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Residuum

von

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Kapitel 2


 

Kapitel 2

 

Es regnete bis spät in die Nacht hinein und schließlich kam ein eisiger Wind auf, der die beißende Nässe allmählich in sanfte, weiße Flocken verwandelte. Ein Heulen zog zwischen den obersten Stockwerken der Hochhäuser entlang, während der Schnee, der sich unten auf den Wegen sammelte, jegliche Geräusche verschluckte und die Stadt mit einer ungewohnten Ruhe erfüllte. Die Straßen von New York leerten sich schnell, die letzten Leute eilten nach Hause oder in die nächste Spelunke, wo sie die restliche Nacht heimlich mit wesentlich angenehmeren Wassern verbringen konnten. Die gefrierenden Pfützen in den Straßenrinnen, schimmerten in dem schwachen Laternenlicht, Schneeflocken wirbelten glitzernd umher und der wolkenbedeckte Nachthimmel war von einem rötlichen Schein erfüllt, der sich gemächlich zu der Stadt unter ihm herabsenkte.

 

Die Stunden gingen vorüber, die Schneedecke wuchs und mit dem pfeifenden Wind glitt noch etwas Anderes durch die spärlich beleuchteten Straßen von New York. Ein nebliger Schatten, klein und finster, trieb sich windend und zuckend durch die Lüfte. Er wurde von den stärkeren Windstößen nach oben getragen, stürzte sich dann steil hinunter und rauschte durch die zugigen Gassen der Häuserreihen, eine schmale Spur aus bröckelnden, rissigen Mauerwerk hinter sich lassend, wann immer er schlingernd dagegen stieß. Der Schatten irrte ruhelos umher, zog seine Kreise in dunklen Ecken, flog zurück und schlug zielstrebig einen neuen Weg ein.

 

Dann erreichte er ein unscheinbares, kleines Gebäude, ein wenig abseits der Straße. Er schwebte langsam nach oben, hielt auf die turmartige Spitze zu und steuerte eines der schmalen Fenster darunter an. Das Glas zerbarst in dutzende Stücke, als der Schatten es berührte und er glitt sachte durch die neuentstandene Öffnung, in das düstere Innere.

 

Es gab vier Zimmer im obersten Stockwerk, winzig und spärlich eingerichtet, und eine Plattform mit hölzernem Geländer, von welchem man hinunter in den großen Hauptraum sehen konnte. Der Aufbau ähnelte einer Kirche, doch von dem ehrfürchtigen, gottnahen Gefühl war man beim genaueren Betrachten weit entfernt. Eine schmale, steile Treppe führte hinab in den finsteren, zweckentfremdeten Saal, welcher Aufenthaltsort, Arbeitszimmer und Küche zugleich war. Im vorderen Teil, gegenüber der Treppe, unter dem Balkon, befand sich ein großes, kastenartiges Gebilde aus Holz, welches ein kleines Badezimmer beherbergte. In der Mitte des Raumes stand ein solider Holztisch, vollgestellt mit Druckermaschinen, Farbeimern und gebündelten Papierstapeln und umgeben von harten Sitzbänken und einer Handvoll klappriger Stühle.

 

Das Gebäude lag dunkel und ruhig da, nichts bewegte sich oder machte Geräusche. Nur der Schatten schwebte pulsierend und strudelnd umher, von dem Zimmer hinaus in den Flur, wo er sich gefährlich nahe zu den Dielen herabsinken ließ. Er zog sich zusammen, bäumte sich auf, formte sich neu und schließlich fiel, mit einem schmerzgeplagten Stöhnen, ein junger, schwarzhaariger Mann auf die knarzenden Bodenbretter. Sein Gesicht war bleich, die Augen dunkel und glänzend und im schwachen Mondlicht, welches durch ein Dachfenster fiel, erschienen seine Hände fleckig und zerkratzt. Seine Kleidung war schmutzig und nass und an zahlreichen Stellen durchlöchert und fransig. Er rollte sich zusammen, wandte sich ächzend hin und her, die Lippen aufeinandergepresst und wimmernd.

 

Die Minuten vergingen, das Mondlicht wanderte und der Junge wurde langsam ruhiger, drehte sich auf die Seite und schluchzte leise. Die kalte Winterluft zog durch das zerbrochene Fenster, kühlte erst den Raum und dann den Flur, ließ den jungen Mann frösteln. Er versuchte aufzustehen, konnte jedoch seinen linken Arm nicht bewegen. Ein kurzer, schmerzerfüllter Schrei ertönte, als er unerwartet den Halt verlor und hart auf dem Boden aufschlug. Er lauschte in die Stille der Nacht hinein. Nichts regte sich, alles blieb ruhig und dunkel.

