team war einsatzbereit, sie konnten endlich rein. Nun ging es um jede Sekunde.

Sebastian löste eine Hand von der Waffe, hob drei Finger. Joseph nickte. Zwei Finger. Einen.

»Zugriff«, ertönte gedämpft die Stimme des SWAT-Captains – Benson – der bei ihnen stehengeblieben war.

Mit beiden Händen umfasste Sebastian die Pistole wieder, trat gleichzeitig mit seinem Partner von der Wand weg und wandte sich der Tür zu. Im selben Moment ließ ein SWAT-Mitglied bei ihnen die Tür mit einer handlichen Ramme aufbrechen. Ein Krachen in Stereo verriet, dass dasselbe bei der Hintertür geschehen war.

»Los, los, los!«

Das Team stürmte hinein, wie ein Strom von schwarzen Ameisen, perfekt aufeinander abgestimmt, sie trennten sich nach wenigen Schritten, um jeweils zu zweit die Räume, den Keller und den Dachboden zu inspizieren. Die Strahlen ihrer Taschenlampen wanderten durch die dunklen Räume, erhellten die Fenster und die darauf entstandenen Muster. Abgesehen von den schweren Schritten war noch nichts zu hören. Ein gutes Zeichen?

»Sauber!«, erklang plötzlich der erste Ruf von drinnen, gefolgt von einem weiteren: »Sauber!«

Das war das Zauberwort für Sebastian und Joseph. Mit gesenkten, aber schussbereiten Waffen, betraten sie ebenfalls das Haus. Ihm fiel sofort die Kälte auf, die im Inneren herrschte. Er hätte geschworen, dass es hier drinnen noch deutlicher war als draußen. Wenigstens war der vorherrschende Gestank dadurch nicht so intensiv.

Er erinnerte sich daran, wie er und Joseph im letzten Sommer, bei 35° im Schatten, das Haus eines mutmaßlichen Serienmörders durchsuchen mussten. Nachbarn hatten sich über den Geruch beschwert, sie beide waren im Inneren fast davon erschlagen worden. Zwischen all den verfaulenden Körperteilen hätten sie den Mörder beinahe übersehen. Er musste bereits seit einer Weile tot gewesen sein, sein eigener Körper war annähernd vollständig verflüssigt und von Fliegen übersät. Der Geruch hatte ihm noch wochenlang in der Nase gesteckt.

Deswegen konnte er sagen, dass sie in diesem Haus keine Leiche finden würden. Auch durch die Kälte hindurch roch er keinen Verwesungsgeruch, sondern Staub, Schimmel, Fäkalien, Urin. Seltsamerweise machte es das besser, trotz des Gestanks; es machte ihm Hoffnung.

Die Räume im Erdgeschoss waren eindeutig schon lange unbewohnt. Die alten Möbel waren voller Staub, Spinnweben so dicht wie Seidentücher hingen in den Ecken. Irgendwo konnte er ein Klavier eine aufgeregte Melodie spielen hören, aber derart undeutlich, dass es möglicherweise in einem Nachbarhaus stattfand.

Sebastian blieb an einem Fenster stehen. Jenseits davon war nur Dunkelheit zu sehen, aber er interessierte sich auch mehr für das Glas selbst. Die Kälte hatte zahlreiche hauchfeine Muster darauf gebildet, die sich von außen nach innen voran arbeiteten, Ranken, die ineinander verschlungen waren, einmalig und … wunderschön. Es war lange her, seit Sebastian zuletzt Eisblumen gesehen oder zumindest beachtet hatte. Damals war Lily noch am Leben gewesen. An den Fenstern ihres Hauses waren auch derartige Kunstwerke entstanden. Lily hatte sie stets entzückt betrachtet, derart gedankenverloren, dass man sich einfach hatte zu ihr setzen können, um sie ebenfalls zu bewundern. Eigentlich war es eine solche Kleinigkeit gewesen, nicht weiter der Rede wert, und doch …

Aber dann war alles in Flammen aufgegangen, die Fenster in der Hitze zersplittert, nun gab es nur noch Asche in seinem Leben. So viel Asche, die in seiner Kehle steckte.

Sein Hals wurde trocken. Noch nie zuvor hatte er sich so sehr nach einem Glas Whisky gesehnt. Er sah in Richtung der Schränke, fragte sich, ob einer davon eigentlich ein Barschrank war und ob sich darin dann wohl Alkohol befindet. Egal welcher, Hauptsache etwas, um die Asche wegzuspülen und die Kehle wieder freizubekommen.

»Sebastian?« Josephs Stimme lenkte seine Aufmerksamkeit von den Schränken fort.

Nur träge gelang es ihm, auch seinen Verstand auf seinen Kollegen zu fokussieren. »Was ist?«

Sein Partner nickte in Richtung des Ganges. Die anderen Mitglieder der Spezialeinheit hatten sich dort inzwischen versammelt, sie waren immer noch angespannt und starrten allesamt in eine bestimmte Richtung. Erst als Sebastian seinen Blickwinkel änderte, indem er ein paar Schritte nach links tat, erkannte er, dass sie auf eine Tür unter der Treppe sahen.

