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Auf der falschen Weihnachtsfeier

Die Geschichte der Tally Smith - Verplant, verirrt, verloren
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Liebe Leser,

ich wünsche euch einen schönen, zweiten Advent. ♥
Diese Geschichte ist einer guten Freundin gewidmet, die nicht nur heute ihren Geburtstag feiert, sondern auch gewisse Parallelen zu Tally aufweist ;) ...
Ich wünsche euch eine schöne Vorweihnachtszeit ♥ Komplett anzeigen

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Auf der falschen Weihnachtsfeier


 

Auf der falschen Weihnachtsfeier

- oder -

Die Geschichte der Tally Smith

Verplant, verirrt, verloren ...
 

Tally runzelte die Stirn, sobald ihre Augen das erfassten, was dort auf dem Schreibtisch lag. Fein säuberlich, ein stilles Dasein fristend, machte sich ein Umschlag auf der Tastatur breit.

Gestern lag da noch nichts, oder? Sie hob den Blick und sah sich in dem Großraumbüro um.

Das Geschnatter ihrer Kolleginnen und Kollegen hielt an. Tally kräuselte die Nase und begutachtete das weiße Kuvert. Einer der vielen Boten musste den Umschlag verteilt haben. Ihre Finger langten danach, drehten und wendeten das feste Papier. Eine plötzliche Anspannung machte sich in ihr breit.

Wurde ihr etwa gekündigt? Oh nein!

Es war kein Geheimnis, dass in Krisenzeiten Firmen einen Teil ihrer Belegschaft stutzten. Zittrig rang sie nach Luft, ehe sie unter bebenden Fingern versuchte, die Lasche aufzuknibbeln.

»Na-Tally

Abrupt hielt sie in ihrem Vorhaben inne, verdrehte die Augen und aus dem anfänglichen, ängstlichen Schlucken wurde ein gedehntes Seufzen.

»Du freust dich ja richtig, mich zu sehen.« Die Stimme Holden Brix' drang an ihr Gehör, so nah, dass es unweigerlich den Anschein hatte, dieser stünde direkt hinter ihr.

Tally kannte ihn, lang genug, und vermutlich glotzte er ihr wieder auf den Hintern.

Schule, Ausbildung. Dieser Kerl ließ sich einfach nicht abschütteln. Als sie vor fünf Jahren die Stelle bei der New-York-City-Tax-Company, von den Einheimischen kurz NYCTC genannt, annahm, war ihr letzter Gedanke, dass Holden ihr nachfolgen würde. Und doch sah sich Tally, knapp sechsunddreißig Monate später, mit seinem Gesicht konfrontiert. Dabei gab es so viele Jobs und Büros in New York City!

Stets war sie ihm mit unverhohlener Abneigung begegnet. Doch offenbar hatte Brix Selbstbewusstsein im Übermaß gelöffelt. Wo es bei anderen haperte, hatte er bei der Verteilung mehr als ein Mal hier geschrien und bekommen, wonach es ihm verlangte.

Wieder seufzte sie und zischte jedoch: »Musst du meinen Namen so aussprechen?«

»Wieso nicht? Du heißt Natalie. Jeder nennt dich so.« Holden trat hinter ihr hervor und schob sich nunmehr in Tallys Blickfeld. Sie quittierte sein Erscheinen mit einem erneuten Verdrehen der Augen. »Wie geht's Patti?«

»Gut, denke ich«, knirschte Tally unweigerlich. Das beinahe tägliche Erkunden Holdens nach ihrer Schwester, nur weil Patti gelegentlich mit ihm in einer Bar jobte, trug nicht zu einem besseren Verstehen beider Charaktere bei. Ihre stummen Gebete, Holden möge endlich verschwinden, wurden jäh ins Nirwana verdammt, als dessen Blick auf den Umschlag in ihrer Hand fiel.

»Ah, du hast also auch einen gekriegt.« Tally horchte auf, als Holden auf das Kuvert deutete. »Ist bloß 'ne Einladung.«

»Einladung?«, hakte sie nach.

»Ja, zur Weihnachtsfeier. Hörst nicht zu, hm?« Seine Lippen bogen sich zu einem breiten Lächeln. »Wurde doch letzte Woche erst besprochen.« Am liebsten hätte sie ihm das Grinsen aus dem Gesicht gewischt und seine abfällige Bemerkung noch dazu!

Holden zeigte selten, dass er Gespür für Situationen und die Leiden und Nöte seiner Mitmenschen besaß. Lieber hielt er den Finger in die Wunde, bohrte diesen fest in das aufklaffende, blutende Fleisch und hielt mit seiner Meinung nie hinterm Berg. Ob man diese hören wollte, oder nicht. Unverblümt, unsensibel, taktlos …

Wenn es sich nur um eine Einladung handelte, konnte sich ihr Puls allmählich beruhigen. Doch dieser dröhnte noch immer wie ein wildgewordener Presslufthammer. Aus Angst, man hätte ihr den Job genommen, wurde Erleichterung, dennoch konnte sie jenes Gefühl nicht genießen, da jemand an ihrem Nervenkostüm kratzte und offenbar so lang blieb, bis sie diesen verdammten Umschlag öffnete.

Statt einen Finger unter die Lasche zu schieben, riss Tally das Kuvert an der Seite auf. Das weiße Papier ließ sich nicht so einfach der Hülle entnehmen, doch nach einigem Zetern gelang es ihr endlich, das Schreiben in den Händen zu halten.

»Tatsächlich«, entkam es ihr überrascht.

Nun war es Holden, der die Augen verdrehte. »Sag ich doch.«

»Ich hab's kapiert. Du hattest recht«, räumte sie ein und tat mit der Hand eine scheuchende Bewegung in seine Richtung. »Dann kannst du ja jetzt wieder an deine Arbeit gehen.«

Doch statt ihren Worten und Taten Folge zu leisten, verharrte er neben ihr. »Hast du gesehen, wo es hingeht?«

Tief sog Tally abermals Luft in ihre Lunge. Dieser Kerl war die reinste Plage!

»Nein, noch nicht. Wohin geht es denn?« Ihre gezischten Worte überging Holden, indem er ausschweifend erklärte, dass man die diesjährige Weihnachtsfeier in einem der nobelsten Hotels der Stadt abhielt. Jede Abteilung würde dort sein.

»Jede Abteilung?« Ihr schoben sich die dunklen Augenbrauen zusammen, als Tally versuchte, im Geiste das gesamte Gebäude durchzugehen.

»Deshalb wird ja auch das ganze Hotel gemietet.« Seine Erklärungen unterstrich Holden mit einem Schnalzen der Zunge.

»Brix!« Zu Tallys Erleichterung trat ein neuer Quälgeist an sie heran, doch dieser schien, zu ihrem Glück, die alleinige Aufmerksamkeit des Kollegen einzufordern. Sowie Holden ihr wieder Raum zum Atmen ließ, konnte sich Tally endlich, und in Ruhe, mit der Einladung befassen.
 

