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Blutrote Sonne

von

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Solfrid


 

Shirlee Bright durchschritt die Ruinen einer Stadt, die vor einer Woche noch eine belebte Handelsmetropole gewesen war. Die Absätze ihrer Schuhe klickten auf dem Asphalt, schreckten immer wieder wilde Tiere auf, die in den Schatten gerade nach etwas zu essen suchten. Zumeist waren es Hunde oder Katzen, möglicherweise waren es frühere Haustiere. Shirlee bedachte sie stets nur mit einem flüchtigen, desinteressierten Blick, der ihnen verraten sollte, dass sie ihnen nichts antun wollte. Manche schienen sie wohl zu verstehen, denn sie kehrten ohne Umschweife wieder zu ihrer Futtersuche zurück statt weiter wegzurennen.

Sie war nie zuvor hier gewesen, deswegen fand sie ihren Weg durch die Trümmer nur mittels der Karte, die ihr Handy ihr anbot. Manchmal musste sie einen Umweg laufen, weil Trümmer ihr den Weg versperrten, aber ihr Ziel blieb ihr stets vor Augen: der Golsreb Tower. Der Wolkenkratzer war genau 444 Meter hoch, mit verglasten Fronten, die sich in der Sonne spiegelten – zumindest früher einmal.

Der Turm stand noch, aber das Glas war zerbrochen. Auf dem Dach, manchmal von Rauchwolken verdeckt, blühte eine riesige rote Pflanze, die an eine Alpinia purpurata erinnerte, eine exotische Schönheit, die aber vollkommen fehl am Platz war. Die Außenwand des Gebäudes war mit roten Ranken überwuchert, sie pochten, pulsierten, bewegten sich und schnappten sogar nach vorbeifliegenden Vögeln. Wann immer sie einen erwischten, schoben sie diesen durch eines der zerstörten Fenster. Shirlee konnte es nicht sehen, auch nicht mit dem Fernglas ihrer speziell angefertigten Brille, aber sie war überzeugt, dass die Pflanze im Inneren damit gefüttert wurde.

Grüne Kreise bewegten sich über ihre Gläser, fixierten verschiedene Stellen der Ranken, darauf wurden diverse Informationen eingeblendet, die sie gerade nicht interessierten. Sie wusste, dass die Pflanze mit giftigen kleinen Dornen bewehrt war, dass sie rein instinktiv auf Bewegungen reagierte und sie weder sehen noch hören konnte. Mehr boten ihr auch die zusätzlichen Informationen nicht, abgesehen von einer Sache: Innerhalb der roten Blüte auf den Dach befand sich das, was sie suchte.

Das war alles, was sie wissen musste.

Shirlee schob einen kleinen Schalter am Bügel ihrer Brille zur Seite, worauf das Informations-Overlay verschwand, es war nur noch eine normale Sehhilfe. Mit den Händen in den Manteltaschen setzte sie ihren Weg fort. Sie kickte einige kleine Steine weg, die dort lagen, wo sie lief. Bislang hatte sie noch keinerlei Feind ausmachen können, außer eben die Pflanze. Sie dachte gerade darüber nach, was das für ein simpler Auftrag war – da hörte sie ein verräterisches Klicken. Geistesgegenwärtig huschte sie hinter eine herabgefallene Betonplatte, die gegen die Reste einer Hausmauer lehnte. Kaum war sie in Sicherheit, knallte ein Schuss. Die Kugel schlug in die Platte ein, hinter der sie sich versteckte.

Dann bin ich doch nicht allein hier, fuhr es ihr durch den Kopf. Unwillkürlich schob sie sich eine Strähne ihres schwarzen Haares hinter das Ohr; sie hätte sie vor dem Auftrag doch noch schneiden sollen. Nun war es zu spät, sie musste sich konzentrieren.

Der Golsreb Tower war außerhalb ihrer Sicht, aber sie hörte, die Steine, die von den nervösen Ranken aufgewirbelt wurden.

»Ich weiß, dass du da bist!« Die laute Stimme eines Mannes drang zu ihr herüber. »Glaub nicht, dass du mir entkommen kannst, Erste

Sie lehnte sich zur Seite, warf einen Blick hinter der Platte hervor. Ihre Augen wanderten über das zerstörte Haus gegenüber. Dort, im ersten Stock, entdeckte sie die Mündung eines Gewehrs in einem Fenster. Der Schütze selbst lag im Schatten.