»Dort geht es in den Keller«, erklärte Joseph. »Sie gehen davon aus, dass er dort ist.«

»Dann hat er uns schon gehört.« So wie sie alle herumgestampft waren.

Aber sein Partner schüttelte mit dem Kopf. »Hörst du es nicht?«

Meinte er das Klavier? Es spielte immer noch, inzwischen war die Melodie wesentlich ruhiger als noch zuvor. Er lauschte genauer, ging in die Knie – und stellte dabei fest, dass die Musik aus dem Keller kam. Dass er sie selbst durch den Boden hören konnte-

»Wahrscheinlich hat er uns noch nicht bemerkt.« Joseph fasste perfekt seine Gedanken zusammen.

»Bleibt nur zu hoffen«, brummte Sebastian.

Mit gesenkter Waffe näherte er sich ebenfalls der Tür. SWAT-Captain Benson gab seinen Männern mit der Hand einen lautlosen Befehl. Einer von ihnen trat drauf vor, stellte sich seitlich neben die Tür und öffnete diese leise. Sofort verdoppelte sich die Lautstärke der Musik. Dagegen begaben sich die SWAT-Mitglieder geradezu lautlos durch die Tür, worauf sie in der Dunkelheit verschwanden. Nachdem fünf von ihnen hindurchgegangen waren, bedeutete Benson Sebastian, dass er ihnen folgen sollte.

Kaum war er durch die Tür getreten, intensivierte sich der Gestank. Kennedy musste sich schon länger in diesem Keller aufhalten. Aber noch immer kein Verwesungsgeruch, Sebastian hoffte noch.

Die Holztreppe knarrte unter seinen Füßen, durch die Musik war es kaum zu hören, aber es kam ihm vor als ob selbst die Nachbarn nun von seiner Anwesenheit im Keller wissen müssten. Er war erleichtert, als seine Füße endlich auf Beton trafen.

Das SWAT-Team hatte sich in dem kleinen Raum versammelt. Sebastian entdeckte ein einfaches Regal, gefüllt mit Konserven, und eine hölzerne Tür, auf die alle Männer gerade angespannt starrten. Die Musik schien von der anderen Seite zu kommen. Sebastian glaubte dennoch, sein eigenes Herz schlagen zu hören. Er schmeckte Asche in seinem Mund, spürte sie in seiner Kehle. Er wollte sie aus seinem System spülen, sie einfach nur noch loswerden. Sein Innerstes gierte nach Alkohol, um sich selbst vom Denken abzuhalten. Nur ein Schluck und alles könnte besser werden. Nur ein einzelner. Seine Hände begannen zu zittern.

Aber dafür war keine Zeit. Nicht jetzt. Nicht in dieser Situation.

Sebastian zwang sich selbst, sich wieder auf die Szene vor sich zu konzentrieren. Er war ein Detective des KCPD, er durfte sich nicht gerade jetzt verlieren. Durfte nicht zittern.

Einer der Männer zählte mit den Fingern runter. Drei. Zwei. Eins.

Mit einem kräftigen Tritt traten sie die Tür ein. Die Musik wurde noch einmal lauter. Das SWAT-Team stürmte in den Raum hinein, Schreie erklangen durcheinander, gingen aber im Lärm unter. Sebastian hörte lediglich ein wütendes »Keine Bewegung! Keine Bewegung!« heraus. Aufgrund der Sicherheit mussten er und Joseph abseits der Tür stehen, so konnten sie nicht beobachten, was vor sich ging. Aber es wurde kein Schuss abgefeuert, das war ein gutes Zeichen. Jemand stieß gegen den Musikspieler, das Klavier verstummte. Ein leises Schluchzen wurde hörbar.

Schließlich erklang das erlösende »Gesichert!«, Sebastian betrat den Raum ebenfalls. Ein stark kupferhaltiger Geruch erfüllte diese Kammer, getrocknetes Blut klebte auf dem Boden, den Wänden und einigen Werkzeugen, die Sebastian nur oberflächlich betrachtete. Drei Männer des SWAT-Teams hielten Kennedy auf dem Boden, die Handschellen waren bereits angelegt. Der Täter atmete schwer, Schweißtropfen liefen seinen kahlrasierten Kopf hinab.

Das Schluchzen kam von einem Mädchen, das auf einem Stuhl saß, der direkt aus der Praxis eines Zahnarztes zu stammen schien. Zwei Männer waren gerade damit beschäftigt, ihre Fesseln zu lösen, mit denen sie an den Stuhl gebunden war.

Miriam Sunder, 14 Jahre, sah klein und zerbrechlich aus, während sie blutbesudelt dasaß und weinte. Der Anblick war genug, dass Sebastian am liebsten auf Kennedy eingetreten hätte, so lange bis dieser sich nicht mehr bewegte, bis er niemals wieder jemanden derart verletzen könnte.

Das Gefühl von Asche füllte seinen Mund. Er brauchte unbedingt Alkohol!