»Warum ausgerechnet am 8. Dezember? Wenn ihr feiern geht, dann ...« Tally hatte Mühe, die rauen Worte ihrer Mutter zu verstehen, die aus dem kleinen Lautsprecher zu ihr drangen. In der U-Bahn zu telefonieren, konnte wirklich nur ihr einfallen.

»Mom, ich bin gleich zu Hause«, erklärte Tally, nachdem die Verbindung zunehmend schlechter wurde. »Dann reden wir weiter, okay?«

Seufzend ließ sie das Handy in die Tasche gleiten. Das Gedränge vor der Tür war bereits in vollem Gange. Geschäftsmänner mit schweren Koffern, Mütter mit Kinderwagen, alte Damen mit Hunden … Ein Schauspiel, das Seinesgleichen suchte. Doch für Tally gehörte es zum Alltag und ein paar bekannte Gesichter machten die Fahrt ein wenig erträglicher, auch wenn sie nie ein Wort mit ihnen gewechselt hatte. So ließ sie sich mit dem Strom durch die Tür hinaus auf den Bahnsteig treiben, sobald die Linie L ratternd und quietschend zum Stehen kam.

In wenigen Augenblicken würde sie die Stufen des Mehrfamilienhauses, am Rande Brooklyns gelegen, erreicht haben. Wie sie damals an die Wohnung gekommen waren, konnte sich Tally nicht erklären, doch ihre Mutter verfügte über einige, gute Kontakte auf dem New Yorker Wohnungsmarkt, sodass es für Tally, und ihren Freund Anton, schon nicht mehr einem Zufall glich. Doch manchmal schien ihr das Glück hold.

Mit flinken Schritten war die U-Bahnstation verlassen, der Weg bekannt. Eile war es nicht, die sie antrieb, dennoch waren die wenigen Meter bis zu ihrem Heim schnell beschritten. Tally hielt inne, hob den Blick, ehe ihr Gesicht vor Freude erstrahlte. Oben, am Fenster, saß Schmusels, ihr kleiner, etwas eigenwilliger Kater und leckte sich die Vorderpfote. Auch er hielt inne, blinzelte und sprang von der Fensterbank. Für Tally ein sicheres Zeichen, dass er sie gesehen hatte und nun auf Futter wartete.

Statt einem zierlichen, schönen Mauzen, krächzte das Tier bereits an der Tür. Der Schüssel fand seinen Weg ins Schloss. Tally betrat ihr Reich und wurde sogleich von dem Kater umstrichen. Ein erneuter Laut mahnte die Herrin nun doch zur Hast, denn dem kleinen Vierbeiner sollte es an Nichts mangeln.

Schmusels folgte ihr auf dem Fuße. Er ließ ihr nicht einmal Zeit, den schweren Mantel abzulegen, doch Tally störte sich nicht daran. Sie war es gewohnt und auch Schmusels war jenes Handeln lieb geworden, bedeutete es doch Routine und Futter. Sowie sich der Kater auf die Schüssel stürzte, wandte sich Tally ihren eigenen Vorhaben zu.

Von Anton war noch nichts zu sehen. Vermutlich würde er erst gegen neunzehn Uhr zu Hause sein. Oder später, je nach dem, wie die Taxen dahinkrochen. Dass ihnen meist nur die Abende und Wochenenden für Zweisamkeit blieben, missfiel ihr zwar nicht selten, doch auch hier hatte sich ein gewisses Schema herausgebildet.

Tally seufzte.

Anton war es damals gar nicht Recht, nach Brooklyn zu ziehen. Sein Lebensmittelpunkt war Springdale, eines der Viertel in Stamford, Connecticut. Eltern und Brüder zu verlassen, nur um ausgerechnet nach New York zu ziehen? Für Anton unvorstellbar. Er hasste New York und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten beide Platz in seinem Elternhaus gefunden. Für Anton völlig legitim, für Tally jedoch eine Horrorvorstellung! Es genügte ihr vollkommen, an zwei Wochenenden im Monat raus nach Connecticut zu fahren. Mit den spitzen Bemerkungen seiner Mutter hatte sie umzugehen gelernt. Und auch wenn das Gros ihrer Bekannten die Verbindung beider mit Sorge betrachtete, versuchte Tally weiterhin optimistisch daran festzuhalten. Dennoch ließ Joanne sie jedes Mal spüren, wie wütend es sie machte, dass Tally ihr den Sohn entrissen hatte. Dass James und Kalvin noch immer bei ihnen lebten, schob Misses Grimes in diesen Momenten gern beiseite.

Tallys Blick ging zum Kalender, der an der Wand neben dem Kühlschrank hing. Sie runzelte die Stirn. Da die Weihnachtsfeier auf einen Samstag fiel, wäre es ihr nicht möglich, Antons Eltern zu besuchen.

»Wirklich schade.« Ihr theatralisches Seufzen wallte durch die kleine Küche. Schmusels ließ sich von ihrem Ausbruch nicht beirren und einen blank geputzten Napf zurück. Sowie sich der Stubentiger an ihr vorbeidrängte, langte sie nach ihm. Obschon sich der vollgefutterte Kater zu wehren versuchte, beharrte Tally auf ihr Recht, ihn zu kuscheln.

»Was ist schade?«

Tally spitzte die Ohren und trat in den kleinen Flur. Die Stimme war ihr vertraut, doch Anton war es nicht, der eine Antwort verlangte.

»Patti? Du hast mich erschreckt!«, japste Tally und setzte Schmusels wieder auf den Boden. Dieser bedankte sich mit einem erneuten Krächzen, ehe er den Fremdling betrachtete und dann auf diesen zuhielt. Patti ging in die Hocke, um den kleinen Fellball zu begrüßen.

Im Gegensatz zu Tally, die nicht selten durch die Gegend polterte, war es Patti stets gelungen, sich wie ein Ninja anzuschleichen. Zum Leidwesen Beth Smiths konnten ihre Mädchen Fluch und Segen zugleich sein.

»Wenn du nicht willst, dass ich hier auftauche, hättest du mir keinen Schlüssel geben sollen.« Das Lachen Patrizia Smiths war erfrischend und entwaffnend zugleich. »Mom schickt mich.«
 

Wortlos betrachtete Patti das Schreiben. Dann langte sie nach der Tasse Kaffee und genehmigte sich einen großzügigen Schluck.

»Am 8. Dezember? Das ist übel. Gehst du trotzdem hin?« Die Frage ihrer Schwester quittierte Tally mit einem Zucken der Schultern.

»Muss ich wohl. Sonst werde ich mir ewig etwas anhören dürfen.« Die junge Frau schüttelte den Kopf und seufzte erneut.

»Sag doch einfach, du bist krank.« Pattis Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, doch dann gefror das Lachen, denn die Miene Tallys war ernst, beinahe verkniffen. »Ich weiß.« Patti verdrehte die Augen. »Und wenn nicht das, dann musst du zu seinen Eltern. Du hast Geburtstag! Er kann doch nicht von dir verlangen, dass du gerade dann nach Springdale fährst. Tally, so was ist absolut nicht -«

Doch weitere Worte blieben Patti im Halse stecken, da ein Klimpern von Schlüsseln zu hören war.

