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Frostbite

14. Kalendertürchen 2017
von

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14. Türchen

                                                                                   

                                                                                            Frostbite

 

 

 

"Einen Namen müssen wir ihm ja wohl auch geben", sagte er im Dunkeln, während er die Hosenträger überstreifte.

Ausgerechnet in diesem Moment wurde sie an die Situation, die einige Stunden zurücklag und Walters Worte erinnert. Deutlich hatte Integra das Bild vor Augen. Sie hatte ihren Butler gründlich überrumpelt. Der alte Mann hatte einfach nicht gerechnet, dass sie um diese Uhrzeit in seinen Räumen auftauchen würde. Dennoch hatte er trotz seiner Verwirrung in diesem Punkt weiter gedacht, als sie selbst. Zielstrebig durchquerte die junge Frau die Korridore und Flure des weitläufigen Gebäudes.

Lautlos öffnete Integra die verschlossene Tür. Normalerweise war es nicht ihre Art sich auf ihrem eigenen Anwesen zu bewegen wie ein Diener, der seinen Herren nicht durch zu laute Hintergrundgeräusche stören wollte. Sie brauchte sich nicht zu verstecken. Ja, sie konnte es sich gar nicht leisten, sich zu verstecken. Dementsprechend war auch ihr Auftreten selbstsicher und darauf bedacht, dass man sie wahrnahm. Es wäre ja noch schöner, wenn Integra Fairbrook Wingates Hellsing sich benehmen würde wie ein kleines verschrecktes Mädchen!

Es war vor allem anfangs schon schwer genug gewesen sich in dieser von Männern dominierten Umgebung durchzusetzen und auch heute noch, nach mehreren Jahren hatte sie von Zeit zu Zeit noch mit diesem Problem zu kämpfen. Auch wenn sie es niemals zugeben würde.

Doch heute machte sie eine Ausnahme. Es war niemand hier, dem sie irgendetwas beweisen musste. Die einzige Person, deren Achtung sie im Moment verlieren konnte, war sie selbst.

Sie war hart geworden seit dem Tag an dem ihr Vater gestorben war. Vielleicht zu hart.

Nie hatte sie seit jenem Zeitpunkt an dieser Härte gezweifelt. Nie, bis vor kurzem.

Der Zwischenfall, der sie beinahe das Leben gekostet hatte, hatte ihr die Augen geöffnet.

 

Ihr Vater hatte sie gehabt.

Aber wer würde die Hellsing Organisation weiterführen, wenn sie nicht mehr war?

Integra hatte niemanden, der dieser Aufgabe gewachsen war.

 

Schmerzlich war ihr diese Tatsache bewusst geworden. Sie war die letzte ihrer Familie. Nun gut, wahrscheinlich nicht. Die Hellsing-Familie war dermaßen alt, der Stammbaum war so verzweigt, dass sich sicherlich noch irgendwo in Europa ein entfernter Verwandter gefunden hätte. Aber wie sollte jemand ohne Kenntnis von den Bedrohungen, gegen die sie jeden Tag aufs Neue kämpfte, im Stande sein zu bestehen? Wie sollte so jemand den Gedanken verkraften, welche bösartigen widernatürlichen Kreaturen sich unbemerkt von der breiten Masse auf dieser Welt herumtrieben?

Jetzt wurde ihr ihre Härte zum Verhängnis.

Es war nie ihr Wille gewesen, zu heiraten und einem Erben das Leben zu schenken. Das Letzte, das sie gebrauchen konnte war ein Ehemann.

Doch das Schicksal hatte ihr einen Wink gegeben und sie hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt.

 

Zwar hatte sie weder vor in nächster Zeit eines gewaltsamen Todes zu sterben, noch sich in einen frühzeitigen Ruhestand zurückzuziehen, doch der Teufel schlief nicht.

All ihre Durchsetzungsfähigkeit würde mit dem Zeitpunkt ihres Ablebens nutzlos sein.