 

Eine Weile blieb er schluchzend liegen und starrte wie betäubt in die Finsternis. Schließlich kam erneut Bewegung in ihm auf. Er robbte zum nächstgelegenen Zimmer, drückte sich mit seinem rechten Arm und aller Kraft nach oben und lehnte sich rücklings an die Tür. Sein Arm wanderte höher, ergriff den Türknauf und halb ziehend, halb mit den wackeligen Beinen nach oben stemmend, richtete er sich auf.

 

Keuchend lehnte er sich an den Türrahmen, ehe er den Knauf rüttelte und drehte, bis die Tür knarrend aufschwang. Er stolperte haltlos hinein, auf das schmale Bett zu und sank kurz davor polternd zu Boden. Mit der rechten Hand packte er die dünne Decke, zerrte sie grob herunter und streifte sie mehr schlecht als recht, über seinen frierenden Körper. Der Stoff war kalt und rau, blieb an seinem Ellenbogen hängen, verhedderte sich zwischen seinem Rücken und der Bettkante. Der Junge wurde unruhig und zerrte kräftiger an dem Gewebe. Ein reisendes Geräusch ertönte, gefolgt von einem weiteren Wimmern. Er hielt in seinem Tun inne, sein Körper zitterte, er schluchzte und würgte.

 

Abermals dauerte es einige Momente, bis er wieder zur Ruhe kam. Er stemmte sich mühselig nach oben, streifte das Betttuch erst über seine linke Schulter, lehnte sich an die Wand, wodurch er den Stoff fixierte und kämpfte dann mit der anderen Seite. Der Junge wickelte sich, so gut es eben ging, in die Decke und stolperte schließlich wieder aus dem Zimmer hinaus.

Er wankte weiter, schob sich stützend an der Wand entlang, bis zum Geländer und hielt sich mit dem rechten Arm daran fest. Einen Augenblick starrte er nachdenklich auf die Treppe, dann wanderte sein Blick weiter, hinab zu dem düsteren Hauptraum. Schließlich wagte er den ersten Schritt. Er setzte die Füße sorgfältig auf die Stufen, klammerte sich dabei wie ein Ertrinkender an das Geländer und rutschte mehr an der Hilfskonstruktion herab, als dass er die Treppe hinunterstieg.

 

Als er die unterste Stufe erreicht hatte, ließ er sich darauf nieder, streckte beide Beine von sich und lehnte den Kopf erschöpft an die Streben. Er verharrte dort, döste ein wenig vor sich hin und bemerkte zunächst nicht, dass es draußen allmählich heller wurde. Schließlich beleuchtete das rötliche Morgenlicht die Räumlichkeiten und von draußen ertönten die Geräusche des geschäftigen Treibens der Menschen und das Brummen und Klappern von Automobilen und Kutschen. Doch in diesem Haus blieb es, bis auf das erschöpfte Schluchzen des Jungen, ruhig und leblos.

 

Nach dieser großzügigen Pause fühlte er sich etwas kräftiger, richtete sich auf und schleppte sich schwerfällig durch den Hauptraum. Er erreichte ein schmales Kabuff, in der Nähe des Vordereingangs und hatte Mühe, den steckenden Schlüssel zu drehen und später, die Türklinke zu greifen. Als er den schmalen Raum endlich geöffnet hatte, ließ er sich plump zu Boden sinken. Halb im Flur, halb in der kühlen, dunklen Kammer liegend, starrte er nach oben. Sein Blick suchte die Regalreihen ab, auf denen er die Formen von ein paar Flaschen und Dosen erkannte. Er streckte seinen rechten Arm aus und versuchte eine der Flaschen zu ergreifen. Seine zitternden, geschwärzten Finger griffen immer wieder ins Leere, sein Handgelenk schlug schmerzhaft gegen das Holzbrett. Auf dieser Seite konnte er keine der Flaschen erreichen, probierte es jedoch immer weiter, bis er versehentlich so stark gegen das Regal stieß, sodass auf den obersten Ablagen einige Gegenstände ins Wackeln gerieten. Eine Flasche auf dem obersten Brett kippte um und rollte langsam auf den Rand zu. Sie blieb bedrohlich an der Kante liegen und sein Blick blieb für einen langen Atemzug wie gebannt an dem Gegenstand hängen. Letztlich drehte sich der Junge auf die andere Seite und langte nun in das gegenüberliegende Regal, zu einer anderen Flasche.