»Mom hält es trotzdem für keine gute Idee«, zischte Patti, doch längst hatte Anton die Aufmerksamkeit Tallys, als dieser das Wohnzimmer betrat. Das Gespräch von eben schien beinahe vergessen.

Nach einer ausgiebigen Begrüßung Tallys, blieb für die Schwester nur ein knappes Nicken übrig.

»Patti, was für eine … Überraschung.« Antons Worte begegnete die jüngste der Schwestern mit einem knappen, jedoch leicht sarkastischen Heben der Mundwinkel. Patrizia mochte Anton, was ihr jedoch nicht zusagte, war seine Sippe, und wie diese mit Tally umsprang. Dass sich ihre Abneigung auch auf den Umgang mit Anton übertrug, war für Patti völlig rechtens.

Ihr Blick glitt von dem Pärchen wieder zu der Einladung. Leise seufzte Patti und erhob sich von dem Sofa. Tally musste, in dieser Angelegenheit, allein zurechtkommen. Anton würde ausflippen, nicht nur, dass sie an jenem Wochenende nicht zu seinen Eltern fahren konnten, auch musste sie allein zu einer Weihnachtsfeier. Ein rotes Tuch, für den exzentrischen Automobilverkäufer. Seine Freundin allein mit einem Haufen Männer! Dass Tally tags darauf ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag beging, setzte alldem noch das Krönchen auf.

Tally war ein Familienmensch und diesen Tag ohne Mutter und Schwester zu verbringen, würde ihr definitiv das Herz brechen. Aber solche Entscheidungen gehörten zum Erwachsenwerden dazu.

Die Verabschiedung war knapp und auch wenn sich Patti nicht weniger wohl mit der Situation fühlte, so drückte sie ihrer Schwester die Daumen, dass diese einen Weg fand, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
 

Die Tage bis zum bevorstehenden Event zogen sich zäh wie Kaugummi. Zu Tallys Überraschung war ihre gesamte Abteilung in heller und freudiger Aufregung, doch statt diese zu teilen, lag ihr das Gespräch, die Diskussion mit Anton, noch immer schwer im Magen.

Dass er ruhig blieb und sie nur mit einem Blick taxierte, der jedoch nichts Gutes verhieß, hatte sie nicht weniger wortlos hingenommen. Es behagte ihm ganz und gar nicht, auf das Treffen mit seinen Eltern zu verzichten und den Abend allein verbringen zu müssen.

»Dann fahr doch einfach allein zu deinen Eltern«, bot Tally ihm an. »Oder geh mit deinen Jungs selbst ein bisschen feiern.«

Noch hatte sich Anton zu keiner Antwort hinreißen lassen. Obschon er seine Interessen gern über ihre Beziehung stellte und sein Wort als unumstößlich empfand, schwante Tally Übles.

»Was ist sein Problem? Das ist eine Weihnachtsfeier, verdammt noch mal! Er tut ja gerade so, als würde man dich Löwen zum Fraß vorwerfen!« Mit einem bekräftigenden Nicken stimmte Patti den Worten ihrer Mutter zu. Die mittwöchlichen Treffen der drei Frauen waren zu einem festen Ritual geworden, seit Tallys Umzug nach Brooklyn. Zwar wohnte auch Patrizia längst nicht mehr bei Beth und deren Lebensgefährten, doch die zwei Blocks, die Mutter und Tochter trennten, waren wesentlich schneller überbrückt, als eine wilde Fahrt quer durch New York City.

»Als Mutter habe ich ein Recht darauf, mir Sorgen zu machen, und du, Tally, siehst wirklich bescheiden aus!«, ereiferte sich Beth und ließ die Kaffeetasse polternd auf das polierte Holz des Küchentisches krachen.

»Ja, Mom, tut mir leid«, resigniert ließ Tally die Schultern hängen.

»Du sollst dich amüsieren und auch mal an dich denken! Eure Jugend ist so schnell vorbei, da sollte man alles mitnehmen, was mitzunehmen ist!« Beth schnalzte mit der Zunge, während Tally und Patti die Augen verdrehten.

Ein Ratschen des kleinen Rädchens am Feuerzeug ertönte. Beth hielt die Flamme an den Glimmstängel, der zwischen ihren Lippen verweilte und nahm einen tiefen Zug.

»Als wenn sich eine meiner Töchter von einem Kerl zu irgendetwas zwingen lässt!«, schnappte Beth. »Es ist euer Leben. Und ich habe euch immer gesagt, dass ihr euch nicht quälen sollt.«

Ihr Blick schweifte zu Patti, deren Augenbrauen sich zusammenschoben. »Ja, Mom, ich weiß, dass das verschwendete Zeit war.«

»Das habe ich nie gesagt, immerhin kannst du mir die Verspannungen wegrubbeln, auch wenn es mit der Physiotherapeutin nichts geworden ist. Und Tally meine Steuererklärung machen.« Mrs. Smith schnippte die Asche der Zigarette in das kleine Porzellanschälchen vor sich. »Ich bin froh, dass ihr überhaupt etwas in den Händen habt, ob es nun nützlich ist, oder nicht.«

Tally seufzte, doch Beth behielt Recht, auch wenn ihr und Patti diese Gespräche bereits aus den Ohren kamen und Beth diese nur allzu oft und mit großer Freude immer wieder zu Tage förderte.

»Tally geht auf diese Weihnachtsfeier«, gebot Beth mit strengem Seitenblick auf ihre Tochter, »und wenn ich dich eigenhändig dahin schleifen muss!«
 

Die Weihnachtsfeier rückte näher und Anton hielt an seinem Schweigen fest. Doch als er am Donnerstagabend seine Stimme wiederfand, erklärte er sich zähneknirschend bereit, den Besuch bei seinen Eltern zu verschieben und ein wenig Zeit mit seinen Jungs verbringen zu wollen.

»Ich sollte mich wieder mehr um meine Kontakte kümmern«, sagte Anton und ließ es so klingen, als sei ihm jener Gedanke als Erster gekommen.

Tally verdrehte die Augen, zuckte jedoch nur mit den Schultern. Da es ihr nun erlaubt war, sich auf die Feier zu freuen, würde der Freitag damit enden, dass sie vor dem Kleiderschrank stand, kniete oder in diesem versank, nur um nach einem passenden Outfit zu kramen.

»Und denk dran, Tally, bloß nicht die Einladung vergessen!«, rief ihr Suzie Kalvelage entgegen, als Tally gerade im Versuch war, ihre Tasche zu packen und die Kollegen auf den morgigen Abend zu verabschieden.

»Okay.« Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen, als sich Tally auf den Weg zu den Fahrstühlen machte. Wie gut, dass Suzie sie nochmals an die Einladung erinnerte. Beinahe wäre ihr jenes wichtige Detail, nach all dem Chaos mit Anton, abhanden gekommen. Sie gehörte zwar nicht zu den nervösen Naturen, doch ein wenig Fahrigkeit haftete ihr stets an.