Joseph war hinter ihm in den Raum gekommen und sprach nun leise auf Miriam ein, versicherte ihr, dass alles gut werden würde, dass ihre Eltern im Krankenhaus auf sie warteten. Draußen erklangen die Sirenen des Rettungswagens. Kennedy wurde auf die Füße hochgezogen und auf die Tür zugeschleift, während er wilde Verwünschungen ausstieß.

Sebastian atmete tief durch, dabei hatte er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Seine Nase war mit Asche verstopft, genau wie sein Mund, seine Kehle … er bestand nur noch daraus, und eine einzelne Erschütterung könnte ausreichen, um ihn zusammenbrechen zu lassen.
 

Als Sebastian in sein kleines Apartment zurückkam, löste er erst seinen Pistolenhalfter, legte diesen auf dem gewohnten Platz ab, und goss sich ein Glas Whisky ein. Der erste Schluck brannte in seiner Kehle, spülte jede Asche fort, die sich dort jemals befunden haben mochte.

Dank Josephs Hilfe war er früher mit Kennedys Verhör (er war geständig gewesen, das hatte auch alles beschleunigt) und seinem Bericht fertig geworden. Gerade rechtzeitig, ehe er aufgrund des Durstes jemandem die Nase gebrochen hätte.

Als er das zweite Glas leerte, schwanden die Probleme bereits, flossen mitsamt dem Alkohol irgendwo hin, wo er sich nicht mehr damit befassen müsste. Endlich konnte er aufhören, sich Gedanken zu machen. Ob nun über Lily oder Miriam oder Kennedy. Alles war egal.

Er füllte sein drittes Glas und trat damit ans Fenster. Von seinem Apartment aus konnte er einen Teil von Krimson City überblicken. Keinen guten Teil, aber seit er hier lebte, hatte sich die Kriminalität in der Gegend verringert. Das war etwas Gutes. Aber dennoch gab es dort draußen immer noch genug Verbrecher wie Kennedy und genug Opfer wie Miriam. Es endete einfach nie. Genau wie die Asche niemals gänzlich zu verschwinden schien, egal wie viel Alkohol er trank.

Lohnte sich das alles dann überhaupt noch? Gab es ohne Lily überhaupt noch einen Grund zu kämpfen? Er könnte diese verkommene Stadt nicht retten. Also könnte er genau so gut auch einfach aufgeben und allem seinen Lauf lassen. Seinen Eid brechen, den er damals abgelegt hatte, als er erstmals Polizist geworden war. Damals, als er noch geglaubt hatte, ihm stünde die ganze Welt offen. Inzwischen war er aus diesem Traum aufgewacht. Vielleicht wurde es Zeit, endlich die Konsequenzen zu ziehen und aufzugeben, die Stadt anderen Helden zu überlassen.

Während er den Blick schweifen ließ, fiel ihm etwas an seiner Scheibe auf. Dort, am äußersten Rand, ganz zaghaft, erwuchsen Eisblumen. Das Muster war noch lange nicht so ausgeprägt wie jenes, das er in Kennedys Haus gesehen hatte, aber es war unweigerlich vorhanden. Langsam würde es sich die ganze Glasscheibe erobern, sofern er das geschehen ließ. Er war derjenige, der darüber entscheiden musste, wie es damit weiterging. Die Eisblumen sahen zerbrechlich aus, so wie Miriam Sunder es gewesen war, als sie auf diesem Stuhl gesessen hatte. Das Mädchen, das sie aus der Gewalt eines Entführers befreit hatten, das sich noch bei ihnen bedankt hatte, als die Rettungssanitäter es in den Krankenwagen geschoben hatten.

Es war seinen und Josephs Ermittlungen zu verdanken, dass Miriam gerettet werden konnte. Es war ihnen möglich gewesen, Kennedys Aufenthaltsort rechtzeitig zu bestimmen und ein Team zu organisieren. In all dieser Korruption und Verdorbenheit hatten sie wirklich einen Unterschied gemacht. Vielleicht war es nur ein gerettetes Mädchen gewesen, aber die gute Tat der Rettung würde sich ausweiten, so wie diese Eisblumen auf seinem Fenster, auch wenn sie zerbrechlich erschienen. Und eines Tages würde vielleicht Güte in der Stadt herrschen. Selbst wenn das nur ein fragiler Friede war, der nur für wenige Tage anhielt, so hatte sich alles gelohnt. Noch konnte er hoffen. Seine Lippen kräuselten sich ein wenig, er trank das dritte Glas Whisky aus und wandte sich vom Fenster ab.

Ja, noch war nicht die Zeit, aufzugeben. Er musste sich nur ein wenig mehr bemühen – und gleich morgen würde er damit anfangen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  DarkRapsody
2017-12-03T13:45:14+00:00 03.12.2017 14:45
Wuhaa, du hast das so gut geschrieben! Ein wunderbarer Beitrag für Eisblumen und The Evil Within hat mich dann doch gelockt es zu lesen ^-^ Fav ist auf jeden Fall von mir dabei!
Antwort von:  Flordelis
03.12.2017 18:01
Danke sehr. ^///^
Es freut mich, dass es dir gefiel. =D


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