 

Diesmal konnte er das Gefäß ergreifen, doch seine eisigen Finger krampften und sie fiel ihm schmerzhaft, aber heil auf den Bauch. Weitere Minuten vergingen, in denen er am Verschluss werkelte, doch endlich hatte er die Flasche geöffnet. Er richtete sich so gut es ging auf und trank ein paar erfrischende Schlucke. Er leerte den halben Inhalt, bevor er die Flasche auf den Boden stellte und sich wieder flach hinlegte, den Blick mit einem Hauch Linderung gen Decke gerichtet.

 

Er zählte die Dosen und verbliebenen Flaschen und überlegte, wie lange er wohl davon leben konnte. Wenn er sie sich gut einteilte, vielleicht zwei oder drei Wochen? Hoffentlich hatte er sich bis dahin ein wenig erholt.

 

Nachdenklich betastete er seinen linken Arm. Die dazugehörige Hand war seltsam dunkel gefärbt. Er konnte die Berührung wahrnehmen, doch es fühlte sich eher an, als würde er einen fremden Arm anfassen. Das taube Gefühl zog sich bis hinauf zu seiner Schulter und wurde dann von einem stechenden Ziehen in seinen Knochen und Muskeln abgelöst. Vorsichtig drehte er sich auf die Seite, doch der Schmerz blieb und sein linker Arm klatschte leblos auf den Boden. Noch immer frierend blieb er eine Weile so liegen und starrte in die Schatten der Kammer.

 
 

~*~*~

 

Es kam ihm vor, als habe er nur kurz geblinzelt, doch er musste eingeschlafen sein. Das Licht hatte sich schlagartig verändert, war nahezu verschwunden und er fühlte sich wiederum ein klein wenig besser. Seine Kleidung war immer noch kalt, sein Arm taub, doch die Schmerzen waren an einigen Stellen schwächer geworden. Er nahm noch ein paar Schlucke Wasser und schaffte es diesmal besser, wieder auf die Beine zu kommen. Mit der Absicht, sich in ein richtiges Bett zu legen, schleppte er sich Stück für Stück voran, schleifte mit seinem tauben Arm an der hölzernen Wand entlang und quälte sich schließlich wieder die Treppe hinauf.

 Erschöpft und verzweifelt ließ er sich am Geländer hinunter sinken, um eine Pause zu machen. Er zog die Beine zu sich heran und lehnte seinen Kopf erneut gegen die Streben. Heiße Tränen rannen über sein Gesicht, doch er machte sich nicht die Mühe, sie fortzuwischen. Sie waren das Einzige, was ihm in diesen Moment Wärme spendete.

 

Das Knarzen der Eingangstür schreckte ihn auf und ihm stockte augenblicklich der Atem. Die Tränen versiegten, angespannt spitze er die Ohren und wandte den Kopf ein wenig herum, um nun hinunter in den großen Raum blicken zu können. Der gelbliche Lichtschein einer Straßenlaterne fiel in den Hauptraum, beleuchtete kurz in einem schwachen Kegel die Bodendielen und den langgezogenen Tisch, bevor sich etwas dazwischenschob und den Raum wieder mit Dunkelheit ausfüllte. Ein dumpfes Knacken erklang, als die Tür ins Schloss fiel und wurde von langsamen, knirschenden Schritten abgelöst, die unsicher durch den Eingangsbereich schlichen.

 

Dann ertönte eine männliche Stimme: „Credence?“

 

Sein Name hallte verzerrt von den hohen Wänden wider und Credence horchte auf. Die Stimme kannte er, doch er wagte es nicht, irgendeinen Mucks von sich zugeben. Die gedämpften Schritte unter ihm wanderten weiter und schließlich erblickte er die Umrisse einer schlanken Gestalt, die unter dem Balkon hervorkam und an den Tisch herantrat. Das weißliche Mondlicht, welches durch die hohen Dachfenster fiel, spendete zu wenig Helligkeit, um genauere Details auszumachen, doch offenbar trug der Mann einen langen Mantel und hielt einen rechteckigen Gegenstand, von der Größe eines Koffers, in der linken Hand.