Immer noch darauf bedacht möglichst leise zu sein, schritt sie durch den kleinen Raum. Er war nur behelfsmäßig für seine jetzige Aufgabe eingerichtet worden. Noch vor wenigen Stunden war dies ein leer stehendes, bedeutungsloses Zimmer im dritten Stock gewesen. Passenderweise direkt neben den Räumen, die Walter bewohnte.

Sie strich sich eine lange Strähne aus dem Gesicht und beugte sich über die Wiege. Mit ihren an die Dunkelheit gewöhnten Augen betrachtete sie das winzige Menschlein, das darin seelenruhig schlief. Nichts erinnerte mehr daran, dass sich die Kleine noch vor kurzem schreiend, mit dem Blut ihrer Eltern bespritzt in einem verwüsteten Haus befunden hatte. Der Schnee, der durch die zerborstene Wand geweht worden war, rot vor Blut.

Gewaschen und neu eingekleidet machte das Kind schon wesentlich zufriedeneren Eindruck. Die kleinen verbundenen Hände hielten krampfhaft die Decke fest. Die Augen waren fest geschlossen.

In Gedanken fragte sie sich, wie sich das Kind entwickeln würde. Integra konnte keine Hinweise auf das spätere Erscheinungsbild des Babys finden, allerdings war ihr Wissensstand was Kinder betraf äußerst lückenhaft, um nichts zu sagen, inexistent. Einzig die hellbraunen, dünnen Härchen auf dem Kinderkopf waren ein Anhaltspunkt.

Viel wichtiger aber als das Äußere würde der Charakter sein. Das war die Eigenschaft, die über das Schicksal des Mädchens entscheiden würde. War nicht die notwendige Willensstärke vorhanden, dann wäre sie nutzlos. Dies wäre zwar keine Katastrophe, aber eine ärgerliche Zeitverschwendung. Zwar sollten sich die groben Charakterzüge angeblich recht früh bemerkbar machen, aber die schlussendliche Entscheidung, ob sie ein geeigneter Kandidat war würde erst in ein paar Jahren gefällt werden können. Sollte sich dann herausstellen, dass sie nicht die passenden Voraussetzungen mitbrachte, müsste von vorne begonnen werden. Ein neuer potentieller Nachfolger müsste gesucht werden. Und dann würde es wieder von Nöten sein, abzuwarten. Denn es kam auf gar keinen Fall in Frage, ein älteres Kind zu adoptieren.

Es würde sicherlich nicht mit der Welt, die für andere nur in Horrorfilmen existierte, hier aber bittere Realität war, zurecht kommen. Integra hielt es für unverantwortlich ein Kind, das jahrelang normal geprägt worden war, in eine Welt zu werfen, in der jederzeit ein zwar gebändigter, aber deswegen trotzdem  nicht weniger furchterregender Vampir sich plötzlich aus dem Nichts heraus materialisierte. Die junge Frau hatte genug Erwachsene gesehen, die diesen Anblick nicht verdauen konnten.

Doch die Kleine hatte bereits bewiesen, dass sie zäh war. Stundenlang hatte sie alleine in eisiger Kälte durchgehalten. Der Arzt war sich nicht sicher, ob die Erfrierungen an ihren Fingern bleibende Spuren hinterlassen würden. Doch abgesehen davon ging es ihr erstaunlich gut. Niemand hätte erwartet Überlebende zu finden. Schon gar nicht ein kleines Baby.

Erst die tiefe, vertraute Stimme des angsteinflößenden Vampires riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte nicht bemerkt, wie lange sie schon neben der Wiege stand. Auch war ihr nicht bewusst gewesen, dass sie sich ihres rechten Handschuhs entledigte hatte und sanft über das Köpfchen des Kindes strich.

„Master?“ Statt dem üblichen Spott sprach in dieser Nacht Verwirrung aus seiner Stimme. Trotz seiner sichtlichen Verwunderung besaß er die Geistesgegenwart leise zu sprechen.