»Ich bin nicht hier, um zu kämpfen!«, rief sie zurück. »Ich bin nur hier, um Solfrid zurückzuholen!«

Wieder ein Schuss. Der Asphalt direkt vor ihr platzte auf. Sie lehnte sich wieder etwas zurück. Ihn mit ihrer Pistole zu treffen, könnte sie so vergessen.

»Das wird niemals geschehen!« Seine Stimme schnappte fast über. »Solfrid gehört mir

Shirlee rief sich die Auftragsdaten in Erinnerung. Der Einbruch in die eigentlich geschützte Lagerhalle der Firma, der Diebstahl, der Täter, der von Überwachungskameras festgehalten worden war und dadurch hatte identifiziert werden können.

»Haul Selston«, murmelte sie, »48 Jahre alt, Ex-Militär, Scharfschütze, ehrenhaft entlassen, keine Vorstrafen.«

Kein Wunder, dass er ziemlich gut im Zielen war. Aber auch in anderen Bereichen dürfte er überdurchschnittlich befähigt sein. Sie musste sich wirklich etwas einfallen lassen.

»Was willst du jetzt machen, Erste?!«

Mit dem Rücken zur Platte bewegte sie sich zur anderen Seite hinüber. Dabei legte sie den Kopf in den Nacken und stellte ihm eine Gegenfrage: »Was hast du mit ihr vor? Willst du sie für immer hier einsperren? Oder mit ihr weitere Städte vernichten?«

Eine weitere Kugel schlug in die Betonplatte ein. »Das war nur ein Versehen!«

Wie zerstörte man aus Versehen eine Stadt? Wie rechtfertigte man das vor sich selbst? Shirlee deutete ein Kopfschütteln an, dafür war gerade keine Zeit. Ihre Anordnung lautete, Solfrid zurückzuholen. Die Beweggründe ihres Entführers oder die genauen Umstände des hiesigen Desasters waren dabei unerheblich. Darum würde man sich im Labor kümmern. Aber dafür musste Solfrid erst einmal dorthin zurück.

»Sie wollten sie mir wegnehmen!« Selston hatte Mitteilungsbedarf. Ihr kam es gelegen, vielleicht achtete er so nicht auf sie. »Das konnten wir nicht zulassen! Solfrid gehört zu mir!«

Auf der anderen Seite der Platte, wo Schutt ihr den Weg nach vorne versperrte, wagte Shirlee einen weiteren Blick zum Haus. Es war etwa 70 Meter entfernt, die Distanz könnte sie in einem kurzen Sprint schaffen. Das Gewehr bräuchte Zeit zum Nachladen, dann zum Zielen. Ihre körperlichen Werte waren überdurchschnittlich, aber Selston war ein vom Militär ausgebildeter Scharfschütze, das glich ihren Vorteil wieder aus. So funktionierte das nicht.

»Aber wir sind nicht böse.« Er klang fast schon vernünftig. »Wir wissen, was ihr mit ihr vorhabt. Das können wir nicht zulassen!«

Was auch immer Solfrid ihm eingegeben hatte, er glaubte es blind. Kein Wunder, dass er zu ihrem Opfer geworden war. In einem solchen Fall griff Aktion Ex, auch wenn sie nicht gern danach handelte. Es war anstrengend, körperlich und geistig. Aber ihr blieb keine andere Wahl.

Sie griff in ihre Tasche und zog eine blaue Dose heraus. Schon in ihrer Hand verbreitete sie einen leicht stechenden Geruch, den aber nur Shirlee wahrzunehmen schien. Keiner ihrer Kollegen hatte jemals auch nur das Gesicht verzogen, wenn sie damit hantierten.

Das ist nicht der Zeitpunkt, ermahnte sie sich.

Sie entfernte den Splint und warf die Dose in Richtung des Hauses. Dann kehrte sie wieder zu der anderen Seite zurück, um rechtzeitig loslaufen zu können. Kaum hörte sie einen Schuss, schloss sie die Augen. Sie hörte, wie die Dose, von der Kugel getroffen, zerplatzte. Selbst durch die geschlossenen Augen und durch die Platte geschützt, sah sie durch die Lider ein gleißendes Licht die Umgebung erhellen.