Sowie sie durch die Haustür trat und die Stufen zur zweiten Etage hinauf hetzte, waren ihre Gedanken bereits wieder bei Anton und seinem nicht enden wollenden, vorwurfsvollen Blick. Laut und tief machte sie ihrem Ärger Luft. Ihr Seufzer erschreckte sogar Schmusels, der auf sie zuhielt und sogleich wieder kehrt machte, sobald Tally durch die Tür in den kleinen Flur trat.

Einem kurzen Streichen über das orange-gemusterte Fell des Katers würde sie beruhigen, doch von ihrem Stubentiger fehlte jede Spur. Tally gab es auf, nach ihm zu suchen. Der Hunger würde ihn schon locken und Schmusels aus seinem Versteck holen.

Sowie der Napf mit ein wenig Trockenfutter befüllt war, glitt ihr Blick in Richtung Kühlschrank.

Die Einladung war dort mittels Magneten befestigt und sie zu übersehen musste wohl schon an einem fiesen Streich ihrer Äuglein grenzen.

Wie von ihr beabsichtigt, führte sie der Weg ins Schlafzimmer, wo der Kleiderschrank auf seinen großen Auftritt wartete, um ihr die Fülle seiner Vielfalt zu präsentieren. Wenig später lagen Blusen, Jacken, Röcke und Hosen kreuz und quer auf dem großen Bett verteilt. Das Outfit sollte edel und elegant sein. Das, was sich ihr nun darbot, war für die Arbeit genug, aber für ein nobles Hotel allemal zu wenig. Doch Zeit, sich um eine anständige Robe zu kümmern, blieb ihr nicht. Der Verzweiflung nahe tat Tally das, was sie in solch schwierigen Situationen immer tat.
 

Abgehetzt und außer Atem waren Mutter und Schwester in die Wohnung gestürmt. Nach einer kleinen Begrüßung und dem Berichten des vorliegenden Problems, kam Beth Smith nicht umhin, sich mit dem Handrücken über die Stirn zu fahren, nachdem Tally ihr und Patti Bericht erstattet hatte. Grübelnd standen die drei Frauen vor dem Kleiderhaufen.

»Eigentlich könntest du doch gleich durchfeiern«, murmelte Patti nach einer Weile. Sie hatte sich über die großzügige Schlafstätte ausgebreitet und die Arme hinter dem Kopf verschränkt, ehe sie den Blick wieder auf Beth und Tally richtete.

»Wer kam denn auf die intelligente Idee, dieses Spektakel auf einen Samstagabend zu verlegen?«, noch immer schien Beth entrüstet über die Planung der Geschäftsführung.

»Hast du nicht behauptet, dass ich alles mitnehmen solle, was ich kann?«, schnaubend schüttelte Tally den Kopf.

Patti seufzte und verdrehte die Augen. »Zumindest lässt er dich gehen und beharrt nicht darauf, auch noch dort aufzukreuzen.«

Tally schmälerte die Augen und warf ihrer Schwester einen verstimmten Blick zu. Es auf eine erneute Diskussion anzulegen, widerstrebte ihr jedoch.

»Mädchen, wir stehen hier vor einem echten Problem!«, merkte Beth an.

»Was kann ich denn dafür, wenn Tally so einen grausigen Geschmack hat?«, giggelte Patti und es schien, als sei die kleine Unstimmigkeit bereits vergessen.

Lautstark tat Tally ihren Unmut kund, langte nach einem Pulli und warf ihn ihrer Schwester ins Gesicht. Erneuter Protest wallte auf und endete in schallendem Gelächter.

Als Anton im Türrahmen erschien, glich das Schlafzimmer einem Schlachtfeld, während die drei Damen sich die Lachtränchen aus den Augen wischten.

Mehr schlecht als recht war es ihnen dennoch gelungen, eine Kombination zusammenzustellen, die Tallys Geschmack entsprach.
 

Skeptisch wanderte eine helle Braue zum nicht minder blonden Haaransatz, als Anton das Zurechtmachen seiner Freundin mit Argusaugen betrachtete. Ein wenig Puder hier, ein Lidstrich dort.

»Und du bist dir sicher, dass du allein da hin findest?« Seine Frage glich eher einer spitzen, kleinen Drohung und hatte nichts von Sorge inne.

Der Kajalstift wurde wieder abgesetzt. Tally wandte sich zu ihm um und schmälerte die Augen. »Ich kenne mich aus, danke.«

Anton beließ es nur widerwillig dabei. Sowie sie in die Stiefel schlüpfte und im Spiegel nochmals ihr Erscheinungsbild begutachtete, seufzte Tally leise auf. Dass er es ihr auch immer so schwer machte?!

Wortlos ging sie an ihm vorüber, begab sich in die Küche und zupfte die Einladung vom Kühlschrank, ehe diese in der kleinen Umhängetasche verschwand. Als sie nach dem Mantel langte, war von Anton nichts zu sehen. Tally lugte ins Wohnzimmer. Anton saß auf der Couch und sah sich irgendeine Wiederholung eines Football-Spiels an.

»Ich bin weg«, rief sie ihm, über die dröhnende Stimme des Kommentators hinweg, zu. Doch Anton spielte, wie so oft, den Gekränkten. Wann er sich mit seinen Kumpels traf, war ihr völlig entgangen und ihn jetzt noch danach zu fragen, würde ihr nur den Abend vermiesen. »Bis später«, ließ Tally verlauten, fuhr in den Mantel und verließ die Wohnung in Richtung U-Bahnstation.
 

Der Dezember hielt, was er versprach:

Kalte Winde, frostige Böden, doch Schnee schien noch nicht in Sicht.

Tally kannte den Weg nach Manhattan, fuhr sie ihn doch an fünf Tagen in der Woche auf und ab. Doch zu ihrem Unglück schien es über Nacht zu gewissen Komplikationen gekommen zu sein, die ihr Vorankommen erheblich beeinträchtigten.

Mit Argwohn betrachtete sie die Traube an Menschen, denen es augenscheinlich ebenso missfiel, dass die Linie L vorübergehend gesperrt wurde.

»Gleisarbeiten, na klar«, blaffte ein junger Kerl, vielleicht ein wenig jünger als sie selbst. Er und seine Freunde machten meckernd und fluchend kehrt und drängten sich an ihr vorbei. Tally klammerte sich an ihre Tasche und beäugte den Trupp mit Skepsis, ehe sie sich den Weg nach vorn bahnte, um dem Gehörten auf den Grund zu gehen.

Am Bahnsteig versuchte ein Mitarbeiter die aufgeregte Meute zu beruhigen und wies unter hastiger Gestik an, Ausweichmöglichkeiten zu nutzen. Ein Raunen und Klagen war zu vernehmen und auch Tally wurde allmählich bang.

Zackig wandte sie sich um, studierte die Tafel hinter sich und suchte die bunten Linien nach einer zumutbaren Fahrstrecke ab. Andere taten es ihr gleich und es entstand ein reges Gedränge um den beleuchteten Wegweiser der New-Yorker-U-Bahn.