 

„Credence?“, fragte der Fremde erneut in die Stille des Raumes hinein, diesmal ein wenig lauter und klarer. Doch dieser machte immer noch keine Anstalten, ihm zu antworten. Er blieb zusammengekauert und ängstlich in seiner Ecke sitzen und beobachtete, was der unerwünschte Besucher als nächstes tun würde.

 

Dieser steuerte auf die Treppe zu und für einen Augenblick, dachte Credence panisch, er würde hinaufsteigen und ihn dann entdecken. Doch er verharrte lediglich einen Moment an dem düsteren Treppenabsatz, blickte hinauf in die Dunkelheit des Obergeschosses und machte dann kehrt, um wieder langsam in die Mitte des Raumes zurückzuschreiten. Offenbar hatte er Credence nicht entdeckt.

 

„Ich heiße Newt, Newt Scamander. Wir sind uns bereits in dem U-Bahn-Schacht begegnet. Ich weiß nicht, ob du hier bist und mich hörst, aber ich hoffe, dass du das tust. Ich weiß, dass du Angst hast und ich will mich nicht aufdrängen.“ Der Mann namens Newt stellte das, was er vorher in den Händen gehalten hatte, auf die Tischplatte und ließ sich sachte auf einer Bank nieder. Er streckte seine langen Beine ein wenig aus, blickte sich offenbar suchend in der Dunkelheit um und sprach schließlich weiter. „Ich komme aus London, aber in den letzten Jahren bin ich sehr weit gereist und habe Forschungen und Studien betrieben. Ich war an vielen verschiedenen Orten der Welt und vor ein paar Monaten traf ich im Sudan auf dieses Mädchen.“ Er machte noch einmal eine Pause und lauschte, ob von irgendwo eine Regung kam. „Ich habe dir bereits etwas von ihr erzählt. Sie war erst acht Jahre alt und hatte magische Fähigkeiten, genau wie du. Doch auch sie war gezwungen worden, ihre Magie zu verbergen, alles in sich hineinzufressen, weil ihre Mitmenschen es nicht sehen wollten oder Angst davor hatten. Eine Zeit lang ging das gut, aber irgendwann… wenn man es zu lange zurückhält… entwickeln diese unterdrückten Kräfte eine Art Eigenleben. Sie werden zu einem Parasiten, einem Obscurus, der ständig darum bemüht ist, seine Energien wirken zu lassen, aus dem Körper seines Wirtes auszubrechen. Es wird mit der Zeit immer schwieriger, diese Kraft zu kontrollieren und irgendwann, wenn man es nicht mehr schafft…“ Er seufzte und sah sich noch einmal suchend um. Credence rührte sich noch immer nicht. Newt blickte schließlich wieder geradeaus, in Richtung des Hintereingangs.

 

„Ich will dir keine Angst machen, Credence, ich will nur ehrlich zu dir sein. Nach alldem, was man dir angetan hat, ist es dein gutes Recht, dass du die Wahrheit erfährst, auch wenn sie so… schrecklich und furchteinflößend ist. Du hast gesehen und gespürt, was mit diesen Kräften passiert, wenn sie sich nicht mehr kontrollieren lassen und das Gleiche ist mit dem Mädchen geschehen. Ich wollte ihr helfen… Ich wollte den Obscurus entfernen… ich hatte es beinahe geschafft. Aber sie war schon zu geschwächt und… und sie…“ Seine Stimme zitterte und Credence sah, wie sich Newt kurz über das Gesicht fuhr. Er hörte ihn aufgewühlt seufzen und ahnte, was er gleich sagen würde, doch er war sich sicher, dass er es nicht hören wollte, wenngleich er es nicht verhindern konnte. „Ihre Kräfte haben sie getötet, Credence. Das Einzige was ich noch tun konnte, war kurz vorher den Obscurus von ihrem Körper zu trennen, damit er nicht noch mehr Schaden anrichten konnte. Ohne eine Verbindung zum Wirtskörper ist der Obscurus nutzlos und kann nicht lange überleben.“

 

Es wurde wieder ruhig und die einzigen Geräusche kamen von dem zischenden Wind, der über das Dach fegte und das sanfte Schniefen von Newt. Credence blickte zu ihm hinunter und fragte sich, ob er tatsächlich ehrlich zu ihm war. Er konnte ihm alles Mögliche erzählen und das hier klang teilweise sehr nach dem, was Credence gerne hören wollte: dass er nicht der Einzige war, dass es noch andere gab und dass ihm tatsächlich jemand helfen könnte. Oder es zumindest versuchte.