Selston fluchte. Shirlee kam aus ihrer Deckung heraus, rannte los. Sie achtete nicht auf etwas anderes, rannte einfach nur auf das Haus zu, zählte dabei innerlich die Sekunden.

Eins.

Im schlechtesten Fall hielt die Wirkung der Blendgranate gerade einmal fünf Sekunden.

Zwei.

Im letzten hundert Meter Lauf hatte sie zwölf Sekunden für diesen gebraucht.

Drei.

70 Meter waren zwar weniger, aber hier musste sie auch noch Trümmern ausweichen.

Vier.

Aber er bräuchte auch Zeit, sich an die geänderte Situation zu gewöhnen und das Gewehr neu auszurichten.

Fünf.

Sie war fast da.

Statt ein großes Trümmerstück zu umgehen, sprang sie behände darüber. Kaum war sie auf der anderen Seite gelandet, peitschte ein erneuter Schuss, die Kugel sprengte etwas Beton aus dem Trümmerstück hinter ihr.

Er ist eben ein Profi.

Mit einem Hechtsprung brachte Shirlee sich außerhalb der Reichweite des Gewehrs in Sicherheit – aber nun stand sie mitten im halb eingefallenen Wohnzimmer des Hauses. Hastige Schritte im Stockwerk über ihr verrieten, dass auch Selston seinem Vorteil gewahr geworden war.

Shirlee zog eine Pistole aus ihrem Halfter, dann begab sie sich hinter den Resten eines Sofas in Deckung. Es war das einzige Möbelstück, das noch irgendwie erkennbar war. Und das einzige, hinter dem man sich verstecken könnte, deswegen gab sie sich keinen Illusionen hin, hier nicht entdeckt zu werden. Aber es musste reichen.

Selstons schwere Schritte verrieten, dass er vor der Tür stehenblieb. Mit einem einzigen Tritt beseitigte er dieses Hindernis. Als sie nichts weiter hörte, bestätigte sie mit einem vorsichtigen Blick, dass er direkt neben der Tür in Deckung gegangen war. Er musste befürchtet haben, dass sie zuerst einen Schuss abgeben würde.

Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, dabei knarrten die Bodendielen unter ihr. Selston schnellte hervor und schoss zielsicher auf das Sofa. Shirlee hörte, wie die Kugel in das Polster eindrang, dann aber gegen einen hölzernen Rahmen stieß und ausgebremst wurde. Sie atmete durch, verfluchte die Bodendielen und bewegte sich vorsichtig rückwärts. Glücklicherweise gab es kein weiteres Knarren.

Behutsam aufsetzende Schritte erklangen. Selston war in den Raum getreten, um einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen. Er steuerte direkt auf das Sofa zu. Ihr Griff um die Pistole wurde fester. Sie hätte nur den Bruchteil einer Sekunde, wenn er sie entdeckte. Ihr ganzer Körper war angespannt.

Da bellte draußen ein Hund.

Selston fuhr herum, gab einen Schuss ab. Shirlee richtete sich auf, sprang über das Sofa und stand dann schon direkt hinter dem Mann. Sie riss ihre Waffe hoch, hielt sie an seinen Hinterkopf – aber drückte nicht ab.

Ihr Körper war noch immer angespannt, genau wie der von Selston. Er hatte nicht einmal das Gewehr sinken lassen.

»Sieht so aus als wäre das Glück mit dir.« Er klang absolut gefasst. »Aber ich werde bei Solfrid bleiben, selbst wenn ich nicht mehr lebe.«

Sie sollte einfach abdrücken. Seine Worte ignorieren und ihren Auftrag erfüllen. Aber …

»Was hattet ihr vor?«, fragte Shirlee. »Was wolltet ihr erreichen?«

Schweigen.

Draußen schleuderten die Ranken, die sie fast schon vergessen hatte, umher und rissen den Asphalt auf, ließen die Erde erschüttern. Die Vibrationen waren stark genug, um bis zu ihnen zu reichen, aber nicht, sie zu Boden zu werfen.