„Ja, Alucard?“

Anstatt sein Anliegen vorzutragen trat er einen Schritt näher.

„Weswegen bist du gekommen?“, hakte sie nach, als sie keine Antwort erhielt.

„Die Mission ist beendet. Das Ziel wurde vernichtet.“, spulte er die Worte ab, die er schon so oft verwendet hatte.

„Du kannst dich zurückziehen.“

Doch anstatt zu verschwinden wie er es sonst tat, blieb der Vampir. Über den Rand seiner Brille hinweg musterte er das Baby, das anscheinend zumindest einen gesegneten Schlaf besaß. Das Gespräch hatte die Kleine nicht daran gehindert friedlich weiterzuschlafen.

„Ich sagte: Du kannst dich zurückziehen.“ Etwas bissiger wiederholte sie die zuvor ausgesprochene Aufforderung. Sie verspürte keinerlei Bedürfnis sich jetzt um ein schreiendes, aufgewecktes Baby zu kümmern.

Alucard grinste lediglich.

„Darf man erfahren, wie die Jungfrau zum Kinde kam?“ Beißender Spott troff nur so aus seinen Worten.

„Wenn du deine Zeit nicht damit verbracht hättest, mit deinen Opfern Katz und Maus zu spielen und die gesamte Truppe stundenlang umsonst in Bereitschaft zu halten, dann hättest du mitbekommen, dass dieses Kind als einziges Mitglied der Familie unbeschadet aus dem verwüsteten Haus geborgen werden konnte. Und jetzt verschwinde!“ Der letzte Satz war nur noch ein bedrohliches Pfauchen gewesen.

Einen Moment lang schien es, als würde Alucard sich weiterhin widersetzten, doch dann verschwand er.

„Das wird interessant…“, höhnte er, während er sich auflöste.

 

Genervt rieb sie sich die Nasenwurzel. Interessant… dass würde es wirklich werden. Auch wenn sie jetzt schon wusste, dass es ihr wesentlich weniger Spaß bereiten würde, als ihrem Schoßhündchen.

„Einen Namen müssen wir ihm wohl auch geben“.

Wieder kam ihr dies in den Sinn. Walter hatte einfach Recht. Er hatte zwar nicht gewusst, dass es sich bei dem Bündel, dass Integra ihm in die Hände gedrückt hatte, ein kleines Mädchen gesteckt hatte, aber trotzdem hatte er alle weiteren wichtigen Schritte in die Wege geleitet. Angefangen von der bevorstehenden Namensgebung bis hin zum Einrichten eines Kinderzimmers, all dies hatte er bedacht, während er sich eilig vollständig angezogen hatte, als sie mitten in der Nacht hereingestürmt kam, um ihm mittzuteilen, dass sich nun eine weitere Seele unter diesem Dach befand.

Eingehend studierte sie die Züge der Kleinen.

Zwar hatte sich mittlerweile der eigentlich Name des Kindes aus den Dokumenten der Familie finden lassen, aber da das Kind nach der offiziellen Adoption den Namen Hellsing tragen würde, hielt Integra es für äußerst unangebracht den Namen „Holly“ zu übernehmen.

Es dauerte nicht lange, bis die junge Frau von der Muse geküsst wurde. Zwar war der Name, der ihr in den Sinn kam äußerst unkreativ, denn er bezog sich nur auf die Umstände, die das kleine Mädchen gezeichnet hatten – aber er klang gut, war weder zu ausgefallen noch zu einfach. Ivy Icelyn. So würde sie von heute an heißen. Und auch wenn die äußeren Zeichen, die die Kälte hinterlassen hatte mit der Zeit verschwinden sollten, würde dieser Name immer daran erinnern, dass die Kleine eine Kämpferin war.

 

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  CaroZ
2017-12-16T15:20:29+00:00 16.12.2017 16:20
Hallo,
das war eine schöne kleine Geschichte, die zu lesen ich genossen habe!
Liebe Grüße und schönen 3. Advent!
Caro


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