Ein Umweg würde sich nicht vermeiden lassen. Tally verdrehte die Augen und machte sich eiligst daran, ein anderes Gleis aufzusuchen. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihr, die Bahn zu erwischen und obschon jene scheinbar im Minutentakt fuhren, saß ihr die Eile im Nacken.

Als die mechanische Ansage ertönte, lauschte Tally den schwerverständlichen Worten. World Trade Center Station

Ihr Herz klopfte, doch dann sank ihr Rücken erneut gegen das Polster des Sitzes. Laut dem Schreiben würde die Weihnachtsfeier im Hilton Garden Inn abgehalten. Dies bedeutete nicht nur einmal quer durch Manhattan, sondern ebenso einen zweimaligen Umstieg, doch nach wenigen Straßen hätte sie das Hotel erreicht.

Die Haltestellen rauschten dahin und der Strom an Fahrgästen tat es ihnen gleich. Immer wieder ging Tallys Blick zur der blinkenden Anzeige, die oberhalb der Türen auf den nächsten Stopp verwies. Aufregung und Anspannung machten sich in ihr breit. Die Zähne gruben sich in die Unterlippe, ehe sich Tally von der Bank erhob und auf den nächsten Haltepunkt wartete. Ratternd kam die Bahn zum Stehen. Tally sah sich auf dem Gehsteig um, suchte nach dem richtigen Gleis und steuerte die Rolltreppen an.

Gleishopping, eine seltsame Beschreibung für den stetigen Wechsel zwischen den Bahnen und zu Tallys Missfallen gehörte jene Aktivität nicht zu ihren Hobbys. Seufzend bestieg sie den nächsten Wagon und setzte ihren Weg fort.
 

Abermals erklang eine Durchsage, für die junge Frau Grund genug, endlich wieder an die Luft zu gelangen. Wieder huschte ihr Blick zur Armbanduhr am Handgelenk. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, doch würde sicherlich ein Auge zugedrückt, wenn sie die Ansprache, sofern es eine gab, knapp verpasste. Flink setzte Tally einen Fuß vor den anderen, quälte sich durch die Menge an Passanten und trat auf die Straße hinaus.

Nach einer kurzen Phase des Orientierens, gelang es ihr das Hilton Garden Inn zu erspähen. Die Lichter des Broadway erfüllten die Nacht und beinahe hätte sie ihr Ziel aus den Augen verloren. Die noble Residenz befand sich auf dem Times Square und strahlte mit den vielen Theatern um die Wette. New York schlief niemals, und wenn, dann konnte es sich nur um ein kleines Nickerchen zwischen zwei und drei Uhr morgens handeln.

Erleichterung erfasste sie, als Tally vor dem Hotel stand und der Portier ihr bereits die Tür öffnete. Dankend nickte sie seine Geste ab und betrat den hellen Vorraum. Die Absätze ihrer Stiefel klapperten auf dem Marmor, während sie Ausschau nach ein paar bekannten Gesichtern hielt.

Gelächter und Gespräche drangen an ihre Ohren und Tally war sich sicher, am richtigen Ort zu sein. Den Damen an der Rezeption begegnete sie mit einem freundlichen Lächeln und trat durch die nächstgelegene Flügeltür zu ihrer Linken, noch ehe eine der Frauen die Möglichkeit hätte, sich nach ihr zu erkunden.

Selten hatte sie so viel Prunk und Luxus erleben dürfen. Der große Saal war festlich geschmückt, weihnachtlich und nobel, glitzernd und glänzend.

Kellner, in adretter Robe, reichten Champagner und kleine Köstlichkeiten. Tally mischte sich unters Volk und suchte nach ihren Kolleginnen, doch eine von ihnen zu erspähen, gelang ihr nicht. Grübelnd legte sie die Stirn in Falten. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie wohl eine der letzten Gäste gewesen sein musste.

Jemand schlug sacht mit einer Gabel gegen ein Champagnerglas, sodass der sanfte Klang zwar leise, aber dennoch laut genug schien, um die Unterhaltungen enden zu lassen.

Erst jetzt bemerkte Tally das kleine Podest, das der großen Tür gegenüber stand. Ein untersetzter Mann betrat das Podium und stellte sich als „Edward Dearing“ vor. Er begrüßte die Gäste und deren Angehörige zu jener Feierlichkeit und Tally hatte Mühe, seinen Worten zu folgen.

Hastig ging ihr Blick von Edward Dearing zu den Menschen um sie herum.

»Die BVC hat in diesem Jahr ihre Produktion nochmals um 2,3 Prozent steigern können«, verkündete der kleine Mann und nun sah sich Tally mehr als verwundert um.

Schwer schluckte sie, langte mit zittrigen Händen nach ihrer Tasche und durchforstete diese nach ihrem Telefon. Obschon dort kein Anruf verzeichnet war, beschlich sie plötzlich ein ungutes Gefühl. Nochmals lauschte Tally der Rede, ehe sie erkannte, dass dies nicht die Firma war, der sie angehörte.

Sie hob den Kopf und suchte nach einem Fluchtweg. Langsam schob sich Tally durch die Reihen der Gäste in Richtung Ausgang und erreichte beinahe unbemerkt die große Flügeltür. Nervös und leicht gehemmt, lauerte sie darauf, dass sich die Pforte öffnete. Sie versuchte sich an einem unscheinbaren Auftreten, rückte näher an das schneeweiße Holz, lehnte bereits mit dem Rücken daran. Wieder vernahm sie ihren Herzschlag, der so laut in ihren Ohren nachhallte, dass Tally hoffte, die Rede hielt an und die Aufmerksamkeit der Gäste bliebe an Edward Dearing haften.

Der Schock fuhr ihr in die Glieder, als die Tür nachgab und sie für einen flüchtigen Augenblick rücklings nach hinten sank. Der knappe Aufschrei ihrerseits war, zu Tallys Glück, kaum wahrnehmbar.

Der irritierte Blick eines rothaarigen Mitdreißigers traf sie, doch Tally nutzte die Gelegenheit, der Festlichkeit zu entkommen.
 

Mehr schlecht als recht stolperte sie ins Foyer zurück. Das Getuschel der Damen am Empfang erstarb. Tally richtete sich auf, strich die vereinzelten Strähnen ihrer brünetten Mähne zurück, straffte die Schultern und versuchte das Brennen auf ihren Wangen zu ignorieren.

»Verzeihen Sie, Miss? Kann ich Ihnen behilflich sein?« Eine junge, blonde Rezeptionistin trat an sie heran.

Tally fuhr kaum merklich zusammen, als die hohe, glockenhelle Stimme der Blondine an ihre Ohren drang. Zu Tallys Schrecken sah jene Frau in ihrem Rezeptionsdress wesentlich passabler aus, als sie in ihrer schlichten Schwarz-Weiß-Kombination, die noch immer von dem Mantel verdeckt wurde. Das blonde Haar schön frisiert und der Rest nicht weniger vorzeigbar.