 

Aber er war schon zu oft enttäuscht worden. Mary Lou hätte ihm eine fürsorgliche Mutter sein sollen, doch alles was sie ihm entgegen gebracht hatte waren Schmerz und Demütigung. Percival Graves hatte ihm ein Zuhause versprochen und in Aussicht gestellt, er könne bei ihm das Zaubern erlernen. Aber er hatte ihn schamlos ausgenutzt, belogen und eiskalt von sich gestoßen. Die ganze Menschheit schien sich gegen Credence verschworen zu haben, beleidigten ihn, ignorierten ihn, nannten ihn einen Freak. Es war alles zu viel. Er wollte Newt, gerne glauben, aber er konnte es nicht. Zu groß war die Angst, dass er nur wieder enttäuscht wurde.

Wäre es also vielleicht besser, die Kraft, diesen Obscurus einfach herauszulassen, sich töten zu lassen, damit endlich alles vorbei war? Aber auch dieser Gedanke machte ihm zu große Angst. Er wollte niemandem wehtun und er wollte nicht sterben. Doch welche Wahl sollte er treffen?

 

„Ich möchte dir helfen“, sprach Newt so leise weiter, dass Credence es beinahe nicht mitbekommen hätte. „In fünf Tagen geht mein Schiff zurück nach London. Wenn du willst, kannst du mit mir kommen. Ich habe Möglichkeiten, dich unbemerkt an Bord zu schmuggeln. Vorerst…“ Er erhob sich und hantierte an dem Gegenstand herum, der auf dem Tisch lag. Zwei Verschlüsse schnappten klackend auf und Newt fing an, im Inneren herumzuwühlen. Er holte einige Dinge hervor und legte sie sorgfältig auf der Platte ab. „Vorerst lasse ich dir ein paar Sachen hier. Etwas zu Essen und Trinken, Kleidung und etwas Muggel-Geld… also Geld der Nicht-Magier, welches du hier bedenkenlos in New York ausgeben kannst. In der Tasse ist Tee, ich hab ihn so verzaubert, dass er sich ein paar Mal nachfüllt und warm bleibt. Ich hoffe du magst Kräutertee. Das blaue Zeug in der kleinen Flasche ist ein Stärkungstrank. Ich nehme an, dass du den gebrauchen kannst. Ich weiß nicht, wie schlimm dich die Auroren verletzt haben, aber bei der Masse an Zaubersprüchen… Nun, das hier hilft, vertrau mir.“ Er machte eine kurze Pause in seiner Erklärung und schien zu kontrollieren, ob er alles herausgeholt hatte. „Ich komme jede Nacht wieder, so lange wie ich noch hier bin und werde im Hauptraum auf dich warten… Das sind von jetzt an vier Nächte. Nur für den Fall, dass du es dir überlegst… Ich werde dich jedenfalls nicht zwingen, obwohl ich das durchaus tun könnte. Aber ich hoffe, dass du mit mir kommst, damit ich versuchen kann, dir zu helfen.“ Newt schloss seinen Koffer und wandte sich zum Gehen. Er stapfte zügig zur Tür und als er sie öffnete, blieb er noch einmal kurz stehen und lauschte. Dann seufzte er ein letztes Mal und verließ die Kirche.

 

Credence blieb nach wie vor sitzen und während die Zeit verstrich, döste er wieder ein. Erst als die Sonne wieder aufging und er jäh aus dem Schlaf schreckte, mühte er sich erneut damit ab, hinunterzusteigen, um die Sachen zu begutachten, die Newt ihm dagelassen hatte. Neben den Gegenständen ließ er sich umständlich auf die Sitzbank gleiten und im schwachen Morgenlicht konnte er sie nun besser erkennen.

 

Fein säuberlich zusammengelegt und aufgehäuft, hatte er ihm einen blauen Mantel, zwei Wollpullover und eine Hose hingelegt, daneben ein paar warme Stiefel, Socken und einen gelb-grau-gestreiften Schal. Die Flasche mit der blauen Substanz stand neben der Teetasse, die tatsächlich noch immer dampfte. In einem Körbchen lagen etwas Brot, Wurst und Käse, zwei Äpfel und, zu Credence freudiger Überraschung, auch eine kleine Tafel Schokolade. Zu guter Letzt inspizierte er einen kleinen Lederbeutel, in dem er das Geld vermutete. Sein Herz machte einen Hüpfer, als er nicht nur ein paar Pennys und Schillinge erblickte, sondern auch mehrere zusammengerollte Dollarnoten. So viel hatte er noch nie besessen. Unsicher, ob er das Geld tatsächlich annehmen sollte, schob er den Beutel hinüber zu dem Stärkungstrank. Seine Zweifel waren für einen Augenblick wie wegeblasen.