Sie entsicherte die Waffe mit einem hörbaren Klicken. »Warum hast du das alles gemacht?«

»Wir wollten das, was alle Lebewesen wollen.« Er schluckte. »Wir wollten frei sein.«

Waren sie deswegen nicht weitergezogen? Aber ihnen hätte doch klar sein müssen, dass man sie hier fand und zur Rechenschaft zöge. Sie verstand die Motive der Menschen nicht. Darum ging es im Moment allerdings auch nicht, sie mussten nicht diskutieren.

»Ich verstehe«, sagte sie daher tonlos.

Selstons Körper entspannte sich, er ließ das Gewehr langsam sinken. Mit Sicherheit erwartete er, dass sie ihn gehen ließ. Es tat ihr fast leid, als sie den Finger krümmte. Ein heller Lichtstrahl schoss aus der Mündung, durchbohrte Selstons Kopf, ohne eine Wunde zu hinterlassen. Er war tot, noch bevor sein Körper auf dem Boden aufkam.

Shirlee sah auf ihn hinab, auf den Mann, der Solfrid gestohlen und nur hatte frei sein wollen. Nun war er frei von allen Ketten, denen Menschen sich unterwerfen mussten. Aber sie bezweifelte, dass er das zu schätzen wüsste.

Egal, dafür hatte sie keine Zeit, sie musste sich ihrem eigentlichen Zielobjekt widmen. Mit einem großen Schritt stieg sie über die Leiche hinweg und setzte ihren Weg fort, ohne auch nur eine Sekunde um ihn zu trauern.

 

Die Ranken hatten sich wieder beruhigt, als sie schließlich als Golsreb Tower angekommen war. Sie hatte nur ein wenig darauf achten müssen, keine von ihnen zu berühren, als sie das Gebäude betrat.

Der Aufstieg war anstrengend gewesen, aber zumindest war sie vor allen Gefahren sicher gewesen. Was immer im Gebäude gefüttert wurde, war nicht zu sehen gewesen. Zumindest nicht in den unteren Stockwerken. Da sich im Inneren hauptsächlich Blätter und Stängel befanden, sie aber keine Fütterung beobachten konnte, ging Shirlee davon aus, dass das Futter direkt in den Stängel gegeben und dort verdaut wurde. Allerdings war sie keine Forscherin, deswegen machte sie sich keine großen Gedanken darum.

Sie dachte wieder an Selston, daran wie wenig er über das von ihm gestohlene Objekt – Solfrid – gewusst hatte, daran wie wenig sie darüber wusste. Im Endeffekt waren sie sich gar nicht so unähnlich. Eines Tages würde auch ihr jemand in den Hinterkopf schießen, ohne dass sie sich dagegen wehren könnte. Dann ginge es ihr wie Selston, dann wäre sie frei. Aber noch war dieser Tag in weiter Ferne.

Auf dem Dach angekommen, wappnete Shirlee sich gegen den starken Wind, so dass sie mit festen Schritten der Blüte entgegengehen konnte. Nichts versuchte sie anzugreifen, sie war froh darum.

Als sie endlich direkt davorstand, erkannte sie, dass es keine Blüte war. Es war ein rotes, pulsierendes Lebewesen, das eine entfernte Ähnlichkeit zu einem Menschen aufwies. Der Oberkörper war der einer Frau, aber die Beine gingen in einen Wuchs über, den man von einer ungleichmäßig abgebrannten Kerze mit wächsernen Tropfen an der Seite. Aus ihren Händen sprossen keine Finger, sondern rote Äste, die in die unterschiedlichsten Richtungen wucherten. Und ihr Kopf war die Alpinia purpurata, die von unten zu sehen gewesen war. Durch die natürliche Färbung sah es so aus als sei sie einst in Blut getaucht worden, danach dazu verdammt, für immer mit dieser Flüssigkeit an sich leben zu müssen.

Solfrid war eines jener Wesen, das von den Ersten in Schach gehalten wurde. Täte man dies nicht, würden sie die Welt zerstören – und das wollte niemand von ihnen zulassen. Deswegen musste Solfrid wieder dorthin zurück, von wo sie gestohlen worden war.

Shirlee holte ihr Handy heraus, wählte die einzige Nummer, die darauf gespeichert war. Es klingelte nur zweimal, bis jemand am anderen Ende den Anruf annahm, aber er sagte nichts. Daran störte Shirlee sich nicht. »Ich habe Solfrid gefunden. Selston ist tot. Schickt jemanden vorbei, der sie abholen kommt. Bright over and out.«
 



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