Das Läuten eines der Telefone, holte Tally in die Realität zurück.

»Nein, ich -« Tally schluckte. Obschon ihr die junge Frau freundlich begegnete, war es dieser peinlichen Situation geschuldet, dass Tally jene Worte als Tadel empfand. Der prüfende Blick der Dame trug nicht im mindesten dazu bei, dass sie sich wohler fühlte. »Ich, ich glaube, ich bin hier falsch.«

Das Eingeständnis ließ in ihr den Wunsch heranreifen, im Erdboden versinken zu wollen.

»Wie meinen?«, verlangte die Glockenstimme zu wissen.

Unter bebenden Fingern zerrte Tally am Riemen ihrer Tasche und suchte erneut in den Tiefen des Accessoires darin. Als sie endlich fand, wonach es ihr verlangte, betrachtete die junge Dame sie mit einem mitleidigen Blick.

»Aber Miss, Sie sind hier im Hilton Garden Inn«, verkündete die Rezeptionistin, als eine weitere Mitarbeiterin auf die beiden zutrat.

»Gibt es ein Problem, Sally?« Das kleine Messingschild auf der Brust der anderen Frau wies diese als Melinda Redbrynne aus.

Tally schluckte, schüttelte sacht den Kopf, blickte dann hastig zu Sally und deutete auf den Briefkopf der Einladung, der dasselbe Logo trug, wie die leuchtenden Verzierungen, die an der Fassade des Hauses angebracht waren. »Aber, da wollte ich doch hin.« Ihre Stimme bebte nicht weniger, als ihre Finger zuvor.

Die störrische, erhabene Miene Melindas hellte sich auf, ehe sich ihre Lippen zu einem kleinen Lächeln formten. »Miss, Sie befinden sich hier im Hilton Garden Inn -« Gerade, als Tally ihr ins Wort zufallen drohte, hob Melinda einen Finger, um sie zum Schweigen zu bringen. »Sie sind hier am Times Square, Liebes. Sie wollen ins Hilton in Midtown.«

Tallys Augen wurden groß, ehe die Erkenntnis den Weg zu ihr fand. Schwach nickte sie.

»Wir können Ihnen ein Taxi rufen, das Sie nach Midtown bringt.« Das Angebot der Blondine verneinte Tally jedoch dankend. Hastig wichen ihr Worte der Entschuldigung über die Zunge. Mit hochrotem Kopf verließ Tally das Hotel.
 

Gedanken rasten ihr durch den Kopf. Sie kannte sich doch aus, in New York, in Manhattan. Das war ihre Stadt! Wie konnte ihr solch ein Fauxpas widerfahren? Wut mischte sich unter das Schamgefühl. Rasch versuchte Tally die peinliche Situation zu verdrängen, eilte zur nächsten U-Bahnstation und suchte die Anzeigetafeln nach der korrekten Strecke ab.

Sie fand, wonach sie suchte und hetzte abermals die Stufen zu den Gleisen hinab. Sich die Blöße geben, und Anton berichten, dass sie sich nicht nur verfahren, sondern auch die Einladung nicht richtig studiert hatte, nie und nimmer würde Tally sich dieser Schmach aussetzen!

Mit geschmälerten Augen bannte sie förmlich die Buchstaben auf das weiße Papier. Midtown, natürlich!

Der Weg führte sie nach Osten. Rockefeller Center, St. Patrick's Cathedral

Nervös knetete sie die klammen Finger. An der nächsten Haltestelle würde sie aussteigen müssen. Sowie die Bahn abermals hielt, quetschte sich Tally durch die Menge. Das Herz schlug ihr abermals bis zum Hals hinauf.

Zügigen Schrittes eilte Tally die Stufen des U-Bahnhofes Lexington Av-53 St hinauf. Auch Midtown quoll vor Taxen, Menschen und Flair über. Tally flitzte durch Straßen und über Kreuzungen, bis sie vor einem hohen Gebäude zum Stehen kam.

Doch keine blinkenden Lichter nahmen sie in Empfang. Auch kein Portier, der ihr die Tür aufhielt. Abermals zerrte sie die Einladung hervor, überprüfte die Adresse. Skepsis zierte ihr Gesicht, ebenso Ratlosigkeit. Ihr Kopf wandte sich zu allen Seiten.

»Wollt ihr mich alle verarschen?!«, platzte es ungehalten aus Tally heraus.

Das schöne und noble Hotel war in Dunkelheit getaucht. Nur der Schein der Straßenlaternen vermochte die Lettern preiszugeben, die jenen Bau als Hilton Garden Inn beschrieben.

»Verzeihung?« Tally fuhr erschrocken zusammen. Zorn und Furcht ließen sie herumwirbeln. Ein junger Mann hielt auf sie zu, die Hände jedoch beschwichtigend erhoben. »Keine – keine Panik, Ma'am, Miss?«

Der Kerl reckte den Hals und war offenbar versucht, nicht in das nächste Fettnäpfchen zu treten, das sich soeben vor seine Füße schob.

Tallys Miene spiegelte ihre Emotionen nur zu gut wider. Sie war sehr darum bemüht, ihr Innerstes nicht nach außen zu tragen, doch in dieser Situation war ihr dieser Umstand vollkommen gleichgültig.

Der junge Mann kratzte sich ein wenig verlegen am Hinterkopf. Er war kaum größer, als sie selbst, schien jedoch um ein paar Jährchen jünger. Noch hatte er nicht viel von sich gegeben, doch die paar Fetzen genügten, um ihren Unmut noch mehr zu schüren.

»Kann – kann ich Ihnen helfen? Ich arbeite hier, also, von Zeit zu Zeit.« So viel Hilfsbereitschaft hatte sie nicht erwartet, umso mehr mahnte sich Tally zur Vorsicht.

Prüfend musterte sie den Fremden. Schwarze Haare, braune Augen und der Akzent? - Definitiv kein New Yorker.

Auffordernd nickte Tally. Er solle weitersprechen, wenn er sich schon anbot. Als er jedoch unaufgefordert nach ihrem Ärmel langte und sie unter die Markise des Hotels führte, versteifte sich Tally instinktiv. Vereinzelte Menschen gingen an ihnen vorüber. Es wäre also kein Problem, um Hilfe zu rufen. Doch ob sich die Bürger der Stadt darum scherten, wenn eine junge Frau auf offener Straße -? Tally versuchte den Gedanken des Schreckens abzuschütteln. Dass der Kerl sie ebenso einer Musterung unterzog, gefiel ihr ebenso wenig.

»Miss, das Hotel wird seit gestern Abend zwangsrenoviert. Ich weiß nicht ob -?«, begann der Fremde und Tally neigte den Kopf. »Es … es tut mir leid, falls Sie -«

Tally lauschte seinen Worten. Wieder wühlte sie in der Handtasche nach ihrem Telefon. Drei Nachrichten blickten auf und fünf verpasste Anrufe. Gerade, als der junge Mann erneut zu sprechen beginnen wollte, hielt sie ihn mit einem erhobenen Zeigefinger davon ab. Aufmerksam las sie die geschickten Mitteilungen.