 

Credence überlegte noch einen Moment, dann fing er an, die Decke, seine zerfranste Jacke und das Hemd abzustreifen und einen der Pullover überzuziehen. Sein gefühlloser Arm war dabei keine große Hilfe und beinahe zwanzig Minuten lang kämpfte er mit schmerzverzerrtem Gesicht mit den jeweiligen Kleidungsstücken. Seine Augen huschten dabei ein paar Mal nachdenklich über die kleine Flasche, deren Inhalt ihn wohl stärken sollte, doch er konnte sich nicht dazu überwinden, einen Schluck davon zu nehmen. Es konnte auch etwas vollkommen anderes sein. Als er sich schließlich umgezogen hatte, aß er einen Apfel, ein paar Scheiben Brot und zuletzt mühte er sich damit ab, mit seinen steifen, zitternden Fingern die Verpackung der Schokolade zu öffnen.

 

Er hatte noch nie Schokolade gegessen. Mary Lou hatte nie viele Süßigkeiten erlaubt, abgesehen von ein paar harten Keksen oder einem trockenen Stück Früchtekuchen. Aber er kannte den Duft von frischem Gebäck, wenn er an Bäckereien und Marktständen vorbeilief und den bitteren, aber dennoch angenehmen Duft von Kakao- und Kaffeebohnen. Er zögerte noch einen Moment und besah die kleine braune Tafel in seinen Händen. Dann biss er ein Stück ab. Es schmeckte anders, als alles was er je gegessen hatte, süßer als Weißbrot, doch gleichzeitig auch ein wenig bitter. Er nahm noch einen Bissen und ehe er sich versah, war fast die halbe Tafel weg. Er packte sie wieder sorgfältig ein und trank einen Schluck Tee. Das Getränk schmeckte ebenfalls bitter, aber es wärmte ihn von innen und Credence trank weiter, bis die Tasse fast leer war. Er setzte sie ab und beobachtete verzückt, wie der letzte, übrige Schluck kurz blubberte und dann nach oben stieg. Die Tasse füllte sich tatsächlich wieder auf.
 

~*~*~

 

Den Rest des Tages verbrachte Credence damit, sich zum Badezimmer zu schleppen und etwas frisch zumachen, die restliche Kleidung anzuziehen und zurück zum Tisch zu taumeln. Er legte sich sachte auf die Bank und bettete seinen Kopf auf seinen nach wie vor tauben Arm. 

 

Er wog nachdenklich das Für und Wider von Newts Angebot ab. Zum einen hatte er Angst, wieder dem Falschen zu vertrauen und ausgenutzt oder misshandelt zu werden. Immerhin hatte er Newt nur ein einziges Mal getroffen und woher sollte er wissen, ob er nicht ähnlich wie Percival Graves andere, weniger gutmütige Absichten hatte. Doch falls Newt die Wahrheit sagte, könnte es etwas für Credence eröffnen, an das er noch gar nicht gedacht hatte: Newt hatte gesagt, er würde viel reisen. Und er könne ihn unbemerkt mit sich mitnehmen. Die Vorstellung, nicht nur aus New York, sondern auch aus Amerika herauszukommen, sobald Newt ihn von dem Obscurus befreit hatte und vielleicht an seiner Seite ein paar andere exotischere Orte zu besuchen, faszinierte ihn. Er hatte Bilder und Zeichnungen von anderen Städten, von Wüsten und Wäldern, Steppen und Feldern gesehen, aber sich nie weiter damit beschäftigt, weil er erwartete hatte, dass Mary Lou ihn ohnehin nie fortgehen lassen würde.