»Ich krieg' die Krise!«, machte Tally ihrem Ärger Luft und stieß einen verzweifelten Laut aus. Der Fremde zuckte vor so viel Impulsivität zusammen und bedachte die Frau mit großen, furchtsamen Augen. Da Tally plötzlich Unverständliches murmelte und hier und da ein paar unfeine Worte zuhören waren, schoben sich die dunklen Augenbrauen des jungen Mannes fragend zusammen.

»Wollten Sie etwa auf diese Weihnachtsfeier?«

Tally wurde hellhörig. Als er auf ein Schild verwies, das im Licht der Laternen nur schwach zu erkennen war, stieß sie erneut einen Fluch aus. Jener Hinweis beinhaltete nicht nur die Bitte um Verständnis für die Erneuerung des Gebäudes, auch entschuldigte er den Ausfall der anstehenden Feierlichkeiten. Als Notiz für die Gäste jener Veranstaltungen, wurden die Ausweichmöglichkeiten aufgezeigt, die man, notgedrungen, in Erwägung zog.

Ein tiefes Knurren entfuhr ihrer Kehle, sobald Tally den Termin fand, der die Weihnachtsfeier der NYCTC bereithielt.

»Das kann ja nur schlechter Scherz sein!«, herrschte sie. »Von dort komme ich doch gerade!«

Für die New-York-City-Tax-Company sah man nun das Hilton Garden Inn - Central Park South vor. Und dieses war nur wenige Straßen vom Times Square entfernt.

»Miss? Falls Sie nicht wissen, wie – und welche U-Bahn -?« Doch Tally hörte nicht mehr zu.

»Nein danke«, knurrte sie. »Vielen Dank für das Angebot. Aber ich bin New Yorkerin, ich spreche U-Bahn.« Mit jenen Worten machte Tally Smith auf den Hacken kehrt und marschierte, mit zorngeschwängertem Blick, den Weg zurück.
 

Die Fahrt zum Central Park, zur 7 Avenue Sation sollte sie beruhigen. Doch je länger sich die Minuten dahinzogen, desto wütender wurde sie.

»Ich hätte zu Hause bleiben sollen, statt kreuz und quer durch Manhattan zu jagen«, zischte sie ungeachtet dessen, dass sich auch andere Passagiere in dem Wagon aufhielten. Ihr Herz raste und Tally spürte bereits, wie ihr Make up ins Nirwana abglitt. An die, voll Panik erfüllten, Schweißausbrüche, wollte sie gar nicht erst denken. Sowie sie einen Fuß in dieses verdammte Hotel setzte, wäre ihr erster Gang jener zur Toilette. Vielleicht auch erst der zweite, denn obschon sie sich selten dem Genuss von Alkohol ergab, wäre ein Drink, ein starker, nach jener Tortur wohl mehr als angebracht.

»7 Avenue Sation«, verkündete die mechanische Stimme. Tief sog Tally die Luft ein, erhob sich von dem Sitz und wankte zur Tür.

Nah beim Studio 54 gelegen, erstrahlte das Hilton Garden Inn. Ein weiteres, von vielen, wie Tally mit leichtem Zynismus feststellen durfte.

Zu ihrer Verblüffung wartete vor der Tür niemand geringeres als Holden Brix.

»Wo kommst du denn her?« Seine Frage unterstrich er mit einem lauten Auflachen, sodass die Passanten um sie herum, sich fragend nach ihm umsahen.

Tally schmälerte die Augen, taxierte ihren Arbeitskollegen mit einem bösen Blick. »Ich bin in den letzten zwei Stunden durch halb Manhattan gerast!« Blut war ihr in die Wangen geschossen, während Tally ungeniert weiter plapperte. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele Hilton Garden Inns es New York City gibt?! Allein in der Nähe des Times Square?!«

»Eine Menge?«, riet Holden und stieß ein belustigtes Schnauben aus.

Tally grunzte wütend und undamenhaft. »Ich bin vom Times Square, nach Midtown, und von Midtown hierher.«

»Ja, das in Midtown ist dicht gemacht. Keine Ahnung warum.« Holden zuckte mit den Schultern.

»Renovierung«, nuschelte Tally und strich sich eine verirrte Strähne aus der Stirn.

Holden neigte den Kopf. »Du warst erst auf dem Time Square? Was hast du denn in Midtown getrieben? Muss sich Anton etwa Sorgen machen?«

»Halt die Klappe!«, zischte Tally. »Ich habe mich verfahren, verlaufen und war im falschen Garden Inn. Die schickten mich nach Midtown, wo das vermaledeite Hotel runderneuert wird, und wäre mir der Kerl nicht zu Hilfe -«

»Kerl? Was für ein Kerl? Muss ich deinem Freund doch Bescheid sagen?« Holdens Augenbraue hüpfte verdächtig gen Norden.

»Nein, du Voll- ach was weiß ich. Nein, irgendein ein komischer Typ. Der hat mich erst darauf gebracht, dass das Hotel geschlossen ist und diese dämliche Weihnachtsfeier hierher verlagert wurde! Warum sagt keiner Bescheid?« Allmählich ging ihr die Puste aus. Sie brauchte einen Drink, und warme Füße. In diesen Stiefeln froren ihr allmählich die Zehen ab.

»Jetzt sei nicht sauer. Es ist schließlich nicht meine Schuld, dass du im falschen Hotel gelandet bist ... Und die Einladung, ganz offensichtlich, nicht richtig gelesen hast.« Wieder ließ Holden nur ein knappes Zucken der Schultern erkennen. »Na los, ich geb' dir einen Cocktail aus.«

»Die sind umsonst!«, knurrte Tally und marschierte vor ihm her.

»Klar, ich weiß.« Sein Grinsen sah sie nicht mehr, als der Portier ihr Einlass gewährte und die hellen Lichter des Foyers sie umfingen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein kleines Nachwort zum besseren Verständnis:
Es gibt wirklich wahnsinnig viele "Hilton Garden Inns" in New York City.
Diese Hotelkette ist ein Tochterunternehmen der "Hilton-Hotels" und weltweit vertreten.

Ich hoffe, ihr nehmt mir dieses kleine Verwirrspiel nicht übel ^^° Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  JO89
2019-01-09T19:24:51+00:00 09.01.2019 20:24
Hallo 👋
Ich habe zweimal mit der Geschichte angefangen und bin immer nur bis zu Schmusels Auftritt gekommen und dann kam was. Dazwischen 😭

Aber jetzt habe ich es endlich geschafft 🎉

Ach, Nick war geoßartig! Und so hilfsbereit!
Ich mag ihn und ich mag es, das du ihm einen Gastauftritt verschafft hast 😊

Tally ist klasse und so wirr
Ich habe es so genossen die Geschichte zu lesen! Brix ist eine Type für sich, das Ende fand ich besonders klasse. Er hat im Übrigen am selben Tag Purzeltag wie meine Mama 😃

Bei dem Satz war ich etwas verwirrt, den musste ich zweimal lesen:
Nach einer kleinen Begrüßung und dem Berichten des vorliegenden Problems, kam Beth Smith nicht umhin, sich mit dem Handrücken über die Stirn zu fahren, nachdem Tally ihr und Patti Bericht erstattet hatte.


Vielleicht geht es mit dem Satz nur mir so, sollte keineswegs Kritik sein.
Ich habe mich in siese Geschichte verliebt und ich finde es schade dass es schon zu Ende ist. Die Geschichte rund um Tally Smith gäbe sicher ganz viel lustigen Lesestoff 😉

Ich hoffe du bist gut ins neue Jahr gerutscht! Wie meineUngarisch-Lehrerin sagt: Boldog új Évet kívánok!

Glg jo
Antwort von: irish_shamrock
10.01.2019 05:43
Guten Morgen :) ...

ach, Jo :') - hab vielen, lieben dank für Worte ♥
Ich finde leider momentan (vorm 10. des Monats immer schlecht) so gut wie keine Zeit, weder zum Lesen, noch zum Schreiben (und schreiben muss ich, ich hab terminchendruck x.x) ...
Also, von mir "Gratulation", dass du es endlich geschafft hast :D und auch dir ein gesundes, neues Jahr!!! (noch gehts, noch gehts, ich hab mir sagen lassen, 2 Wochen später darf man das noch wünschen >_<!)

^^° Ich muss gestehen, dass sich das mit Nick so ergeben hat (natürlich nennen wir keine Namen *hust*) - es wäre aber, in diesem Zusammenhang, so etwas wie eine kleine Vorgeschichte, da "Wiedersehen im Frühling" nunmehr im März (Winter/Frühling) anzusiedeln ist.

Puh, dann bin ich ja froh, dass ich Tally und Co. nicht "verfehlt" habe. Und für die Charaktere hatte ich gute, reale Vorlagen *hust*.
Ach ja, der Satz ... ich nehme es dir nicht übel, ich habe mir da auch einen abgebrochen, aber für mich klingt er eigentlich recht schlüssig ... hm ... ._. ...

Wie dem auch sei:
Hab vielen Dank für deinen Kommentar ♥ und die Neujahrsgrüße
und dein Ungarisch-Kurs scheint sich ja auch zu lohnen :3 ...

Fühl dich gedrückt♥♥♥
irish C:
Von:  DoD
2019-01-01T01:31:13+00:00 01.01.2019 02:31
Süffig, so zum Versinken. Es ist schade, das eigene Charaktere und Stories oft untergehen, bzw nicht so beachtet werden wie klassische Fanfiction. Ich hätte gerne weiter gelesen - vorallem hätte ich gerne erfahren, wie die Beziehung weiter gegangen wäre. Anton klingt wie die klassische „Liebe reicht manchmal nicht“ Beziehung.
Schönes Zusammenspiel zwischen Mutter und Töchter und besonders Beth hat viel Lob verdient.
Ich hab zwar keine Katze, aber deine ist eine aus dem Bilderbuch. Ich kenne auch New York nicht, aber ich mag wie du die Irrfahrt durch den Moloch beschriben hast.
Es war es so wert, dich als Autorin zu abonnieren.
Gutes Neues Jahr, GG DoR
Antwort von: irish_shamrock
01.01.2019 09:20
Hallo DoD,

zu allererst wünsche ich dir ein gesundes, neues Jahr! Ich hoffe, du bist gut reingerutscht und konntest die vergangenen Monate hinter dir lassen :').

Hab vielen, lieben Dank für deine Worte!!
Es tut gut, zu lesen, dass auch die Nebencharakter, ob Mensch, oder Tier, Gefallen fanden, denn bedeutet das mir, dass Ideen, Worte und Gedanken richtig gewählt und zu einem guten Ergebnis gebracht wurden ❤.

Mit deinem Lob, und deinem Abonnement, hast du mir den Start, ins Jahr 2019, definitiv versüßt! ❤
Ich hoffe, wir lesen einander recht bald wieder.

Alles Liebe und "ein Frohes, Neues" für dich,
irish C:
Von:  Elnaro
2018-12-12T15:14:52+00:00 12.12.2018 16:14
Du hast einen tollen Schreibstil und es hat Spaß gemacht Tallys Odyssee zu lesen, auch wenn, nimm mir das bitte nicht übel, die Beschreibungen ihres zurückgelegten Weges gegen Ende etwas zäh waren.
Für mich lagen die Highlights im Konflikt mit Anton und der herrlichen Szene im Schlafzimmer bei der Suche nach dem richtigen Outfit. Ach und Holdens Spitzen waren auch nicht zu verachten ;)
Mich hat es gewundert, dass ihre Katze "Schmusels" einen doch eher deutschen Namen hat. Gibt es dafür einen Grund, den ich überlesen habe?


Antwort von: irish_shamrock
12.12.2018 17:13
Hallo Elen_Narome :),

hab vielen Dank für deinen Kommentar ♥
Nun ja, irgendwie musste/wollte ich dieses umherirrende Mädchen ein wenig quälen ^^° und irgendwie musste das vorgegebene Thema eingeflochten werden, was wäre da gelegener, als ein Verwirrspiel in und um Manhattan?
Das es dir der Konflikt mit Anton angetan hat, überrascht mich ein wenig. Diese Konstellation ist nämlich nicht ganz einfach und ich wollte ihn als einen sehr bestimmenden Charakter darstellen.
Ehrlich gesagt habe ich mir beim Namen des Katers beinahe den Kopf zerbrochen, dennochgibt es keinen besonderen Grund, für die Namenswahl ^^°.

Danke nochmals fürs Lesen :)

LG
irish C:
Von:  Kerstin-san
2018-12-10T15:17:33+00:00 10.12.2018 16:17
Hallo,
 
oh je, die arme Tally. Man kann echt gut mit ihr mitfühlen, als sie durch New York irrt und von einem Hotel zum nächsten tigert. Ich will gar nicht wissen, mit wie viel Verspätung sie leztendlich auf der richtigen Feier eingetroffen ist. Da kann man nur hoffen, dass der Abend irgendwie doch noch halbwegs gut geworden ist und sie sich noch etwas amüsiert hat.
 
Liebe Grüße
Kerstin
Antwort von: irish_shamrock
10.12.2018 17:29
Hallo Kerstin,

hab vielen, lieben Dank für deinen Kommentar :3
Von:  lula-chan
2018-12-09T18:29:09+00:00 09.12.2018 19:29
Hehe. Oh Mann. Arme Tally. Sie tut mir echt leid. Es ist aber schon irgendwo auch witzig.
Das heutige Thema konntest du sehr gut umsetzen. Hat mir gefallen. Gut geschrieben.

LG
Antwort von: irish_shamrock
09.12.2018 19:30
Hallo :)

vielen Dank für deinen Kommentar ♥
Da bin ich aber erleichtert, dass mir die Umsetzung gelungen ist :')


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