 

Der Gedanke an seine Adoptivmutter ließ ihn zittern und seine Augen huschten beängstigt zu der Stelle hinüber, an der sie gelegen hatte, tot und starr, mit einem entsetzten Blick auf ihrem Gesicht. Tief in seinem Inneren war er froh, dass sie nicht mehr da war, denn er hatte sie nie leiden können, war ständig voller Angst und Wut, sobald er sie gesehen oder an sie gedacht hatte. Es war nicht nur die Art und Weise gewesen, wie sie ihn und die anderen Kinder behandelt hatte, wie sie ihn verächtlich angestarrt oder ihn mit seinem eigenen Gürtel malträtiert hatte. Ihre Vorstellung von der Welt und wie diese geformt werden müsste, hatte er schon immer als falsch und grausam empfunden. Weshalb er trotz alledem bei ihr geblieben war, lag zum einen an seiner jüngeren Adoptivschwester Modesty, die er nicht bei ihr hatte zurücklassen wollen und zum anderen an der Tatsache, dass ihm wohl niemand anderes ein Obdach und Nahrung gegeben hätte.

 

Selbst als er Percival Graves kennen gelernt hatte, hatte dieser gewollt, dass Credence bei ihr blieb. Der talentierte Zauberer hatte ihm Hoffnungen gemacht, irgendwann doch noch von Mary Lou loszukommen, eine richtige Familie zu finden und Zauberei zu lernen. Doch vorher hatte er eine Gegenleistung dafür erwartet. Credence hätte für ihn ein Kind ausfindig machen sollen, welches große, magische Fähigkeiten besitzen musste und offenbar zu den zahlreichen, obdachlosen Kindern gehörte, welche für die Second Salemers Flugzettel verteilt und dafür eine warme Mahlzeit bekommen hatten. Erst dann hätte er ihn mit in die magische Gesellschaft einbürgern und aus der harten Gewalt von Mary Lou befreien können. Und Credence, der zum damaligen Zeitpunkt geglaubt hatte, nun endlich einen wahren Freund gefunden zu haben, hatte ihm blindlings gehorcht.

 

Nun, im Nachhinein, musste Credence sich eingestehen, dass er an der Ehrlichkeit von Graves‘ Worten immer einen gewissen Zweifel gehegt hatte. Doch diesen hatte er ignoriert, geblendet von der väterlichen Aufmerksamkeit, von jedem tröstenden Wort, welches der Zauberer für ihn erübrigen konnte. Er hatte zu diesem außergewöhnlichen Mann aufgesehen, ihn für seine ermutigende Art und seine magischen Fähigkeiten bewundert und gehofft, sich regelrecht gewünscht, er würde ihn eines Tages als Schüler, vielleicht sogar als Sohn bei sich aufnehmen.

 

Aber das Blatt hatte sich gewendet, als Credence grausam bewusst geworden war, dass er ihn nur für seine eigenen, mysteriösen Ziele benutzt hatte. Graves hatte nur das Kind mit dem Obscurus haben wollen, was auch immer er sich damit erhofft hatte, und als er geglaubt hatte, dieses Kind endlich in Modesty gefunden zu haben, hatte er Credence einfach links liegen gelassen. Er hatte ihn benutzt und belogen, um an das heranzukommen, was er offensichtlich brauchte, hatte ihm Aufmerksamkeit und Wertschätzung vorgeheuchelt, damit Credence in seiner Verzweiflung alles tat, um dies nicht wieder zu verlieren. Freundschaft, Vertrauen und ein richtiges Zuhause, waren einfach nur ein Lockmittel gewesen, um Credence gehörig zu machen.

 

Und so war letztlich der Moment gekommen, an dem Credence freiwillig die Kontrolle verloren hatte. Es waren einfach zu viele Faktoren geworden, welche die Mauern erst zum Bröckeln und schließlich zum Einsturz gebracht hatten. All die dreisten Lügen, der quälende Schmerz und die brennende Enttäuschung zerstörten endgültig, was er in all den Jahren so mühselig aufgebaut hatte. Er hatte toben wollen, schreien, seine Wut an allem auslassen, was er finden konnte - und so hatte er losgelassen…

 

Credence schloss die Augen und presste seine Lippen zusammen, um dieses Mal die Kontrolle zu behalten. Er hatte sich von seinen Erinnerungen, von den aufkommenden Gefühlen dazu verleiten lassen, etwas locker zu lassen. Aber er wollte und konnte jetzt nicht einfach aufgeben. Credence wollte dieses brutale Leben nicht weiterführen. Er hatte nie jemandem wehtun oder mutwillig Dinge zerstören wollen. Trotzdem hatte er es ein paar Mal getan, er hatte dabei Menschen getötet und großen Schaden angerichtet. In gewisser Weise hatte er also die Strafe verdient, die ihm die Zauberer oder Auroren, wie Newt sie genannt hatte, zugefügt hatten. Doch vorrangig hatte er gehofft, sie würden seine Lage vielleicht verstehen und ihm helfen, die Kontrolle zurückzuerlangen. Aber es war ganz anders gekommen.

 

Chastity und Mary Lou waren tot und Modesty, wenn nicht bei seinem Ausbuch verletzt, spurlos verschwunden. Doch abgesehen von diesen Umständen, gab es nichts Ungewöhnliches mehr. Draußen auf den Straßen war wieder alles normal, nichts erinnerte an die zertrümmerten Häuser, die aufgerissenen Straßen oder an die Toten, die er zu verantworten hatte. Er wusste nicht wie, aber offensichtlich hatten die Zauberer und Hexen dafür gesorgt, dass es keinen Hinweis mehr auf die zerstörerische Kraft gab, die in ihm schwelgte. Mit Magie mussten sie alles wiederhergerichtet haben, die Straßen vom Schutt gesäubert und die Häuser wiederaufgebaut haben. Die Bewohner der Stadt hatten die Erlebnisse der letzten Tage scheinbar vergessen und führten ihren Alltag normal und unbekümmert fort. Die Ereignisse hatten sich verändert und vielleicht hatte man auch für Modesty eine angenehmere Lösung gefunden oder hatte sie sogar zu ihrer richtigen Familie zurückgebracht.

 

All das hatten diese Auroren mit Zauberei Zustande gebracht. Auf der einen Seite war er verzückt von all den Möglichkeiten der Magie, doch auf der anderen Seite… Warum hatten diese Leute ihm nicht helfen können? Wieso hatten sie versucht, ihn zu vernichten und dann halbtot zurückgelassen? Wieso war Newt der Einzige, der es versuchen wollte und offenbar nicht durfte?

 

Seine Gedanken schweiften zu der Frau, die mit Newt in dem U-Bahn-Schacht gewesen war. Tina, hatte Newt sie genannt. Schon einmal hatte sie Credence gerettet, sich entschlossen zwischen ihn und Mary Lou gestellt, um ihn vor den Schlägen der blanken Gürtelschnalle zu bewahren. Er hatte sie daraufhin nie wieder persönlich gesehen, doch seit jenem Tag an, hatte sie ihn in seinen Träumen wieder und wieder gerettet. Und in dem Tunnel, als sie endlich erneut als seine Heldin aufgetreten war, hatte sie so ehrlich, so aufrichtig und besorgt geklungen. Nicht nur um ihr Wohl oder das der anderen, sondern auch um sein eigenes.

 

„Newt und ich werden dich beschützen.“
 

Ihre Worte hallten in seinem Kopf wieder und er konnte ein flüchtiges Lächeln nicht verbergen. Doch sie war nicht mit Newt hierhergekommen und dieser hatte keine Entschuldigung für ihn. Hatte sie ihm geholfen, nur um ihn wieder allein zu lassen? Credence wollte sie wiedersehen und ihr wenigstens einmal danken. Wenn er jemandem wirklich vertrauen wollte, dann war sie es. Doch sie war fort und unerreichbar, so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Vielleicht war sie ja gar nicht echt, sondern nur Einbildung, ein Geist oder sein Schutzengel?

 

Oder führte der einzige Weg zu ihr, indem er Newt vertrauen musste?

 

Er war hin und hergerissen zwischen Wegrennen und Bleiben. Die Zeit schritt vorüber und das Tageslicht wurde schwächer. Fieberhaft suchte er nach einer Lösung und er ertappte sich dabei, wie er immer wieder an Newts und Tinas Worte dachte. Wenn die beiden das Gesagte ernst gemeint hatten, warum sollte er diese Chance nicht ergreifen? Wenigstens ein letztes Mal? Mehr als enttäuscht werden, konnte er nicht und etwas Schlimmeres, als den Tod, konnte ihn wohl kaum ereilen.

 

Es war wieder Nacht geworden und der Lärm der Straße verebbte allmählich. Das schwache Mondlicht fiel wieder in den Raum und die unberührte Flasche mit dem Stärkungstrank schimmerte bläulich, warf tanzende Lichtflecken an die Wände. Credence verfiel in einen Halbschlaf. Erst als die Eingangstür sich erneut öffnete, schreckte er auf und blickte dem Eindringling entgegen.



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